Leseprobe: Altona & Ottensenbuch

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Altona & Ottensenbuch Altona-Altstadt, Altona-Nord, Bahrenfeld, Hafenkante und ottensen


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VON ALTONA ALTSTADT NACH ALTONA-NORD

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ALTONA-ALTSTADT

Inhalt

Einleitung 4 Chronik 8 Altona-Altstadt 12 Altona – dänisch, deutsch, preußisch oder gar österreichisch? 14 Leckereien aus Altona 34 Adressen Altona-Altstadt 42 Hafenkante 44 Adressen Hafenkante 66 Ottensen 68 Gentrifizierung 81 Adressen Ottensen 92 Leute aus Altona 96 Altstadt nach Altona-Nord 102 Sport in Altona 114 Adressen Altstadt nach Altona-Nord 126 Altona-Nord 130 Adressen Altona-Nord 150 Bahrenfeld 152 Steenkamp-Siedlung 157 Fußball in Altona 160 Altonaer Volkspark 173 Adressen Bahrenfeld 178 Literatur 180 Bildnachweis 181 Über den Autor 183


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Einleitung

Joachim Ringelnatz hat dem heutigen Hamburger Stadtteil Altona in seinem Gedicht »Die Ameisen« (1924) ein kleines, scheinbar beiläufiges Denkmal gesetzt. »In Hamburg lebten zwei Ameisen, die wollten nach Australien reisen. Bei Altona auf der Chaussee, da taten ihnen die Beine weh, und da verzichteten sie weise dann auf den letzten Teil der Reise.« Dem Leser mag sich die Frage stellen, ob den beiden tatsächlich nur die Beine weh taten oder ob ihr Verzicht auf Ferne und Freiheit, Abenteuer und die Attraktionen der Fremde nicht vielleicht auch damit zu tun hat, dass Altona ein Ort ist, an dem man sich wohlfühlen kann. Wohler vielleicht sogar als in der großen Nachbarstadt, die Altonas Schicksal und Geschichte so maßgeblich mitprägte. Als Hafenstadt war Altona der weiten Ferne vielleicht schon immer etwas näher: Der Blick die Elbe hinab, den Schiffen hinterher und entgegen, gibt dem Fernweh Nahrung, und zugleich bringen die mit Waren gefüllten Schiffe die weite Welt nach Hause. Noch dazu war Altona über Jahrhunderte eine freiere Stadt als die nur wenige Meter östlich gelegene stolze protestantische Metropole. Doch schon zu Ringelnatz’ Zeiten könnte man das kleine Gedicht auch als eine Miniatur des Hochmuts und des Scheiterns gelesen haben. Die großen


Einleitung Ozeanschiffe dampften seit dem 19. Jahrhundert meist an Altona vorbei, um ihre Preziosen in Hamburg anzulanden. Vor allem Fische, kalt und tot, Proteinlieferanten des kleinen Mannes, der in den Ottenser Fabriken schuftete, und Broterwerb der kleinen Frau, die sich in der Fischverarbeitung die Finger abfror, waren es, die in Altona noch erfolgreich gehandelt und verarbeitet werden konnten. Wie es passieren konnte, dass Altona sich seit seiner Gr체ndung als Fischerdorf in der ersten H채lfte des 16. Jahrhunderts vor allem im 18. Jahrhundert zu einer bl체henden Handelsstadt mit reichem kulturellen Leben entwickelte, deren Glanz im Laufe des 19. Jahrhunderts ebenso schnell wieder verblasste, davon wird in diesem Buch die Rede sein. Um 1900 war Altona jedenfalls zu einer Arbeiterstadt geworden, die in der Weimarer Zeit gar als eine sozialdemokratische Musterstadt galt, obwohl die Sozialdemokraten in der kurzen ersten deutschen Demokratie hier nie allein Fabrikschlote In Ottensen, um 1910

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Einleitung 6

regierten. Gegen Ende der Weimarer Zeit war Altona durch Eingemeindungen zu einer Großstadt mit über 200 000 Einwohnern angewachsen. Und so ist die Geschichte Altonas eben auch die Geschichte mehrerer Orte westlich von Hamburg. Es ist die Geschichte Ottensens, eines ehemaligen Haufendorfs, das sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund besonderer regionaler Umstände zu einem bedeutenden Industriestandort und kurzzeitig sogar einer selbständigen Stadt entwickelte, ehe es 1889 in Altona eingemeindet wurde. Und es ist die Geschichte weiterer Dörfer wie Bahrenfeld, Othmarschen oder Blankenese, die Ottensen folgten und zu Altonaer Stadtteilen wurden, ehe die Stadt selbst 1937 / 38 in Hamburg aufging. Der Altonaer Stadtarchivar Paul Theodor Hoffmann (1891–1952) charakterisierte die Altonaer Geschichte folgendermaßen: »Bei dem ersten Eindringen in die Altonaer Geschichte und Kulturgeschichte wurde mir alsbald klar, dass Altona eine der merkwürdigsten und interessantesten Städte der Welt war mit einem ebenso besonderen, schließlich fast tragischen Schicksal.« Ob das Ende der Stadtgeschichte so tragisch war, sei dahingestellt. Dass sich Altona ein gewisses eigenes Profil bewahrt hat, ist jedoch unbestritten. Für manchen Stadteilbewohner ist Altona gar immer noch das bessere Hamburg – freiheitlicher, weltoffener, internationaler –, und die ehemalige Zugehörigkeit zum dänischen Staat wird zur verklärten historischen Option. Bis heute künden zahlreiche Gebäude und Denkmäler von der eigenständigen Geschichte Altonas, die über zweihundert Jahre mit derjenigen des Staates Dänemark verbunden war. Noch dazu hat sich der Stadtteil ein eigenes Zentrum bewahrt. Interessanterweise ist dieses Zentrum jedoch nicht das historische. Der einstmalige Kern der Stadt lag bei der St.-Trinitatis-Kirche und dem Fischmarkt unmittelbar an der Grenze zu Hamburg. Bereits im 19. Jahrhundert verlagerte sich das Stadtleben aber allmählich nach Westen an die Grenze zu Ottensen. Und heute? Heute würden nicht


Einleitung nur Besucher vermutlich den Altonaer Bahnhof und Ottensen mit seinen vielen Geschäften, Cafés, Kneipen und Restaurants als Kern des Stadtteils ausmachen. Ich beschränke mich in diesem Buch auf das alte Kerngebiet Altonas, also die heutigen Stadtteile Altona-Altstadt und -Nord, Ottensen, Neumühlen und Bahrenfeld. Einer der Folgebände dieser von Stattreisen Hamburg e.V. und dem Junius Verlag entworfenen Stadtteilbuchreihe wird sich den restlichen Stadtteilen Altonas, insbesondere Blankenese und den Elbvororten, widmen. Altonas historischer Kern wird im Folgenden durch sechs Rundgänge erschlossen, die zum Teil direkt aneinander anschließen. Am Ende der Rundgänge finden sich jeweils gastronomische Tipps und Hinweise auf gute und interessante Geschäfte sowie die kulturellen und sozialen Institutionen im Stadtteil. Ergänzt werden die Touren durch Exkurse zu bedeutsamen Themen der Gegenwart und Geschichte Altonas. Eine Chronik und ein Verzeichnis mit weiterführender Literatur zum Stadtteil vervollständigen das Buch.

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chronik

1256 erste urkundliche Erwähnung Bahrenfelds 1310 erste urkundliche Erwähnung Ottensens 1339 Der Pepermölenbek wird zur Westgrenze Hamburgs. 1420 Inbetriebnahme einer Mühle in Neumühlen 1535 erste urkundliche Erwähnung Altonas frühes 17. Jh. Graf Ernst von Schauenburg gewährt Nicht-Protes­ tanten Glaubens- und Gewerbefreiheiten.

1611/12 Anlage des jüdischen Friedhofs an der Königstraße 1639 Anlage der Palmaille 1640 Der letzte Schauenburger Graf der Pinneberger Linie stirbt ohne Erben. Altona fällt an Dänemark. 1649/50 Bau der ersten lutherischen Kirche, St. Trinitatis 1650er Jahre Hamburg erhält das Angebot, Altona und Ottensen von Dänemark zu kaufen, verzichtet aber darauf. 1664 Altona erhält das Stadtrecht. 1674 erstmalige Erwähnung Övelgönnes 1682 Bau der Synagoge der hochdeutschen Juden in der Kleinen Papagoyenstraße 1703 Gründung des Fischmarkts 1713 Im Nordischen Krieg wird Altona durch Brandstiftung der Schweden zu zwei Dritteln zerstört. Danach erfolgt ein geordneter Wiederaufbau unter Oberpräsident von Reventlow und Stadtbaumeister Stallknecht; Altonas


chronik 9

Ottensen, 1849

»Goldenes Zeitalter« beginnt.

1716-21 Bau des Rathauses an der Königstraße 1722-24 Anlage des ersten Hafenbeckens (Holzhafen) 1742/43 Neubau der St.-Trinitatis-Kirche 1768 Gottorper Vergleich: Dänemark erkennt Hamburg als »Freie Reichsstadt« an und gibt die Elbinseln gegenüber von Altona an die Hansestadt ab. Anfang 19. Jh. Beginn des wirtschaftlichen Niedergangs Altonas in der napoleonischen Zeit 1845/46 Stadterweiterungskonzept unter Bürgermeister Behn 1839-44 Anlage der Bahnlinie Altona–Kiel und Bau des ersten Bahnhofs 1853 Altona wird von Dänemark aufgrund von Illoyalität zum Zollausland erklärt; in der Folge siedeln sich Industrien im benachbarten Ottensen an. 1863/64 Dänemark unterliegt im Krieg Preußen-Österreich; Altona kommt 1865 unter österreichische Verwaltung.


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* Jüdischer Friedhof * Ehemaliges Gängeviertel * Heiligengeist-Kirchhof * Palmaille * Altonaer Rathaus * Platz der Republik * Stuhlmannbrunnen

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Altona-Altstadt Startpunkt: S-Bahn-Station Königstraße Endpunkt: Stuhlmannbrunnen (Nähe Bahnhof Altona) Dauer: etwa 1,5 Stunden

1 S-Bahn-station KönigstraSSe (Ausgang KönigstraSSe) Dieser Rundgang beginnt ziemlich genau im alten Zentrum Altonas, das rund um die evangelische St.-Trinitatis-Kirche lag. Mit dem Bau des Bahnhofs im Jahr 1844, dem heutigen Rathaus am Ende der Palmaille (vgl. Station 8), verlagerte sich die Stadt jedoch nach Westen. Spricht man heute vom Zentrum Altonas, so verstehen die meisten darunter die Gegend um den heutigen Altonaer Bahnhof, insbesondere Teile des ehemaligen Nachbarortes Ottensen (vgl. Ottensen-Rundgang). Altonas eigenständige Geschichte begann im 16. Jahrhundert und endete mit der Eingemeindung nach Hamburg 1937 / 38. Über die Jahrhunderte hatte die Stadt viele Herren. Altona war schauenburgisch, die längste Zeit – knapp 225 Jahre – dänisch, ganz kurz österreichisch, dann preußisch und seit 1937 eben Teil Hamburgs (vgl. Altona – dänisch, deutsch, preußisch oder gar österreichisch?, S. 14). Zwei Aspekte prägen die Geschichte der Stadt in besonderem Maße. Zum einen die im frühen 17. Jahrhundert begründete Tradition als Freistatt, also als Ort, an dem Flüchtlinge und an ihrem Herkunftsort Unerwünschte immer wieder eine neue Heimat finden konnten. Hierbei handelte es sich einerseits um Flüchtlinge aus anderen Gegenden Europas, zum anderen aber auch um in Hamburg nicht erwünschte Menschen. Das andere bestimmende Merkmal war die geografische Lage in unmittelbarer Nähe zu Hamburg und die Konkurrenz zum großen Nachbarn. Auf Augenhöhe befanden sich die beiden Orte selten, war Hamburg doch stets die ältere, größere, mächtigere Stadt. Dennoch erschienen die Altonaer den Bürgern Hamburgs immer wieder als lästige Nebenbuhler, deren ökonomische Wirkungskreise es zu begrenzen galt.

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Altona-Altstadt 14

Bevor wir uns ins ehemalige Zentrum bei der St.-Trinitatis-Kirche begeben, gehen wir zunächst die Königstraße nach Osten in Richtung Hamburg, überqueren die Kirchenstraße und anschließend die Königstraße nach links, bis wir zum alten jüdischen Friedhof, dem vielleicht bedeutendsten Kulturdenkmal Altonas, gelangen.

Altona – dänisch, deutsch, preuSSisch oder gar österreichisch? Trotz der in Altona stets präsenten dänischen Staatssymbolik war die Stadt eigentlich immer deutsch, auch wenn sie lange Zeit – 224 Jahre, um genau zu sein – zum dänischen Staatsverband gehörte. Von der Altonaer Bevölkerung wurde beispielsweise nie Dänisch gesprochen. Altonas Zugehörigkeit zu Dänemark war eher indirekt und beruhte vor allem auf der Tatsache, dass die Herzöge von SchleswigHolstein gleichzeitig Könige Dänemarks waren. In der Frühzeit gehörte Altona zur Pinneberger Linie der Schauenburger Grafen, die 1639 ausstarb. Altona fiel in der Folge 1640 an Dänemark und wurde im Weiteren als Freihafen und Handelsplatz protegiert. Wie kam es nun zur Trennung von Dänemark? Im 19. Jahrhundert kamen in Schleswig-Holstein Bestrebungen auf, nicht mehr dem dänischen König zu unterstehen. Zugleich versuchte die dänische Staatsführung unter Christian VIII. ab dem Jahr 1838 jedoch, Schleswig zu einer »echten« dänischen Provinz zu machen, was auf Widerstände stieß, denn Schleswig und Holstein sollten »op ewig ungedeelt« sein. 1848 kam es zur Erhebung gegen Dänemark. Es folgten drei Kriege, doch 1852 wurde Dänemarks Oberherrschaft vertraglich bekräftigt. Wegen seiner anti-dänischen Haltung wurde Altona von den Dänen im Anschluss bestraft und zum Zollausland erklärt. Industrien und Gewerbe wanderten teilweise ins nahe gelegene Ottensen und somit ins dänische Zollinland ab. Erst in der Folge dieser Entwicklung konnte sich Ottensen zu einem nicht unbedeutenden Industriestandort entwickeln.


Altona-Altstadt 1863 erklärte Christian IX. Schleswig zu einem Teil des dänischen Reiches. Damit brach Dänemark den Vertrag von 1852. Es kam zum Krieg zwischen Dänemark und Preußen / Österreich. Die Dänen verloren, und Christian IX. musste im Frieden von Wien Ende Oktober 1864 auf seine Rechte an Schleswig-Holstein zugunsten von Preußen und Österreich verzichten, die eine gemeinsame Verwaltung der beiden Provinzen beschlossen. Im August 1865 vereinbarten die beiden Großmächte die Verwaltungsaufteilung: Holstein (und damit auch Altona) kam unter österreichische Verwaltung, die von Kiel aus ausgeübt wurde. Für ein knappes Jahr wurde Altona nun rechtlich österreichisch! Hieran erinnert in Altona nur wenig. Die »Adler-Apotheke« an der Ecke Altonaer Straße / Schulterblatt schmückte bis vor einigen Jahren noch ein Schild, das damit warb, sie sei königlich-kaiserlich privilegiert. Außerdem erinnert im Elbpark unweit des Altonaer Balkons noch ein Denkmal an die Beteiligung der österreichischen Marine an einer Schlacht bei Helgoland im Krieg mit Dänemark 1864. Im Juni 1866 kam es zum Bruch zwischen Österreich und Preußen. Preußen rückte nach Holstein ein, und die Österreicher räumten kampflos das Feld. Der Streit um Schleswig-Holstein wurde zum formalen Grund für den nun folgenden preußisch-österreichischen Krieg, den Preußen bereits nach wenigen Tagen in der Schlacht bei Königgrätz für sich entscheiden konnte. Österreich trat seine Rechte an SchleswigHolstein an Preußen ab, das diese 1866 / 67 zur preußischen Provinz machte. Voilà – Altona wurde dadurch zu einer preußischen Stadt, bis es unter den Nationalsozialisten 1937 per Gesetz zu einem Stadtteil Hamburgs wurde. Die beiden Städte hatten sich einander allerdings bereits einige Jahre zuvor so sehr angenähert, dass sie Politik betrieben, als seien sie längst eine Stadt.

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2 Jüdischer Friedhof KönigstraSSe Altona wurde in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegründet (ausführliche Informationen zu den frühen Jahren Altonas finden sich im Hafenkanten-Rundgang). Dass hier im früheren Zentrum des Ortes ein jüdischer Friedhof liegt, der bereits 1611 / 12 angelegt wurde, ist sicher nicht selbstverständlich. Schon vor 1600 kamen Reformierte und Mennoniten, aber auch die im streng protestantischen Hamburg schlicht unerwünschten Katholiken sowie Juden nach Altona, die vor der Verfolgung in den Niederlanden geflohen oder von der iberischen Halbinsel vertrieben worden waren. Altona war damals noch sehr klein – es lebten hier zu jener Zeit nur um die zweihundert Menschen – und lag im Herrschaftsbereich der Grafen von Schauenburg. Ab Ende des 16. Jahrhunderts erteilte Graf Ernst von Schauenburg mehreren Glaubensgemeinschaften das Recht, hier ihre Religion auszuüben, ihre Toten zu bestatten und ihren Gewerben nachzugehen. Altona wurde dadurch die erste gewerbliche und religiöse Freistatt Nordeuropas. Dieser so tolerant anmutende Schritt hatte aber wohl in erster Linie einen finanziellen Grund, denn die chronisch klammen Schauenburger sahen in den Geldern, die der von Ihnen gewährte Schutz einbrachte, eine willkommene Einnahmequelle. Viele der Flüchtlinge hatten sich zunächst nach Hamburg orientiert, fanden dort aber weit weniger liberale Verhältnisse vor und wurden teilweise regelrecht vertrieben. Vor allem portugiesische Juden waren um 1600 nach Hamburg gekommen. Wegen ihrer guten wirtschaftlichen Verbindungen und ihres Reichtums wurden sie dort zwar gern gesehen, aber bis 1861 wurde ihnen keine freie Religionsausübung gestattet. Gleichzeitig empfanden die Hamburger die Ansiedlung der Kaufleute aus fremden Ländern im benachbarten Altona als Konkurrenz, da diese für Altona einen positiven ökonomischen Impuls darstellten. Schließlich waren es vor allem wohlhabende Menschen, die sich die Flucht in den deutschen Norden leisten konnten, um hier ihre Geschäfte wieder aufzunehmen.


Altona-Altstadt Doch auch in Altona leisteten einheimische Handwerker Widerstand gegen die Privilegien für Glaubensflüchtlinge, und so wurde den Einwanderern schließlich 1611 / 12 ein eigenes Viertel zugewiesen, in dem die freie Religions- und Gewerbeausübung gewährleistet war: die heute auf St. Pauli gelegenen Straßen »Große« und »Kleine Freiheit«. Für Altonas Entwicklung war die Gewährung der Freiheiten ein bedeutsamer Schub, und als religiöse Freistatt wurde der Ort zum Vorbild für andere norddeutsche Städte wie Glückstadt und Friedrichstadt. 1611 gewährte Graf Ernst jedenfalls den in Hamburg lebenden portugiesischen (sephardischen) Juden das Recht, ihre Toten in Altona zu begraben. 1612 durften auch die hochdeutschen (aschkenasischen) Juden einen Friedhof anlegen, direkt neben dem portugiesischen. Noch heute kann man die beiden Friedhofsteile gut voneinander unterscheiden: Von der Königstraße aus betrachtet befindet sich der portugiesische Friedhof vorne links. Charakteristisch sind hier die dicht nebeneinander liegenden Grabsteinplatten, die oftmals wie ein kleines Zelt aussehen. Weiter hinten und rechts auf dem Friedhof sind die Gräber der hochdeutschen Juden an den aufrechten Grabsteinen erkennbar. Auch beim Blick auf die Gestaltung der Grabmale werden die Unterschiede deutlich: Die sephardischen Gräber sind z.B. aufwen1 Sephardische Gräber diger und mit vielen Symbolen verziert (Abb. 1) Der Friedhof wurde bis 1869 genutzt und blieb erhalten, bis er in der Nazizeit und im Zweiten Weltkrieg zum Teil zerstört wurde. Seit einigen Jahren ist er wieder öffentlich zugänglich. Das kleine Informationszentrum und regelmäßige Führungen der

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Stiftung Denkmalpflege bieten die Gelegenheit zur näheren Information. Auch nach dem Aussterben der Schauenburger Grafen wurde von den seit 1640 regierenden Dänen die im heutigen Sinne liberale Politik fortgeführt, erweitert und sogar im Stadtprivileg von 1664 verbrieft. Erst im 19. Jahrhundert, nachdem sich auch in Hamburg die Gedanken der Aufklärung allmählich Wirkung verschafften, verlor Altona seine Bedeutung als Fluchtort für religiöse Flüchtlinge. Zurück an der Königstraße lohnt es sich, den Schritt ein paar Meter weiter Richtung Hamburg zu lenken. Direkt neben dem Friedhof fällt der Blick auf eine Grünanlage und ein Wohnhochhaus (Abb. 2). Sie sind Teil der an dieser Stelle realisierten stadtplanerischen Ideale der 1950er Jahre. Hier wurde der maßgeblich von Ernst May entwickelte Plan in Angriff genommen, das zum Großteil zerstörte Altona im neuen Maßstab wieder aufzubauen. Die Grundidee dieser Planungen war die Schaffung eines Grünzugs vom Fischmarkt bis zum Friedhof Norderreihe (heute Wohlerspark, vgl. Rundgang von Altona-Altstadt nach Altona-Nord) mit voneinander getrennten Auto- und Fußwegen und einer aufgelockerten Wohnbebauung inmitten des Grüns. Die Blockrandbebauungen der Gründerzeit galten den Planern als zu eng und unzeitgemäß. Zudem sollten Wohn- und Arbeitsgebiete bewusst voneinander 2 Entwurf für das Hochhaus getrennt werden – beides Ideale, die ScheplerstraSSe, 1955 heute nicht mehr hoch im Kurs stehen. Und so wurden historisch gewachsene Strukturen beim Neubau oft ignoriert. Während Mays Pläne im Osten Altonas weitgehend realisiert wurden, kam es, abgesehen von Ausnahmen wie dem Einkaufszentrum Große Bergstraße (vgl. Ottensen-Rundgang), allerdings nicht mehr zum geplanten Abriss der Reste des gründerzeitlichen Altonas.


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3 Altonaer Rathaus, um 1914

Wenden wir den Blick auf die andere Straßenseite, so fällt er auf eine für sich genommen unspektakuläre Tankstelle. Sie markiert jedoch ungefähr jene Stelle, an der bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg das zwischen 1716 und 1721 errichtete alte Altonaer Rathaus des königlichen Stadtbaumeisters Claus Stallknecht (1681–1734) stand (Abb. 3). Unser Weg führt nun zurück zur Kirchenstraße, über die wir vor die St.-Trinitatis-Kirche gelangen.

3 St. Trinitatis Die Gegend rund um die protestantische St.-Trinitatis-Kirche wurde im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört. Es ist heute kaum mehr vorstell-


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4 Kleine MühlenstraSSe und St. Trinitatis, 1918 / 5 Ruine St. Trinitatis, 1960

bar, dass sich hier, im Zentrum der Stadt, einmal ein verwinkeltes Altstadtgebiet befunden hat. Dem Hamburger Gängeviertel nicht unähnlich, gab es an dieser Stelle ein sehr dicht bebautes Straßengewirr, das vornehmlich von einfachen Fachwerkbauten geprägt war, in denen vor allem Arbeiterfamilien lebten (vgl. Station 5). Auch die St.-Trinitatis-Kirche wurde im Krieg bis auf die Grundmauern und den Turmstumpf zerstört (Abb. 5). Die erste St.-Trinitatis-Kirche war in anderer Form erstmals 1649 / 50 von einem Altonaer Zimmermann errichtet worden und erhielt zwischen 1688 und 1694 durch Jacob Bläser ihren Turm im holländischen Stil, wie wir ihn heute noch sehen. Für Altona wurde der Turm zum Wahrzeichen. Er sollte bewusst den Hamburger Türmen Konkurrenz machen, um die Bedeutung und den Anspruch der benachbarten dänischen Hafenstadt zu unterstreichen. Nachdem diese erste Kirche baufällig geworden war, wurde 1742 / 43 die Kirche in ihrer heutigen Form von Cay Dose gestaltet. Das Kirchenschiff mit dem kreuzförmigen Grundriss wurde an den Turm herangebaut. Emporen und Logen umfassten die Gemeinde, die auf die große raumbeherrschende Kanzel ausgerichtet war, während der barocke Hauptaltar vor dem


Altona-Altstadt Ostfenster an das Ende des Raumes rückte. Zwei sich durchkreuzende, von Außenwand zu Außenwand führende Tonnengewölbe überspannten den Innenraum und bildeten im Schnittpunkt der vier Kreuzarme einen Mittelpunkt, über dem sich im äußeren Bild der Kirche der große Dachreiter erhob. Das Bauwerk war für seine Zeit recht beeindruckend (Abb. 4), sodass der Baumeister des Michels, Ernst Georg Sonnin, beim Anblick des Altonaer Kirchturms immer achtungsvoll den Hut gelüpft haben soll. Von der barocken Pracht blieb nach den Bombennächten im Juli 1943 fast nichts mehr bestehen. Ein Wiederaufbau schien in den ersten Jahren nach dem Krieg unmöglich zu sein. Zunächst wurden der Totalabbruch und die Errichtung einer modernen Kirche diskutiert, doch in den 1950er Jahren setzte sich die Überzeugung durch, dass der Bau gerettet und in modernisierter Form wiedererrichtet werden sollte. Die Denkmalpflege plädierte für die Wiederherstellung der ursprünglichen äußeren Gestalt, sah für den Innenraum jedoch eine moderne Lösung vor, die zwischen 1963 und 1969 schließlich von Horst Sandtmann und Friedhelm Grundmann umgesetzt wurde. Nicht mehr im Chor, sondern im Schnittpunkt der Kreuzarme steht nun zentral im Raum ein neuer Altar. Im Chor findet sich jetzt hingegen Raum für Musiker und Orgel. In der Achse zwischen Altar und 6 Königsinsignien St. Trinitatis Orgel wurde das einzige erhaltene historische Ausstattungsstück, ein Holzkruzifix aus dem 13. Jahrhundert, auf einer neu geschaffenen Kreuzsäule errichtet. Der lächelnde Christus von Altona ist einzigartig im europäischen Raum. Auch die Turmfassade zeigt sich seither schlichter als vor dem Krieg. Interessant ist hier das bekrönte »C 5«, das auf den dänischen König Christian V. verweist, in dessen Regierungszeit der Turm der Kirche gebaut wurde (Abb. 6). Für die gelungene Verbindung von Alt und Neu wurde der Wiederauf-

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Adressen Altona-Altstadt 42 Bars / Clubs

Läden

Seeteufel Elbchaussee 4 www.seeteufel-hamburg.de ➜ alte Seemannskneipe beim Altonaer Rathaus

designbutik Stiels Königstraße 18 www.stiels-designbutik.com ➜ individuelles skandinavisches VintageDesign

Cafés / Restaurants Altonas Balkon www.altonas-balkon.de ➜ schöner Biergarten mit Hafenblick zwischen Palmaille und Altonaer Balkon El Greco Behnstraße 23 ➜ griechisches Restaurant PUR Klopstockplatz 3 www.pur-hamburg.de ➜ moderne deutsche Küche Ristorante San Lorenzo Max-Brauer-Allee 16 / Ecke Königstraße ➜ klassisches italienisches Restaurant Vierländer Kate Museumstraße 23 www.vierlaenderkate.de ➜ rustikal-norddeutsches Restaurant in einer alten Kate im Altonaer Museum

Foto Company Altona Königstraße 30 www.fotocompanyaltona.de ➜ Fotograf, Fotoladen und Galerie in einem Otto Hatje Alte Königstraße 5 www.ottohatje.de ➜ Zigarrenherstellung seit 1922 – und der letzte Laden seiner Art in Altona Museumsladen im Altonaer Museum Museumstraße 23 www.altonaermuseum.de ➜ Kinderbücher und Spielwaren, Altonaund Hamburg-Literatur, sehr sorgfältig ausgewählt Radsport Cycle-Factory Max-Brauer-Allee 36 www.cyclefactory.de ➜ Fachgeschäft für sportliche Fahrräder Schlüter’sche Buchhandlung Behnstraße 6 ➜ kleine Buchhandlung, die es bereits seit 1789 gibt


Adressen Altona-Altstadt Hotels Hotel Stephan Schmarjestraße 31 www.hotel-stephan.de ➜ einfaches Hotel bei der St. Petri-Kirche

Freizeit / Sport Altonaer Turnverband von 1845 Kirchenstraße 21 www.atvsports.org ➜ sehr alter Turnverein mit umfangreichem Kursangebot ➜ Boule wird fast täglich vor dem Altonaer Museum gespielt, hier treffen sich auch die Mitglieder des Altonaer Boule Clubs.

Kultur Altonaer Museum Museumstraße 23 www.altonaermuseum.de ➜ große Sammlung zur norddeutschen und Altonaer Geschichte Altonaer Theater Museumstraße 17 www.altonaer-theater.de ➜ seit 1954 in der ehemaligen Aula des »Haus der Jugend« von Gustav Oelsner

Jüdischer Friedhof Königstraße 10 A www.jüdischer-friedhof-altona.de ➜ sehr bedeutendes Denkmal jüdischer Kultur St. Trinitatis Kirchenstraße 40 www.hauptkirche-altona.de ➜ nach dem Zweiten Weltkrieg modern wiederaufgebaute Barockkirche

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Über den Autor 183

Dr. Jörn Tietgen (* 1969) wuchs in der Harkortstraße in Altona-Nord mit dem Duft der Holsten-Brauerei in der Nase auf. Die Grundschulzeit absolvierte er in der Theodor-Haubach-Schule und legte sein Abitur am Gymnasium Allee-Altona ab. Nach einer Banklehre und dem Zivildienst folgten der Umzug ins ferne Grindelviertel und ein Studium der Politischen Wissenschaft und Geschichte in Hamburg und Edinburgh. Seit 1994 arbeitet er als Stadtführer für Stattreisen Hamburg e.V. und hat zahlreiche historische Rundgänge konzipiert sowie Artikel zur Geschichte Hamburgs veröffentlicht. Fußballerisch kam er nach seiner Jugend bei Altona 93 nicht über die Kreisliga in der 2. Mannschaft von Union 03 hinaus. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt zurzeit in London.


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