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Alles Kartoffel – Kleine Milieukunde für Gemeinde-Liebhaber Bei uns gibt es sie seit 450 Jahren. Zuerst mal hier und mal dort, bis der 'Alte Fritz' 1757 eine Order erließ, in der es hieß: "Es ist Uns in höchster Person in Unsern und anderrn Provintzien die Anpflanzung der sogenannten Tartoffeln, als ein nützliches und so wohl für Menschen, als Vieh auf sehr vielfache Art dienliches Erd Gewächse, ernstlich anbefohlen. [...]" – Seitdem is(s)t also alles Kartoffel bei uns in Deutschland. Heute gibt es unzählige Sorten bei uns zu kaufen. Und der Neuzüchtungen ist kein Ende. Eine völlig neue Sorte bekam ich am letzten Wochenende in die Hände. Genauer gesagt, eine ganze Handvoll, zehn Stück nämlich. Sie waren allerdings nicht braun oder grün, wie man es von den Kartoffeln kennt (mal abgesehen von einigen exotischen Sorten). Nein, diese Sorte war bunt: gelb, blau, lila, grün, rot und grau. Hätte ich allerdings gewusst, welche Nebenwirkungen diese Früchtchen haben, vielleicht hätte ich die Finger davon gelassen … Aber auf jeden Fall sollte man sich ihren Namen gut merken, denn sie wird uns – auch als Kirche – noch eine ganze Weile beschäftigen: Es ist die Sinus-Kartoffel. Das Ding wächst natürlich nicht auf einem Feld, nicht mal im Labor. Sondern es sprießt aus den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen des Marktforschungsinstitutes Sinus sociovision hervor. Und die haben auch mal untersucht, wen Kirche heute noch warum erreicht und wen nicht. Das geschah auf der Grundlage der sogenannten Milieuforschung. Und die ist heute notwendig. Denn die in den Anfangstagen der Kartoffel überschaubar aufgestellten Milieus (Bürger – Bauer – Edelmann) haben sich in unserer Zeit vervielfacht und verkompliziert. Mit simplen Schablonen kommt man hier nicht weiter. Heute haben sich verschiedene Milieus ausdifferenziert, die sich zum Teil sehr deutlich unterscheiden und – manchmal – gleichzeitig aber auch Überschneidungen aufweisen. Sinus sociovision hat zehn verschiedene Milieus herausgearbeitet (wer Einzelheiten über die einzelnen Milieus wissen will: www.sociovision.de). Na ja und das Ergebnis sieht grafisch dargestellt halt wie eine Kartoffel aus. Aber sehen sie selbst: Das Ergebnis war, dass Kirche heute nur noch zweieinhalb dieser zehn Milieus erreicht: die Konservativen, die Traditionsbewussten und – allerdings nur zu einem Teil – die Bürgerliche Mitte. Diese drei Milieus machen gesamtgesellschaftlich gesehen nur rund 30 % aus. Und – sie gehören nicht zu denjenigen Milieus, die heute gesellschaftlich relevant sind, zum Mainstream zählen. Bricht man die Prozentzahlen noch einmal herunter, auf die Zahl der Kirchenmitglieder einer der beiden großen Kirchen, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass wir uns – was die Menschen betrifft, die wir noch erreichen können (oder wollen), nicht mehr wirklich "in aller Welt" befinden – allerhöchstens noch in unserer (Parallel)Welt. Gut, man kennt den Grundsatz, "traue keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast …". Also bevor wir uns als Kirche, als Gemeinde unnötig aufschrecken lassen …!?? Der Apostel Paulus hat mal davon gesprochen, dass er "allen alles geworden ist", um einige mit dem Evangelium zu erreichen. Momentan benehmen wir uns vielerorts (in Kirchenleitungen, Gremien und Gemeinden) noch andersherum: "Einige mit dem erreichen, was ist, alle wäre sowieso zuviel" – Mal davon abgesehen, dass wir ein paar mehr sind, als der kleine große Paulus, und dass es nicht darum gehen kann, unsere Lieblingskartoffeln, äh –milieus zu bedienen und zu pflegen und uns damit zufriedenzugeben, was haben wir denn zu verlieren, wenn wir den ganzen 'Kartoffelacker' ins Visier nehmen? Mag sein, dass wir dann manches anders oder neu angehen, manches vielleicht sogar sterben lassen müssen. Mag sein, dass wir dann auch kleiner werden – was Größe, Ansehen, Einfluss, Geld betrifft. Mag auch sein, dass wir dann öfter Rede und Antwort stehen müssen als heute – und hoffentlich auch können. Aber alles andere wäre und ist "Vorbereitung auf einen gut durchorganisierten Kirchentod" (Paul M. Zulehner) – und dann würden uns auch die zweieinhalb verbliebenen Kartoffeln aus der kalten Hand kullern und wir wären milieumäßig 'out of order', nicht mal mehr Ko-Sinus (für die Mathematiker unter uns Gemeinde-Liebhabern). Was nun? Unsere Gemeinden, unsere Gottesdienste so gestalten, dass alle kommen? – Muss ein Bauer seine Scheune nur bunt anstreichen und einen CD-Wechsler in seine Kartoffelmiete einbauen und schon kommen alle Kartoffeln angerannt? Kein Bauer wäre geistig so kurzatmig! Aber wie viel Tschingderassabumm veranstalten wir in unseren Gemeinden – und wundern uns, dass (fast) niemand kommt. Vielleicht liegt es gar nicht am fehlenden Einsatz, am aufrichtigen Wunsch der Mitarbeiter, an mangelnder theologischer Einsicht, dass dem so ist. Vielleicht liegt es ja – wie bei der


Kartoffel – einfach daran, dass der (Gemeinde)Bauer raus aufs Feld muss, um "allen" zu begegnen. Raus aus den Pantoffeln, rein in die Kartoffeln. Schließlich heißt es ja auch, "geht hinaus in alle Welt", nicht "bleibt zuhause und wartet auf alle Welt". Merke: Die Sinus-Kartoffel ist sicher nicht der Nabel der Welt und der Weisheit letzter Schluss. Aber sie ist vielleicht ein gutes Hilfsmittel gegen die eigene Nabelschau und macht uns am Ende etwas weiser – Kartoffel sei Dank …


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