KingKalli April/Mai 2022

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Magazin

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Auf der Flucht

von Andrea Claessen

1790 wanderte Steffen Flohrs Familie nach Serbien aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg floh sie nach Deutschland. Geschichtsaufarbeitung in Trachtenpüppchen. Ein Projekt des Aacheners Steffen Flohr. Ich treffe Steffen Flohr in seinem Nähatelier. Dort sind auf einem langen Tisch 85 Miniaturpüppchen in Trachtenkleidern ausgestellt. Es ist ein beeindruckender Anblick und beim genauen Hinsehen springen mir die vielen kleinen und liebevollen Details ins Auge, mit denen Steffen die Püppchen in Handarbeit ausgestattet hat. Er nennt seine Ausstellung „Friedens- und Versöhnungskrippe“. Hier wird die Fluchtgeschichte der deutschen Auswanderer aus den Donaustaaten nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt. Im Interview erzählt er die Geschichte seiner Vorfahren und seine eigene: Warum haben deine Vorfahren im Jahr 1790 Deutschland verlassen und sind nach Serbien ausgewandert? Solche Auswanderungen gab es bereits im Mittelalter. Die Siebenbürger Sachsen sind beispielsweise auch schon seit 800 Jahren

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dort angesiedelt. Im Habsburgerreich wurde regelrecht Werbung für die Auswanderung gemacht. Denn dort gab es einfach freie Ländereien. Auch die dortige Religionsfreiheit war ein Anreiz. Und so fuhren 1790 auch meine Vorfahren von Ulm aus auf Booten, den sogenannten Ulmer Schachteln, über die Donau in die Nähe von Belgrad und gründeten dort mit vielen anderen das Dorf Neu-Pasua. Wann hast du begonnen, dich mit der Geschichte deiner Vorfahren zu beschäftigen? Eigentlich schon als kleiner Junge, weil meine Großeltern einen ganz anderen Dialekt sprachen als die anderen Leute in meinem Umfeld. Eines Tages waren wir unterwegs zu einer Messe nach Stuttgart. Auf dem Parkplatz wurden wir von einem Wächter eingewiesen, und der sprach genauso wie meine Großeltern. Da sagte meine Mutter zu uns: „Der schwätzt ja wie wir.“ Als ich fragte, was

sie damit meine, erzählte sie mir, wir seien Donauschwaben und dass sie in Jugoslawien geboren sei. Da war ich vielleicht acht Jahre alt, als mir bewusst wurde, dass wir gar nicht aus Deutschland kamen. Am nächsten Tag bin ich in die Schule gerannt und habe stolz erzählt, dass meine Mutter in Jugoslawien geboren ist. Und dann wurde ich beschimpft. Plötzlich war ich ein Ausländer. Von da an erzählte mir meine Mutter abends als Gutenachtgeschichte immer von ihrer Kindheit in Neu-Pasua. Es gab auch Fotos, auf denen Trachten getragen wurden. Und schließlich erzählte sie mir irgendwann die ganze Fluchtgeschichte aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Wobei sie nichts zurückhielt. Sie erzählte vom Krieg, von den Lagern, dem Hunger, den Läusen und dem ganzen Leid.


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