Leseprobe: Ingenieurbaukunst in Deutschland. Jahrbuch 2007/2008

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Ingenieurbaukunst in Deutschland Jahrbuch 2007/2008



Inhalt

8 Grußwort Wolfgang Tiefensee 9 Editorial Karl H. Schwinn

90 Abriss abgewendet – Denkmalgerechte Nachrüstung der unteren Neckarbrücke bei Rottweil Bernd Frese 94 Vom Vermeiden ungeliebter Überraschungen – Geotechnik auf City-Baustellen Sven Bardua

Projekte 10 Das große Kreuz der Bahn – Der Berliner Hauptbahnhof Georg Küffner 20 Haus mit Dampferschutz – Das Bürogebäude »Dockland« in Hamburg Gert Kähler 26 Halb Schloss, halb Ingenieurkunstwerk – Das Bode-Museum in Berlin Michael Zajonz 32 Mit der Doppelhelix zum Mythos – Das Mercedes-Benz Museum Georg Küffner 40 Der Dom der Züge – Sanierte Bahnhofshallen in Frankfurt Christian Siedenbiedel 48 Unter den silbernen Schwingen des Kranichs – Das neue Lufthansa Aviation Center am Frankfurter Flughafen Falk Jaeger 54 Schlussstein nach hundert Jahren – Die neue Talsperre Leibis/Lichte Hans Dieter Sauer 60 Wie eine sanfte Schneedecke – Die Sanierung des Hauptbahnhofs in Dresden Falk Jaeger

98 Die Strelasundbrücke – Das neue Tor nach Rügen Georg Küffner 106 Von Tälern und Bergen – Das Zentrum Paul Klee Dirk Meyhöfer 116 Im Wald der Rundstützen – Die Luxemburger Philharmonie Sebastian Redecke 122 Mit kühnem Schwung von Schweden nach Norwegen – Bogenbrücke über den Svinesund Georg Küffner 132 Die chinesische Nationalbibliothek – Baukultur aus deutscher Hand Andreas Herrmann, Dietger Weischede 138 Petrodollars zur Verbesserung der Infrastruktur – Eine Brücke über den Orinoco Reiner Saul, Karl Humpf, Ingo Schiele

Essays, Forschung, Geschichte, Porträts 142 Kleben im Glasbau – Eine Glastreppe zeigt die Möglichkeiten neuer Klebetechnologien Jan Knippers 150 Tragwerke entwerfen – Das »office for structural design« Christof Bodenbach

66 Fliegendes Aquarium – Der Panoramaaufzug der Festung Königstein im Elbsandsteingebirge Falk Jaeger

162 »Kunst« lässt sich verkaufen – Oder geht es um mehr bei den »Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst«? Werner Lorenz

70 Die Sanierung der Linachtalsperre und die Reaktivierung eines Wasserkraftwerks Ursula Baus

172 Beweglich gelagert – Neue Wege zum erdbebensicheren Bauen Hans Dieter Sauer

74 Eine Arche für Dresden – Das neue Zentraldepot der Kunstsammlungen im Albertinum Matthias Lugenheim, Donald Mathes

176 Die Stunde der Ingenieure – Auch Architekten müssen umdenken Gerhard Matzig

78 Feste Dünen statt harter Beton – Küstenschutz an der Ostsee Sven Bardua

182 Quo vadis Vermessung? – Eine Standortbestimmung des Vermessungswesens Udo Stichling

82 In einem Rutsch 23 Höhenmeter – Die Schleuse Uelzen II Georg Küffner

184 Otto Intze (1843–1904) – Der Begründer des deutschen Talsperrenbaus Hans Dieter Sauer

86 Komplexe Genialität – Lackierhalle auf dem Airbusgelände in Hamburg Dirk Meyhöfer

198 Autoren und Bildnachweis


Grußwort

Die Leistungen und Fähigkeiten von Ingenieurinnen und Ingenieuren sind eine der wichtigsten Grundlagen für wirtschaftlichen Erfolg in Deutschland. Insbesondere Ingenieurbaukunst »made in Germany« steht dabei auch im Ausland für Qualität und Innovation. Die Leistungen unserer Ingenieurinnen und Ingenieure bestehen nicht nur darin, Entwürfe technisch umzusetzen und zu ermöglichen. Ingenieurbaukunst wird heute mehr und mehr als eigenständiger Beitrag zur Qualität der bebauten Umwelt wahrgenommen und ist Teil der Baukultur unseres Landes. Nicht selten sind es Ingenieurbauwerke, die Wahrzeichen einer Stadt oder einer Region werden, ihr ein Stück Einzigartigkeit verleihen und einen Bezugspunkt für die Bürgerinnen und Bürger darstellen. Ein besonders verbindendes Beispiel für Ingenieurbaukunst sind Brücken. Sie vermögen es seit Jahrhunderten, die Menschen zu begeistern. Brückenbauten machen Ingenieurbaukunst besonders eindrücklich sichtbar, beispielsweise wenn ein Flusstal mit filigranen Konstruktionen überbrückt wird. Nicht ohne Grund wird der Brückenbau als eine Königsdisziplin des Bauingenieurwesens bezeichnet, ist hier doch in besonderem Maße Kreativität, Wissen und Können gefragt. Deutsche Ingenieure haben in der Vergangenheit die Entwicklung des Brückenbaus ganz wesentlich geprägt und mit neuen Bauverfahren und Konstruktionen zur Weiterentwicklung beigetragen. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung will dies auch künftig fördern. Als einer der größten Bauherren für Brücken in Deutschland werden wir zu mehr Wettbewerben in der Entwurfsphase einladen. Damit soll nicht nur die Gestaltqualität der Brücken weiter verbessert werden, sondern auch neue Entwicklungen und Innovationen angestoßen werden. Aber auch weniger auffällige Ingenieurbauwerke tragen tagtäglich zum Funktionieren unserer Gesellschaft bei. Funktionsgebäude wie Bahnhöfe, Hafenanlagen, Schleusen und Talsperren, um nur einige zu nennen, die auch in diesem Buch vorgestellt werden, sind für Mobilität und wirtschaftliche Entwicklung unverzichtbar. Ihren Erschaffern geht es dabei ähnlich wie den Bauwerken: Die Leistungen der Ingenieurinnen und Ingenieure werden bis heute noch nicht ausreichend in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Daran wollen wir etwas ändern. Wir wollen Ingenieurbaukunst, genauso wie die Architektur, als kreative und künstlerische Arbeit verstanden wissen. Lust am Planen, Bauen und am Entwickeln innovativer Lösungen für schwierige Aufgaben sind Aspekte des Ingenieurberufs, die noch viel stärker hervorge-

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hoben werden müssen, um mehr junge und kreative Köpfe für diesen wichtigen Beruf zu gewinnen. Dazu ist es notwendig, dass die Ingenieurinnen und Ingenieure mit ihren Leistungen stärker an die Öffentlichkeit treten. Wir unterstützen im Rahmen der Initiative Architektur und Baukultur Projekte, die dazu beitragen. Der Deutsche Brückenbaupreis, die Ausstellung »Ingenieurbaukunst made in Germany« und die Historischen Wahrzeichen gehören dazu. Das Jahrbuch Ingenieurbaukunst leistet einen weiteren wichtigen Beitrag, die Leistungen der Ingenieurbaukunst in Deutschland bekannt zu machen und das Interesse an diesem Beruf zu wecken. Die vorgestellten Projekte zeigen, wie breit das Aufgabenspektrum für Ingenieurinnen und Ingenieure heute ist, wie weltumspannend der Einsatz und wie groß die technischen Möglichkeiten zur Umsetzung innovativer Ideen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre.

Wolfgang Tiefensee Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung


Editorial

Das Jahrbuch Ingenieurbaukunst in Deutschland präsentiert – wie seine Vorgänger – eine Auswahl herausragender Ingenieurbauprojekte. Die Palette der dargestellten Projekte reicht dabei vom neuen Berliner Hauptbahnhof, von Neubauten verschiedener Museen, über den textilen Hochwasserschutz bis zur Modernisierung historischer Gebäude. Ein interessantes Spektrum, das nahezu alle Bereiche des Bauingenieurwesens umfasst. Dabei ist es für Fachmann und Laien gleichermaßen gut lesbar. Es porträtiert mit Otto Adolf Ludwig Intze (1843–1904) einen Ingenieur, der sich als Pionier des deutschen Talsperrenbaus bleibende Verdienste erworben hat. Unter der Überschrift Geschichte, Forschung, Essays werden aktuelle Themen und Diskussionen aufgegriffen und weiterentwickelt. Mit diesem Zuschnitt ist das Jahrbuch inzwischen zu einer der wichtigsten Diskussionsplattformen für die national und international erfolgreich tätigen Ingenieure unseres Landes geworden. Diese vierte Ausgabe des Jahrbuchs zeigt aber darüber hinaus, dass das öffentliche Interesse am Thema Ingenieurbaukunst spürbar gestiegen ist. Noch vor wenigen Jahren spielten Ingenieurbauwerke in der Diskussion um die Baukultur unseres Landes kaum eine Rolle. Heute hat sich der Begriff »Ingenieurbaukunst« in der öffentlichen Wahrnehmung etabliert. Er wird dem Begriff »Architektur« inzwischen oft als Pendant zu Seite gestellt. Diese Entwicklung ist ermutigend und zeigt, dass die kreativen und gestalterischen Leistungen der Ingenieure immer mehr öffentliche Beachtung finden. Und das zu Recht! Bauingenieure sind an fast allen Bauwerken entscheidend beteiligt. Ingenieurbauwerke geben den Städten und der Landschaft ihr unverwechselbares Gesicht. Sie sind identitätsstiftend. Das Jahrbuch macht deutlich, dass Ingenieurbauwerke nicht monoton und rein funktional gestaltet sein müssen. Sie waren schon früher mehr als reine Zweckbauten und sollten es auch künftig sein. Wie die drei bisher erschienenen Bände, so steht auch dieser vierte Band wieder im Rahmen der Initiative Baukultur. Inzwischen ist eines der Ziele der Initiative, die Gründung der Bundesstiftung Baukultur, erreicht. Das Buch soll sich auch der Diskussion um das Thema Baukultur im Rahmen der Stiftung stellen. Es zeigt zum einen den großen Anteil der Ingenieure an der Gestaltung unserer Umwelt, soll aber auch zur kritischen Betrachtung dieser Leistungen im Hinblick auf die Baukultur auffordern. Nur wenn wir diese Diskussion in Zukunft offen führen, wird es uns auch gelingen, der Baukultur in unserem Land den Stellenwert zu verschaffen, der ihr zukommt.

Der überaus interessante Essay von Werner Lorenz befasst sich deshalb ausführlich mit der Ingenieurbaukunst und spürt den Wurzeln dieses Begriffs nach. Mit seinen Ausführungen begründet er, warum gerade in der jetzigen Zeit die von der Bundesingenieurkammer initiierte Auszeichnung historisch bedeutender Ingenieurbauwerke als »Historische Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst« einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung des Bauingenieurwesens darstellt. Sich des Alten zu erinnern eröffnet Perspektiven für das Neue. Deshalb werden die Historischen Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in den nachfolgenden Jahrbüchern einen festen Platz finden und damit das Jahrbuch um eine weitere Facette erweitern. Ich wünsche diesem Buch eine große Leserschaft und bin sicher, dass es einen festen Platz im Bücherschrank des technikbegeisterten Publikums finden wird.

Dr.-Ing. Karl Heinrich Schwinn Präsident der Bundesingenieurkammer

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Das große Kreuz der Bahn – Der Berliner Hauptbahnhof Berlins neuer Hauptbahnhof gilt als das technisch anspruchsvollste Bauprojekt der Hauptstadt. In seiner Funktion als »gläserne Kathedrale der mobilen Welt« hat er seit seiner Eröffnung bereits viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen – durchaus mit gutem Grund, ist er doch in seiner Art einzigartig.

Beim Bau des größten europäischen Kreuzungsbahnhofs, dem Lehrter Bahnhof – der jetzt nur noch Berlin Hauptbahnhof heißen darf –, lief einiges anders als bei »normalen« Bauprojekten. Das gerne als das technisch anspruchsvollste Bauprojekt der Bundeshauptstadt bezeichnete Bauvorhaben wurde angestoßen, ohne dass viele technische Details geklärt gewesen wären, geschweige denn, dass dafür die Genehmigungen der zuständigen Behörden vorgelegen hätten. Erklären lässt sich das am Lehrter Bahnhof praktizierte und am besten mit dem Begriff »Simultaneous Construction« zu beschreibende Vorgehen mit der Aufbruchstimmung zu Beginn der neunziger Jahre: Alle Entscheidungsträger waren sich einig, dass in Sichtweite des Reichstags und des neuen Kanzleramts kein nüchterner Profanbau entstehen sollte. Berlins neuer Bahnhof sollte sich einfügen in das städtebauliche und architektonische Gesamtkunstwerk rund um den Spreebogen. Damit hatte der ursprüngliche Entwurf, der viele lange und massige Brücken für die in das eigentliche Bahnhofsgebäude hineinführenden Gleise vorsah, keine Chancen mehr. Betonhohlkastenbrücken, wie sie die Bahn normalerweise baut, wollte hier niemand sehen. Nur sehr schlanke Fahrwege lassen sich mit der von dem Hamburger Architektenbüro von Gerkan Marg und Partner (gmp) konzipierten »gläsernen Kathedrale der mobilen Welt« harmonisch kombinieren. Vor allem der Zusammenarbeit der Architekten mit dem Büro für Tragwerksplanung Schlaich Bergermann und Partner aus Stuttgart ist der heutige »Look« zuzuschreiben. So konnte Schlaich bei dem damaligen Bahnvorstand Heinz Dürr eine teurere, aber deutlich elegantere Brückenkonstruktion durchsetzen. Doch Schlaich war nicht nur für Brücken zuständig. Auch die in alle

Himmelsrichtungen die Gleise überspannenden Glasröhren wurden in seinem Büro entworfen. Das Bahnhofsdach ist deutlich komplizierter, als es zunächst erscheint. Nicht ein einziges Stück des Dachs gleicht einem anderen. Ohne rechnergestützte Geometrieermittlung und ohne computergesteuerte Schneideverfahren für Glas und Stahl wäre dieses Dach nicht zu bauen gewesen. Für die Stuttgarter Tragwerksplaner war dies jedoch Teil der Vision: Mit der Idee, die Konstruktion zum charakteristischen Merkmal zu machen, sollte ein Zeichen für den modernen Bahnhofsbau gesetzt werden. Da moderne Züge keine hoch aufragenden Kuppelbauten mehr benötigen, können sich heute gedrungene, elliptische Glasröhren wie Echsenkörper über die Gleise legen. Moderne Werkstoffe und Berechnungsverfahren ermöglichen Konstruktionen, an denen auch technische Laien den Kraftfluss und die »Funktion« erkennen. Mit einer Länge von 430 Metern sollte das Dach zum Erkennungszeichen des Lehrter Bahnhofs werden. Doch um die Montagezeit zu reduzieren, so die Begründung der Bahn, wurde nur ein 321 Meter langes Dach gebaut. Schlaich kritisiert diese abgespeckte Lösung als »Sünde am ästhetischen Konzept des gesamten Bauwerks«: Nur bei voller Länge wäre die Eleganz des gewundenen Körpers deutlich geworden. Die Veränderung verursachte doppelte Arbeit, denn dem ursprünglich geplanten und in Einzelteilen gefertigten Dach konnte nicht einfach an beiden Enden ein Stück abgeschnitten werden. Da die Festpunkte nicht mehr in der Mitte des Rumpfdachs lagen, musste die gesamte Konstruktion neu berechnet werden. Auch die beiden außen liegenden Dachportale wurden neu gefertigt, da an dem neuen Dachende ursprünglich keine Fassaden vorgesehen waren. Anders als beim Dach hat man sich bei den auf den Bahnhof zulaufenden Gleisbrücken an das 1

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1 St채dtebauliches Umfeld nach Entw체rfen von O.M. Ungers 2 S체dost-Ansicht des Bahnhofs

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Der Berliner Hauptbahnhof

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3 (vorige Doppelseite) Die Vierung im Zentrum des Bahnhofs

5 Grundriss Ebene +6

4 L채ngsschnitt Fernbahntunnel und Nords체d-Dach, Querschnitt Ostwest-Dach

7 Schnittpunkt von Ostwestund Nords체d-Dach

6 Isometrie

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Der Berliner Hauptbahnhof

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ursprüngliche Konzept gehalten. Auf zahllosen Stahlrohrstützen ruht hier der schlanke Überbau der Gleise, wobei eine oder maximal zwei Fahrspuren zu einer Brücke zusammengefasst wurden. Diese Bauweise war für die Bahn Neuland: Die gleistragenden Betonbänder sind fest mit den Stützen verbunden. Dadurch erreicht man eine »weiche« Konstruktion, so dass man ohne die normalerweise bei Brücken unabdingbaren Lager auskommt. Auf wartungs- und reparaturintensive Schienenauszüge (sie kompensieren Längenänderungen als Folge von Temperaturschwankungen) kann ebenfalls verzichtet werden. Da man die Gleisbrücken in rund hundert Meter lange, »autarke« Abschnitte unterteilt hat, kommt man mit Querfugen aus. Innere Stabilität erhält jeder dieser Brückenabschnitte durch eng zusammenstehende Stützenpaare, die man durch Querriegel miteinander über Kreuz verbunden hat. Nicht nur für dieses konstruktive Detail hat man sich in Anlehnung an den traditionellen Bahnhofsbau für Stahlguss entschieden. Auch alle Verbindungselemente der den Humboldthafen im Osten des Bahnhofs überspannenden Brücke sind aus diesem Werkstoff gefertigt. Immer dort, wo die einzelnen Stahlrohre der Bogenkonstruktion miteinander verbunden werden müssen, finden sich Gussknoten, -köpfe oder -astgabeln. Zwar ist der Gussknoten aufgrund seines Verhaltens bei dynamischen Belastungen, z.B. beim Bau von gigantischen Off-shore-Plattformen, längst zur Regelbauweise geworden, doch die Bahn wollte von ihm bisher nichts wissen. Und da er zuvor noch nie in einer Eisenbahnbrücke eingebaut wurde, lagen keinerlei Erfahrungen vor. Alle Details mussten neu erarbeitet werden. Dabei ging es nicht allein um die Vor- und Nachteile des Werkstoffs Guss. Vielmehr musste speziell das Verhalten der Schweißverbindungen zwischen Stahlguss und Walzstahl untersucht werden. Diese Arbeiten leistete die Versuchsanstalt für Stahl, Holz und Steine der Universität Karlsruhe. Der Hauptbahnhof Berlin bündelt fünf Ebenen auf einer Fläche von 430 mal 430 Metern. Auf Ebene »minus zwei« in 15 Metern Tiefe liegen vier Bahnsteige und acht Gleise der Nord-SüdVerbindung. Von hier aus geht der freie Blick über vierzig Meter hinauf bis ins Glasdach der Kreuzhalle. Dadurch dringt Tageslicht bis nach ganz unten und hilft, die Tiefgeschosse zu erhellen – aber fast noch wichtiger: Es erleichtert die Orientierung in dem riesigen Komplex. Das Licht schafft eine selbstverständliche Hierarchie, an der sich die Fahrgäste instinktiv orientieren können. Beim Blick nach oben sieht man auch die zum Rechtsstreit gewordenen Flachdecken. Die ursprüngliche 8

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8 Untere Ebene im Rohbau 9 Rohbau 10 Gabelstützen der Bahnbrücken im Bahnhofsbereich 11 Vorgefertigter Teil der Gabelstützen 12 Aufsetzen des Stützenfußes auf das Lager

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Der Berliner Hauptbahnhof

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Lösung hätte dem Tiefbahnsteig einen geradezu romantischen Gewölbecharakter verliehen. Um den Bahnhof so tief im Berliner Untergrund einzugraben, mussten neun Baugruben mit einer Fläche von 90 000 Quadratmetern gegraben werden. Dabei wurden 1,5 Millionen Kubikmeter Erde ausgehoben und über den Humboldthafen abtransportiert. »Aufgefahren« wurden die Gruben mit der in Berlin perfektionierten »offenen Bauweise«, bei der der Grundwasserspiegel unverändert bleibt und damit die Bäume im benachbarten Tiergarten geschont werden konnten: Die Grubenränder wurden mit wasserdichten Spundwänden seitlich gegen das Grundwasser abgedichtet. Erst dann begann das Ausbaggern der Grube, die sich dabei mit Wasser füllte. Im nächsten Schritt wurden knapp dreißig Meter lange Erdanker in den Boden unterhalb der Teichsohle getrieben. Sie dienen dazu, die anschließend unter Wasser betonierte Bodenplatte der Grube am »Aufschwimmen« zu hindern. Nach dem Abpumpen des Wassers konnte mit dem konventionellen Ausbau des Tunnelabschnitts begonnen werden. Eine spektakuläre Weltpremiere ist die Installation der beiden, die Gleise überspannenden Bügelbauten. Sie wurden im Sommer 2005 »eingeklappt«. Das Heben, Senken und Zusammenbringen der jeweils 1250 Tonnen schweren Brückenteile war ein publikumswirksames Spektakel. Zahlreiche Zuschauer hatten sich eingefunden, als an zwei Wochenenden jeweils zwei vierstöckige Gebäuderiegel aus ihrer vertikalen Montagelage gehoben und über ein Kippgelenk in die Waagerechte abgesenkt wurden. Das Ganze dauerte jeweils rund zwanzig Stunden. Die Arbeit übernahmen computergesteuerte Hydraulikpressen, die ihre Kraft über Stahlseile an die Fachwerkkonstruktion weitergaben. Georg Küffner

Objekt Hauptbahnhof Berlin Standort Invalidenstraße 53 10557 Berlin-Tiergarten Bauzeit 1996–2006 Bauherr Deutsche Bahn AG, vertreten durch die DB Projekt Verkehrsbau GmbH Ingenieure und Architekten Bügelgebäude und Glasüberdachungen/Glasfassaden: Tragwerksplaner: Schlaich, Bergermann und Partner, Stutttgart; Statiker: LAP – Leonhardt, Andrä und Partner, Berlin; Prüfstatiker: Büro Dr. Stucke, Berlin; Prüfingenieure: Klähne & Bauchspieß, Berlin; Brandschutzgutachter: Hhpberlin, Berlin; Fassadenberater für das Bügelgebäude: EPP – Emmer Pfenninger Partner AG, Münchenstein; Fassadenberater für die Glasüberdachungen und Glasfassaden: IFFT – Institut für Fassadentechnik Frankfurt, Frankfurt am Main; Fachplaner Photovoltaik Glasdach Ost/West: BLS Energieplan, Berlin; Fachplaner für Fördertechnik und Aufzugsanlagen: Hundt + Partner Ing.-Ges. mbH, Berlin; Haustechnik/Technische Gebäudeausrüstung: Brandi IGH – Ingenieure GmbH, Berlin; Lichtplanung: Peter Andres und Conceptlicht GmbH, Traunreut; Bauphysik und Schallschutz Bügelgebäude: Brüssau Bauphysik GmbH, Fellbach; Vermessungsingenieure: Hanack und Partner, Hamburg; Thermische Bauphysik, Strömungsgutachten und Raumakustik: IBP – Fraunhofer Institut für Bauphysik, Stuttgart; Rohbau Fernbahnhof/U5/EÜ Lehrter Bahnhof: ARGE Lehrter Bahnhof Los 1.4, Berlin Architekten: gmp – Architekten von Gerkan, Marg und Partner

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13 Isometrie

16 Kippvorgang der B端gel

14 Nords端d-Dach, typischer Querschnitt

17 Ostwest-Dach mit Schienen f端r die Glasreinigung

15 Isometrie Nords端d-Dach

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Der Berliner Hauptbahnhof

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Projekte Der Berliner Hauptbahnhof Das Bürogebäude »Dockland« in Hamburg Das Bode-Museum in Berlin Das Mercedes-Benz Museum Sanierte Bahnhofshallen in Frankfurt Das neue Lufthansa Aviation Center am Frankfurter Flughafen Die neue Talsperre Leibis/Lichte Die Sanierung des Hauptbahnhofs in Dresden Der Panoramaaufzug der Festung Königstein im Elbsandsteingebirge Die Sanierung der Linachtalsperre Das neue Zentraldepot der Kunstsammlungen im Albertinum Küstenschutz an der Ostsee Die Schleuse Uelzen II Lackierhalle auf dem Airbusgelände in Hamburg Denkmalgerechte Nachrüstung der unteren Neckarbrücke bei Rottweil Geotechnik auf City-Baustellen Die Strelasundbrücke Das Zentrum Paul Klee Die Luxemburger Philharmonie

Bogenbrücke über den Svinesund Die chinesische Nationalbibliothek Eine Brücke über den Orinoco Essays, Forschung, Geschichte, Porträts Kleben im Glasbau – Eine Glastreppe zeigt die Möglichkeiten neuer Klebetechnologien Tragwerke entwerfen – Das »office for structural design« »Kunst« lässt sich verkaufen – Oder geht es um mehr bei den »Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst«? Beweglich gelagert – Neue Wege zum erdbebensicheren Bauen Die Stunde der Ingenieure – Auch Architekten müssen umdenken Quo vadis Vermessung? – Eine Standortbestimmung des Vermessungswesens Otto Intze (1843–1904) – Der Begründer des deutschen Talsperrenbaus


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