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KLEIDUNG LESEN, MODE LEBEN – S

In seinem Essay „Look“ denkt der dänische Autor LUKA HOLMEGAARD über Mode nach – über Stoffe, Textilien und Outfits, über ihre Bedeutung für die Identität und Würde einer Person sowie über die vielfältigen Vergnügungen, die uns Kleidung bereiten kann. Holmegaard untersucht die Literatur, die Popkultur und die eigenen Kleidungsvorlieben; Mode versteht er dabei als Sprache und Material. Nominiert für den Literaturpreis 2020 der dänischen Zeitung Politiken und in Dänemark bereits in der fünften Auflage erhältlich, erscheint „Look“ nun auch auf Deutsch. Ein Vorabdruck.

KLEIDUNG LESEN, MODE LEBEN

Advertisement

von Luka Holmegaard

Aus dem Dänischen von André Wilkening

Auf der Rückfahrt setze ich mich auf einen Bordstein am Busbahnhof und warte auf meine verspätete Verbindung. Das Busunternehmen hat mir eine SMS geschickt, dass es noch eine Stunde bis zur Abfahrt dauere. Wir, die nach Kopenhagen wollen, warten, in gewisser Weise zusammen. Mir gegenüber sitzt eine junge Frau mit braunen Locken, Trägerhemd, heller Jeans und Turnschuhen. Hinter ihr steht eine ältere Frau in einem unvergleichlichen Outfit: Stiefel mit hohen Absätzen, Schlaghose, eine lange, gestreifte Tunika. Direkt neben mir sitzt ein Mann im Anzug. Er dürfte in meinem Alter sein, nicht ganz dreißig. Weißes Hemd, dunkelblauer Anzug, schwarze Lederschuhe. Er sieht mich an, halb lächelnd, als suche er Kontakt. Ich habe keine Lust, mit jemandem zu reden und lese weiter die Zeitung, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Während ich einem anderen Mann helfe, dessen Handy bald ausgeht – wir schicken sein Ticket auf mein Handy, damit er es dem Kontrolleur vorzeigen kann –, schaue ich an ihm vorbei und entdeckte im Strumpf des jungen Anzugträgers ein Loch. Er trägt ohnehin keinen Anzug, stelle ich fest, sondern eine alte, leicht schmuddelige Wolljacke, vielleicht secondhand, und eine Fjällräven-Tasche. Ich habe ihn falsch gelesen, er ist kein Geschäftsmann. Eher Student. Ich habe immer noch keine Lust, mich zu unterhalten, bin aber über ihn wie über mich erstaunt. Was weiß man über einen Menschen, indem man seine Kleidung, seinen Look liest? Mein spontaner Gedanke: immer etwas und immer weniger als zunächst angenommen. Look ist ein Lehnwort. Substantiv, im Dänischen Neutrum, im Wörterbuch steht: (engl., vom Verb look, sehen) Aussehen, (Mode)stil; Schnitt (von Kleidungsstücken). Das Wort hat sich verändert, von einem Verb zu einem Substantiv, es ist aus dem Englischen ins Dänische eingewandert. Von der Beschreibung des Seh-Aktes zur Beschreibung des Gesehenen, der Kleidung, des Aussehens. Ein Look: Der Blick wird zu Stoff.

Ein großes Stück Stoff, etwas Einfaches wie blauer, dicker Baumwollstoff, auf dem Boden ausgebreitet. Als ich ein Kind war, nähten meine Mutter und ich oft zusammen. Einen blauen Anorak zum Beispiel. Wir entschieden uns für ein bestimmtes Stück Stoff, weil wir glaubten, es falle schön, halte einen warm, wäre jedoch nicht zu steif. Wie ein Stück blauer Baumwollstoff. Wenn wir den Stoff auf dem Boden ausbreiteten, um ihn nach dem Schnittmusterpapier auszuschneiden, wunderte ich mich immer darüber, wie unverkennbar das Gewebe an den Kanten einfach aufhörte. Fäden standen wie Fell oder Haare ab, konnten aus dem ansonsten ganz dichten Gewebe gezogen werden. Weben ist so einfach; ein Faden wird über einen zweiten gelegt, unter einen dritten, über einen vierten, unter einen fünften und so weiter. Eine Jeans, eine Jacke, ein Geschirrtuch. Die größte Arbeit beim Nähen eines Kleidungsstücks bestand darin, die Kanten des Stoffes mit Zickzackstich und Kappnaht zu schützen, damit er nicht ausfranste oder auseinanderfiel. Der Stoff bekommt die Chance, sich nicht wieder in Tausende von Fäden zu verwandeln. Es gibt viele unterschiedliche Techniken, Hand- und Maschinennähen, es lassen sich fast unsichtbare Nähte machen, um den Saum einer Hose oben zu halten. Eingriffe, die dem gewebten Stoff eine derart feste Form verleihen, dass er den Bewegungen des Körpers, dem stundenlangen Reiben an der menschlichen Haut standhält. Lieblingsgefühle (als Kind): hinter einer bodenlangen Gardine sitzen, mit der Hand über die Fransen eines Kissens hin- und herfahren, im Garten liegen, zugedeckt mit einer kalten Bettdecke. Im Designmuseum Danmark verliere ich mich in Gedanken über ein bodenlanges, zartgrünes italienisches Seidenkleid aus den Neunzehnhundertzehnerjahren. Das ganze Kleid ist plissiert, sein Äußeres erinnert an Rinde oder eine Wasseroberfläche, die gerade von einem Stein durchbrochen wurde. Durch das Plissieren saß das Kleid eng am Körper, ermöglichte seiner Trägerin aber gleichzeitig uneingeschränkte Bewegungsfreiheit, steht auf dem Schild. Jedes Kleid wurde von Hand genäht, sodass die einzelnen Teile wieder aufgetrennt werden konnten, wenn der Stoff erneut plissiert werden sollte. Die Falten des Kleides sind unglaublich gleichmäßig. All die Zeit, die in solch einem Kleid zusammenfließt, all die Hände, die es berührt haben, das ist atemberaubend. Das Kleid befindet sich in einer Vitrine, das Licht im Raum ist gedämpft. Auf einem Schild am Eingang steht: Textilien und Modekleidung sind empfindliche und anfällige Materialien. Werden Textilien und Mode über einen längeren Zeitraum ausgestellt, muss das Museum zur Freude künftiger Museumsbesucher dafür Sorge tragen, die Objekte zu schützen und zu bewahren.

„MANCHMAL BRAUCHT MAN EINE KÖNIGIN, MANCHMAL BRAUCHT MAN DIE UNTERWERFUNG. ICH VERSUCHE ES MIT VORÜBERGEHENDEN UNTERWERFUNGEN, ES SCHEINT EINE BESSERE IDEE ZU SEIN, DIE MACHT ÜBER DEN KÖRPER IN KURZEN ABSTÄNDEN ABZUGEBEN.“

André Leon Talley, ehemaliger Kreativdirektor der Vogue, sagt in einem Porträt-Essay von Hilton Als, er arbeite in einer Welt der Opulenz! Opulenz! Opulenz! Des Erhaltens! Erhalten! Erhalten! Die amerikanische Vogue erscheint zwölfmal pro Jahr. Jede Ausgabe öffnet ein Fenster in eine Welt der Mode und des Luxus und soll die Leser davon überzeugen, dass diese Welt zumindest teilweise in Reichweite liegt. Die ansprechende, luxuriöse Leichtigkeit der Vogue zu erzeugen, erfordert eine Menge Arbeit. In seinem Essay schildert Als, wie Talley sich entscheidet, ein Themenheft über Pelz oder Spitze zu machen. Er sucht Kleidung, Kulissen und Beleuchtung aus, fliegt Menschen nach Wales oder mietet Appartements in Manhattan an, engagiert Sänger*innen und Schauspieler*innen, die beruhigt werden müssen, damit sie sich vor der Kamera wohlfühlen, wenn sie für das Cover abgelichtet werden. Ein gewaltiges, beeindruckendes Projekt, um all das Praktische, all die mühsamen Einzelheiten zu etwas zusammenfließen zu lassen, um sexy, einfach, entspannt zu wirken. In dem Dokumentarfilm „Inside Dior“ hat das Modehaus Versailles angemietet. Sie veranstalten ein Diner für ihre bestzahlenden Kund*innen. In dem Hof vor dem französischen Schloss, das so groß ist, dass selbst der Sonnenkönig es nicht komplett beheizen konnte, wird den Oligarchen und ihren Frauen Champagner serviert. Ein Mitarbeiter von Dior erklärt, Haute Couture sei ein Minusgeschäft. Dior verdiene sein Geld mit Taschen und Lippenstift. Trotzdem seien die Diners in Versailles und die handbestickten Kleider und Anzüge auf dem Catwalk notwendig. All dieser Luxus, die schlanken Körper der Models in aufwendigen, unfassbar teuren Outfits sind Teil eines Traums oder einer Fantasie, die dem Verkauf von Mascara und gemusterten Socken dient.

In der Textilsammlung des Designmuseums steht eine Kommode mit langen, flachen Schubladen voll alter Klöppelspitzen und Stickereien. In einer ganzen Schubladenreihe liegen Mustertücher; Stoffstücke, mit denen junge Frauen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert Sticken geübt haben. Ein Hirsch, ein Vogel, eine Jahreszahl, unterschiedliche Muster und Techniken, die später dazu genutzt werden konnten, Löcher in Möbeln zu verdecken oder Namen und Monogramme auf die Familienbettwäsche zu nähen. Eines der Tücher ist mit einem Motiv bestickt, das ein Haus am Wasser darstellt. Vor dem Haus liegt ein Hügel mit hohen, seltsamen Bäumen mit grünen Stämmen. In den Himmel wurden verschiedene Pflanzenmotive, eine Rose, ein Tannenzweig, ein Vergissmeinnicht gestickt. Darüber steht der Text: COPENHAGEN – DEN – 12 AVGVST – ANNO – 1786. Die Tücher sind hübsch und berührend; so viel Zeit ist mit ihnen vergangen. Vielleicht haben sich die Stickerinnen bei der Arbeit gelangweilt. Strumpfbänder mit eingenähten Botschaften: Daignea, accepter cet amour / D’un cœur qui vit pour vous aimer. In den anderen Schubladen befinden sich Klöppelspitzen, die Frauen aus Jütland im 19. Jahrhundert an Klöppelspitzenverlage verkauften, die sie weiterverkauften. Seidenstoffe und Hedebo-Stickereien. Textilherstellung, Weben, Stricken, Sticken und Nähen von Kleidungsstücken waren Teil des Haushalts. Das Zuhause ist ein Ort der Arbeit. Die Arbeit erschafft und unterhält das Zuhause, dort entstehen Spitzen und Stickereien und werden weiterverkauft. Sich anzuziehen bedeutet immer, sich mit der Arbeit anderer anzuziehen. Mit der Zeit anderer.

Prinz Henrik trägt in seiner Kochsendung im dänischen Fernsehen einen lilafarbenen Anzug. Lilafarbenes, doppelreihiges Jackett, helllila Hemd, bordeauxfarbene Krawatte. Ein kleines Tuch in der Brusttasche. Er steht in der Schlossküche und vermengt die Farce, behält sämtliche Goldringe an. Lächelt und sagt: Alles! Das Ganze! Wenn ich über Modegeschichte lese, ist das Royale unumgänglich. Die königliche Kleidung und die des Hofs sind erhalten. Sie wurden von den besten Schneidern aus feinsten Stoffen gearbeitet. Im Victoria and Albert Museum entdecke ich eine Spitze, in die ein Selbstporträt des Sonnenkönigs eingearbeitet wurde, mit langer Perücke und Jacke, auf einer Art Podest stehend. Es sind auch Palmblätter, Vögel und Musikanten zu sehen, das Ludwig-Motiv wiederholt sich ungefähr jeden halben Meter. So viel wie möglich von seinem Reichtum tragen, riesengroße Halskrausen, schwere Mäntel und Jacken, Perücken, Korsetts, hochhackige Hausschuhe, Make-up mit Quecksilber. Jedes Silvester wetten meine Freund*innen und ich darum, welche Farbe das Kleid der dänischen Königin hat. Sie sieht alt und gebrechlich aus in den Sendungen, in denen sie durch ihre Schlösser führt. Sie läuft mit einer Handtasche in ihrem eigenen Zuhause herum! Manchmal braucht man eine Königin, manchmal braucht man die Unterwerfung. Ich versuche es mit vorübergehenden Unterwerfungen, es scheint eine bessere Idee zu sein, die Macht über den Körper in kurzen Abständen abzugeben. Zum Beispiel bei Grace Jones, sie wechselt bei einem Konzert mindestens viermal ihr Outfit, hängt von einem Trapez. Sie trägt einen großen, halbkreisförmigen Hut, der ihr Gesicht in zwei Hälften teilt. Ein Korsett, einen Umhang, einen langen, schwarzen Mantel, der vor Strass funkelt. Sie singt „La vie en rose“ und „Pull Up to the Bumper“. Schwitzend stehen wir in einem Zelt, das Publikum, mehrere Tausend Menschen. Sie hält unsere Blicke fest, unsere Auf- und Abbewegungen, in dem Takt, in dem sie die Macht übernommen hat. Sie geht großzügig um mit dem, was sie hat, ist alles andere als absolutistisch, sie strahlt.

LUKA HOLMEGAARD, 1990 in Frederiksberg in der Nähe von Kopenhagen geboren, studierte Literarisches Schreiben. 2015 erschien, noch unter dem Namen Ida Holmegaard, das Debüt „Emma Emma“, zwei Jahre darauf folgte der von der Kritik hochgelobte Roman „Graceland“. Mit „Look“, das in Dänemark 2020 erschien, tritt Luka Holmegaard zum ersten Mal als Autor in Erscheinung.

Luka Holmegaard: LOOK. Lesarten Weissbooks, Berlin 176 Seiten, 22 Euro

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