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Die Denkbarkeit einer Revolution von Katrin Klubert & Elinor Lazar
Grafik: vecteezy.com
ie Studierendenbewegung der 68er ist bis heute ein Symbol für Systemkritik, Freiheit und Unabhängigkeit, aber vor allem für studentische Revolte. Angesichts dieses Leuchtfeuers an revolutionärem Potenzial erscheint unsere Generation der Studierenden stumm und angepasst. Wo ist der revolutionäre Geist heute geblieben? Warum zählen wir missmutig Credits, anstatt gegen das Hochschulsystem zu protestieren?
dungsoffensive nicht geändert werden - vielmehr wurden strukturelle Mängel mit dem individuellen Leistungsversagen begründet. Es ist eine Illusion zu glauben, dass ein an ökonomische Vorgaben gekoppelter Bildungsbegriff gesamtgesellschaftliche Chancengleichheit herstellt. Die Studierenden von heute sind nicht mehr die Studierenden von früher. Heute bedeutet Bildung das Sammeln von Skills, Kompetenzerwerb, die Vorbereitung auf die Marktsituation, während sie früher die Funktion geistiger Elitenbildung hatte. Wir sind mit Erwartungen konfrontiert, die aus beiden Bildungskonzepten resultieren. Zum einen sollen wir als zukünftige Leistungsträger ständig unseren Marktwert erhöhen und ausbauen, zum anderen aber auch der lauteste Indikator gesellschaftlicher Veränderung sein.
Studierende und Hochschule sind eingebettet in gesellschaftliche Prozesse (vgl. Bargel 2008: 3). Seit 1960 wurde „[...] die Bedeutung von Bildung und Humankapital für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung betont.“ (Gurría 2011: 13). Damit veränderte sich grundlegend die Funktion der universitären Bildung: Das Studium war jetzt nicht mehr „bildungsbürgerlicher Selbstzweck“, sondern „wesentliche[r] ökonomischer Faktor“ (vgl. Gauger 2008: 230). Es wurde versucht, möglichst breiten Schichten der Bevölkerung im Zuge der Bildungsexpansion ein Studium zugänglich zu machen. Denn: Akademiker_innen galten als „konkurrenzstarke Marktakteure [,die] weniger soziale Kosten erzeugen“ (Poltermann 2013). Aufgrund der gleichzeitigen Deregulierung der Arbeitsmärkte konnte die Vorstellung einer Festanstellung vieler Studienabsolvent_innen allerdings nicht erfüllt werden. Mehr Leistung und stärkere Konkurrenz standen nun im Mittelpunkt des Bildungsbegriffes. Die soziale Ungleichheit konnte durch die Bil-
Die 1968er haben uns nicht den Vollzug einer Revolution hinterlassen, wohl aber ihre Denkbarkeit. Seitdem wird die Welt kontingenter wahrgenommen: Heute sind die Bedrohungen weltumspannend und nicht mehr überschaubar [...] Bei globalen Themen spielen derart viele Player mit, dass der Einzelne untergeht [...] Was soll Frau X und Herr Y hier noch erreichen? Wie sollen sie sich wehren? Wo sich engagieren?“ (Friedrichs 2015)
Studierende, die sich in gesellschaftlicher Verantwortung sehen, ha-
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ben die Revolution des Öffentlichen, des Systems, zur Rebellion im Privaten innerhalb des Systems gemacht. Sie wollen keinen radikalen Umbruch, sondern sukzessive Veränderung. Dadurch lassen sich beide Erwartungen (zumindest vorläufig) vereinen. „Nur das Persönliche ist politisch“ (Florin 2014:32) heißt, dass das Persönliche zum politischen Aktionsradius wird. Es heißt nicht, dass keine Reflexion über die Gesellschaft als solche stattfindet. Indem die Welt differenzierter wird, sind auch die Weltanschauungen differenzierter geworden und nicht mehr unter einen Banner zu stellen. Angesichts der theoretischen Unübersichtlichkeit gewinnen praktische Lösungen zu konkreten Themen an Attraktivität: Vegetarische Ernährungsweise gegen Massentierhaltung, Second-Hand gegen die Konsummentalität der Wegwerfgesellschaft, gemeinsames Kochen statt Fast-Food und Beschleunigung und eine Zeitungs-Gründung, um das Studium zu reflektieren.
mal ist, angemessen und distanziert einzurichten.“ (Friedeburg 1965: 18)
Wir sind nicht anders verschieden als die Generationen vor uns. Auch unserer Elterngeneration wurde „Angepasstheit“ vorgeworfen (vgl. Glotz 1982). Allerdings: Die Erwartungen an die Studierenden divergieren Jahr um Jahr mehr. Denn mit der stärker werdenden Ökonomisierung der Bildung werden auch die Protestbewegungen der 68er immer stärker heroisiert. Wie soll man dem gerecht werden? Die heutige Form der Rebellion ist nicht für jeden verständlich, aber legitim. Gleichwohl: Ein Systemwechsel, die radikale Neudefinition gesellschaftlicher Begriffe – wie beispielsweise Bildung – ist nur im Schulterschluss der Generationen möglich. Das hat uns die Erfahrung der 68er gezeigt.
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Bargel, Tino (2008): Wandel politischer Orientierungen und gesellschaftlicher Werte der Studierenden- - Studierendensurvey: Entwicklungen zwischen 1983 und 2007, Hg. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin, S.3-5. Friedrichs, Julia (2015): Entschleunigung – Die Welt ist mir zu viel, online verfügbar unter: http:// www.zeit.de/zeit-magazin/2015/01/entschleunigung-biedermeier-handarbeit-stressabbau (18.11.15) Gauger, Jörg-Dieter (2008): Die 68er – Wirkung auf Bildung und Erziehung. In: 40 Jahre 1968. Alte und neue Mythen – Eine Streitschrift. Freiburg: Herder. S.225-258. Glotz, Peter/ Malanowski, Wolfgang (1982): Student heute – Angepaßt? Ausgestiegen?, Hamburg: Rowohlt, o.S. Gurría, Angel (2011): Editorial – 50 Jahre Bildung im Wandel. In: Bildung auf einen Blick 2011- OECD- Indikatoren, Paris: OECD. S.13-24. Florin, Christiane (2014): Warum unsere Studenten so angepasst sind, Hamburg: Rowohlt, S.32. Poltermann, Andreas (2013): Wissensgesellschaft – Eine Idee im Realtitätscheck, Online verfügbar unter http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/146199/wissensgesellschaft?p=0 (18.11.15) Von Friedeburg, Ludwig (1965): Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln: Kiepenheuer und Witsch, S. 18.
atürlich ist das nicht alles und natürlich kann man „uns“ nicht darauf reduzieren. Die Studierendenschaft enthält ein breites Spektrum an mehr oder weniger bildungsinteressierten Individuen. Es gibt nach wie vor Studierende, die das Studium als Mittel zum Zweck, als Kompetenzerwerb zur beruflichen Stellung, betrachten. Damit werden sie schließlich einer gesellschaftlichen Erwartung gerecht. Diese Studierenden gab es schon immer. In jeder Generation wurde sich unterschiedlich stark in die Gesellschaft eingebracht Noch 1965 sah der Soziologe Ludwig von Friedeburg keine Anzeichen für einen gebündelten, studentischen Protest, welcher nicht lange danach folgen sollte, sondern stellte fest: In der modernen Gesellschaft bilden Studenten kaum mehr ein Ferment produktiver Unruhe. Es geht nicht mehr darum, sein Leben oder gar die Welt zu verändern, sondern deren Angebote bereitwillig aufzunehmen und sich in ihr, so wie sie nun ein-
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