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Die Flucht, dargestellt mit Trachtenpüppchen
Auf der Flucht
von Andrea Claessen
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1790 wanderte Steffen Flohrs Familie nach Serbien aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg floh sie nach Deutschland. Geschichtsaufarbeitung in Trachtenpüppchen. Ein Projekt des Aacheners Steffen Flohr.
Ich treffe Steffen Flohr in seinem Nähatelier. Dort sind auf einem langen Tisch 85 Miniaturpüppchen in Trachtenkleidern ausgestellt. Es ist ein beeindruckender Anblick und beim genauen Hinsehen springen mir die vielen kleinen und liebevollen Details ins Auge, mit denen Steffen die Püppchen in Handarbeit ausgestattet hat. Er nennt seine Ausstellung „Friedens- und Versöhnungskrippe“. Hier wird die Fluchtgeschichte der deutschen Auswanderer aus den Donaustaaten nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt. Im Interview erzählt er die Geschichte seiner Vorfahren und seine eigene:
Warum haben deine Vorfahren im Jahr 1790 Deutschland verlassen und sind nach Serbien ausgewandert? Solche Auswanderungen gab es bereits im Mittelalter. Die Siebenbürger Sachsen sind beispielsweise auch schon seit 800 Jahren dort angesiedelt. Im Habsburgerreich wurde regelrecht Werbung für die Auswanderung gemacht. Denn dort gab es einfach freie Ländereien. Auch die dortige Religionsfreiheit war ein Anreiz. Und so fuhren 1790 auch meine Vorfahren von Ulm aus auf Booten, den sogenannten Ulmer Schachteln, über die Donau in die Nähe von Belgrad und gründeten dort mit vielen anderen das Dorf Neu-Pasua.
Wann hast du begonnen, dich mit der Geschichte deiner Vorfahren zu beschäftigen? Eigentlich schon als kleiner Junge, weil meine Großeltern einen ganz anderen Dialekt sprachen als die anderen Leute in meinem Umfeld. Eines Tages waren wir unterwegs zu einer Messe nach Stuttgart. Auf dem Parkplatz wurden wir von einem Wächter eingewiesen, und der sprach genauso wie meine Großeltern. Da sagte meine Mutter zu uns: „Der schwätzt ja wie wir.“ Als ich fragte, was sie damit meine, erzählte sie mir, wir seien Donauschwaben und dass sie in Jugoslawien geboren sei. Da war ich vielleicht acht Jahre alt, als mir bewusst wurde, dass wir gar nicht aus Deutschland kamen. Am nächsten Tag bin ich in die Schule gerannt und habe stolz erzählt, dass meine Mutter in Jugoslawien geboren ist. Und dann wurde ich beschimpft. Plötzlich war ich ein Ausländer. Von da an erzählte mir meine Mutter abends als Gutenachtgeschichte immer von ihrer Kindheit in Neu-Pasua. Es gab auch Fotos, auf denen Trachten getragen wurden. Und schließlich erzählte sie mir irgendwann die ganze Fluchtgeschichte aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wobei sie nichts zurückhielt. Sie erzählte vom Krieg, von den Lagern, dem Hunger, den Läusen und dem ganzen Leid.
Und wie kam dein Interesse für die Trachten dann auf? Eines Tages fragte mich meine Mutter, ob ich nicht Lust hätte, eine donauschwäbische Tanzgruppe zu besuchen. Montags abends war da das Tanztraining für die Kinder. Die Idee war, die Kultur der alten Tänze der Donauschwaben weiterhin zu pflegen und die Trachten weiter zu tragen. Zum großen Teil trugen die Erwachsenen noch die Originaltrachten, die auf der Flucht gerettet werden konnten. Nur für die Kinder wurden die Kostüme nachgenäht.
Mit 13 hatte ich dann keine Lust mehr, die Kindertanzgruppe zu besuchen, aber der Tanzleiter wollte mich nicht gehen lassen und bot mir an, in die Auftrittsgruppe zu wechseln. Ab dieser Zeit war ich jedes Wochenende mit der Gruppe unterwegs, um die alten Tänze aufzuführen. Später wurde dieses Konzept dann aufgebrochen und wir begannen, auch ungarische, jugoslawische und rumänische Tänze zu tanzen. Sogar russisch haben wir getanzt. Aber dann ging der Streit los, weil die ganzen alten Menschen sich beschwerten, dass wir die Tänze der Völker tanzten, die sie vertrieben hatten. Plötzlich wurde es wieder politisch. Doch wir Jungen waren uns einig, dass wir einfach nur Frieden haben wollen und die Folklore mögen, egal aus welchem Land.
Dadurch, dass wir unser Tanzprogramm immer weiter perfektionierten, wurden wir schließlich als Repräsentanten der Stadt Reutlingen losgeschickt. So waren wir 1978 das erste Mal in den USA auf Tournee. Wir reisten aber auch nach Ungarn in die ehemaligen Dörfer der Donauschwaben. Wir waren ja mittlerweile auch keine rein donauschwäbische Tanzgruppe mehr, wir hatten serbische und rumänische Mitglieder, aber auch deutsche Schwaben. Einfach eine bunte Mischung, deren Leidenschaft das Tanzen ist.
Welche Symbolik hatten die Trachten in den Dörfern der Donauschwaben? Die Bewohner der Dörfer haben immer Trachten getragen. Durch die Kleidung wurde signalisiert, wer zur Gemeinschaft gehört. Selbst an der Bindung eines Kopftuchs war erkenntlich, aus welchem Dorf man stammt. Es gab für jeden Anlass die richtige Tracht: Arbeitstrachten, Sonntagstrachten, Kirchentrachten, Hochzeitstrachten, Trauertrachten. Wie bist du auf die Idee gekommen, die Trachten in Miniatur nachzunähen? Es gab eine Frau aus dem Dorf meiner Mutter, die hat Trachtenpuppen genäht. Da wusste ich, dass ich das auch machen will. Denn bei den Miniaturen kann ich die ganze Bandbreite der Trachten darstellen. Die Idee entstand also schon vor 15 Jahren, und ich habe auch immer schon Stoffe für das Projekt gesammelt. Aber ich hatte als Lehrer nie die nötige Zeit dafür. Dann kamen die coronabedingten Schulschließungen, und plötzlich konnte ich anfangen. Eigentlich wollte ich nur die Leute aus dem Dorf meiner Vorfahren nachstellen. Aber dann folgten meine Großonkel und -tanten. Danach die Nachbarn in serbischer, ungarischer und kroatischer Tracht. Und so entstand eine Gruppe nach der anderen. Zum Schluss habe ich dann noch die Flucht dargestellt.
Was möchtest du mit dem Projekt sagen? Der Name des Projekts ist ja Friedens- und Versöhnungskrippe. Ich wollte einfach, dass die verschiedenen Religionen und Völker friedlich miteinander umgehen. So ist es entstanden, dass ich die ganzen Völker, die an der Donau leben, und auch die der Nachbarländer dargestellt habe. In den Dörfern meiner Großeltern gab es auch jüdische Familien und im Dorf meines Großvaters gab es eine Romasiedlung. Die rassistischen Übergriffe und den Antisemitismus wollte ich ebenfalls nicht ausklammern. Unter den Donauschwaben waren viele, die sich dem Nationalsozialismus angeschlossen haben. Meine Eltern waren selbst in der Hitlerjugend. Aber die Flucht und die Soldaten gehören auch dazu. Die Menschen sind ja auch traumatisiert und verwundet. Und am Schluss habe ich noch eine Puppe zu jeder Jahreszeit genäht. Die stehen für unsere Erde, mit der die Menschen nicht gerade gut umgehen.
Wie geht es dir mit den momentanen politischen Ereignissen? Als ich die Nachricht gehört habe, dass wieder ein Staatsmann ein anderes Land überfällt aufgrund der Idee, dass dieses Land zu seinem gehört, dass wieder jemand dafür sorgt, dass Menschen sterben und flüchten müssen und nicht in Freiheit leben dürfen, war ich sehr geschockt. Dass das in unserem Jahrhundert passieren kann und nichts aus der Geschichte gelernt wurde, habe ich nicht für möglich gehalten. Und so sind jetzt wieder Menschen in Europa auf der Flucht.
Zu den Abbildungen:
Titelbild: Mutter mit Kindern auf der Flucht Linke Seite unten von links nach rechts 1. Großeltern und Vater aus Petersdorf in Niederschlesien 2. Maria, Josef und das Jesuskind 3. Muslimisches Paar aus Bosnien-Herzegowina
Rechte Seite oben von links nach rechts 1. Mutter und Geschwister mit Eltern in Trachten aus Neu-Pasua und Großtante in Tracht aus Neu-Banovci 2. Frau in Tracht aus dem Nachbardorf AltPasua 3. Verwundeter Soldat und traumatisierter Soldat
Unten: Steffen Flohr vor seiner Friedens- und Versöhnungskrippe, die in der Parzivalschule Aachen ausgestellt sind