Leseprobe: Architektur in Hamburg. Jahrbuch 2009

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Architektur in Hamburg Jahrbuch 2009 Herausgegeben von Dirk MeyhĂśfer und Ullrich Schwarz im Auftrag der Hamburgischen Architektenkammer


Inhalt

9 Editorial von Konstantin Kleffel

Hamburger Architek tur 2008 /2009

48 Effizienz und Empathie – Das »Neue Klinikum« des UKE Architekten: Nickl & Partner Architekten Text: Claas Gefroi

10 Nachhaltiger Städtebau – Das Unilever-Gebäude in der Hafencity Architekten: Behnisch Architekten Text: Dirk Meyhöfer

56 Appell an Geist und Gemüt – Hamburger Kirchbau im Zeichen der Krise Architekten: Akyol Kamps Architekten; Architektur + Stadtplanung Ewers Dörnen + Partner; Stölken Schmidt Architekten Text: Dieter Bartetzko

18 Frischluft ohne Durchzug – Aus dem DAG-Haus wurde das Brahms Kontor Architekten: Kleffel Papay Warncke Architekten Partnerschaft (bis 2005 in Partnerschaft mit Uwe Köhnholdt) Text: Ulrich Höhns

64 Das transzendente Funkhaus – Drei Neubauten für Radio Bremen Architekten: Böge Lindner Architekten Text: Claas Gefroi

28 Bauen nach dem Sündenfall – Das Brahmsquartier in der Neustadt Architekt: Carsten Roth Architekt Text: Dirk Meyhöfer 36 Glückliche Fügung – Neue und alte Häuser im Reemtsma Park Architekten: Helmut Riemann Architekten Text: Ulrich Höhns

Hamburger Architek tur 2008 /2009: Zwischenruf! 76 Attraktive Alternative zum Einfamilienhaus – Wohnbebauung in Bergedorf Architekten: Böge Lindner Architekten 82 Scheideweghöfe – Ein Quartier zeigt Wege aus der Wohnungskrise Architekten: APB. Architekten 86 Hybrid und kompakt – Die Hafencity-Schule Architekten: Spengler Wiescholek Architekten und Stadtplaner 92 Kribbeln im Bauch – Wohnturm am Sandtorhafen Architekten: Ingenhoven Architects, Düsseldorf 96 Gemeinsam wohnen – Im Park des AK Eilbek Architekten: Neustadt Architekten, Meyer Steffens Architekten, Dohse + Stich Architekten, Fusi & Ammann Architekten, Beata Huke-Schubert 102 Familienangebot – Wohnhöfe an der Fischers Allee in Ottensen Architekten: Carsten Lorenzen; SEHW Architekten; Grüntuch Ernst Architekten 108 Zurückhaltende Kopfbedeckung – Die neue Betriebszentrale der Hochbahn Architekten: trapez architektur


112 Mit industriellem Charme – Umkleidegebäude auf dem Eurogate Container Terminal Architekten: Kramer Biwer Mau Architekten 114 Geradliniges Understatement – Baulückenschließung in Ottensen Architekten: HinrichsNicoloviusArchitekten 118 Bewegung in der City – Die »Domkaskaden« an der Domstraße Architekten: Schenk + Waiblinger Architekten 120 Holzbox im Familienformat – Wohnhaus im Norden von Hamburg Architekten: Kraus Schönberg Architekten 124 Glanzstück mit farbiger Note – Experimentierhalle PETRA III Architekten: Dinse Feest Zurl Architekten

136 City reloaded – Die Innenstadt verändert wieder einmal ihr Gesicht Text: Till Briegleb

164 Stadt für alle! – Anmerkungen zum Hamburger Wohnungsbau Text: Renate Szameitat

144 Ein Hamburger Boulevard – 100 Jahre Mönckebergstraße Text: Ralf Lange

170 Paradigmenwechsel im Hochwasserschutz – Vom Deichbau zum Risikomanagement Text: Erik Pasche, Natasa Manojlovic, Gehad Ujeyl

150 Alte und neue Traditionen – Der Backstein und die Nachhaltigkeit Text: Hermann Hipp

180 Handwerk oder Avantgarde? – Der Architekt André Poitiers Text: Falk Jaeger

156 Nachruf und Hoffnung – Über das endgültige Verschwinden der Hamburger Pfeilerbahn und die Chancen im Oberhafenviertel Text: Dirk Meyhöfer

190 Tradition und Innovation – Hamburger planen im Hafen von Rotterdam Text: Olaf Bartels

126 Renaissance des Reihenhauses – Ein Beispiel aus der Bernadottestraße Architekten: Archipark Architekten

Hamburger Feuilleton

194 Werner Hebebrand (1899 – 1966) und der Mythos der »Stunde Null« Text: Olaf Bartels 206 Autoren und Redaktion 207 Fotografen, Architekten

130 Zwischen Klassizisten – Collegium Hungaricum in Berlin-Mitte Architekten: Schweger Associated Architects

208 Impressum



Editorial Konstantin Kleffel, Präsident der Hamburgischen Architektenkammer

Im letzten Herbst haben wir im Altonaer Theater miteinander das 20. Hamburger Architekturjahrbuch gefeiert. Jetzt liegt schon die 21. Ausgabe vor! Und wieder hat es einen Architektursommer gegeben. Den sechsten! Als wir dieses Projekt 1994 begannen, war schnell klar, dass es zweier Voraussetzungen bedurfte. Nämlich einer von unserer Kammer in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht prinzipiell unabhängigen Organisationsform, um auch Außenstehende für eine Mitwirkung gewinnen zu können, uns aber auch von etwaigen Risiken zu befreien, und einer finanziellen Unterstützung durch die Stadt. Letztere erhält der Trägerverein Architektursommer bis heute; womit der Senat die erforderliche Koordination der inzwischen mehr als 200 Einzelprojekte ermöglicht. Wir sind dafür sehr dankbar. Der Vorsitz des Vereins ist zuletzt von Jürgen Böge auf Bernhard Winking übergegangen. Die hauptamtliche Arbeit machen Ullrich Schwarz und Stephan Feige. Ihnen sowie den übrigen Mitgliedern des Vorstands und allen, die die vielen Projekte auf die Beine gestellt haben, gebührt sehr herzlicher Dank! Dass ihre gegenwärtige Lage den großen Hamburger Museen eine Mitwirkung nicht erlaubt hat, ist außerordentlich bedauerlich. Umso mehr freut es uns, dass in der Zusammenarbeit der Kammer mit dem Museum für Hamburgische Geschichte die Ausstellung »Multiple City – Stadtkonzepte 1908 – 2008 // Hamburg« gezeigt werden kann. Von dem Lehrstuhl für Städtebau und Regionalplanung und dem Architekturmuseum der TU München konzipiert, erhielt sie ihren Hamburg-Bezug durch die Mitarbeit von Norbert Baues, Henning Bieger, Claas Gefroi, Gert Kähler und Ullrich Schwarz. Außerdem zeigen wir in Zusammenarbeit mit dem Museum der Arbeit die Ausstellung »Architektur und Schule«. Zwei neue Veröffentlichungen im Rahmen der Schriftenreihe des Architekturarchivs – Gert Kählers »Von der Speicherstadt bis zur Elbphilharmonie. Hundert Jahre Stadtgeschichte Hamburg« und Sven Barduas »Brückenmetropole Hamburg. Baukunst – Technik – Geschichte bis 1945« – veranlassen mich zu einer Erwähnung unseres Archivs. Für dieses haben wir nach der Standortentscheidung des

Senats für die HCU in der Hafencity ein neues Domizil in der Speicherstadt gefunden, wo es nach dem – wie man sich vorstellen kann – mühsamen Umzug im September 2007 seine Arbeit wieder aufgenommen hat. Für die HCU lässt sich Gleiches nicht sagen, vielleicht noch nicht einmal mit völliger Bestimmtheit vorhersagen. Vor vier Jahren habe ich an dieser Stelle von der Entscheidung des Senats für die Gründung dieser neuen Hochschule, für einen Neubau an prominentester Lage in der Hafencity, von einem Wettbewerb zur Vorbereitung eines hochwertigen, insbesondere den Kriterien der Nachhaltigkeit verpflichteten Neubaus geschrieben. Die Gründung erfolgte, ein attraktives Profil wurde erarbeitet und vorgestellt … die enorme Hypothek, nämlich ihre Abstammung von drei verschiedenen Hochschulen, aus drei völlig unterschiedlichen Hochschulwelten, um nicht zu sagen: Kulturen, war allerdings auf die Schnelle nicht zu überwinden und schon gar nicht das Dilemma der verschiedenen Standorte, der Trennung der Hochschulleitung von denen der Lehre selbst. Und in dieser misslichen Situation plötzlich eine erneute Infragestellung von Standort und Neubau, mindestens von dessen Fertigstellungstermin! Kostengründe, hieß es! Natürlich: Kos­ tenüberschreitungsgründe. Wer hat wann und wie gerechnet, nachgerechnet? Von mir hierzu natürlich keinerlei Beurteilung; allerdings doch höchste Befremdung darüber, dass der Rechnungshof die vor Jahren getroffene, politische Standortentscheidung unserer Regierung infrage stellte! In den Sitzungen des Hochschulrats der HfBK beschäftigen wir uns regelmäßig mit dem Problem, dass die von dem damaligen Senator Dräger durchgeführte Novellierung des Hamburger Hochschulgesetzes den Hochschulen ihre im Grundsatz angestrebte Unabhängigkeit von der Wissenschaftsbehörde nur halbherzig zugestand. Wenn dann aber die heute amtierende Senatorin und eine Hochschulpräsidentin ihre Köpfe vertrauensvoll zusammenstecken, entsteht ganz Großes: Eine nagelneue Universität an einem bisher ungeahnten Standort … und vielleicht doch das Thema eines zukünftigen Jahrbuch-Editorials?

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Nachhaltiger Städtebau – Das Unilever-Gebäude in der Hafencity Die Hafencity ist angekommen, das erste Haus in der ersten Reihe an der Norderelbe dem Mieter übergeben: Unilevers Deutschlandzentrale ist die Fortsetzung des öffentlichen Raums unter Dach und ein Vorzeigebeispiel für nachhaltiges Bauen. Text: Dirk Meyhöfer, Fotos: Klaus Frahm, Jochen Stüber

Unilevers Deutschlandzentrale hätte angesichts der prototypischen Aufgaben leicht scheitern können. Hoch waren die Erwartungen, denn hier verschränkten sich die aktuellen Themen Nachhaltigkeit, Energieeffizienz, Wasserfront und Innovation des Kontorhauses. Einen Logenplatz am Strandkai galt es zu besetzen, und wieder einmal war zu beweisen, dass man in Hamburg bessere Arbeitsplätze baut als anderswo und dabei den öffentlichen Raum nicht benachteiligt. Die Prüfung wurde mit Bravour bestanden. Der Vorsteher an Hamburgs neuer Waterfront

Der Kontakt mit dem Gebäude und seinem hochgeschossenen Bruder, dem Marco Polo Tower, beginnt lange, bevor man angekommen ist. Das Ensemble der beiden Solitäre bietet in der Fernsicht vielfältig geknetete und gefaltete, sich verdrehende Skulpturen. Das ist hier endlich mal keine Übertreibung, wie sonst häufig, wenn Häuser beschrieben werden. Der Tower beispielsweise wirkt wie eine menschliche Gestalt auf der Suche nach der richtigen Kopflage. Das Unilever-Gebäude besitzt zwar ein Flachdach, wird aber darauf mit weit sichtbaren Shed-Dächern gekrönt – ein Einfall wider die formale Langeweile. Um das Unilever-Haus richtig begreifen zu können, sollte man es von der südlichen Seite der Norderelbe betrachten – oder gleich eine Kreuzfahrt bzw. Oberelbe-Schifffahrt buchen. Dann wird klar, dass der Auftakt der Hafencity-Perlen am Strandkai Maßstäbe für andere setzt, die folgen werden. Wenn auch die zusätzliche, keck verwebte und pfiffig gefaltete »Schutzhülle« für den außen liegenden

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Sonnenschutz aus Gründen des Sturmschutzes in ihrer Effizienz fragwürdig ist – als locker umgeworfene Stola für das kleine Schwarze ist sie das richtige Accessoire. Denn die so erreichte weichere Form macht das Haus formal kostbarer. Noch im Sommer, bevor die Arbeiten an der Vorhangfassade beendet waren, konnte man beobachten, was das Haus dahinter ist: ein spätmodernes Siebziger-Jahre-Bauwerk in klassischer Form. So aber ist es eine weiche Figur, eine erste feine Landmarke für die Hafencity, die sich auf ihre Vermarktung freuen kann, wenn demnächst die Sets von Tatort und anderen Fernsehfilmen hier aufgebaut werden. Stadt in der Stadt – das öffentliche Kontorhaus

Das angestrebte Frei- und Wasserraumkonzept der Hafencity geht hier wunderbar auf. Die Verknüpfung zum öffentlichen Raum ist ein bisschen vergleichbar mit dem Bostoner »Institute for Contemporary Art« am Fan Pier im ehemaligen Hafen von South Boston, wo die New Yorker Architekten Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio das Kunstmuseum durch umlaufende Stege und Bühnen zum öffentlichen Raum werden lassen und die Besucher aus dem Haus den Hafen wie auf der Kommandobrücke eines Dampfers erleben. Hier in der Hafencity übt das Haus durch seinen Eingang eine ähnliche Sogwirkung aus, holt die Besucher und Passanten schon am maritimen Terrassenpark Marco Polo ab und fordert sie zum Eintreten auf. Und sofort besteht eine interne Sichtbeziehung zur Elbe. Es war eine wesentliche Vorgabe der HafenCity GmbH und der Bauherren, den öf-

Einen Logenplatz am Strandkai galt es zu besetzen, und wieder einmal sollte bewiesen werden, dass man in Hamburg bessere Arbeitsplätze baut als anderswo und dabei den öffentlichen Raum nicht benachteiligt. Die Prüfung wurde mit Bravour bestanden.


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Oben und rechte Seite: Eine eigens entwickelte Folienfassade wurde in einem kleinen Abstand vor die eigentliche Außenwand mit der Pfostenriegelkonstruktion, der Isolierverglasung und dem außen liegenden Sonnenschutz gesetzt. Dieser Sonnenschutz hilft durch Verhinderung solarer Aufheizung zu kühlen.

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fentlichen Raum in dieses Bürohaus hineinfließen zu lassen. Hier soll das Gebäude den Bewohnern und Besuchern nicht den wertvollen Uferblick und -besuch stehlen und sie um keinen einzigen Quadratmeter betrügen, sondern neue Einblicke liefern. Die Stadt ist auch drinnen, und diese Stadt ist Vorbild und Organisationsmodell für das Organigramm des Bürobetriebs von Unilever. Der Besucher kreuzt diese gebaute Matrix in der Erdgeschossebene, bevor er am Elbufer das Haus wieder verlässt und die Uferterrassen betritt. Von unten hat er Einblick ins Atrium. Erreichen kann er die Büros von Unilever mit seinen vielen Marken von Axe über BiFi, Dove, Knorr und Lätta bis Pfanni, Rama und Viss allerdings erst nach der Zugangskontrolle mit einem schwungvollen Tresen in der ersten Etage. Das Bürohaus als Stadt ist hier sehr kompakt, anders als beispielsweise im Haus von Gruner & Jahr werden keine langen Straßen gebildet, sondern durch das umbaute Atrium wird ein Gefühl wie auf der Piazza del Campo von Siena erlebbar. Die Besucher flanieren auf dem Platz, die Angestellten arbeiten in den Häusern drum herum. Die Büroflächen werden in bis zu sechs Etagen für 1200 Mitarbeiter organisiert. Der Bürobetrieb findet rund ums Atrium, aber informell auch im Atrium statt. Dafür schwingen sich Rampen und Stege quer durch die innen liegende Halle nach oben und unten. Die Arbeitsplätze werden zum großen Teil als große Gruppenbüros mit bis zu 400 Quadratmetern angeboten. Sie gelten zurzeit als die schönsten von Hamburg: Räume mit Aussicht nach außen ins Hafenland, nach innen ins Behnische Gefüge. Dort umfassen sie den

Lichthof, in dem die Farbe Weiß die Richtung und Stimmung vorgibt. Grüne und rote Paneele auf Heraklith unter Gitterrosten betonen die Balustraden. Eine Stimmung von sympathischer Leichtigkeit entsteht. Der verantwortliche Partner im Büro Behnisch Architekten, Martin Haas, nennt das allerdings erstaunlicherweise »ruppig« und lacht dabei, »spätestens, wenn man die offen liegenden Rohre für die Sprinkleranlagen am Eingangstresen entdeckt, erkennt man, das ist keine Bank. Und kein Luxus-Equipment.« Nein, es ist ein einfaches und heiteres Gebäude. Behnisch. Und welcher?

Die Beurteilung, unter die sich auch ein wenig Ehrfurcht mischt, ist einheitlich: Ja, das sei ein echter Behnisch. Nun ist das so eine Sache, weil die meisten Kritiker sich mit der Aussage an Bauten orientieren, die Günther Behnisch zu verantworten hatte oder zusammen mit Stefan Behnisch gebaut hat. Die Referenzen in Hannover (Landesbank) oder Lübeck (Landesversicherungsanstalt) gelten dafür nicht, weil sie schon zu alt sind. Das im letzten Jahr eröffnete Ozeaneum in Stralsund erklärt vielleicht am ehesten die heutige Grundhaltung von Behnisch Architekten: Die Komposition des Raums als Fortführung des Öffentlichen. Nun ist dieser Typus für das seit Jahren in Innovation befindliche Hamburger Kontorhaus nicht neu: Atrien gibt es im Doppel-XX, Berliner Bogen und anderswo, aber nirgends sind im Erdgeschoss Restaurants (wie hier zum Beispiel die Kantine) zu finden, nirgends wird bewusst ein öffent-

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Das Prinzip der freien Fügung der Elemente dominiert, das Ordnungsprinzip Statik tritt in den Hintergrund; dem Auge viel bieten und vielschichtig sein, Überschneidungen, Überhänge schaffen: Übergänge statt Grenzen – ein echter Behnisch. Ein »Übergang« ist besonders beeindruckend: Im vorderen, nördlichen Hausteil scheint es, als dränge sich das Wasser direkt vor die Fenster der Obergeschosse, als stehe das Bauwerk in der Elbe: ein Schiff in Bewegung.

licher Weg durch ein Bürohaus geführt, nirgends ist Stadt so zu sehen, zu riechen und zu hören wie hier. Und von unten ist auch das interne Büroleben zu beobachten, dank einiger schöner Details: Raucher werden nicht nach draußen verbannt, sondern nur in Glaskästen an der Peripherie des Atriums, sie bleiben also im Spiel. Gespielt haben auch die Designer, als sie für die Geländer der Rampen »Lümmelbretter« entworfen haben. Auflagen, auf denen man an den Stegen den Laptop aufsetzen und die man als temporären Arbeitsplatz nutzen kann. Für elektrische Anschlüsse ist gesorgt. Arbeiten mitten in der Büro-Stadt. Sehen und gesehen werden, wenn man fleißig ist. Es ist auch der Ort, an dem der Architekt auf die Frage hin, was denn das Charakteristikum seiner Arbeit sei, sein wichtigstes Statement abgibt: »Das Prinzip der freien Fügung der Elemente. Das Ordnungsprinzip Statik tritt in den Hintergrund.« Dem Auge viel bieten und vielschichtig sein, Überschneidungen, Überhänge schaffen. Also keine Grenzen, sondern Übergänge – ein echter Behnisch. Ein »Übergang« ist besonders beeindruckend: Im vorderen, nördlichen Hausteil auf den dritten oder vierten Galerien stehend und auf die Elbe schauend, scheint es, als dränge sich das Wasser direkt vor die Fenster der Obergeschosse, als stehe das Bauwerk in der Elbe: ein Schiff in Bewegung. Könnte man denken, ist aber nicht so. Das Haus bleibt ein Haus, wenn auch in der Semantik des Dynamischen. Speerspitze der ökologischen Vernunftlust

Es ist auch kein Geheimnis mehr, dass Nachhaltigkeit in der Hafen-

city als eines der Vermarktungsinstrumente eingesetzt wird, und das ist nicht unanständig. Mit einer eigenen Zertifizierung wurde ein hoch wirksames Anreizsystem für Eigentümer und Gebäudenutzer geschaffen, das international hohe ökologische Standards setzt und zu geringeren Betriebskosten führen wird. Das System geht auch auf den Lebenszyklusansatz ein und ist damit dem amerikanischen LEED-System überlegen. Das Unilever-Haus wird den Goldstandard des Hamburger Umweltzeichens erhalten. Die Maßnahmen umfassen z.B. ein Rasendach sowie ein breites Spektrum aus Geothermie und Kühldecken, und, wie Martin Haas sagt: »Wir sind der Pionier im Beleuchtungskonzept, weil wir komplett mit LED belichten und so unter 100 KW/h gelangen können.« Martin Haas erzählt dann die schöne Geschichte, dass diese eigens entwickelten Stehleuchten einen grünen Kontrollpunkt zeigen, wenn das Lichtverbrauchsverhalten korrekt ist. Wenn man die Leuchtkraft höher stellt, zeigt sich ein roter Punkt. Haas hofft auf gruppendynamische Erziehungshilfe. Aber es gibt einen Haken bei dieser Erfolgsgeschichte der Nachhaltigkeit, denn die Nachbarschaft und der schöne Blick auf die Queen Mary 2 und ihre kleineren Schwestern wird mit viel Dreck erkauft, den diese Freibeuter des Meeres nach internationalem Recht immer noch einfach in die Luft ausstoßen dürfen. Denn die Schiffsdiesel laufen auch im Hafen weiter, um die Stadt auf dem Schiff mit Energie zu versorgen. Deswegen muss das so vorbildliche Klimahaus in Sachen Lüftung mit einer Hybridlösung arbeiten. Die Grundbelüftung ist natürlich und erfolgt mechanisch – einfach Fensterflügel

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Das Rendering zeigt die exponierte Lage in der ersten Reihe am Strandkai: Der Marco Polo Tower wird wohl bald die teuersten Wohnungen Hamburgs beheimaten. Das Unilever-Gebäude besitzt ein Flachdach, wird aber darauf mit weit sichtbaren Shed-Dächern gekrönt – ein Einfall wider die formale Langeweile.

öffnen. Ist die QM2 in der Stadt, bitte die Fenster in der Außenfassade geschlossen halten, und der Facility Manager drückt den Knopf für Frischluft, die über ein Filtersystem in das Atrium gepumpt wird. Sicher ist es beeindruckend, wenn das Haus mit seiner Technik dieses Problem lösen kann. Doch vernünftiger wäre es wohl, wenn weltweite Vorschriften dafür sorgten, dass die Kreuzfahrtschiffe sich überall an ein einheitliches lokales Energieversorgungssystem andocken, so wie es Flugzeuge am Flughafen schon lange tun. Allerdings müssen dafür dann auch lokale Ressourcen vorhanden sein. Bleibt noch ein Hinweis auf die eigens entwickelte Folienfassade, die in einem kleinen Abstand vor die eigentliche Außenwand mit der Pfos­tenriegelkonstruktion, der Isolierverglasung und dem außen liegenden Sonnenschutz gesetzt ist. Dieser Sonnenschutz hilft durch Verhinderung solarer Aufheizung zu kühlen. Er ist ein Teil des Konzepts, nach dem der Gesamtprimärenergiebedarf mit weniger als 100 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr berechnet werden konnte. Und der elegante Folienvorhang ist nicht nur schön, sondern auch nützlich, weil er den Sonnenschutz vor Hafenwinden schützt. Allerdings auch nur bis Windstärke sieben (sonst nur fünf), dann fährt der Sonnenschutz automatisch hoch. Insgesamt erweckt diese Art der Fassade die Hoffnung, dass immer noch etwas Neues entstehen kann, solange Architekten und Ingenieure forschen. Das Arbeiten in der Hafencity hat eine neue Qualität bekommen und die hohen Erwartungen sind erfüllt. Bald wird auch der Marco Polo Tower vollendet sein und im Rohbau an seine Käufer übergeben. Der Investor hat mehrere Innenarchi-

tekten aufgefordert, den Käufern Wohnwelten nach Wunsch anzubieten, damit man den Hafen und besonders den attraktiven Nordblick aus den Höhen auf die schönste Stadt der Welt bewundern kann. Bei einer Quadratmeter-Gebühr jenseits der 10 000 Euro ist dieser allerdings im Gegensatz zum Unilever-Haus nicht sehr öffentlich, sondern ein Minderheitenprogramm. Bauaufgabe Neubau Hauptverwaltung Unilever Deutschland Architekten Behnisch Architekten – Stefan Behnisch, David Cook, Martin Haas Mitarbeiter Peter Schlaier (Projektleiter), Stefan Zemmrich, Andreas Leupold, Irina Martaler, Eckart Schwerdtfeger, Dennis Wirth, Andreas Peyker, Mandana Alimardani, Jens Berghaus, Matias Stumpfl, Thomas Strähle, Dagmar Luz Bauleitung 360grad+ architekten, Hamburg Garten- und Landschaftsarchitekten Entwurf Außenanlagen: EMBT Enric Miralles – Benedetta Tagliabue, Barcelona Fachingenieure Tragwerksplanung: Entwurf: Pfefferkorn Ingenieure, Stuttgart; Genehmigungs- und Ausführungsplanung: Weber Poll, Hamburg; Haustechnik: HKP Ingenieure GmbH, Hamburg; Energieberatung Wettbewerb: Transsolar, Stuttgart; Bauphysik: Ingenieurgesellschaft für Technische Akustik, Weimar; Fassadenberatung: Prof. Michael Lange Ingenieurgesellschaft mbH, Hamburg; Organisatorische Gebäudeplanung: Quickborner Team Gesellschaft für Planung und Organisation mbH, Hamburg; Fassadenberatung/Fassadenstatik Folienfassade: form TL Ingenieure für Tragwerk und Leichtbau GmbH, Radolfzell; Lichtplanung: Licht 01 Lighting Design, Hamburg; Bauherr Strandkai 1 Projekt GmbH, c/o HOCHTIEF Projektentwicklung GmbH, Hamburg Konstruktion und Material Tragwerk: Stahlbetonskelett-Konstruktion; Flachdecken, teilweise vorgespannt; Dachkonstruktion: Faltwerk, fachwerkartig mit Stahlrundrohrprofilen aufgelöst; Büroböden: akustisch wirksamer Doppelboden aus gelochten Calciumsilikatplatten, Ausführung als Druckboden zur Frischluftversorgung; Meetingpoints und Konferenzbereiche: Hohlraumboden; Andere Bereiche: Zementestrich, schwimmend, mit unterschiedlichen Aufbauten; Doppelfassade der Bürogeschosse: Innen: Aluminium-Elementfassade; vorgehängte Folienfassade: Einlagig gespannte ETFE Folie, Unterspannung durch Stahlseile mit Edelstahldruckstempel, Stahlkonstruktion Größe BRI: 165 800 m³, Mietfl. (entspricht NF): 28 000 m² Standort Strandkai 1, 20457 Hamburg

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Editorial von Konstantin Kleffel Hamburger Architektur 2008/2009 Behnisch Architekten: Das Unilever-Gebäude in der Hafencity Kleffel Papay Warncke Architekten: Das Brahms Kontor Carsten Roth Architekt: Das Brahmsquartier in der Neustadt Helmut Riemann Architekten: Neue und alte Häuser im Reemtsma Park Nickl & Partner Architekten: Das »Neue Klinikum« des UKE Akyol Kamps Architekten; Architektur + Stadtplanung Ewers Dörnen + Partner GmbH; Stölken Schmidt Architekten: Hamburger Kirchbau im Zeichen der Krise Böge Lindner Architekten: Drei Neubauten für Radio Bremen Böge Lindner Architekten: Wohnbebauung in Bergedorf APB. Architekten: Scheideweghöfe Spengler Wiescholek Architekten und Stadtplaner: Die Hafencity-Schule Ingenhoven Architects, Düsseldorf: Wohnturm am Sandtorhafen Neustadt Architekten, Meyer Steffens Architekten, Dohse + Stich Architekten, Fusi & Ammann Architekten, Beata Huke-Schubert: Wohnen im Park des AK Eilbek Carsten Lorenzen; SEHW Architekten; Grüntuch Ernst Architekten: Wohnhöfe an der Fischers Allee in Ottensen trapez architektur: Die neue Betriebszentrale der Hochbahn

Kramer Biwer Mau Architekten: Umkleidegebäude auf dem Eurogate Container Terminal HinrichsNicoloviusArchitekten: Baulückenschließung in Ottensen Schenk + Waiblinger Architekten: Die »Domkaskaden« an der Domstraße Kraus Schönberg Architekten: Wohnhaus im Norden von Hamburg Dinse Feest Zurl Architekten: Experimentierhalle PETRA III Archipark Architekten: Reihenhaus in der Bernadottestraße Schweger Associated Architects: Collegium Hungaricum in Berlin-Mitte Hamburger Feuilleton City reloaded – Die Innenstadt verändert wieder einmal ihr Gesicht Ein Hamburger Boulevard – 100 Jahre Mönckebergstraße Alte und neue Traditionen – Der Backstein und die Nachhaltigkeit Nachruf und Hoffnung – Über das endgültige Verschwinden der Hamburger Pfeilerbahn und die Chancen im Oberhafenviertel Stadt für alle! – Anmerkungen zum Hamburger Wohnungsbau Paradigmenwechsel im Hochwasserschutz – Vom Deichbau zum Risikomanagement Handwerk oder Avantgarde? – Der Architekt André Poitiers Tradition und Innovation – Hamburger planen im Hafen von Rotterdam Werner Hebebrand (1899 – 1966) und der Mythos der »Stunde Null«


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