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»Anne Bude« oder: Wie irrational gehen wir eigentlich mit unserer Tradition um? Kennen sie »Anne Bude«? Gut, ich weiß, dass Schwaben (fast) alles können – aber kennen? Zum Trost für jeden, der südlich des Weißwurstäquators aufgewachsen ist, füge ich hier gleich ein, dass es für sie oder ihn kein Makel ist, nichts von »Anne Bude« zu wissen. Obwohl »Anne Bude« schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat – aber eben nicht hier, sondern in meiner Heimat, dem Ruhrgebiet. Dort gehört sie zeitgeschichtlich quasi in die Trias des Ruhrgebietes. Ein ziemlich altes Mädchen, könnte man jetzt meinen. Stimmt so aber auch nicht. Denn »Anne Bude« ist kein Eigenname wie »Aenne Burda«, sondern – wenn man es genau nimmt – die grammatikalische Verknüpfung einer Bewegung auf etwas zu (wobei – für Kenner und Liebhaber der Grammatik – der übliche Dativ hier eher akkusativisch assimiliert wird), mit einer adverbialen Bestimmung des Ortes: »Ich geh mal anne (= an die) Bude«. Und Bude (= Kiosk, Trinkhalle) bezeichnet im Ruhrgebiet eine Institution, deren Tradition bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. »Anne Bude gehen, Klümpkes (Bonbonle) oder Zaretten (Rauchwaren) holen, Pilsken trinken und ein Pläuschken halten«, hat bis heute alle Supermärkte, Internetshops und jeden Mitgliederschwund bei Gerwerkschaften und Kirchen überlebt. Gut 18.000 Buden gibt es im Ruhrgebiet noch. Sie sind Begegnungsort, Anlaufstelle für den Informationsaustausch, manchmal auch Ort zum Seelenkisten schieben (so eine Art Laienseelsorge) und Heimat. Manche kommen in Pantoffeln oder im Morgenrock »Anne Bude«, denn sie ist für viele so etwas wie die fünfte Ecke im Wohnzimmer. Hier lockt eine Tradition die Menschen an – und hier wird eine Tradition von Menschen am Leben erhalten und immer wieder mit neuem Leben erfüllt, was auch Auswirkungen auf die Bude hat. Vor Kurzem wurde ich Augen- und Ohrenzeuge eines Gespräches, bei dem es auch um Tradition ging – und zwar die Kirche und ihre Tradtionen. Genauer gesagt, die evangelische Kirche. Noch genauer gesagt, die evangelische Kirche in Württemberg. Hochtheologisch, engagiert und lebhaft war dieses Gespräch – mitten zwischen Spanferkel und Kartoffelsalat (es war eine Geburtstagsfeier). Die tradierten Inhalte unserer Kirche wurden gelobt, als notwendig betrachtet oder hinterfragt und im Blick auf ihre Bedeutung für unsere Zeit und die möglichen und nötigen Reformen in der Kirche abgeklopft. Kontrovers und sachlich – bis auf einmal der Satz fiel: »Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche« (Gustav Mahler). Die Wirkung war die gleiche, als ob jemand bei einer Diskussion über die Milchviehhaltung gesagt hätte: »Übrigens, wenn Kühe grün wären, könnten sie auch fliegen!« Gesichtszüge und Argumentationsstränge entgleisten und über der eben noch weiten Ebene der rationalen Diskussion waberten auf einmal die garstigen Nebel der Irrationalität. Kurz, man war vergrätzt über diesen Einwurf, der scheinbar so gar nicht in ein sachlich-rationales Gespräch über die Bedeutung der Tradition passte. Was war da passiert? Eines der üblichen »Totschlagargumente«, die jedes Gespräch ausbluten lassen? Gezielte Diskriminierung der kirchlichen Traditonen? Im Rückblick erscheint es mir eher so, dass dieser Einwurf vielleicht den Finger auf eine ganze andere Wunde legte. Beim Thema kirchliche Traditionen legen wir ja immer Wert darauf, sie rational zu betrachten, zu beurteilen, zu verteidigen oder abzulehnen. Und das hat ja auch etwas für sich. Wo kämen wir hin, wenn wir uns über wichtige Inhalte ein BILD machen, das eben jenem Niveau der vier großen Buchstaben entspricht … Aber Traditionen – also auch unsere – sind das eine. Ihre Tradierung, also ihre Aufbewahrung, Weitergabe und unser Umgang mit ihnen, das andere. Und gerade bei dieser Tradierung hat sich unsere, die evangelische Kirche, nicht selten mit irrationalem Ruhm bekleckert, und zwar von Anfang an. In der guten Absicht, den wildwachsenden Überbau an Traditionen und Riten in der mittelalterlichen katholischen Kirche einzudämmen und das Wesentliche des Glaubens, seine Grundlagen nämlich, wieder in die Mitte zu stellen, entstanden im Lauf der Zeit Rahmenwerke, die diese Mitte deutlich machen und sie auch schützen sollten – so wie unsere Bekenntisschriften. Ein notwendiger und wichtiger Schritt, wenn Kirche Kirche sein will. Sie bilden wiederum den Kern unserer evangelischen Tradition. Aber bereits zu Luthers Zeiten setzte auch die Tradierung ein. Und mit ihr die Irrationalität. Oder wie ist es zu erklären, dass man im Verlauf der evangelischen Kirchengeschichte nicht selten mehr Gewicht auf die Rechtfertigung gewisser Aussagen in den Bekenntnisschriften legte, als auf die Frage ihrer Legitimation durch die evangelische Mitte? Ob es um die Gestaltung der Gottesdienste, Fragen des Amtes, der Liturgie, der Beteiligung der Gemeinde, Sinn Inhalt und Form der Sakramente ging und geht, es erstaunt immer wieder, wie schnell dann die entsprechenden Passagen aus dem Augsburger Bekenntnis, der Apologie, den Schmalkaldischen Artikeln oder der Konkordienformel auf den Tisch kommen – und mehr oder minder verbissen verteidigt oder angriffen werden.


Auf diese Weise hat sich unsere Tradition – oder besser unser Umgang mit ihr – aber in gewisser Weise verselbständigt, abgelöst von ihrem Ursprung, ihrer Mitte. So als ob wir unser schickes neues Auto in die Garage stellen, es hegen, pflegen und polieren, aber nach und nach aus den Augen verlieren, dass es ursprünglich zur Fortbewegung gedacht war. Hier wie dort wird Tradierung irrational und damit auch immer weniger hinterfragbar. Und das hat auch Auswirkungen auf die Tradition. Sie wird auf Dauer zu einem monolithischen Block, der weder im aktiven noch im passiven Sinn zur Korrektur fähig ist. Tradition und Tradierung werden zum Selbstläufer, zum Selbstzweck. Aber hilfreiche, lebendige, echte »Tradition bildet sich [nur] dort, wo Vergangenes so erinnert wird, dass daraus Orientierung in der Gegenwart und Richtungsweisung für die Zukunft entsteht.« (Wolfgang Huber). Wenn alle Autos nur noch in den Garagen stehen, dann hat das Auswirkungen – auf uns und auf die Autos. Die Garagen werden dann zu Urnen und wir zu Hegern und Pflegern der darin enthaltenen Asche. Und wo, bitteschön, steht eigentlich, dass das mit den Traditionen unserer Kirche nicht geschehen kann oder geschieht? Von daher leuchtet mir der Einwurf, »Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche«, durchaus ein. Nicht er ist irrational, er beschreibt vielmehr auf sehr rationale Weise unseren oft irrationalen Umgang mit unseren Traditionen. Nicht nur ein kritisches Verhältnis zur Tradition, das als Medium ihrer Bewahrung dient (Adorno), ist also gefragt, sondern auch zu unserer Art der Tradierung. Die Frage ist also letztlich nicht, was unserer Kirche besser zu Gesicht steht, das Feuer oder die Asche. Genauso könnte man fragen, ob es nicht sinnvoller wäre, alle bestehenden Buden im Ruhrgebiet unter Denkmalschutz zu stellen mit der Auflage, ihren Zustand unverändert zu belassen und neuen Publikumsverkehr zu vermeiden! Die Frage ist vielmehr, ob wir Biedermann oder Brandstifter sein wollen? Die Tradition wird uns Letzteres danken – und die Menschen auch. PS: Der Satz mit dem Feuer und der Asche hat übrigens auch seine Tradition. Er lässt sich zurückverfolgen bis zu Thomas Morus (1477-1535), dem englischen Staatsmann und Autor. Und damit noch vor jede Bude oder evanglische Kirche. Michael Josupeit


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