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Der Preis, den man für die Pandemiebe
Wie geht es Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie? Die Uniklinik Hamburg untersuchte im Juni 2020 und zwischen Dezember 2020 und Januar 2021 in der COPSY-Studie die Auswirkungen und Folgen der Pandemie auf Lebensqualität und psychische Gesundheit der Kinder. Dafür wurden 1.000 Probanden zwischen sieben und 17 Jahren befragt. Die Ergebnisse, die im Februar vorgestellt wurden, zeigen, dass sich das Wohlbefinden weiter verschlechtert hat. Vier von fünf Kindern fühlen sich demnach belastet. Ein Drittel zeigt psychische Auffälligkeiten. Wir haben bei der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Uniklinik RWTH Aachen nachgefragt, ob sich die Beobachtungen der Studie in unserer Region bestätigen. Oberärztin Dr. med. Susanne Gilsbach (40) hat ihre Beobachtungen mit uns geteilt.
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Laut COPSY-Studie der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf hat sich die Lebensqualität und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie verschlechtert. Etwa ein Drittel der Kinder leidet unter Sorgen und Ängsten, depressiven Symptomen und psychosomatischen Beschwerden. Vier von fünf Kindern und Jugendlichen fühlen sich belastet. Beobachten Sie das für Aachen auch so? Welche Kinder kommen ambulant oder stationär zu Ihnen in die Klinik? Wir sehen das auch. Kinder klagen sehr über Homeschooling, fühlen sich überlastet und nicht gut betreut. Sie leiden unter dem reduzierten Kontakt zu Gleichaltrigen. Sehr gestresst sind vor allem Kinder, die in beengten Verhältnissen leben. Da teilen sich beispielsweise vier Kinder einen Raum.
Es gibt Kinder mit Angst vor Corona oder Angst davor, andere anzustecken. Und die Anzahl an Essstörungen ist explodiert. Mit Zahlen kann ich das noch nicht beziffern, aber das ist unsere Beobachtung. Mädchen können sich nicht mehr über Sport regulieren und hören auf zu essen. Das verselbstständigt sich, und schon sind sie in die Essstörung hineingestolpert.
Interview: Birgit Franchy ⁄ Fotos: iStock
Das Bundesministerium für Inneres hat im April 2020 bewusst darauf gesetzt, Ängste (bei Familien) zu schüren. Der Worst Case sollte verdeutlicht werden, um „die gewünschte Schockwirkung zu erzielen“. Man sollte den Menschen erzählen, dass die Kinder die Eltern anstecken, die dann „qualvoll um Luft ringend zu Hause sterben“, weil das Kind vergessen habe, sich die Hände zu waschen. Halten Sie diese Kommunikation für
angemessen? Und was macht so eine Kommunikation mit Kindern? Ich sehe die Intention, aber man hätte es inhaltlich schöner verpacken können. Ich verstehe, dass man Angst schürt, damit sich die Bevölkerung an Regeln hält. Für Kinder ist es aber nicht zuträglich, ihnen so Angst zu machen und ihnen beizubringen, dass sie ihre Eltern umbringen könnten.
Hat man die Kinder und die Kollateralschäden der Maßnahmen, die verursacht werden, genug im Blick? Hat man in diesem Zusammenhang genug erforscht, ob Kinder überhaupt als „Pandemietreiber“ eine Rolle spielen? Für die Kinder und Jugendlichen sind die Schulschließungen ein Riesenproblem. Der Preis, den man für die Pandemiebekämpfung zahlt, ist hoch. Bezüglich der Rolle von Kindern in der Pandemie gibt es zwar viele Untersuchungen, aber immer wieder widersprüchliche Ergebnisse.
Welche Rolle spielt bei der Pandemiebekämpfung für Kinder der Faktor Zeit? Für sie ist ein Jahr sehr lang, da gerät das Weltbild ins Wanken, wenn so vieles als Gefahr wahrgenommen wird. Jugendliche verlieren zudem ihre Zukunftsperspektiven. Was können Bezugspersonen tun, um das Vertrauen in die Welt wiederherzustellen?
Wir beobachten, dass die Angst vor Corona selbst eher eine untergeordnete Rolle spielt. Es geht primär um das Leiden, das im Alltag durch die Restriktionen verursacht wird. Wir sagen den Familien, dass es sehr wichtig ist, eine Tagesstruktur aufrechtzuerhalten. Schulstoff soll man so viel lernen, wie man kann. Wenn es zu viel wird, muss etwas der Druck herausgenommen werden. Und wenn man letztlich schulisch ein Jahr verliert, ist das auf die Lebenszeit gesehen kein Drama. Es ist nicht alles fürchterlich, die Welt geht nicht unter, wenn man alles etwas später macht.
Wie nutzt man die Zeit positiv? Aspekte, die gesundes Leben bedeuten, fallen laut COPSY-Studie weg. Zehnmal mehr Kinder als vor der Pandemie und doppelt so viele wie vor der Befragung letztes Jahr machen überhaupt keinen Sport mehr. Stattdessen verbringen sie noch mehr Zeit vor Handy, Tablet und anderen digitalen Medien, die sie auch für die Schule nutzen müssen. Was bedeutet das für eine gesunde Entwicklung?
Mit dieser Frage hat man sich auch schon in früheren Quarantänestudien befasst. Die kardiorespiratorische Fitness nimmt ab – auch bei Kindern. Sie essen mehr, snacken mehr, essen mehr Süßkram, treiben wenig oder keinen Sport, weil auch der Schulsport wegfällt, sitzen mehr vor digitalen Geräten. Das ist schlecht für das Herz-Kreislauf-System. Bei insbesondere Mädchen haben wir das zusätzliche Problem, dass sie sich mehr mit dem Körper beschäftigen, unzufrieden sind, weil Sport wegfällt und aufhören zu essen. Wir empfehlen möglichst viel Bewegung draußen. Laufen, in den Wald gehen ...
Laut COPSY-Studie haben die Familien versucht, sich mit den Anforderungen aus Homeschooling und Arbeit am Küchentisch einzurichten, doch auch immer mehr Eltern kommen an ihre Grenzen und zeigen depressive Symptome. Reißt das nicht die ganze Familie herunter?
Doch, auch vielen Eltern fehlt die Tagesstruktur. Es gibt Existenzängste und finanzielle Sorgen, soziale Kontakte fehlen. Auch die Eltern sind schneller am Limit.
Wie bemerken Eltern, dass es ihren Kindern schlecht geht? Wann kommen sie zu ihnen?
Sie erleben eine veränderte Stimmung beim Kind, es ist vielleicht mehr zurückgezogen, nimmt auch Kontakte nicht mehr wahr, die noch möglich wären. Ein verschobener Schlaf-Wach-Rhythmus stellt sich ein. Jugendliche, die Probleme mit der Emotionsregulierung haben, verletzen sich vermehrt selbst. Über Essstörungen haben wir ja schon gesprochen. Außerdem entsteht mehr Streit, weil positive Erlebnisse und der Ausgleich fehlen. Kinder werden unruhig, die Stimmung wird explosiv, es entstehen Aggressionen. Wir sehen auch noch ein weiteres Thema auf uns zukommen. Wir behandeln unabhängig von der Situation gerade nicht wenige Kinder mit Angst vor der Schule. Kinder mit Ängsten aus verschiedenen Gründen, sei es soziale Angst, Angst vor negativer Bewertung, Leistungsängste, Trennungsängste. Eigentlich müssten sie zur Schule gehen, nur das ist ein gutes Training gegen die Ängste. Wenn vor Ort keine positiven Erfahrungen gemacht werden, wird die Hürde hinzugehen immer größer. Wir müssten mit den Kindern die Rückführung in die Schule üben, aber das ist nicht möglich, da es ja keine Schule gibt. Da wird noch etwas auf uns zukommen.
Bemerken Sie auch im Klinikalltag Unterschiede zur Zeit vor den Pandemiemaßnahmen?
Natürlich. Die Kinder, die stationär bei uns sind, können zeitgleich nur von einem Elternteil besucht werden. Besuche von Geschwistern sind gar nicht erlaubt. Die normalen Netzwerke, wie Betreuung durch Großeltern, brechen ein. Und unsere Auszubildenden im Praktischen Jahr können wegen der Abstandsregeln nicht an allen Besprechungen teilnehmen, was auch für die Ausbildung etwas ungünstig ist.
Was wäre in Ihren Augen zeitnah sinnvoll, damit sich Kinder wieder gesund entwickeln können?
Was man sich in Bezug auf die Pandemie erlauben kann, kann ich nicht beurteilen. Für die Kinder wäre es gut, die Schulen und Kitas würden öffnen und Freizeitangebote würden wieder zur Verfügung stehen. Solange das nicht so ist, bleibt es schwierig.
Nicht mal duschen können –
mit körperlich und geistig beeinträchtigtem Kind durch den Lockdown Text: Birgit Franchy ⁄ Fotos: privat
Genau vor einem Jahr haben wir Alessio und seine Familie kennengelernt und in KingKalli davon berichtet, vor welchen täglichen Herausforderungen eine Familie mit einem körperlich und geistig beeinträchtigten Kind steht. Das war vor der Coronakrise und vor dem ersten Lockdown. Jetzt haben wir nachgefragt, wie es der Familie inmitten der Maßnahmen ergangen ist.
Montag, 22. Februar 2021: Als ich bei Familie Mavilla anrufe, ist Nicole Mavilla ausgelassen fröhlich. Heute ist der erste Tag, an dem Familien ihre Kinder nach dem inzwischen fast dreimonatigen Lockdown wieder in die Schule schicken können. Das gilt auch für Kinder, die die Förderschule besuchen, und damit auch für den zehnjährigen Alessio, der vom Fahrdienst in die Parzivalschule nach Aachen gebracht wurde. Seit vier Uhr nachts sei er wach gewesen, so habe er sich auf die Schule gefreut, erzählt seine Mutter. Die vierjährige Aurelia besucht den Kindergarten und ist ebenfalls in ihrer Einrichtung. Da ist Zeit für ein Gespräch.
Das letzte Jahr hat Familie Mavilla vor viele Aufgaben gestellt. Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr, der mit Mühe und Not gemeistert wurde, hatte Alessio gerade einmal an fünf Tagen Schule, bevor es in die Sommerferien ging. Ein Therapieaufenthalt in der Slowakei war geplant, da die Familie aber nicht wusste, ob man würde fliegen können, entschied sie sich, die 13-stündige Fahrt mit dem VW-Bus anzutreten. Am ersten Tag vor Ort die böse Überraschung: Der Bulli samt Inhalt war vom Parkplatz gestohlen worden – inklusive Therapiestuhl und Alessios Spezialwindeln, die man nur im Sanitätshaus kaufen kann. Der Abbruch des Aufenthalts kam dennoch nicht in Frage, da Alessio von den Therapien immer sehr profitiert und in der Entwicklung Fortschritte macht. Zurück in Deutschland musste dann ein neuer Wagen her – gar nicht so einfach, denn auch VW befand sich im Lockdown, sodass es satte sechs Monate dauerte, bis Familie Mavilla wieder einen Bulli hatte, in den der Rollstuhl von Alessio passte. Zudem muss auch das neue Fahrzeug umgebaut werden. Für die fünfstellige Summe kommt weder die Versicherung noch die Krankenkasse auf. Doppelte Sorgen für die Familie, denn Vater Alexander Mavilla wird bald seinen Job verlieren – er arbeitet bei Continental. Die Firma wird den Standort Aachen aufgeben.
Nach dem Sommer atmet die Familie trotzdem zunächst auf, denn Alessio kann in die Schule, Aurelia in den Kindergarten. Der zweite Lockdown im Winter wird wieder zur Belastungsprobe. Alessios zahlreiche Therapien finden normalerweise in der
Schule statt, auf sie verzichten kann er nicht, da sich sonst seine Fähigkeiten wieder zurückbilden, Muskeln abgebaut werden. Also kommen Therapeutinnen teils nach Hause, teils muss die Mutter ihren Sohn hinbringen, eine logistische Herausforderung, die zum Beispiel noch dadurch erschwert wird, dass sich die logopädische Praxis im vierten Stock befindet und nicht komplett mit Aufzug erreicht werden kann.
Beim Thema Homeschooling steht die Familie vor dem gleichen Problem wie vermutlich viele Familien. Alessio hat nicht die geringste Lust, den Schulstoff mit seinen Eltern zu bearbeiten. Zum Glück hat er eine Schulbegleiterin, die im Januar und Februar in die Familie kommt. Die Schule wird als engagiert bewertet, an Karneval besuchen die Lehrerinnen alle Kinder zu Hause – beziehungsweise natürlich auf der Straße vor dem Haus –, singen Karnevalslieder und bringen Süßigkeiten. Eine riesige Freude für den Jungen.
Sorgen hat Nicole Mavilla im Lockdown auch die Situation ihrer kleinen Tochter bereitet. Da Alessio nichts alleine machen kann und mehrfach täglich epileptische Anfälle erleidet, kann er keine Sekunde aus den Augen gelassen werden. Nicht mal duschen geht die Mutter, wenn sie mit den Kindern alleine ist. Ihre Tochter bekommt den ganzen Tag Sätze zu hören wie „Warte mal“, „Fang schon alleine an“, Alessio hier, Alessio da – kurzum, sie spiele immer die zweite Geige, bedauert Nicole Mavilla. Und so ist es nur zu verständlich, dass Aurelia sehr um Aufmerksamkeit und Lob buhlt. Schließlich entscheiden die Eltern, Aurelia tagsüber in die Notbetreuung des Kindergartens zu geben. „Ab dem Zeitpunkt war ihre Laune viel besser und sie ist viel ausgeglichener“, so die Mutter im Rückblick.
Freiräume für sich selbst hat die Mutter in den Monaten des Lockdowns gar keine. Auf der Couch habe sie nie gelegen, abends sei sie mit den Kindern ins Bett gegangen, erzählt Nicole Mavilla. Ihre eigene Laune habe auch unter der Situation gelitten, morgens habe sie manchmal keine Lust mehr aufzustehen. Immerhin habe sie noch ihren Job als Jemako-Beraterin, das sei ihre positive Ablenkung im Alltag und darauf freue sie sich immer aufs Neue, auch wenn die persönlichen Kontakte im Lockdown fehlen. Wenn Artikel ausgeliefert werden müssen, macht die Familie das gemeinsam. Das und mal durch die Waschstraße fahren sind die „Freizeitaktivitäten“, die der Familien geblieben sind.
Wenn man Nicole Mavilla fragt, ob sie Angst vor Corona habe, winkt sie ab: „Corona ist unser kleinstes Problem.“ Diese Sorge habe neben den Alltagsproblemen, die der Lockdown verursacht, eine sehr untergeordnete Rolle gespielt. Auch die Großeltern haben sich nach kurzer Zeit der Bedenken entschieden, lieber die Familie zu besuchen und den Kontakt zu halten, als sich zu Hause zu isolieren. Zudem können sie Alessio kurz alleine beaufsichtigen, wenn Nicole Mavilla mal zum Einkaufen muss – oder eben duschen möchte.
Mit Blick auf die Zukunft wünscht sich Nicole Mavilla vor allem eins: dass Kindergarten und Schule geöffnet bleiben, „denn Kinder brauchen Normalität“. Alessio, der eigentlich ein absoluter Strahlemann sei, habe Tag für Tag schlechtere Laune entwickelt, so kenne man ihn gar nicht. Er habe sich nur noch gewünscht, zur Schule zu können, denn normalerweise sind schon Ferien für ihn eine Höchststrafe. Alessio, der aufgrund seiner halbseitigen Spastik selbst kaum etwas machen kann, liebt es, anderen Kindern beim Spielen zuzuschauen, das sei seine allergrößte Freude, und die Mutter hofft sehr, dass dies nun dauerhaft wieder zum Alltag gehört.
Spendenkonto Familie Mavilla Stichwort „Alessio“ Sparkasse Düren IBAN: DE 3039 5501 1012 0135 1069 BIC: SDUEDE33XXX (mit Angabe der Adresse für die Spendenquittung) KingKalli 105 April | Mai 21Schulbegleitung macht Schule für alle möglich. Wir beraten Sie gern.
Schulbegleitender Dienst in der Städteregion Aachen schulbegleitung@vkm-aachen.de www.vkm-aachen.de
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