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Ausgezählt – Was Zahlen sagen, oder auch nicht Benommen liegt er in der Ecke. Der Schlag hat ihn voll erwischt. Der Ringrichter hat sich über ihn gebeugt und zählt - »7 … 8 … 9« – zählt ihn »aus«. Lange hatte er durchgehalten, Schläge ausgeteilt und eingesteckt. Aber jetzt – der Kampf ist definitiv vorbei für ihn und er ist verloren. Jetzt wieder aufstehen und weitermachen, um vielleicht doch noch weiterzukommen, zu gewinnen – ein absurder Gedanke, gegen alle Regeln, gegen alle Vernunft. Szenenwechsel: sonntagmorgens, halb zehn, ein Dorf irgendwo in Norddeutschland. Gottesdienst. Ich bin zwanzig Minuten früher da. Gehört sich schließlich, wenn man die Predigt halten soll … Der Küster (Mesner) sagt mir, »Die anderen kommen noch«. Am Ende sind wir zu sechst – inklusive Küster und Organist. Glückliche 7 Zwerge muss ich denken. Das war vor über 20 Jahren. Heute ist es dort immer noch so. Man liegt, mehr als angeschlagen, in der Ecke – und keiner zählt aus. Schließlich kommen doch noch sechs. In solchen Momenten wird mir klar, dass Kirche, dass wir im Blick auf manche Grundeinsichten, scheinbar immer noch in einer Parallelwelt leben. Vor allem, wenn es darum geht, Niederlagen zu sehen, zu akzeptieren, einzugestehen. Anderswo wird – aufgrund allgemein akzeptierter und vernünftiger Einsichten oder Regeln – eine Sache beendet, weil eine Fortführung wider besseres Wissen geschehen, unnötig Kräfte verbrauchen und das offensichtliche Ende nur herauszögern würde. Sie wird »ausgezählt«. Bei uns wird auch gezählt. Allerdings nicht »aus«, sondern unverdrossen, nicht selten trotzig und manchmal etwas dreist »weiter« gezählt. Bei unseren Gottesdiensten zum Beispiel. Da gibt es ja bestimmte Zählsonntage – wie Weihnachten –, an denen die Häupter der kirchlichen Lieben gezählt werden. Und da sind es (noch) viele Häupter. Zumindest an diesen vier (!) Zählsonntagen. Vier von 52, wohlgemerkt. Und die anderen 48? Die scheinen – nach kirchlicher Zähllogik – irgendwie nicht wirklich zu existieren. Zumindest nicht in der Parallelwelt kirchlicher Zahlenjonglage. Was vorgezeigt wird, sieht dann – zieht man einmal alle kirchlichtheologisch verbrämte Zahlenmystik ab – meiner Ansicht nach aber eher aus, wie eine Endlosschleife des »Best of«-Gottesdienst, als eine realistische Wiedergabe aktueller Befindlichkeiten. »Schön« gezählt eben. [Kirche für morgen hat übrigens auch mal nachgezählt. Aber realistisch, an ganz »normalen« Sonntagen. Wen es interessiert, hier die Ergebnisse.] Klar, noch kommen Sonntag für Sonntag mehr Menschen in die Kirchen, als am Samstag in die Fußballstadien. Aber, das sind ja auch nur 9 Stadien – und wie viele Gottesdienste finden Sonntags statt? Auch wieder so einzahlenmäßiger 'Parallelismus Ecclesiorum'. Man könnte den Eindruck gewinnen, Kirche ruht sich hier auf Zahlen aus, die von der Wirklichkeit schon längst überholt, ausgezählt wurden. Nein, ich denke nicht an eine Abschaffung des Sonntgagmorgengottesdienstes oder der Zählungen. Beides macht Sinn. Auch ein rein zahlenmäßiges »push up« habe ich nicht vor Augen. Aber die Modelle, Haltungen und Traditionen, die hinter dem aktuellen Gottesdienst und den gängigen Zählmethoden stehen, gehören sehr wohl auf den Prüfstand. Vielleicht, damit wir endlich erkennen, dass sie nicht unangreifbar, unverrückbar, unaufgebbar sind. Vielleicht, damit wir endlich einsehen, dass wir an dieser Stelle bereits ausgezählt werden, und wir so und hier nicht mehr weiterkämpfen können und müssen. Vielleicht, damit uns endlich klar wird, dass Stillstand manchmal mehr Kraft bindet und kostet, als Bewegung. Ganz bestimmt aber, weil für den Mann aus Nazareth jede und jeder zählt – nicht nur an vier Sonntagen. Es braucht viel Mut, Phantasie und Sorgfalt, das Gute zu behalten und Neues zu wagen, auch in und mit unseren Gottesdiensten. Damit sie etwas bleiben und werden, das nicht »aus«-gezählt wird, sondern etwas, das »er«-zählt – vielleicht sogar samstags in den Fußballstadien, in dem kleinen Dorf in Norddeutschland – oder hier bei uns.


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