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Tod, bevor das Leben beginnt
Zwei Mütter erzählen vom Tod ihrer Babys vor der Geburt
Man hatte sich so auf das Baby gefreut, doch dann muss das Leben ohne das Kind weitergehen. Vanessa hat Emilie am Geburtstermin in der 40. Schwangerschaftswoche verloren. Laras* Sohn Finn* wäre schwerstbehindert zur Welt gekommen, die Eltern entschieden sich in der 30. Schwangerschaftswoche schweren Herzens für einen Abbruch. Wie sie den Verlust ihrer Kinder erlebt haben, wo sie Unterstützung erfahren haben und welche Rolle die Coronamaßnahmen spielten, erzählen sie in diesem Beitrag.
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Text & Foto: Birgit Franchy
Als Vanessa im November 2019 mit ihrem Mann zur Geburt der gemeinsamen Tochter in die Klinik fuhr, war Emilie schon tot. Unbemerkt hatte sich bei den Eröffnungswehen die Plazenta gelöst, im Krankenhaus konnten keine Herztöne mehr registriert werden. Das traf die Eltern vollkommen unvorbereitet. Geplant war eigentlich eine ambulante Geburt, doch nun war alles anders. Im Krankenhaus reagierte man respektvoll und einfühlsam, stellte ein Zimmer auf der Privatstation zur Verfügung, wo die Eltern sich 48 Stunden lang von ihrer Tochter verabschieden konnten, ohne dabei von frischgebackenen Eltern umgeben zu sein. Ein Sternenkindfotograf wurde eingeladen, der am Tag nach der Geburt Fotos anfertigte, eine Seelsorgerin schaute vorbei und das Krankenhaus informierte über die Möglichkeit, sich bei dem Verein Verwaiste Eltern e. V. Hilfe zu suchen. An die ersten zwei Wochen nach dem Tod ihrer Tochter Emilie kann sich Vanessa heute kaum noch erinnern. Dann nahm sie Kontakt zu Gerda Palm auf, die vor 27 Jahren den Verein Verwaiste Eltern e. V. Aachen gründete und Eltern in ihrer Trauer nach dem frühen Verlust eines Kindes unterstützt. Nach drei Einzelgesprächen schloss sich Vanessa im Januar 2020 einer neu gegründeten Trauergruppe an. Dort sollte sie Lara kennenlernen, die ihren Sohn im Oktober 2019 verloren hatte. Später stießen immer wieder neue Paare hinzu. 250 Mitglieder zählt der Verein derzeit, die meisten sind zahlende Mitglieder geblieben, nachdem sie die Beratung und Unterstützung in Anspruch genommen haben.
Therapieplatz ist Gold wert
Als im März 2020 die Coronapandemie ausgerufen wurde und die Maßnahmen starteten, fanden die Angebote online statt. Für Vanessa wirkten sich die Maßnahmen sehr negativ aus. Als Mutter einer kleinen Tochter fand sie sich plötzlich auf sich alleine gestellt. Kita und Spielplätze waren geschlossen, sie musste sich um ihre zweieinhalbjährige Tochter kümmern, dabei fühlte sie sich nach dem Verlust von Emilie noch gar nicht wirklich in der Lage dazu. Zum Glück konnten die Schwiegereltern des Öfteren einspringen, die aufgrund der Maßnahmen in Kurzarbeit waren. Vanessa hatte sich im Februar 2020 auf die Suche nach einem Therapieplatz gemacht, gefunden hat sie keinen. Nicht einmal auf Wartelisten habe sie aufgenommen werden können.
Zum Glück konnte der Verein Verwaiste Eltern helfen. Im Netzwerk gibt es einen Therapeuten, der mit der Gruppe zusammenarbeitet, seit er selber ein Kind verloren hat. Er hält sich für akut betroffene Eltern immer Plätze frei. „Der Platz war die Rettung, mehr als Gold wert“, so empfindet es Vanessa und ist dankbar, jemanden gefunden zu haben, der die Erfahrungen nachfühlen kann. Als Vanessa erneut schwanger wird und das Kind bei einer Fehlgeburt verliert, geht es für sie förmlich um Leben und Tod. Obwohl es ihr nach eigenen Worten „sehr, sehr schlecht“ geht und die Therapie sowie die Teilnahme der Trauerbegleitung des Vereins Verwaiste Eltern die Rettung sind, übernimmt die Krankenkasse die Kosten nicht. Dafür hat Vanessa keinerlei Verständnis. Zwar kann sie für die Kosten von 50 Euro je Einzelstunde und 15 Euro je Gruppenstunde aufkommen, doch wisse sie, dass es Eltern gebe, deren finanziellen Rahmen das sprenge. Auch wenn der Verein in diesem Fall die Kosten übernähme, scheuten sich manche Mütter davor, das Angebot anzunehmen, und verzichteten lieber auf die wertvolle Hilfe. Die Monate des Jahres 2020 erlebt Vanessa als sehr schwer. Die Fehlgeburt muss sie alleine durchstehen, zu Arztbesuchen und ins Krankenhaus darf sie keine Begleitung mitnehmen. Den Geburtstag und gleichzeitig den Todestag von Emilie können die Eltern nicht begehen, wie sich vorgenommen hatten – lediglich fünf Personen dürfen sich zu diesem Zeitpunkt treffen. Und „nachfeiern“, wie man es bei anderen Geburtstagen machen würde, geht bei so einem schweren Jahrestag, an dem Leben und Tod zusammenfließen, natürlich nicht. Vanessa ist zu diesem Zeitpunkt bereits erneut schwanger und ihre größte Angst ist, bei der anstehenden Geburt aufgrund der Maßnahmen alleine zu sein. Unfassbar: Genau so wird es kommen.
Coronamaßnahmen: Alleine bei der Geburt
Als die Geburt des Kindes im März 2021 eingeleitet wird, scheint eigentlich alles in Ordnung, das Familienzimmer im Krankenhaus soll bezogen werden, als die Meldung kommt: Vanessas Mann ist zwar symptomlos und zu Hause noch negativ auf Corona getestet worden, doch plötzlich ist er testpositiv. Damit ist nicht nur er von der Geburt ausgeschlossen, sondern Vanessa Kontaktperson ersten Grades und damit darf auch niemand anders sie bei der Geburt begleiten.
Was dann kommt, erlebt die junge Frau als noch traumatischer als die Geburt ihrer toten Tochter. In einem Isolationszimmer ohne Bad, das sie nicht mal verlassen darf, um die Toilette aufzusuchen, verbringt sie die kommenden Stunden nahezu ausschließlich alleine, ohne Hilfe, ohne Nahrungsmittel, ohne Beistand. Auf ihre Ängste wird nicht eingegangen, sie wagt es nicht, die Vorgeschichte anzusprechen, bittet auch die Angehörigen am Telefon, nicht zu intervenieren – aus Angst, es möge die Situation weiter verschlimmern.
Sie erleidet einen Nervenzusammenbruch und sagt heute: „Ohne unsere Vorgeschichte wären die Maßnahmen schon schlimm gewesen, so war es der blanke Horror.“ Mit FFP2Maske bringt sie das Kind schließlich zur Welt, eine Hebamme hat ein Einsehen und lässt Vanessas Mann kurz in die Klinik. Eigentlich soll Vanessa bleiben, um sich und das Kind zu Hause nicht durch Corona zu gefährden, doch sie erleidet im Laufe des Tages mehrere Panikattacken, will nur noch weg und wird schließlich am Abend von ihrer Familie abgeholt. Dabei stellt diese fest, dass selbst das Essen, das die Eltern vorbeigebracht hatten, noch an der Pforte steht – Vanessa war die ganze Zeit unversorgt geblieben.
Bis heute fühlt sich Vanessa durch den Umgang der Klinik traumatisiert und „unter Schock, wie man mit Menschen umgeht, die nicht mal positiv getestet sind“. Selbst für Menschen mit Corona sei so ein Umgang absolut unmenschlich, findet sie, die sich als „Mensch zweiter Klasse“ gefühlt habe. Die Kraft, sich beim Krankenhaus zu beschweren, hat sie bis heute nicht gefunden. Nach Monaten habe sie zumindest einen Brief geschrieben, jedoch ohne eine Rückmeldung zu erhalten. Im gleichen Krankenhaus hatte sie bei Emilies Tod eigentlich gute Erfahrungen gemacht und kann kaum glauben, zu welchem Umgang die Pandemie Einrichtungen und Menschen verleitet hat. Der Therapeut, den Vanessa sofort am Tag nach der Geburt anruft, fängt die junge Frau auf. Gerda Palm vom Verein Verwaiste Eltern gibt den Ratschlag, sich daran festzuhalten, dass das Kind da ist und lebt. Damit versucht Vanessa sich aufzubauen, immer wieder fühlt sie sich aber traumatisiert und um eine versöhnliche Geburt nach dem Verlust ihres zweiten Kindes gebracht. Dankbar ist sie bis heute, dass es den Verein und die Trauergruppe gibt. Das habe ihr Raum gegeben, wo über Emilie gesprochen werden kann. In dieser schweren Zeit sei das nicht selbstverständlich. Im Alltag erlebten die Eltern nicht selten Menschen, denen das alles zu schwer ist und die lieber die Straßenseite wechseln, als den Gedanken zuzulassen, „dass auch Kinder sterben“.
Entscheidung für einen Abbruch – sieben Wochen im Ausnahmezustand
Lara hat sich zeitgleich wie Vanessa an den Verein Verwaiste Eltern gewandt. Auch sie hat ihr Kind verloren, wenn auch unter anderen Umständen. Finn war ein Wunschkind, die Eltern wurden gezielt schwanger. In der 23. Schwangerschaftswoche mussten sie erfahren, dass Finn schwer krank sein würde. Ein seltener Gendefekt verursachte eine Erkrankung, die das Kind aufs Schwerste beeinträchtigen würde. Jedes Organ vom Herzen bis zum Gehirn war betroffen und von Tumoren durchsetzt. Sieben Wochen lang war das Paar im Ausnahmezustand, konsultierte Experten, sprach mit betroffenen Familien, ließ sich bei donum vitae beraten. Mit jedem Tag wuchs die Bindung zu Finn, die Eltern waren sicher, das Kind bekommen zu wollen. Die Informationen, die sie zusammentrugen, waren jedoch vernichtend, zudem wurden bei Finn bei jeder Untersuchung mehr Krankheitszeichen festgestellt. Letztlich rieten alle – Ärzte und betroffene Familien – davon ab, das Kind zu bekommen. Zu schwer wäre das Leid durch die Erkrankung mit ihren Folgen.
In der 30. Schwangerschaftswoche entschieden die Eltern sich nach zermürbenden Wochen für einen Abbruch. Von den Ärzten fühlte sich das Paar gut betreut, besonders wichtig war ihnen, dass ihr Sohn gehen kann, ohne Angst zu fühlen. Zuvor hatte Lara versucht, noch so viele positive Momente wie möglich mit ihrem Kind im Bauch zu schaffen. Normalerweise beginnt die Geburt innerhalb von zwei Tagen nach Abbruch. Bei Lara sollte es sechs lange Tage dauern. Vorher konnte sie sich nicht von ihrem Kind lösen. Erst als man ihr gesagt habe, dass man das Kind nun holen müsse, habe sie verstanden, dass sie sich verabschieden muss. „Erst als Finn zur Welt kam, habe ich wirklich verstanden, dass er tot ist“, weiß sie heute. Das emotionale Verstehen sei weit von ihrem rationalen Verstehen entfernt gewesen und sie habe lange gebraucht, emotional zu verarbeiten, dass sie sich von ihrem Kind trennen müsse. Da sie – anders als Vanessa, die ihr Kind spontan verloren hat – vorher schon wusste, was passiert, hatte sie vorgesorgt. Donum vitae hatte den Kontakt zum Verein Verwaiste Eltern hergestellt, zudem hatte sich Lara entschlossen, drei Monate lang Begleitung in einer psychosomatischen Tagesklinik anzunehmen.
Im Februar 2020 startete sie in der Trauergruppe des Vereins und nahm einen neuen Job an. Ab März begannen die Coronamaßnahmen. Für Lara war das stimmig. „Durch den Tod von Finn war für uns die Welt stehengeblieben. Dass durch Corona auch die Welt drum herum stehenblieb, fühlte sich passend an“, so Lara. Sie sei eigentlich auf ein Leben mit schwerstkrankem Kind eingestellt gewesen, kaum auszumalen, was sie in der Pandemie für Sorgen ausgestanden hätte.
Eigentlich hatten Lara und ihr Mann im Oktober 2019 heiraten wollen, Finns Tod durchkreuzte die Pläne. Aufgrund von Corona wurde die Hochzeit noch zweimal verlegt. Obwohl eine Riesenfeier geplant war, wurde es schließlich ein kleines privates Fest zu Hause, mit zehn Personen und vielen Glitzerballons. „Finn war auch dabei“, erzählt Lara. Aus dem Stoff ihres Kleides hatte sie eine Hülle für das Glas genäht, in dem sich Finns Kerze befand, „um ihn feinzumachen“, kann sie heute lachend erzählen. Freunde und Familie hätten das Glas den ganzen Tag herumgetragen. Mit ihren Familien seien Lara und ihr Mann heute enger denn je verbunden. Auch die Freunde verhielten sich großartig, erzählt die junge Frau. Ablehnung und Rückzug habe sie nicht erfahren. Inzwischen haben die Eltern ein weiteres Kind bekommen. Es ist gesund und soll ganz selbstverständlich damit aufwachsen, dass es einen Bruder hatte. Wie und wann die Eltern dem Kind die genaueren Umstände erläutern möchten, wissen sie heute noch nicht. Deshalb möchten sie mit der Geschichte auch anonym bleiben. Zu furchtbar wiegt der Gedanke daran, dass sie selber die Entscheidung fällen mussten, ob Finn zur Welt kommt und mit größten Behinderungen leben muss. Aus diesem Grund hatten sie zunächst sogar Sorge, ob sie im Verein für verwaiste Eltern willkommen wären. Sie fühlten sich schuldig zwischen Eltern, die vielleicht bis zuletzt um das Leben ihrer Kinder gekämpft hatten, das sie kurz vor oder kurz nach der Geburt verloren hatten. Die Angst war unbegründet. Lara und ihr Mann haben im Verein viel Verständnis erfahren, die anderen Eltern waren eher froh, dass sie diese Entscheidung nicht fällen mussten. Noch etwas hat Lara dabei festgestellt: Gerade die Mütter plagt oftmals ein schlechtes Gewissen und die Frage nach der eigenen Schuld. Hätte ich dies anders machen müssen? Wenn ich jenes getan oder gelassen hätte, würde mein Kind dann noch leben? Gemeinsam sei allen: Das Kind ist tot, und damit muss man leben.
Wie Vanessa, so kann auch Lara allen betroffenen Müttern – und bei Bedarf natürlich auch Vätern – nur empfehlen, sich an den Verein Verwaiste Eltern zu wenden und an den Angeboten teilzunehmen. Sie habe viel darüber gelernt, wie andere den Verlust verarbeiten, und es sei sehr hilfreich gewesen mit Menschen, die das Grundgefühl verstehen, sprechen zu können und nicht alleine zu sein.
* Namen von der Redaktion geändert
Anlaufstellen
donum vitae Aachen e. V. Franzstraße 109, 52064 Aachen 0241 4009977 aachen.donumvitae.org aachen@donumvitae.org Beratung nach Pränataldiagnostik Unterstützung bei der Entscheidung gegen oder für einen Abbruch
Verwaiste Eltern e. V. Aachen verwaiste-eltern-aachen.de verwaiste-eltern-aachen@web.de Betreuung, Beratung, Begleitung, Trauergruppen, Gedenkgottesdienste für Mütter und Väter, die ein Kind durch Fehlgeburt, Frühgeburt, Totgeburt, Säuglingstod oder Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen verloren haben