d l i b t r o Sof g r u b m Ha
Fotografien von Frank Egel
Geöffnet bis 70 Uhr Der Fotograf als Liebhaber, Forscher und Interventionist. Zur Fotoserie „Catch of the Day“ von Frank Egel
Wenn Frank Egel seine Wohnung verlässt, steht er direkt auf der Reeperbahn. Was im wirklichen Leben heißt: tagsüber, zwischen parkenden Autos, wenn der Müll der Nacht noch nicht weggeräumt ist. Wenn die Sonne heller leuchtet als die Werbung. Wenn das auf der Straße vollgeregnete Sofa mit der Sprühdose ein Gesicht verpasst bekommen hat, aber keiner der Stadtreinigung Bescheid sagt. Wenn der beschädigte Bauhaus-Freischwinger, wegen eines fehlenden Beinpaars ans Gründerzeitdekor angelehnt, noch eine kurze Gnadenfrist als Halbstuhl erlebt: Am Tag wird St. Pauli zum Dorf, und nur die Spuren zeugen von den Menschenmassen und ihren nächtlichen Exzessen und Dramen. Das ist die Zeit, wenn Frank Egel mit der Kamera aufbricht, auf Entdeckungsreise ins Alltagsleben der Metropole. Frank Egels „Catches of the Day“ decodieren die Wände der Stadt. In seinen Bildern geht es vor allem um Menschen – auch wenn gar keine darauf abgebildet sind. Stattdessen sehen wir ihre Hinterlassenschaften, ihr Begehren, ihre Handlungen, ihre Gespräche und Duelle auf den Oberflächen der Metropole. Die ablesbaren Ereignisschichten an den Wänden von St. Pauli sind enorm dicht verwoben, mit Aufklebern übersät, mit Markern beschriftet, überfüllt mit kurzlebigen Zeichen und Nachrichten. Der Umgestaltungsdrang rund um die Reeperbahn ist ein derartiges Massenphänomen, dass manchmal kaum auseinanderzuhalten ist, was Zufall des Alltags ist und was bewusst gestaltet wurde. Knack den St. Pauli Code: Um in dem ganzen Wust auf den Punkt zu kommen, geht der Fotograf häufig sehr nah ran. Dann wieder tritt er mehrere Schritte zurück, bettet die schnelle Geste, den kurzlebigen Auftritt in
den urbanen Kontext ein: die fensterfüllende Fuck-Finger-Fahne (weiße Zeichnung auf schwarzem Stoff), perfekt abgestimmt auf die (schwarzweiß geflieste) Fassade eines Wohnhauses am Hans-Albers-Platz; die als Plüschteddys verkleideten Jungs beim Überqueren der Ampel, mitten am hellichten Tag; die fünf Minuten Abendsonne auf dem Toast-Cartoon an der Wand des Pfarrhauses. Viele der Bilder prägt eine spezielle Widersprüchlichkeit: Die von anonymen Architekten, Hausmeistern, Tiefbauabteilungsleitern, Fahrstuhldesig nern oder Sparkassenfilialleitern hergestellte Umwelt trifft auf eine Bewohnerschaft, die sich von deren Regelwerken nicht die Laune verderben lässt. Die dem Alltag entsprungene Imaginationskraft der Vielen bringt ein Dauerfeuer aus Stickern, Luftballons, Lack, Witz, Tragik und Ausdruck in Stellung gegen die Kontrollfantasie einer durch Planung und globale Standards regierten Stadt. Frank Egel hat ein feines Gespür für die ruchlos auftretende Schlauheit und die respektlos Eigentumsgrenzen ignorierende Haltung der Bewohner des Hafenviertels. Er ist Forscher und Lover. Seine Bilder entschlüsseln nicht nur einen verborgenen Code und sind auch weit mehr als „visual field recordings“: Sie haben eine tiefe Komplizenschaft mit ihren Motiven. Wer Zeitschichten zu lesen weiß, für den sind diese Bilder Erzählungen. Doch was oft fröhlich, mit großer Leichtigkeit und als starkes Bild daherkommt, erzählt häufig auch eine politische Geschichte, die nur Insider in allen Bezügen entschlüsseln können. Ein paar seien hier verraten. Die zwei Rollkoffer, die wie die Kumpels R2D2 & C3PO, wie traurige Wesen vor einem Bauzaun stehen, gehören nicht irgendwem – sondern Oxana und Julia. Die jungen Frauen haben sie dort abgestellt an einem tragischen Tag, nachdem die Polizei die beiden (und alle anderen Mieter) aus ihren Wohnungen in den lange umkämpften Esso-Häusern geräumt hatte. Mehrere Bilder aus dem „Park Fiction“ zeigen nur vordergründig Hamburgs beliebteste Grünfläche – vielmehr dokumentieren sie Spuren eines vorangegangenen hedonistischen Protests, einer Solidaritätsaktion, mit der der von Nachbarn erstrittene und geplante Park am Tag zuvor umbe
nannt worden war: in „Gezi Park Fiction St. Pauli“, zur Unterstützung der „occupygezi“-Bewegung 2013 in Istanbul. Und was auf den ersten Blick erscheinen mag wie eine Farbbeutelattacke auf eine nebelige Werbewand vor den inzwischen abgerissenen Esso-Häusern, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als genehmigte und beauftragte Kunstaktion des Reeperbahnfestivals. Es sind gerade diese Bilder, bei denen Frank Egel ganz weit wegrückt von einem angejahrten Objektivismus, vom „neutral point of view“. Überraschenderweise funktionieren Frank Egels Bilder, trotz ihres verschlüsselten Codes, trotz ihrer freundlichen Leichtfüßigkeit, oft tagesaktuell als Kommentar zu stadtpolitischen Auseinandersetzungen. Er produziert diese Serie so schnell und in so beeindruckender Stückzahl, wie „Motown“ in den 1960er Jahren Singles gepresst hat. Er füttert seine Bilder täglich und umsonst in seine „Catch of the Day“-Serie ein. Er lässt seine Fänge gleich wieder frei und durch die sozialen Netzwerke schwimmen, wo sie eine ganz andere, neue Qualität entwickeln: Die Forschung wird Intervention – wird zu einer eleganten Neuerfindung der Karikatur mit den Mitteln der Dokumentation. Ein frühes Vorbild haben die Bilder in der genialen Leichtigkeit des Graphikers J.J. Grandville. Der schuf in den 1830er Jahren das GraphikBuch „Eine andere Welt“. In dieser Welt machen sich die frühen, industriell produzierten Konsumgegenstände selbständig, treten als Personen auf, handeln und sprechen. Menschen verwandelt Grandville in die von ihnen begehrten Waren. Grandville karikiert nicht physiognomische Eigenheiten, er typisiert auch nicht – vielmehr karikiert der Zeichner ein gerade neu entstehendes, strukturelles Verhältnis von Mensch, Begehren und Ware. Auch bei Frank Egel verwandeln sich Gegenstände in Wesen. Doch sind diese Wesen weit entfernt vom Fetischcharakter der Ware. Der Lack ist ab, nichts ist übrig von ihrem phantasmagorischen Versprechen. Egels Bilder sind bevölkert von Waren, die aus dem Kreislauf der Verwertbarkeit ausgeschieden sind und auf den Straßen der Stadt ein ganz eigenes Spiel entfalten, das das Fetischisiertwerden, das Wertsein gar nicht mehr braucht. Auch das kann man als Metapher lesen – auf die Prekarisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Aber Frank Egel ist, wie schon sein Kollege Grandville, meilenweit davon entfernt, diese Zustände bloß zu beklagen. Ähnlich wie die malträtierten Gegenstände sich in der und gegen die Welt behaupten, verhält sich Egels eigene Fotografie zu ihrem Kontext. Die distanzierte Atmosphäre von Galerien und Museen interessiert ihn wenig, seine Bilder zirkulieren, trotz aller Subtilität, ganz direkt in dem Alltagsleben, dem sie entspringen: Sie sind Komplizen. Sie sind als monatliche Kolumne im Hamburger Magazin „Szene“ erschienen, tauchen als Kampagne im Schaufenster der Kogge auf, verstärken politische Aktionen und alltägliche Einfälle und kursieren im Netz. Esso-Häuser, die Dritte: Zum Auftakt des öffentlichen Planungsprozesses für den Neubau der Esso-Häuser tapezierte Frank Egel auf Einladung der „PlanBude“ neunzig Meter Bauzaun vor den inzwischen abgerissenen Häusern mit seinen Catches. Täglich standen Trauben von Nachbarn vor dieser Ausstellung im öffentlichen Raum – und es gab wohl kaum ein besseres Tool, um zu kommunizieren, was „Knack den St. Pauli Code“ denn heißen könnte. Recherche, Analyse und aufgeklärte Intervention müssen kein Widerspruch sein: Vom Bauzaun wanderten Egels Motive direkt in Stadtteilkonferenzen und schließlich in die Ausschreibungsunterlagen, um den Architekten der Neuen Esso-Häuser zu vermitteln, wie St. Pauli funktioniert – und wie dort geplant und gebaut werden muss. Solche angewandten Interventionen gelingen nur wenigen Fotografen auf diesem künstlerischen Niveau. Dass die Bilder aber dauerhaft fesseln, hat vielleicht einen ganz anderen Grund: In ihnen pocht ein utopischer Puls. Sie sind krasse Vorboten, die aus all dem Gegenwartsschrott das verdrängte Versprechen auf eine bessere Stadt freilegen. Dort werden wir uns in Plüschteddys verwandeln und „mit den Beatles speisen“. In dieser „anderen Welt“ werden Königspudel für Musik-Clubs demonstrieren, und die Häuser werden lächeln. Briefträger werden dort während der Arbeit Sex haben, und die Läden und Kaschemmen sind lange geöffnet, jeden Tag, bis 70 Uhr. Mindestens.
Christoph Schäfer
Hamburg, im Dezember 2016
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ErichstraĂ&#x;e
7
Reeperbahn
8
Reeperbahn
9
Reeperbahn
10
Weidenallee