Leseprobe: Architektur in Hamburg. Jahrbuch 2014

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Architektur in Hamburg Jahrbuch 2014 Herausgegeben von Dirk MeyhĂśfer und Ullrich Schwarz im Auftrag der Hamburgischen Architektenkammer


Inhalt

8 Editorial von Karin Loosen

Hamburger Architektur 2013 / 2014

10 Die schmerzhafte Wiedergeburt der Innenstadt – Das Katharinenquartier Text: Claas Gefroi Architekten: KPW Papay Warncke und Partner; Darlington Meier Architekten AG (Zürich) 20 Point de vue am Adolphsplatz – Innova­tionsCampus der Handelskammer Hamburg Text: Dirk Meyhöfer Architekten: Hörter + Trautmann, Johann von Mansberg Architekten 26 Mut zur Ruppigkeit – Die HafenCity Universität am Elbufer Text: Lars Quadejacob Architekten: Code Unique (Dresden) 36 Eigenwillige Eisheilige – Das Quartier Sophienterrassen in Harvestehude Text: Dirk Meyhöfer Architekten: Kahlfeldt Architekten mit Philipp Rentschler (Berlin); Kister, Scheithauer, Gross (Köln); MRLV Architekten; pink architektur (Düsseldorf); Carsten Roth; WES & Partner Landschaftsarchitekten

52 Handel ist Wandel – Die Kaisergalerie Text: Claas Gefroi Architekten: David Chipperfield (Berlin); HinrichsNicoloviusArchitekten

84 Für die nächsten hundert Jahre – Die neue Wehranlage »Fuhlsbütteler Schleuse« Text: Falk Jaeger Architekten: Wagenknecht Architekten

58 Eine neue Welt im Hinterhof – Das Sanierungsprojekt »Talschmuck« in St. Pauli Text: Falk Jaeger Architekten: Thüs Farnschläder

86 Längeres Leben für ein modernes Kleinod – Die Bahnsteigbrücke Kellinghusenstraße Text: Sven Bardua Architekt: Mathias Hein

62 Gartenstadtwohnen – Drei Holzhäuser in Barmbek Text: Wolfgang Bachmann Architekten: spine architects 66 Eine Hommage an Gustav Oelsner – Der Wohnblock Gaußstraße Text: Ralf Lange Architekten: DFZ Architekten 70 Von der Siedlung zum Quartier – Neubauten im Weltquartier in Wilhelmsburg Text: Olaf Bartels Architekten: Knerer und Lang (Dresden); Gerber Architekten (Dortmund); pörksen partner architekten + stadtplaner 76 Um den Baum herum gebaut – Einfamilienhaus in Ottensen Text: Ralf Lange Architekten: zweitraum – büro für architektur

46 Sachliche Romanze – Die Erich Kästner Gemeinschaftsschule in Elmshorn Text: Ulrich Höhns Architekten: BLK2 Böge Lindner K2

78 Unter der Blechlinde – Gender Mainstreaming Projekt in Lokstedt Text: Gert Kähler Architekten: czerner göttsch architekten

80 Neugotik. Expressiv und aktuell – Das Ulrich-Gabler-Haus in Lübeck Text: Ulrich Höhns Architekten: Konermann Siegmund Architekten Stadtplaner

6  Inhalt

88 Alltagsarchitektur mit lokalhistorischen Bezügen – Fette Höfe in Ottensen Text: Olaf Bartels Architekten: AG horizont 94 Rationale Kiste – Mensa der Adolph-Schönfelder-Schule Text: Jan Lubitz Architekten: BKS Architekten Krauß Stanczus Schurbohm mit Henning Scheid 96 Doppeltes Lottchen – Sport- und Schwimmhalle Inselpark in Wilhelmsburg Text: Olaf Bartels Architekten: bs2architekten; Allmann Sattler Wappner Architekten (München) 98 Neuanfang in Farbe – Umgestaltung der Fachbibliothek Sozialwissenschaften Text: Heinrich Wähning Architekten: trapez architektur 100 Die Farbe Rot – Entertainmenthaus auf St. Pauli Text: Wolfgang Bachmann Architekten: Renner Hainke Wirth 104 Kindgerecht, nicht kindlich – Kindertagesstätte »Troplo Kids« Text: Jan Lubitz Architekten: kadawittfeldarchitektur (Aachen)


Hamburger Feuilleton

106 Wir sind doch gar nicht so dröge! – Ensemble Elbarkaden Hafencity Text: Gert Kähler Architekten: Bob Gysin + Partner BGP Architekten (Zürich)

134 Die Not verwalten? Asylbewerber-Unterkünfte in Hamburg Jörg Seifert

112 Elegante Kargheit – Bürobau in Volksdorf Text: Falk Jaeger Architekten: LA’KET

146 Reine Mengenlehre? Hamburg auf dem Weg zur Zwei-Millionen-Stadt Claas Gefroi

116 Die Kirche bleibt im Dorf – Gemeindezentrum und Kindertagesstätte in Bramfeld Text: Ralf Lange Architekt: Mathias Hein

156 Die »Baukunst von morgen« hat keine Zukunft mehr! Der geplante Abriss der St.-Maximilian-Kolbe-Kirche Dirk Meyhöfer

120 Vom Dunklen zum Licht – Sankt-Ansgar-Kirche in Niendorf Text: Holmer Stahncke Architekt: Andreas Rowold

164 Konzepte für denkmalgerechte energetische Sanierungen – Die Co2olBricksProjekte in Hamburg Lars Quadejacob

124 Alles sehen und nicht nur glauben – Evangelisches Landeskirchliches Archiv Nürnberg Text: Wolfgang Bachmann Architekten: gmp Architekten von Gerkan, Marg und Partner

172 Für Hamburg und die Welt Das Büro nps tchoban voss, Hamburg, Berlin, Dresden Dirk Meyhöfer 182 Zerstört und nicht wiederaufgebaut – Schumachers »Stadthalle« im Stadtpark Gert Kähler

128 Zwei Gesichter – Rekonstruktion und Neubau des Schlosses Herrenhausen in Hannover Text: Dirk Meyhöfer Architekten: Jastrzembski Kotulla; Ewald Kramer

188 Ikea als letzte Hoffnung – Die Große Bergstraße Gert Kähler

198 Kontinuität durch Wandel – Leben und Werk von Rudolf Klophaus (1885–1957) Ralf Lange 206 Autoren und Redaktion 207 Fotografen, Architekten 208 Impressum

Inhalt  7


Editorial Karin Loosen, Präsidentin der Hamburgischen Architektenkammer

Hamburg wird weiterwachsen. Folgt man der neuesten Bevölkerungsvorausberechnung, würde Hamburg Ende der 2020er Jahre etwa 1,85 Mio. Einwohner haben, danach wird die Stadt allerdings – wenn auch langsam – wieder Bevölkerung verlieren. Insofern dürfte auf mittlere Sicht eine gewisse Zurückhaltung geboten sein, was die absoluten Bevölkerungszahlen angeht. Auf der anderen Seite ist aber auch mit einer voranschreitenden Alterung der Hamburger Bevölkerung zu rechnen, die mit kleiner werdenden Haushaltsgrößen einhergeht, somit mit einem Anstieg der Zahl der Haushalte und damit mit einer erhöhten Nachfrage nach Wohnungen verbunden sein wird. Daher kann es, was auf den ersten Blick vielleicht paradox wirkt, selbst bei einer stagnierenden Bevölkerungsentwicklung zu einer Mehrnachfrage nach Wohnungen kommen. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum der Ham­burger Senat nach wie vor sein Wohnungsbauprogramm mit höchster politischer Priorität betreibt. Und tatsächlich steht der Wohnungsbau im Mittelpunkt des baulichen Geschehens, was selbstverständlich auch von unserem diesjährigen Jahrbuch dokumentiert wird. Bekannt sind die stadtentwicklungspolitischen Großprojekte wie die Hafencity mit den Wohnungsbauschwerpunkten Lohsepark und Baakenhafen, die Mitte Altona oder die Überdeckelung der A 7. So sollen etwa 10 000 innenstadtnahe Wohnungen entstehen. Darüber hinaus hat der Senat vor Kurzem eine Perspektive für eine stärkere Entwicklung der bisher weniger im Fokus gestandenen östlichen Stadtteile vorgelegt und spricht in diesem Zusammenhang von weiteren 20 000 Wohnungen. Ehrgeizige Pläne. Trotzdem sind einige Fragen erlaubt. Denn Wohnungen sind nicht gleich Wohnungen, und der Hinweis auf bloße Quantitäten wird einer guten, das heißt zukunftsorientierten Stadtentwicklung noch nicht gerecht. Schon der Blick auf die Alterungsdynamik macht klar, dass man genau überlegen muss, welche Art von Wohnungen man für welche sozialen Gruppen an welchem Ort baut. Abgesehen

8  Editorial

von den oben genannten Großprojekten findet der aktuelle Wohnungsbau mit kleinen und mittleren Projekten überwiegend als Verdichtung von gewachsenen Stadtstrukturen statt. Dass dies nicht immer zur Freude der Nachbarn geschieht, liegt auf der Hand, und je weiter die Verdichtung fortschreitet, desto konfliktträchtiger könnten Wohnungsbauprojekte werden. Es reicht nicht, die Stadt einfach nur mit neuen Wohnungen zu verdichten, diese müssen sich als Quartier in den vorhandenen städtebaulichen Kontext einfügen und auch von infrastrukturellen Verbesserungen begleitet werden. Ganz wichtig ist es, dass dem Ziel, Wohnungen zu bauen, nicht einfach Grün- und Freiflächen geopfert werden, die die Lebensqualität eines Stadtgebiets ganz wesentlich bestimmen, sondern dass zusätzlich gut geplante Freiräume die zunehmende Dichte begleiten. Der statistische Vergleich mit anderen Städten darf nicht zum Freifahrtschein für die Verminderung von Freiflächen missbraucht werden. Hamburg ist zum Glück eine grüne Großstadt und soll es auch bleiben. Und schließlich darf der soziale Aspekt nicht vernachlässigt werden. Für welche Einkommensschichten werden eigentlich die allermeisten Wohnungen gebaut? Der enorme Anstieg der Grundstückspreise, der Baukosten und last but not least der Energiesparvorschriften hat inzwischen dazu geführt, dass heute keine neue Wohnung mehr erstellt werden kann, deren Miete pro Quadratmeter unter zwölf Euro liegt. Auch wenn die öffentliche Hand erfreulicherweise mittlerweile ein Drittel der neuen Wohnungen subventioniert, darf dennoch nicht übersehen werden, dass dieser Neubauanteil den jährlichen Verlust von Sozialwohnungen, die aus der Bindung fallen, nicht wettmachen kann. Die städtische SAGA und die anderen Wohnungsbaugenossenschaften spielen daher bei der sozialen Ausbalancierung des Hamburger Wohnungsmarkts eine entscheidende und vorbildgebende Rolle. Eine vorausschauende und notwendigerweise integrative Stadtentwicklungspolitik steht also heute vor sehr anspruchsvollen Auf-


gaben. Nur eine gute Verzahnung der beteiligten Perspektiven auf fachlicher Ebene mit einer verbesserten ressortübergreifenden Zusammenarbeit kann hier zum Erfolg führen. Aber gerade hier, so unser Eindruck, bleibt an mancher Stelle noch einiges zu tun. Der überwiegende Teil dieser Planungsarbeit fällt in den Bezirken an. Hier sind sicherlich Unterschiede festzustellen, aber generell scheint es, dass die Planungs- und Genehmigungsabteilungen in den Bezirken in ihrer Personalausstattung den anstehenden Aufgaben in Quantität und Qualität nicht immer gewachsen sind. Wenn jetzt der Rechnungshof der Stadt Hamburg einen weiteren starken Personalabbau abverlangt, dann dürfte das für die ehrgeizigen Stadtentwicklungspläne des Senats nicht gerade hilfreich sein. Neben dem Wohnungsbau spielt der Schulbau zurzeit eine große Rolle in Hamburg. Die lange Vernachlässigung der Instandhaltung und Sanierung der Schulbauten, aber auch neue pädagogische Konzepte stellen die Architekten vor vielfache Herausforderungen. Auch hier geht es um Neubau, aber eben auch stark um den Umgang mit dem baulichen Bestand. Die außerordentlich engen Baubudgets machen den Architekten und auch der Bauherrin, der Schulbau Hamburg selbst, das Leben häufig sehr schwer. Der Senat sollte erkennen, dass es beim Schulbau nicht nur um technische Bedarfsdeckung geht, sondern um eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben, wenn man es ernst meint mit der zentralen gesellschaftlichen und auch stadtteilprägenden Bedeutung von Bildung und Ausbildung. Hamburg kann auf beeindruckende architektonische Leistungen im Schulbau zurückblicken. Hier ist nicht nur von den Schulen Fritz Schumachers die Rede, sondern auch von hervorragenden Schulbauten der 1950er und 1960er Jahre. Mit diesem wichtigen architektonischen Erbe muss die Stadt sensibel umgehen. Die Frage Abriss oder Erhalt ist immer komplex und nur im Einzelfall zu entscheiden. Aber nicht nur aus formalen Gründen muss dem Denkmalschutz entsprechendes Gehör geschenkt werden. Es

geht nicht an, dass der öffentliche Bauherr sich selbst großzügig vom festgelegten Denkmalschutz dispensiert, während der private Eigentümer eines denkmalgeschützten Gebäudes mit vielen Auflagen konfrontiert wird. Die Debatte über die Zukunft der City-Hof-Hochhäuser am Klosterwall offenbart dieses Problem mit aller Deutlichkeit. Doch unabhängig von der Frage des Denkmalschutzes steht im Zentrum dieser Debatte und über diesen besonderen Fall hinausgehend die Frage nach klaren städtebaulichen Konzepten, insbesondere für die Innenstadt. Hier scheint uns der Diskussionsbedarf nach wie vor groß zu sein. Auch dieses Jahrbuch versucht, das architektonische und städtebauliche Spektrum der aktuellen Stadtentwicklung Hamburgs anhand von ausgewählten Projekten und Themen abzubilden. Hamburg hat hier eine Menge zu bieten. Architekten und Planer sind mehr denn je gefragt als professionelle Partner und Qualitätssicherer der Stadtentwicklung. Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre.

Editorial  9


Die schmerzhafte Wiedergeburt der Innenstadt – Das Katharinenquartier Die Hamburger Innenstadt schien unrettbar verloren auf dem Weg hinab zur öden Geschäfts- und Bürocity. Doch ein neues Viertel gleich neben Hamburgs ältester Kirche macht Hoffnung, dass eine Umkehr möglich ist. Das Katharinenquartier, ein begrüßenswertes Projekt mit einigen Tücken, wurde erst durch das Aufbegehren der Bürger und den Konsenswillen aller Beteiligten zu einem überzeugenden Stadtbaustein. Text: Claas Gefroi, Fotos: Oliver Heissner



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Vorherige Doppelseite: Ziemlich beste Nachbarn: Die Wohnbauten des Katharinenquartiers rücken nah an Hamburgs älteste Kirche heran. Die dazwischen liegenden Freiräume werden geschickt für zwei Plätze genutzt. Diese Seite: Luftbild und Lageplan zeigen das städtebauliche Arrangement aus drei ineinandergreifenden C-förmigen Baukörpern. An der Willy-Brandt-Straße schirmt das Bürogebäude die Wohnbauten von Lärm und Abgasen ab.

12  Das Katharinenquartier

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In der Fachliteratur der Stadtplaner und den mündlichen Überlieferungen der Bürgerprotestbewegung ist die Rettung des Hamburger Gängeviertels bereits zu einem Mythos geworden. Die Geschichte, wie ein Häuflein aufrechter Aktivisten und Künstler über Nacht die dem Tode geweihten historischen Gebäude besetzte und beharrlich Investor und Stadt den Erhalt und die Sanierung abtrotzte, ist zum leuchtenden Vorbild für einen erfolgreichen Widerstand gegen eine investorengesteuerte Stadtentwicklung geworden. Und doch muss man den Wert als beispielhaftes Vorbild infrage stellen, denn die Gemengelage, die zur Rettung des Gängeviertels führte, war eine sehr spezielle: Die Häuser sind die letzten erhaltenen Dokumente der abgerissenen innerstädtischen Arme-Leute-Viertel und dadurch von hohem symbolischen und dokumentarischen Wert. Ein Investor und ein Senat, die das Andenken an die Lebensbedingungen der Mittellosen zugunsten von Luxuswohnungen auslöschen wollen, verspielen von selbst Ansehen bei den Bürgern. Zudem hatte die Stadt das Areal an einen Investor vergeben, der in eine finanzielle Schieflage geriet und nichts lieber tat, als die besetzten Häuser der Stadt zurückzuverkaufen. So wichtig die kreativen Formen des Widerstands der Besetzer waren: Das Gängeviertel hatte den Kairos auf seiner Seite. Damit ist es aber nur bedingt ein Beweis für den Erfolg der Selbstermächtigung der Bürger, die allenthalben ihr »Recht auf Stadt« reklamieren. Den Prüfstein dafür, wie groß der Einfluss der Menschen auf die Art und Weise, wie unsere Städte geplant und gebaut werden, tatsächlich ist, müssen Projekte liefern, bei denen die Sachlage komplizierter und nicht so klar zwischen Gut und Böse zu unterscheiden ist und bei denen die Aktivisten nicht die Unterstützung durch glückliche Fügungen besaßen. Lassen wir also unseren Blick ein paar Hundert Meter weiter Richtung Südosten schweifen, wo zwischen Willy-Brandt-Straße und St. Katharinen das sogenannte Katharinenquartier entstanden ist. Dieser Teil der Hamburger Innenstadt wurde so stark wie kaum ein anderer von der Nachkriegsmoderne geprägt. Durch die von den Bombenangriffen versehrten dichtbebauten Wohnviertel trieb man die sechsspurige Ost-West-Straße, zahlreiche intakte oder beschädigte Gebäude wurden abgerissen. Radikal wie nirgendwo sonst in Hamburg wurde hier die gemischte, kleinteilige Stadt durch die monofunktionale und autogerechte Geschäfts- und Verwaltungscity ersetzt. Zwar wurde bereits vor dem Krieg mit dem Abreißen der Gängeviertel und dem Bau neuer Kontorhäuser begonnen, dem Zentrum das Wohnen auszutreiben, doch erst unter Oberbaudirektor Werner Hebebrand wurde hier der Stadtumbau im ganz großen Maßstab unter dem Leitbild der »gegliederten und aufgelockerten Stadt« forciert. Das erste Bauprojekt an der neuen Durchgangsstraße war 1957 die Schule an der Katharinenkirche, ein frühes Exemplar der zahlreichen standardisierten Pavillonschulen des Architekten und damaligen

Leiters des Hochbauamts Paul Seitz. Obwohl die Gebäude in einem passablen Zustand waren, wurde der Schulstandort vor einigen Jahren verlagert, damit die Hafencity ihre »eigene« Grundschule erhielt; 2011 erfolgte der Abriss. Das frei gewordene städtische Grundstück besitzt durch seine Lage in zweierlei Hinsicht eminente Bedeutung: Zum einen fehlen noch immer die angedachten attraktiven fußläufigen Verbindungen zwischen Hafencity und Innenstadt. Im Katharinenviertel, wie die Gegend rund um die Kirche früher hieß, könnte nun ein wichtiger Baustein entstehen, um die Achse Domstraße–Grimm–Jungfernbrücke–Speicherstadt anziehender zu gestalten. Wer sich tatsächlich einmal vom Jungfernstieg aus Richtung Sandtorkai aufmacht, der weiß, wie unerfreulich der Weg durch öde Büroviertel und über die verkehrsumtoste Willy-Brandt-Straße ist. Zum anderen sollte hier ein wichtiger Akzent für eine Rückkehr des Wohnens in die Innenstadt gesetzt werden. Bitter notwendig ist er: In der Hamburger Altstadt, einst Wohnort von 80 000 Menschen, leben heute gerade noch 2000. Das ist eine Situation, die sich Hamburg nicht mehr leisten kann: Der Stadtstaat kann nicht weiter nach außen wachsen, sondern muss seine inneren Flächen besser und intensiver nutzen. Im internationalen Wettstreit der Metropolen ist ein abends und am Wochenende verödetes Zentrum ein immenser Standortnachteil. Der gewichtigste Grund für eine Forcierung des Wohnungsbaus im Zentrum ist aber die Wohnungsnot und der zunehmende Wunsch vieler, im Zentrum zu leben. Bereits seit einigen Jahren wird deshalb der Wohnungsbau in der City verstärkt betrieben – wichtige Projekte waren das Michaelis-Quartier von Steidle + Partner (2002) und die Wallhöfe (2011) weiter westlich an der Ludwig-Erhard-Straße. Schwierige Rahmenbedingungen wie Verkehrslärm, Schadstoffbelastungen, auf Büro- und Verwaltungsbauten ausgelegte Bebauungspläne erschweren jedoch rasche Erfolge ebenso wie der Mangel an freien Flächen und die nur unter großem Aufwand mögliche Umwandlung von Bürobauten in Wohnhäuser. Das freigeräumte ehemalige Schulgrundstück nördlich von St. Katharinen bot die einmalige Gelegenheit, auf städtischem Grund den Wohnstandort Altstadt zu stärken. Dabei galt das »Das-ist-städtisch«Dogma von Oberbaudirektor Jörn Walter, dass sich Neubebauungen im Zentrum in Form und Höhe an der innerstädtischen gründerzeitlichen Bebauung zu orientieren haben – also siebengeschossige Blockstrukturen. Das bedeutet im Kern eine Negierung der gerade in diesem östlichen Straßenteil noch am ehesten spürbaren städtebaulichen Idee aus der Anfangszeit der Ost-West-Straße – eines offenen, grünen und von Solitärbauten gespickten Straßenraums. Nur wenige Fachleute wie der damalige Vizepräsident der Hamburgischen Architektenkammer Henning Bieger kritisierten, dass auf die gleiche rigorose Weise, mit der die Moderne nach dem Krieg die alte Stadt

Das Katharinenquartier  13


Point de vue am Adolphsplatz – InnovationsCampus der Handelskammer Hamburg Schon durch die Gründung über einer U-Bahn-Strecke waren die konstruktiven Ansprüche hoch; auch insgesamt entstand ein starkes Stück Architektur – ein gelungener Lückenschluss für den Adolphsplatz. Text: Dirk Meyhöfer, Fotos: Daniel Sumesgutner

Willkommen im »Tempelbezirk« dieser Stadt! In Bremen steht ein solcher Bezirk, den sich mit Rathaus und Dom weltliche und klerikale Denkmäler teilen, unter dem Welterbeschutz der Unesco. Der Hamburger »Tempelbezirk« ist ausschließlich weltlich, er verfügt über drei Plätze; Rathausmarkt, Ehrenhof und Adolphsplatz. Vorn ist dort, wo die Binnenalster und die Kleine Alster den Rathausmarkt erreichen. Nach dem Großen Brand von 1842 wurde die Wasserfläche der Binnenalster als Raum entdeckt. Was der Hamburger Senat damals initiierte, als er im Bebauungsplan diese zum bewusst gestalteten Architekturraum machte, führte zu einer entscheidenden städtebaulichen Wende Hamburgs auf dem Weg zur modernen Großstadt (Architekt: Alexis Chateauneuf u.a.). Der Bereich direkt vor dem Rathaus, eine Mischung aus niederländischer Kaufmannslust im Renaissancestil und wilhelminischer Maßstabsverzerrung, orientiert sich am Grundmuster des venezianischen Markusplatzes. Die 111 Meter lange Hauptfassade des Rathauses mit schlankem Mittelturm (112 Meter) vermittelt noch heute den hanseatischen Stolz, mit dem er am Ende des 19. Jahrhunderts die frühere Stadtbaugeschichte wiederaufnahm. Wer durch die Rathausdiele schreitet, erreicht im Ehrenhof einen der schönsten Plätze der Innenstadt und die dahinterliegende ehemalige Börse und heutige Handelskammer (Architekten: Carl Ludwig Wimmel, Gustav Forsmann, Wiederherstellung nach 1945 durch Georg Wellhausen). Die Handelskammer ist ein Konglomerat aus vielen Hausteilen und Höfen, die größtenteils im 19. Jahrhundert entstanden. Darunter die Halle III (1912) nach palladianischen Vorbildern für die ehemalige Kornbörse. Die drei Hauptsäle nehmen heute die Handelskammer und die historische Commerzbibliothek auf. Die Börse wurde nicht beim Großen Brand 1842, sondern erst im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört. In der nördlichen Halle steht seit 2007 das »Haus im Haus« als Büroerweiterung für das Gründerzentrum der Handelskammer (Behnisch Architekten), schon hier zeigte sich ein starkes Interesse des Bauherrn an exzellenter Architektur, das auch jetzt wieder zum Zug kam. Der Geist des Ortes ändert sich

Der Adolphsplatz war dagegen bis vor Kurzem in einem desolaten Zustand: eine Wüstenei aus Parkplatzchaos, Bus-Fahrbahnen und und ohne rechten Platzabschluss. Die Gründe liegen in der recht tur-

20   InnovationsCampus der Handelskammer Hamburg

bulenten Stadtgeschichte der letzten 150 Jahre, die aus der mittelalterlichen Altstadt eine Großstadt werden ließen. Das Mönkedammfleet war einst beidseitig eng bebaut, dann wurde der Mönkedamm wasserbegleitend aufgeworfen. Eigentlich war hinter der damaligen Hamburger Börse eine schöne Platz-Wasser-Beziehung entstanden. Der Niedergang des Platzes wurde eingeleitet, als sich mit dem neuen Rathaus Richtungen, Laufwege und Nutzungsprioritäten veränderten. Die hanseatischen Kaufleute kamen aus der Tiefe der Altstadt in die Börse, ihren Weltmittelpunkt, die Stadt des 20. Jahrhunderts kam dagegen mehr und mehr von der anderen Seite, dem Rathausmarkt. Ein Abschied in Raten, der mit der Digitalisierung des Wertpapierhandels Anfang des neuen Jahrtausends endgültig war. Der Bau des Hamburger Hochbahnrings hatte schon hundert Jahre vorher, zu Anfang des 20. Jahrhunderts, für einen anderen entscheidenden Paradigmenwechsel gesorgt, als ein Verkehrsbau wichtiger als die Repräsentation der alten hanseatischen Handelsadministration geworden war. Ausgerechnet hier wechselt die Hochbahn vom ober- zum unterirdischen Verlauf, taucht in die Tunnellage ab, was für die Fahrgäste immer noch ein Aha-Erlebnis bedeutet. Hier sollte der Adolphsplatz jetzt einen würdigen point de vue erhalten. Die Handelskammer selbst wollte diese Aufwertung und Neuordnung übernehmen und mit ihrem InnovationsCampus (HKIC) die Lücke zwischen dem historischen Bau der Haspa (im Ursprung ein Bauwerk des Rathausarchitekten Martin Haller) und dem mittlerweile sehr angemessen renovierten 1950er-Jahre-Bau der Deutschen Bank zur Rechten schließen und auch eigene Raumprobleme lösen. Was sich hinter dem HKIC verbirgt, erschließt sich nicht sofort. Im Kern ist es einer von drei Standorten der Hamburg School of Business Administration (HSBA, die beiden anderen sind in der Handelskammer und am Alten Wall), die einen Bachelor im dualen System von Studieren und Arbeiten anbietet. Oberbaudirektor Jörn Walter wird das Zitat zugeschrieben, dass man diesen Bezirk nicht allein den Bankern und Touristen überlassen sollte: Deswegen wird der Neubau zu einem wichtigen Bestandteil der neuen innerstädtischen Strategie, Arbeiten, Wohnen und Handel mit Bildungsaktivitäten zu mischen. Architektonisch und städtebaulich verzahnt sich der InnovationsCampus nun vorbildlich mit dem Adolphsplatz, ein Café in der Beletage versorgt nicht nur Studierende, Angestellte und Konferenzteilnehmer,


Die Lücke zwischen zwei Bankgebäuden am westlichen Rand des Adolphsplatzes galt lange als unbebaubar – das hochgereckte Bauwerk des InnovationsCampus hat sie jetzt geschlossen.

InnovationsCampus der Handelskammer Hamburg   21


Mut zur Ruppigkeit – Die HafenCity Universität am Elbufer Die HafenCity Universität ist ein Leuchtturmprojekt der Hamburger Strukturpolitik und Selbstdarstellung – das allerdings beinahe nach dem Motto »Als Tiger gestartet, als Bettvorleger gelandet« ausgegangen wäre. Dass dem nicht so ist, liegt an der Architektur des Gebäudes. Text: Lars Quadejacob, Fotos: Robert Gommlich

Expressive Geste: Blick von der Elbpromenade auf die beiden Flügel der HafenCity Universität. Die umlaufenden Balkone dürfen benutzt werden, die Freitreppe rechts ist zur nahen U-Bahn-Station orientiert.



Der südliche Baukörper der HCU liegt direkt an der Kaikante des Baakenhafens. Hier sind Mensa und Cafeteria untergebracht, deren Freibereiche sich mit der öffentlichen Elbpromenade vermischen.

28   Die HafenCity Universität


Der erste Eindruck entscheidet – so heißt es gemeinhin. Beim Neubau der HafenCity Universität (HCU), entworfen vom Dresdner Büro Code Unique, sollte man sich aber keinesfalls auf den ersten Eindruck verlassen. Denn die meisten Hamburger werden dieses bisher einzige Gebäude am Baakenhafen (das allerdings zum »Elbtorquartier« zählt) zunächst aus der Ferne sehen – vom Eisenbahnviadukt, kurz vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof. Von hier aus bildet der Neubau den Point de vue ganz am Ende jener sandigen Brache, auf der demnächst der Lohsepark entsteht. Und dabei wird vielen, wie dem Rezensenten auch, durch den Kopf gehen: Sollte die HCU nicht auch architektonisch etwas ganz Besonderes sein? Nun aber: ein Wechsel von Fenster- und weißen Brüstungsbändern in einem fünfgeschossigen, lang gestreckten Riegel – das ist doch reichlich unspektakulär. Eine zweite Annäherung, an einem sonnigen Frühsommertag Ende Mai: mit der U4 bis zur vorläufigen Endstation HafenCity Universität. Der U-Bahn-Aufgang führt in Richtung des Hafenbeckens ans Tageslicht, zur Linken liegt die ingeniöse Baakenhafenbrücke, rechts die Universität. Ein Spaziergang zur HCU entlang der alten Kaikante sorgt für eine gehörige Überraschung: Der hier liegende südliche Gebäudeflügel präsentiert sich vollkommen anders als sein zur Stadt gewandter Gegenpart: Umlaufende Balkone gliedern den Riegel, dessen Geschosshöhen teilweise ansteigen, unterschiedlich geneigte Brüstungsgitter aus Streckmetall und spitz zulaufende Gebäudeecken verstärken den expressiv-bewegten Eindruck dieses Flügels; an einer Ecke geradezu eine technoide Reverenz an das Chilehaus. Man kann durchaus Schiffsdecks mit diesen Motiven assoziieren – die Architekten geben eine solche Interpretation nicht –, doch sind diese Anspielungen so unterschwellig und abstrahiert wie auch bei den nahe gelegenen neuen U-Bahn-Stationen der Hafencity. Rampen verbinden den flutsicheren Gebäudesockel der Universität mit dem Kainiveau – und auf beiden Ebenen sitzen an diesem Tag Studenten mit ihren Mensatabletts und schauen auf das Hafenpanorama mit der nur 200 Meter entfernt liegenden »Queen Mary 2«. Ein besonderer Lernort mit einer besonderen Architektur. Und dann ein dritter Perspektivwechsel: Eintritt durch den in Richtung Überseequartier gelegenen Haupteingang. Er führt in eine gebäudehohe Halle, die beide Flügel verbindet und nach außen mit einer durchgehenden Verglasung abschließt. Es ist ein beeindruckender Innenraum: Die Halle verjüngt sich nach hinten, wo schräg eingestellte Treppen und Galerien den Raum durchschneiden. Mit ihren schwarzen Seitenansichten wirken sie ausgesprochen grafisch, wie überhaupt der ganze Raum sich aus weißen, schwarzen und grauen Flächen zusammensetzt, nach oben abgeschlossen durch eine Sichtbetondecke, auf der eine Armada paralleler, stabförmiger Leuchtkörper für eine strenge Gliederung sorgt. Die zentrale Freitreppe führt

auf ein erhöhtes Plateau mit einer weiteren Halle und dem in Richtung U-Bahn orientierten zweiten Eingang. Steigt man die zentralen Treppen hinauf oder geht über die Galerien, so ergeben sich immer wieder spannungsreiche Blickbeziehungen im Innenraum – und das Ganze vor der Kulisse des durch die Vollverglasung stets präsenten Stadtpanoramas. Bereits vor dem HCU-Projekt hatten sich die Entwürfe des Dresdner Büros Code Unique besonders durch ihre innenräumlichen Qualitäten ausgezeichnet, durch gute Rauminszenierungen bei gleichzeitig hoher Funktionalität. Warum weist das Gebäude der HafenCity Universität dennoch Kompromisse auf, und warum konnte man bereits vor der Eröffnung viel Kritik vernehmen? Diese Frage lässt sich nur beantworten, indem man die gesamte Planungsgeschichte rekapituliert. Zu viel gewollt

Im Jahr 2003 – die Hafencity bestand zu diesem Zeitpunkt erst aus dem SAP-Gebäude und den im Bau befindlichen Häusern am Sandtorkai – entstand in einer Kommission zur Strukturreform der Hamburger Hochschulen unter dem Vorsitz des ehemaligen Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi eine visionäre Idee: Die baubezogenen Studiengänge, bis dahin in drei Hochschulen an fünf Standorten zwischen Harburg, Uhlenhorst und der City Nord verstreut, sollten erstmals unter einem Dach zusammengeführt werden. Kurz danach kündigte der Senat an, die neue Bauhochschule an einem exponierten Standort in der Hafencity errichten zu wollen: Hamburg sollte zu einer international wahrgenommenen Adresse für Bauausbildung werden, und die »HafenCity Universität – Universität für Baukunst und Metropolenentwicklung« zur ersten europäischen Hochschule, die sich ausschließlich mit der gebauten Umwelt beschäftigt. Hintergrund war natürlich der sogenannte Bologna-Prozess, der die Hochschulen in einen europaweiten Wettbewerb brachte. Zugleich sollte die neue Ausbildungsstätte ein Forum der öffentlichen Auseinandersetzung mit Architektur werden. Dafür sollte ein Gebäude entstehen, dessen Lage und Gestaltung bereits die Bedeutung der neuen Universität widerspiegelt und so in das öffentliche Bewusstsein trägt. Deshalb beschloss die Bürgerschaft im Dezember 2005 die Gründung der HafenCity Universität als eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts, die zum 1. Januar 2006 erfolgte. Schon kurz darauf lief der Lehrbetrieb unter dem neuen Label, aber an den alten Standorten: der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), der Hochschule für bildende Künste (HfbK) und der TU Harburg. Noch im selben Monat schrieb die Behörde für Wissenschaft und Forschung als Bauherrin einen Wettbewerb aus, bei dem Energieeffizienz und Nachhaltigkeit in den Vordergrund gestellt wurden: Der

Die HafenCity Universität   29


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Längeres Leben für ein modernes Kleinod  Die Bahnsteigbrücke Kellinghusenstraße In Deutschland gehören historische Bahnsteigbrücken zu einer stark bedrohten Spezies. Relativ hohe Kosten für die Instandhaltung und Modernisierungsdruck sorgten für etliche Abbrüche. Ein reizvolles Beispiel aus der Zeit des Neuen Bauens bietet die Brücke der U-Bahn-Station Kellinghu­ senstraße in Hamburg-Eppendorf. Sie wurde zwar jetzt in großen Teilen neu gebaut, dies jedoch nach historischem Vorbild in Abstimmung mit dem Denkmalschutzamt – und mit sinnvollen Details für ein längeres Leben. 1929 hatte die Hamburger Hochbahn den ersten Abschnitt der Kell-Jung-Linie in Betrieb genommen. Seitdem kreuzt die heutige U1 auf

86   Die Bahnsteigbrücke Kellinghusenstraße

dem Weg von Langenhorn zum Jungfernstieg an der Station Kellinghusenstraße die von 1912 stammende Ringlinie (heute U3). Die Haltestelle hat zwei Bahnsteige, zwischen denen die Fahrgäste beim Umsteigen über die Brücke oder den Tunnel der Schalterhalle wechseln können. 1926 schuf der Architekt Walther Puritz mit dem Fußgängersteg ein modernes Gegengewicht zu der traditionell in wuchtigen Formen von Raabe & Wöhlecke entworfenen Stationsarchitektur (1912). Die Brücke repräsentiert in ihrer streng kubischen Gestalt auch einen für die Hochbahn radikal neuen Stil. Puritz‘ »kleine« Bahnsteigbrücke zählt längst zu den markanten Bauten der klassischen Mo-

derne in Hamburg. Schon 1977/78 wurde sie umfassend saniert. Doch erneut auftretende Bauschäden führten dazu, dass die Brücke nun weitgehend neugebaut wurde: Erhalten blieben nur die Treppensockel sowie die Stahlrahmen oberhalb der Fensterbrüstungen. Die 36 Jahre zuvor erneuerten Fensterrahmen aus Holz waren ebenso vergammelt wie viele das Bauwerk haltende Stahlträger. Die Ursache: Auf den vielen Querriegeln der Fensterfassade sammelte sich Feuchtigkeit, die in das Sprossenwerk eindrang. Deshalb veränderte der Architekt Mathias Hein das Innenleben. Die Pfosten und Riegel der Fensterfassade sind nun hohl und verfügen


3 1+3 Denkmalgerecht, doch fast ein Neubau: die historische Bahnsteigbrücke der U-Bahn­-Station Kellinghusenstraße 2 Historischer Zustand 4 Farbenfreudig innen wie außen

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über eine innen liegende Entwässerung. So wird eindringendes Wasser abgeleitet und fließt über verdeckte Rinnen und offene Mauerwerksfugen nach außen. Darin integrierte Edelstahlprofile, von außen nicht sichtbar, tragen die Konstruktion. Von innen dagegengesetzte Holzabdeckungen erleichtern sogar das Wechseln von defekten Scheiben. Querschnitt, Form und Material der Profile entsprächen äußerlich exakt dem Original, betont Hein. Die nach außen angespitzten Fensterprofile erzeugen im Spiel mit Licht und Schatten die charakteristische filigrane Fernwirkung. Nach dem letzten Umbau gab es dieses spitze Profil auch innen. Doch im Original war es so

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wie jetzt drinnen flach gestaltet, erläuterte Hein. Auch die jetzige, eher farbenfroh wirkende Farbgebung entspreche weitgehend dem Befund. Schließlich war die Stabilität der gemauerten Treppenwände nicht mehr nachweisbar. Sie wurden deshalb durch einen steifen, mit dem Stufenunterbau verbundenen Betontrog ersetzt und mit Klinkersteinen verkleidet. Die Treppen wurden jetzt mit dunklem Granit belegt, weil der vorher verwendete Beton von Streusalz angegriffen wurde. Die zwanzig Stufen (ohne Zwischenpodest!) sind nun auch etwas höher: Damit wurden betrieblich notwendige zehn Zentimeter in der lichten Durchfahrtshöhe gewonnen.

Die vermeintlich kleine Architekturaufgabe war u.a. wegen der komplexen Geometrien des kleinteiligen Baus aufwendig. So sind z.B. die Eckriegel der Fensterfassade vier Zentimeter dicker als die übrigen Teile des raffiniert gestalteten Holzrahmens. Der Einsatz hat sich gelohnt: Dieser denkmalgerechte Fast-Neubau ist wieder ein Schmuckstück geworden – und so lebt die klassische Moderne an dieser Stelle weiter. Sven Bardua

Bauaufgabe Bahnsteigbrücke der U-Bahn-Station Kellinghusenstraße Architekt Mathias Hein Fach-­ in­genieure Tragwerksplanung: Weber Poll Ingenieure, Hamburg Bauherrin Hamburger Hochbahn AG

Die Bahnsteigbrücke Kellinghusenstraße   87


Vom Dunklen zum Licht  Sankt-Ansgar-Kirche in Niendorf Vom Dunklen zum Licht: Die architektonische Idee, mit der der Architekt Karlheinz Bargholz 1962 die aus dem Jahr 1933 stammende katholische Kirche Sankt Ansgar in Niendorf nicht nur erweiterte, sondern neu fasste, entsprach in seiner Symbolkraft dem Geist der Zeit. Kriegsheimkehrer, Flüchtlinge und Vertriebene sollten zu Gott finden. Die alte, niedrige, fünfjochige, mit einem Dachreiter gekrönte historische Kirche konnte die vielen neuen Gläubigen nicht mehr fassen. Das Bargholz’sche Kirchenschiff, das sich im rechten Winkel an die Reste der jetzt als Kapelle genutzten alten Kirche anschloss, war

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120   Sankt-Ansgar-Kirche in Niendorf

sowohl im Grundriss als auch in seinen Seitenwänden trapezförmig und erweiterte sich zum Altarraum. Der klein und beinahe versteckt wirkende Zugang zum neuen Kirchenschiff lag an der schmalen, niedrigen Giebelwand, ohne große Willkommensgeste. Wer die Kirche betrat, kam aus dem Dunkel ins Helle. Der Architekt Andreas Rowold erweiterte Sankt Ansgar durch eine Vorhalle und eine neue Sakristei, ordnete das Kircheninnere mit den Nebenräumen neu und befreite es von störendem Beiwerk. Die umfassende Modernisierung war nicht nur notwendig geworden, weil es einen In-

vestitionsstau aufzuarbeiten galt, sondern weil die Kirche nach der Zusammenlegung der drei Gemeinden Sankt Thomas Morus, Sankt Gabriel und Sankt Ansgar ungleich mehr Gläubige fassen musste als zuvor. War die fehlende Willkommensgeste in den 1960er Jahren gewollt, erwartete die Gemeinde jetzt eine stärkere Öffnung der Kirche gegenüber den Besuchern. Die neue von Andreas Rowold entworfene Vorhalle, die augenfälligste Veränderung des historischen Baukörpers, kommt dem Bedürfnis der Gemeinde entgegen, einen Raum vorzufinden, in dem man sich vor dem Gottesdienst mit Freunden


austauschen kann. Der weiträumige, hohe Pronaus – ein Vorbau, den auch schon die frühchristlichen Basiliken kannten – grenzt sich von außen durch einen dunkleren Backstein unwesentlich, aber dennoch deutlich vom Kirchenschiff ab. Er ist Teil der Kirche, aber noch nicht Kirche. Mit ihm wird die alte Bargholz’sche Lichtführung konsequent weiterentwickelt. Der Gottesdienstbesucher betritt einen in ein mystisches Dunkel gehüllten Raum, in den durch 166 Lichtschlitze – 44 sind mit LED ausgestattet – gedämpftes Licht fällt. Eine zusätzliche Lichtquelle sind die anstelle der alten Kupfertüren eingesetzten sand-

gestrahlten Glastüren, die in den hellen Kirchenraum führen. Die matt eingeätzte Ornamentik auf den Scheiben zeigt die trapezförmigen Linien des Kirchenschiffs. Trotz der mystischen Dämmerung lädt der Pronaus zum Verweilen und Entdecken ein. Eine Spolie aus Cluny, ein Geschenk zur Gemeindegründung, und ein Stück aus der alten Bremer Bischofskirche wurden eingebaut. Außerdem sind im Ziegelwerk Worte aus der Regula Benedicti zu lesen. Rowold hat bewusst auf den Bau eines Seitenschiffs verzichtet, das die zusätzlichen Kirchenbesucher hätte fassen können. Stattdessen

hat er Platzreserven im Kirchenschiff mobilisiert, indem er beispielsweise die Treppe zur Empore zugunsten eines neuen Zugangs durch den Pronaus entfernt hat. Im Mauerwerk und auf dem Bodenbelag sind die Spuren entfernter historischer Elemente ablesbar. So erkennen aufmerksame Beobachter auch die entfernten Stufen, die zum erhöhten Altartisch führten. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) war in der Gemeinde diskutiert worden, den Altar nach vorn zu versetzen, um den neuen liturgischen Anforderungen zu entsprechen. Jetzt wurde der einst erhöhte Altar

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Niendorfer Kirchenweg Bei St. Ansgar

Grundriss

1+2 Zum Bauprogramm gehört eine neue Vorhalle, sie ist die augenfälligste Veränderung des historischen Baukörpers und kommt dem Wunsch der Gemeinde entgegen, einen Raum zu haben, in dem man sich vor dem Gottesdienst mit Freunden austauschen kann.

Sankt-Ansgar-Kirche in Niendorf   121


Die Not verwalten? Asylbewerber-Unterkünfte in Hamburg Lampedusa, Syrien, Ukraine – die Flüchtlingsaufnahme wird deutschland- und europaweit zur wachsenden Herausforderung. Wie geht Hamburg an diese humanitäre Aufgabe heran? Wie werden Zuwanderer in der Hansestadt untergebracht? Wo leben sie? Text: Jörg Seifert, Fotos: Dorfmüller Klier


»Asyl trifft auf Luxus« – »Flüchtlingsheim in Nobelviertel« – »Streit um geplante Unterkunft«. Seit Herbst letzten Jahres sorgt die Ent­ scheidung der Stadt, das ehemalige Kreiswehrersatzamt an der So­ phienterrasse in Harvestehude zur Flüchtlingsunterkunft umzu­ nutzen, für Schlagzeilen. Das Vorhaben polarisierte in den letzten Monaten vor allem die Anwohner. Zum einen wurde kritisiert, die Einrichtung passe nicht ins Quartier, die künftigen Bewohner hätten hier keine entsprechende Infrastruktur, etwa günstige Ein­ kaufsmöglichkeiten. Doch neben offenen Widerständen und ver­ deckten Ängsten formieren sich zunehmend auch Akzeptanz und bürgerschaftliches Engagement. Anfang des Jahres hat sich der Verein Flüchtlingshilfe Harvestehude gegründet, und auch der Investor des eben fertiggestellten benachbarten Luxuswohnquartiers Sophienter­ rassen, die Frankonia Eurobau, kündigte ihre Unterstützung an, Inte­ grationsangebote mitzufinanzieren. Gegensätze erzeugen punktuell mediale Aufmerksamkeit. Wie aber sieht es abseits von Harvestehude mit den Unterkünften für Zuwanderer aus? Wo sind Asylbewerber, anerkannte Flüchtlinge und Duldungsinhaber untergebracht? Unter welchen Bedingungen leben sie? Wie empfängt Hamburg die aus den Krisenregionen der Welt kommenden Menschen? Welche Räume, welche baulich-architekto­ nischen Rahmenbedingungen werden ihnen geboten? In Hamburg obliegt die gesamte Unterbringung von Zuwande­ rern einem einzigen Träger: fördern und wohnen (f&w) – eine An­ stalt des öffentlichen Rechts, hervorgegangen aus dem ehemaligen Amt für Heime – verfügt an fast siebzig Standorten über insgesamt gut 10 000 Plätze. Allerdings nicht nur für Asylbewerber, Flüchtlinge und Spätaussiedler, sondern auch für Obdach- und Wohnungslose, die oft in gemischten Einrichtungen zusammenleben. Als städtisches Unternehmen setzt f&w um, was der Senat beschließt und was Sozialund Innenbehörde planen. Letztere ist zuständig für die sogenannte Zentrale Erstunterbringung, die das Asylverfahren für die ersten drei Monate in Deutschland vorsieht, während die Folgeunterbringung in der Verantwortung der Sozialbehörde liegt. Martin Leo, Geschäftsbereichsleiter Wohnen bei f&w, verweist auf eine »bunte Mischung« an unterschiedlichsten Grundstücken, Bau- und Wohnformen und erklärt deren Zustandekommen. Zu differenzieren sei zwischen dauerhaften und mittelfristigen Unter­ bringungen sowie zwischen kurzfristigen Lösungen und absoluten Notmaßnahmen, ferner zwischen Gemeinschaftsunterkünften, also Mehrbettzimmern mit gemeinsam genutzten Küchen und Sanitär­ anlagen, und abgeschlossenen Wohnungen – die etwa vierzig Prozent ausmachen. Und schließlich gibt es auch gravierende Unterschiede zwischen der Zentralen Erstunterbringung und den verschiedenen Standorten der Folgeunterbringung. Darunter befinden sich Objekte wie die viergeschossige Randbe­ bauung Opitzstraße/Ecke Gottschedstraße – ein 1992 fertiggestellter, backsteinverkleideter Bau in direkter Nachbarschaft zum Johanneum am Stadtpark in Winterhude. Der Standort ist durch f&w langfris­ tig von einer Grundstücksgesellschaft angemietet und weist einen Standard auf, den man sich eigentlich generell für die öffentliche

Unterbringung von Zuwanderern wünschen würde. Er ist allerdings primär vulnerablen Gruppen vorbehalten, etwa Traumatisierten oder gesundheitlichen Härtefällen. Die insgesamt 330 Plätze sind in 62 abgeschlossenen Wohnungen organisiert, fast alles kleinere Drei­ zimmerwohnungen mit offenem Wohn- oder Essbereich und je zwei Loggien oder Terrassen in den Erdgeschossen. Städtebaulich sehr gut ins Quartier integriert, bildet der Bau zusammen mit einem weiteren, anderweitig vermieteten Flügel einen ruhigen, begrünten Innenhof mit Spielmöglichkeiten und ein paar kleinen Mietergärten. Zu derartigen neu gebauten Unterkünften im Standard des so­ zialen Wohnungsbaus kommen zahlreiche städtische Bestandsim­ mobilien. Das sind bzw. waren unterschiedlich lange angemietete oder im Eigentum von f&w befindliche Gemeinschaftsunterkünfte mit ursprünglich anderen städtischen Nutzungszwecken wie Büros, meist aber ehemalige Mutter-Kind- oder Pflegeheime. Ein solches Beispiel ist der Standort Alsterberg, Ecke Suhrenkamp/Sengelmann­ straße. Zwei von ehemals fünf Gebäuden der Hanseaten-Kaserne, die bis 2009 als Pflegeheim diente, bilden hier seit 2010 eine f&w-Unter­ kunft mit 270 Plätzen, die voraussichtlich aber nur über fünf Jahre bestehen bleibt. Für 2016 ist auf dem Gelände ein neues Wohngebiet geplant. Vorgesehen sind die beiden Häuser der Unterkunft sowohl für wohnungslose Familien als auch für Zuwanderer. Derzeit bilden Letztere – u.a. aus Afghanistan, dem Iran und dem Irak – aber die überwiegende Mehrheit; lediglich ein wohnungsloses Paar lebte zum Zeitpunkt der Recherche hier. Alle Plätze sind in Zimmern mit Ge­ meinschaftsküchen organisiert, hauptsächlich Zwei-, Drei- und Vier-, vereinzelt Ein- und Fünfbettzimmer. Haus 2 unterscheidet sich von Haus 1 durch innen liegende, den Zimmern zugeordnete Bäder für Paare und Familien mit schweren Erkrankungen. Viele der temporären Anmietungen und Neubaumaßnahmen seit Ende der 1980er Jahre sind Resultate schneller Reaktionen auf akute Notsituationen. Dazu zählen vor allem auch die Pavillondörfer in Holzrahmenbauweise. Anfang der 1990er Jahre wurden in eher peripheren Lagen insgesamt 17 solcher Gemeinschaftsstandorte er­ richtet. Obwohl nur für fünf Jahre konzipiert, ist knapp die Hälfte dieser zweigeschossigen Holzhäuser noch heute in Betrieb. Aktuell wurden einige der Pavillondörfer durch Neubauten erweitert, die sich stark an den Bauten der ersten Generation orientieren, aber mit abgeschlossenen Wohnungen für Familien realisiert wurden. Nachdem zwischen 2001 und 2010 infolge rückläufigen Bedarfs insgesamt 11 000 Plätze rückgebaut wurden, finde man sich jetzt – so Martin Leo – in einer Situation wieder, die man eigentlich um die Jahrtausendwende überwunden geglaubt hatte. Gegenwärtig werden wieder Containerunterkünfte errichtet, mit unterschiedlichen Stan­ dards, abhängig von der Verfügbarkeitsdauer der jeweiligen Stand­ orte. Ist diese länger als fünf Jahre, werden die Container – wie am Curslacker Neuen Deich in Bergedorf, an der Rahlstedter Straße oder der Harburger Adresse Lewenwerder (Neuland) – zu auffällig sonnengelben Modulhäusern mit abgeschlossenen »wohnungsähnli­ chen Kompartments« und flach geneigten Satteldächern arrangiert. Ähnlich den neuen Pavillonbauten, allerdings mit kleineren Küchen

Asylbewerber-Unterkünfte in Hamburg   135


Reine Mengenlehre? Hamburg auf dem Weg zur Zwei-Millionen-Stadt Stadtwachstum und Wohnungsbaukrise bleiben für Hamburg und damit auch für das Architektur-Jahrbuch zentrale Themen. Nun rollen also die Bagger und drehen sich die Kräne. Doch obwohl allerorten neue Wohnquartiere aus dem Boden wachsen, steht die Diskussion um Wohnund Stadtqualitäten noch ganz am Anfang. Der fundamentale Wandel, den Hamburg auf dem Weg zur Zwei-Millionen-Metropole durchmacht, ist offenbar noch nicht in den Köpfen angekommen. Text: Claas Gefroi, Fotos: Martin Kunze

146   Hamburg auf dem Weg zur Zwei-Millionen-Stadt


»Stadtgärten Lokstedt – Wohnen am Veilchenweg«

6000 neue Wohnungen jährlich, davon 2000 als geförderter Wohnungsbau: Mit diesem Versprechen zog Olaf Scholz 2011 in den Bürgerschaftswahlkampf. Die Wohnungsnot, entstanden durch ein stetiges Bevölkerungswachstum bei gleichzeitiger Stagnation im Wohnungsbau, war das entscheidende Thema des Wahlkampfs. Nicht mehr nur Menschen ohne oder mit geringen Einkommen waren von der Knappheit an Wohnungen im unteren und mittleren Preisbereich betroffen, auch die breite Mittelschicht bekam die galoppierenden Miet- und Kaufpreise zu spüren. Mit dem Versprechen, die Krise durch massiven Neubau zu beenden und soziale Gerechtigkeit herzustellen, gewann Scholz die Wahl. Anders als man es von Politikern gewohnt ist, packte der frischgebackene Bürgermeister das Thema auch energisch an. Ein halbes Jahr nach Amtsantritt wurde das 6000 / 2000Ziel sowohl zwischen Senat und Bezirken im »Vertrag für Hamburg – Wohnungsneubau« (einhergehend mit präzisen Neubauzahlen für die einzelnen Bezirke) als auch im »Bündnis für das Wohnen in Ham-

burg« zwischen Senat, Wohnungsverbänden und der SAGA verbindlich festgelegt. 2012 wurden die selbstgesteckten Ziele nicht erreicht. Es dauerte bis Mai 2014, dass Stadtentwicklungssenatorin Jutta Blankau stolz den Neubau von 6407 Wohnungen binnen eines Jahres verkünden konnte. Die lokale Presse, die zuvor monatelang räsonierte, ob 2013 die 6000 geknackt werde oder nicht, begrüßte einhellig den Erfolg. Kritische Nachfragen blieben aus, etwa zu der Zahl 6000 selbst. Dabei war diese Zielzahl kein Ergebnis einer wissenschaftlichen Nachfrageanalyse, sondern ergab sich aus Modellrechnungen, die bereits lange zurückliegen. Es handelt sich also um eine rein politische Größe; ob sie tatsächlich den Bedarf abbildet, bleibt ungewiss. Auch fiel es kaum einem Journalisten auf, dass man die Zahl der Neubauten in Relation setzen muss zum ebenfalls stattfindenden Abriss von Bestandsbauten. Der Senat selbst räumt in einer Broschüre1 ein, dass die Zahl der Abrisse bis zu acht Prozent der im gleichen Zeitraum genehmigten neuen Wohneinheiten erreicht – im Jahr 2012 wa-

Hamburg auf dem Weg zur Zwei-Millionen-Stadt   147


Konzepte für denkmalgerechte energetische Sanierungen: Die Co2olBricks-Projekte in Hamburg Seit etwa einem Jahrzehnt führen die in Hamburg politisch besonders forcierten Klimaschutzziele zum Verschwinden von Klinkerfassaden hinter Dämmsystemen. Gerade Fritz Schumachers herausragende »Wohnstadt Hamburg« droht ihr Gesicht zu verlieren. Deshalb initiierte das Denkmalschutzamt ein EU-Forschungsprojekt zur Vereinbarkeit von Klima- und Denkmalschutz, das Ende 2013 abgeschlossen wurde. Über – bedingt – Mut machende Studienergebnisse. Text: Lars Quadejacob, Fotos: Martin Kunze

164  Die Co2olBricks-Projekte in Hamburg


Geht doch: Bei den im Rahmen eines IBA-Projekts sanierten Häusern Wilhelmsburger Straße 76–82 konnte die Fassade erhalten und dennoch – durch Dämmung von Rückfassade, Dach und Keller – KfW-55-Standard erreicht werden. Doch das qualitätvolle Bild der Schumacher-Siedlungen, links die gleiche Straße innerhalb der Großsiedlung Veddel, bleibt weiter stark gefährdet.

Als 1982 der erste Band des »Hamburger Denkmalinventars« erschien, fiel die Wahl des Themas nicht zufällig auf die Siedlungsbauten der 1920er Jahre – handelt es sich doch um einen der bedeutendsten Teile des Hamburger Bauerbes, eine städtebauliche, architektonische und sozialpolitische Großtat aus der Ära der Weimarer Republik, wie Hermann Hipp als Autor des Bandes und damals zuständiger Denkmalpfleger umfassend belegte. Außerdem drohte diesem Bestand zu jener Zeit Gefahr mit dem Ersetzen der originalen Sprossenfenster durch großflächige Verglasungen, nicht zuletzt als Reaktion auf das in den 1970er Jahren durch die Ölkrise erstmals virulent gewordene Thema Energiesparen. Durch ein öffentliches Bezuschussungsprogramm konnte damals schließlich vielfach eine denkmalgerechte Erneuerung umgesetzt werden. Seit etwa zehn Jahren steht derselbe Denkmalbestand unter einem Veränderungsdruck, der die Probleme der 1980er Jahre fast marginal erscheinen lässt: Bekanntlich verschwinden immer mehr der aufwendigen Fassaden hinter Wärmedämmverbundsystemen (WDVS), manchmal mit aufgeklebten Riemchen als Travestie der einstigen ästhetischen und handwerklichen Qualität, manchmal schlichtweg verputzt. Erst in jüngster Zeit wird diese Problematik auch von der Politik wahrgenommen, während die Fachwelt schon lange dagegen Sturm läuft. Als Erster wies Olaf Bartels 2006 in einem Kommentar in der »db deutsche bauzeitung« öffentlich auf die drohende Gefahr hin, im Jahr darauf Frank Pieter Hesse als damaliger Leiter der Denkmalschutzbehörde auf einer Tagung der Fritz-Schumacher-Gesellschaft, die Gustav-Oelsner-Gesellschaft schloss sich an, und kurzzeitig exis-

tierte 2008 ein Zusammenschluss Hamburger Architekten, Stadtplaner, Ingenieure und Denkmalschützer, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Im Hamburger Architekturjahrbuch 2009 meldete sich Hermann Hipp »gegen die vollständige ästhetische Zerstörung« zu Wort und wies auch auf den sozialen Zynismus hin, dass, während in der Hafencity hochwertige Backsteinarchitektur für eine betuchte Klientel fröhliche Urständ feiere, in den Quartieren der weniger Begüterten die hier einst so prägenden Klinker hinter Attrappen verschwänden: »Eine Kulturschande«, so der Kunsthistoriker. Es folgten die »Handlungsempfehlungen zur Erhaltung der Backsteinstadt Hamburg«, entstanden aus einem Arbeitskreis unter Leitung des Oberbaudirektors, und die Einführung des »Backsteinberaters«, der bei jeder über die Wohnungsbaukreditanstalt geförderten Sanierung den optimalen Mittelweg zwischen Stadtbilderhalt und Energieeinsparung finden soll. Was allerdings weiterhin fehlte, war eine fundierte Untersuchung der tatsächlichen bauphysikalischen Gegebenheiten in den Außenwänden der 1920er-Jahre-Gebäude – und zu Sanierungsalternativen mit Innendämmung und anderen Heizungsarten. 2010 gelang es dem Hamburger Denkmalschutzamt, eine solche fundierte Ausei­ nandersetzung als EU-gefördertes Forschungsprojekt »Co2olBricks« ins Leben zu rufen, in dem neun Ostseeanrainer-Staaten von 2011 bis 2013 gemeinsam zur energetischen Ertüchtigung historischer Backsteingebäude forschten.

Die Co2olBricks-Projekte in Hamburg   165


Für Hamburg und die Welt Das Büro nps tchoban voss, Hamburg, Berlin, Dresden »nps tchoban voss Architektur und Städtebau« wird aktuell bereits von der dritten Generation geleitet, trotzdem darf sich die Firma als frisches Hamburger Architekturbüro begreifen, das sich stets neu erfindet, aber gleichzeitig treu bleibt. Dirk Meyhöfer

Alf Prasch

172   Porträt des Büros nps tchoban voss

Sergei Tchoban

Ekkehard Voss


Es war einmal ...

1991. Schon in der dritten Ausgabe des Hamburger Architekturjahrbuchs erscheint ein großer Artikel über das Projekt Bleichenhof. »Lust oder Last«1 heißt er. Beim Bleichenhof handelte sich um ein wichtiges Ergänzungsprojekt im damals wichtigsten Entwicklungsquartier der Innenstadt, dem Passagenviertel, und dies generierte einen Sonderfall der Architekturkritik im Jahrbuch, denn es gab gleich zwei Berichte, sozusagen ein Pro und ein Contra. Andrea Richter schrieb: »An der Ostfassade lässt sich die Entwurfsarbeit der Hamburger Architekten Nietz, Prasch, Sigl am besten ablesen. Nichts Grobes oder Überflüssiges verunsichert die Fassade!« Der Autor dieses Porträts betrauerte damals hingegen den »niedlichen und schnöden Ersatz der einstmaligen Betondynamik« durch eine modische Backsteinhaut der 1990er Jahre und damit den Verlust einer Teilfassade des Parkhauses Neuer Wall aus dem Jahr 1957 mit organisch geformten Betonteilen und Balustraden mit türkisfarbenem Pfennigmosaik, die die prächtigen neobarocken Autokarossen jener Jahre zur Straßenseite wie in einem Setzkasten ausstellten. Die Pointe der Geschichte: Die vom Autor so geschätzte Baukultur stammte von den Architekten Sprotte und Neve, dem Vorgängerbüro von Nietz, Prasch, Sigl. 1931. Herbert Sprotte (1904–1962) und Peter Neve (1906–1985) gründen in Hamburg ein Architekturbüro2, es bleibt über die Stürme und Brände des Zweiten Weltkriegs hinaus in Hamburg präsent: aufräumen, wieder aufbauen. Sprotte und Neve gehörten zu den festen Größen der Hamburger Nachkriegsarchitektur. Zu nennen sind unter vielen Beispielen der Zentrale Omnibusbahnhof vom Beginn der 1950er Jahre (2001 durch das schwingende Glasdach von ASW Silcher Werner ersetzt) oder die Ausstellungshalle 4 der Hamburg Messe mit der vollverglasten Südfassade (1953) und eben die Parkgarage am Neuen Wall. 1958 tritt zunächst der Bauingenieur Peter Sigl (*1934), 1968 der Architekt Wolfgang Nietz (1934–2002) dem Büro bei, schließlich 1971 der Architekt Alf M. Prasch (*1941). In den

1970er Jahren formiert sich ein neues Büro, genauer gesagt, die zweite Generation eines Hamburger Traditionsunternehmen, das jetzt Nietz–Prasch–Sigl Architekten heißt. Die Bürobiografien zeigen leger gekleidete Langhaarige und Schnauzbartträger mit hellen Krawatten über dunklen Hemden – 1970er-Jahre-Architekten eben. Zum Ende dieses Jahrzehnts landen nps ihren ersten Coup, nicht in Hamburg, sondern in Abu Dhabi. Das Sheraton Hotel dort ist ein Hotel internationalen Standards mit Tiefgarage und Klimaanlage, aber seine Architekten belassen es nicht bei der Adaption internationaler Stilistik, sondern exportieren den neu diskutierten Regionalismus der westlichen Architekturtheorie. Die mittlerweile aufstrebenden Staaten der Golfregion genießen es, wenn eigene Bautraditionen berücksichtigt werden, deswegen wird in diesem Fall das Motiv eines Wachturms (gegen Piraten) für die Hotelkontur verwendet beziehungsweise multipliziert. Damit sind schon früh Wesensmerkmale des Büros sichtbar: nicht stehen bleiben, nicht nur das anwenden, was ihnen ihre architektonischen Väter an den Hochschulen mitgegeben haben. nps agieren nicht mehr nur als sachliche Architekten mit dem Repertoire der Spätmoderne, sondern pflegen den Bauort ein. In Hamburg bedeutet dies, viel mit dem Ziegel zu arbeiten. Dem Bleichenhof folgt ein Kontorhaus mit Keramikfassade und stilisiertem Rundturm an der Spitalerstraße (1992, noch heute ein Statement für eine Hamburger Postmoderne, die nicht peinlich ist). Dann werden bemerkenswerte Wohnungsprojekte realisiert, am Berner Stieg (1996) und auf der Farmser Trabrennbahn (1998). Das Register des Architektur-Jahrbuchs3 dokumentiert noch ein anderes Betätigungsfeld jener Jahre: Bei der Jugendmusikschule in Harvestehude (Architekten EMBT Barcelona, 2001) und der HAW am Berliner Tor (Coop Himmel­b(l)au, 2003) fungiert nps jeweils als Hamburger Kontaktbüro für die Ausführungsplanung und zeigt damit die wachsende interna­ tionale Vernetzung des Büros.

Porträt des Büros nps tchoban voss   173


Kontinuität durch Wandel – Leben und Werk von Rudolf Klophaus (1885–1957) Ein Architekt, der wie nur wenige seiner Generation Hamburg geprägt hat. Der City-Hof ist sein kontrovers diskutiertes Vermächtnis. Ralf Lange

198   Leben und Werk von Rudolf Klophaus (1885–1957)


Links: Klophaus, Schoch, zu Putlitz, Wohnblock an der Süderstraße in Hamm-Süd (mit Heinrich Schöttler, 1928–30). Der Block wurde 1943 völlig zerstört. Rechts: Porträtfoto von Rudolf Klophaus (1920er Jahre)

Rudolf Klophaus war ein profilierter Vertreter jener Architektengeneration, die das Hamburger Bauen der 1920er und 1930er Jahre maßgeblich geprägt hat. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er noch einige wichtige Projekte realisieren, wie die vier markanten Hochhausscheiben des City-Hofs, mit denen er ein Merkzeichen in der Innenstadt gesetzt hat. Bemerkenswert an dieser relativ bruchlosen Karriere ist nicht zuletzt, wie scheinbar mühelos es Klophaus immer wieder gelang, Anschluss an die jeweils aktuellen Entwicklungen zu finden und sein Büro dabei an der Spitze zu halten – trotz der Zäsuren, die die wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik, die NS-Zeit und die Kriegsjahre bedeuteten. Rudolf Klophaus war dieser Erfolg nicht in die Wiege gelegt.1 Am 14. Januar 1885 in Wald, heute ein Teil von Solingen, als Sohn eines Schleifers geboren, konnte er, wie die meisten Männer seiner Generation, lediglich die Volksschule besuchen. Das bedeutete aber keine berufliche Sackgasse, eröffneten sich damals doch auch ohne höhere Schulbildung noch etliche Aufstiegschancen. So ging er zunächst bei einem Solinger Architekten in die Lehre, bevor er von 1901 bis 1906 die Baugewerkschulen in Barmen (heute Wuppertal) und Aachen besuchte, um Baumeister zu werden, was einer nichtakademischen Ausbildung zum Architekten gleichkam. Nach Ableistung des damals üblicherweise zweijährigen Militärdienstes fand er 1909 eine Anstellung im Düsseldorfer Architekturbüro Boldt & Frings. Außerdem nutzte er immer wieder Gelegenheiten zur Fortbildung, etwa durch Abendkurse oder als Gasthörer an der Technischen Hochschule Darmstadt – was er später übrigens zu einem vollwertigen Studium geschönt hat.2 Eine Verwundung im Ersten Weltkrieg führte zur bleibenden Lähmung des linken Arms, sodass er vom Kriegsdienst freigestellt wurde. 1916 ging er als Angestellter des Danziger Büros Bahr & Brettschneider nach Ostpreußen, um die kriegszerstörte Kleinstadt Stallupönen

wiederaufzubauen. Noch im selben Jahr wechselte er nach Hamburg zu dem Industriearchitekten Theodor Speckbötel, 1920 machte er sich dort mit August Schoch3 selbstständig. 1927 wurde der jüngere Mitarbeiter Erich zu Putlitz4 als Partner aufgenommen, sodass sich das Büro nun Klophaus, Schoch, zu Putlitz nannte. Zu Putlitz empfahl sich durch den Entwurf für den Völkerbundpalast in Genf, mit dem Klophaus & Schoch einen der neun ersten Preise in dem 1926 ausgeschriebenen Wettbewerb erringen konnten. Das wirtschaftliche Standbein des Büros bildete von Anfang an der Wohnungsbau. Bereits einer der ersten Aufträge war ein umfangreicher Wohnkomplex am Kaiser-Friedrich-Ufer in Eimsbüttel (1921/22).5 Weitere bedeutende Projekte folgten, als sich die Baukonjunktur nach dem Ende der Hyperinflation ab 1924 wieder zu erholen begann. Wohnblöcke von Klophaus & Schoch bzw. Klophaus, Schoch, zu Putlitz entstanden nun in vielen Stadtteilen wie Alsterdorf, Bahrenfeld, Finkenwerder, Fuhlsbüttel, Hamm, Harvestehude, Ohlsdorf, Winterhude oder Dulsberg. Auch Gewerbebauten spielten jetzt eine wichtige Rolle, wie die Zigarettenfabrik Haus Neuerburg in Wandsbek (1924/25) oder der Mohlenhof im Kontorhausviertel (1927/28). Außerdem erhielt das Büro den Auftrag für eine neue Großmarkthalle, die die beiden alten Hallen am Deichtorplatz ersetzen sollte (Planung ab 1928). Es erstaunt, dass den drei noch relativ unerfahrenen Architekten, die zudem nicht aus Hamburg stammten, so viel Vertrauen entgegengebracht wurde – zumal bei Aufgaben, für die heute ein ganzer Stab ausgewiesener Spezialisten anrücken würde. Allerdings hatten sie sich bereits bei einem komplexen Auftrag bewährt, nämlich der Aufstockung des Gebäudes der Patriotischen Gesellschaft, um Räume für den Überseeclub und Kontorflächen zu gewinnen (1923/24).6 Hierfür mussten dem Altbau von Theodor Bülau (1845–47), einem etwas schwerfälligen neogotischen Backsteingebäude, Stahlstützen eingezo-

Leben und Werk von Rudolf Klophaus (1885–1957)   199


Impressum

Junius Verlag GmbH Stresemannstraße 375 22761 Hamburg www.junius-verlag.de Copyright 2014 by Junius Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Herausgegeben von Dirk Meyhöfer und Ullrich Schwarz im Auftrag der Hamburgischen Architektenkammer (verantwortlich: Ullrich Schwarz) Die in diesem Jahrbuch erscheinenden namentlich gekennzeichneten Beiträge geben lediglich die Meinung der Autoren und nicht die Meinung des Herausgebers, der Redaktion oder des Beirates wieder. Redaktion: Claas Gefroi, Dirk Meyhöfer und Ullrich Schwarz Beirat: Ulrich Höhns, Ernst Hubeli, Gert Kähler, Manfred Sack Gestaltung: QART Büro für Gestaltung, Hamburg www.qart.de Satz: Junius Verlag GmbH Lithographie und Produktion: Björn Cyriax Druck und Bindung: Rasch Druckerei und Verlag GmbH & Co. KG, Bramsche Printed in Germany ISBN 978-3-88506-040-6 1.  Auflage 2014

Titelbild: InnovationsCampus der Handelskammer Hamburg, Architekten: Hörter + Trautmann, Johann von Mansberg, Foto: Daniel Sumesgutner Umschlagbild Rückseite: Luftbild der Innenstadt mit den vier Hochhäusern des Cityhofs im Vordergrund (um 1957), Architekt: Rudolf Klophaus, Foto: Hamburgisches Architekturarchiv Anzeigen: Cult Promotion Am Sandtorkai 23-25 20457 Hamburg Telefon: (040) 38037630 eMail: anzeigen@cultpromotion.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


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