Udo Pollmer, Lebensmittelchemiker Europäisches Institut für Lebensmittelund Ernährungswissenschaften e. V.
Sehr geehrte Leserinnen und Leser, dieses Buch dokumentiert die Fülle an Stoffen, die zur Herstellung unserer täglichen Nahrung genutzt werden. Viele dieser Substanzen sind mehr oder weniger gut geprüft, viele andere so gut wie nicht. Bis Ende 2020 will die EU deshalb zahlreiche Zusätze einer korrekten Prüfung unterzogen haben. Endlich! Einige Zusätze werden deklariert, andere, wie die Aromastoffe mit über 2.500 Substanzen, firmieren auf dem Etikett pauschal als „Aroma“. Dazu kommen die Stoffe, die überhaupt nicht deklariert werden. Genannt seien hier die Enzyme, deren weit verbreiteter Einsatz gewöhnlich verschwiegen werden darf. Doch auch die deklarierten Begriffe erfordern oft genug erhebliche lebensmittelrechtliche Kenntnisse und technologisches Verständnis, um sie richtig deuten zu können. Bisher hat sich die Lebensmittelwirtschaft nur zu gerne davor gedrückt, dem Kunden reinen Wein einzuschenken. Dieses Handlexikon soll das ändern. 5
Auch der Gesetzgeber tat das Seine, um die kleinen Geheimnisse der Lebensmittelproduktion nicht zu sehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit dringen zu lassen. Hätten die Kunden in den sechziger und siebziger Jahren erfahren, was bereits damals alles ihrem täglichen Brot zugesetzt wurde, viele von ihnen hätten wohl wieder selbst gebacken. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere an jene süddeutsche Zusatzstofffabrik, die asiatisches Menschenhaar in Salzsäure auflöste, um daraus ein Antischnurrmittel (E 920) für Kekse zu gewinnen? Der Name Antischnurrmittel bezieht sich übrigens auf die Eigenschaft, das (Zusammen-)„Schnurren“ des Teiges zu unterbinden. Die Bäcker hielten ihren Kritikern entgegen, der Stoff sei ja nicht mal körperfremd. Wo sie Recht haben, haben sie Recht. Bei aller Kritik, Zusatzstoffe haben unsere Lebensmittel auch sicherer gemacht. Man denke nur an die Aufbereitung, die Entkeimung des Trinkwassers. Zusatzstoffe haben unser Lebensmittelangebot auch erweitert und dazu beigetragen, dass menschliche Arbeitskraft durch eine vollautomatische Produktion ersetzt werden konnte. Viele Substanzen dienen der Verbesserung der „Maschinenfreundlichkeit“ – der „Maschinabilität“, so der Fachausdruck. Dadurch wurde das Angebot für alle erschwinglich: Jeder kann sich heute Gerichte leisten, die einst nur an hohen Feiertagen auf den Tisch kamen. Sorgen bereitet die Tatsache, dass manch eine Anwendung auch der Täuschung dient – egal ob vom Gesetzgeber gestattet oder von der Überwachung nur geduldet. Zusatzstoffe erlauben es, teure Rohstoffe zu ersetzen: Hefeextrakt hilft, den Fleischanteil zu senken, Hydrocolloide machen Wasser streichfähig bis schnittfest, Aromen schaffen sinnliche Illusionen. Letztere haben wesentlich zur Diversifizierung von Süßwaren beigetragen - man denke nur an das reiche Angebot an Fruchtjoghurts und Desserts. Alles in allem werden unseren Lebensmitteln Tausende von Stoffen zugesetzt – auch wenn offiziell nur von wenigen Hundert die Rede ist. Der Grund: Der Gesetzgeber hat viele Stoffe zu „Nicht-Zusatzstoffen“ ernannt. Rein rechtlich sind die allermeisten Aromastoffe, alle Enzyme sowie viele technische Hilfsstoffe keine Zusatzstoffe. Dazu kommt eine wachsende Zahl von funktionalen Additiven. Diese haben viele der bisher kennzeichnungspflichtigen Zusatzstoffe auf etikettenfreundliche Weise ersetzt. Clean Label heißt das Zauberwort, das „saubere Etikett“. Spötter sagen dazu nur „außen hui, innen pfui“. 6
Das Deutsche Zusatzstoffmuseum ist weltweit das einzige Museum seiner Art. Natürlich hat das Museum die Lebensmittelbranche eingeladen, ihren Beitrag zur Gestaltung zu leisten, und so zur Transparenz auf dem Lebensmittelmarkt beizutragen. Bisher haben nur wenige Unternehmen Interesse bekundet. Es ist zu hoffen, dass sich dies in absehbarer Zeit ändert. Zusatzstoffe haben es nicht verdient, ihr Leben im Verborgenen zu fristen. Schon allein aus Dankbarkeit würde es den Verwendern gut anstehen, sich zum Einsatz der flinken Helferlein zu bekennen. Die vielen Zusätze haben Industrie wie Handwerk jahrzehntelang hinter den Kulissen begleitet, wohl abgeschirmt vor den neugierigen Augen der Öffentlichkeit. Nun aber gilt:
Vorhang auf – Bühne frei
Panschen vor 100 Jahren Zusätze in unserem Essen waren schon immer geheimnisumwittert. 1916 rätselten die Berliner über die Zusammensetzung ihrer Wurst. Der Erste Weltkrieg war bereits in vollem Gange und das Militär hatte die Nitratvorräte (E 251, E 252) der Metzger beschlagnahmt. Die Pokelhilfsstoffe wurden zur Herstellung von Sprengstoff benötigt. Also suchten die Metzger nach kreativen Lösungen, um ihre Wurst auch ohne Salpeter rot aussehen zu lassen. Zudem war Fleisch bereits knapp. Hier die kundenfreundlichste Variante: Meine Wurst is jut Wo keen Fleesch is - da is Blut Wo keen Blut is - da sind Schrippen An meine Wurst is nich zu tippen! Heinrich Zille 7
Antioxidantien
Antioxidantien Antioxidantien erhöhen die Haltbarkeit von Lebensmitteln. Sie verzögern den chemischen und enzymatischen Verderb, also das Ranzigwerden von Fetten, das Braunwerden von Obst, indem sie eine Oxidation durch Luftsauerstoff verhindern. Sie ergänzen so die Wirkung von Konservierungsstoffen, die den mikrobiellen Verderb unterdrücken, was den Anteil an weggeworfenen Lebensmitteln verringert. Antioxidantien wirken nur in niedriger Dosis. Megadosen entfalten die gegenteilige Wirkung und haben eine massive Bildung freier Radikale zur Folge, was den Verderb beschleunigt. Insofern werden Antioxdantien in Lebensmitteln nur in optimaler Dosierung eingesetzt. Zur Wirkung von Megadosen siehe Vitamine, Seite 124ff.
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E 220 Schwefeldioxid Schwefeldioxid gilt zwar rechtlich als Konservierungsmittel, faktisch ist es aber das bedeutendste Antioxidans unter den Lebensmittelzusatzstoffen. Es wurde mehrere Jahrtausende zum Schutz vor Oxidation verwendet, vor allem beim Wein. (Siehe S. 41)
E 300 Ascorbinsäure Landläufig als Vitamin C bekannt. E 300 wird gewöhnlich nicht zur Vitaminisierung zugesetzt, sondern verschafft technologische Vorteile, wie die Erhöhung der Wasseraufnahme im Brotteig, die Verlängerung der Haltbarkeit von Getränken, Verzögerung des Braunwerdens von Früchten oder die Beschleunigung der Umrötung von Würsten. Daher sind rote Würste und Schinken heute wichtige Vitamin C-Lieferanten. Wirkt zugleich antibakteriell, d. h. als Konservierungsmittel. Als Zusatz im Mehl umstritten: Die hohen Temperaturen beim Backen zersetzen E 300 zu Threonsäure, die im Tierversuch Vitamin-C-Mangel hervorruft. Eine akute Wirkung auf den Menschen erscheint aufgrund der geringen Dosis eher unwahrscheinlich. Aber das Beispiel zeigt, wie weltfremd toxikologische Tests sind, die Zusatzstoffe in „rohem“ Zustand prüfen, obwohl sie häufig dazu bestimmt sind, stark erhitzt zu werden. E 300 provoziert in süßstoffhaltigen Getränken die Bildung von Benzol aus Benzoesäure (E 210). „Natürliche“ Ascorbinsäure wird gentechnisch hergestellt. Auch für Bioprodukte zugelassen.
Bewertung: Als Antioxidans mit Einschränkungen sinnvoll. Zur Wirkung von Megadosen siehe „Vitamin C“ (Seite 127).
E 301 Natriumascorbat E 302 Calciumascorbat Salze der Ascorbinsäure (E 300). E 301 fördert im Gegensatz zu Vitamin C im Experiment Blasenkrebs, allerdings wird dies als Folge einer (zu) hohen Dosis angesehen. Verfüttert man Lebensmittel, die mit einem Zusatz von E 301 erhitzt wurden, an junge Versuchstiere, so wird ihr Wachstum beeinträchtigt. Dennoch dürfen die Stoffe den allermeisten Lebensmitteln, auch Bioprodukten, zugesetzt werden.
Bewertung: Abschließende Bewertung noch nicht möglich.
E 304 Fettsäureester der Ascorbinsäure: Ascorbylpalmitat Ascorbylstearat Werden aus E 300 und Palmitinsäure bzw. Stearinsäure synthetisiert. Dadurch kann die wasserlösliche Ascorbinsäure auch Fetten zugesetzt werden. Der Wissenschaftliche Lebensmittelausschuss der EU nimmt an, dass E 304 „während des Verdauungsvorgangs Ascorbinsäure erzeugt“. Tierversuche ergaben „die Bildung von Blasensteinen bei einigen Tieren, die zu den Gruppen gehörten, denen hohe Dosen verabreicht wurden“. Vom Ausschuss wurde das als „nicht relevant für den Menschen“ beurteilt.
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Antioxidantien Bewertung: Auch wenn bei der eingesetzten Menge kein spezifisches Risiko für den Menschen erkennbar ist, so wäre es doch wünschenswert, wenn E 304 nicht als „Ascorbinsäure“ deklariert würde, sondern mit seinem korrekten Namen.
Bewertung: Als Zusatzstoffe unbedenklich. Zur Wirkung von Megadosen siehe „Vitamin E“ S. 128. E 307 nützlich, aber wohl doch kein Vitamin.
E 306 Stark tocopherolhaltige Extrakte Extrakte aus Pflanzenölen. Erhöhen die Lagerfähigkeit von Ölen und Margarinen. Auch für Bioprodukte. Wird gelegentlich als Vitamin E bezeichnet. Eine Vitaminwirkung ist allerdings bis heute nicht belegt. Frühgeborene Säuglinge waren nach Auffassung der Ernährungsmediziner die einzige Gruppe, für die „Vitamin E“ lebenswichtig sei, womit sie den Status der Tocopherole als „Vitamin“ rechtfertigten. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die übliche Gabe des „Vitamins“ ohne jeden Nutzen war. Die Tierversuche, die eine „Gesundheitswirkung“ zeigen sollten, gelangen vorzugsweise mit Versuchstieren, denen verdorbene Fette verfüttert wurden. Antioxidantien gleich welcher Art wirken ganz allgemein den Folgen ranziger Lebensmittel entgegen.
Bewertung: Als Antioxidans in Lebensmitteln nützlich und unschädlich. Zur Wirkung von Megadosen siehe „Vitamin E“, Seite 128.
E 307 Alpha-Tocopherol E 308 Gamma-Tocoperol E 309 Delta-Tocopherol Synthetisch hergestellte E 306-Varianten. 58
E 310 Propylgallat E 311 Octylgallat E 312 Dodecylgallat Ester der Gallussäure, die in Pflanzen weit verbreitet ist. Hitzestabil, deshalb vor allem für Frittierfette und Aromen. Schützt „antioxidative“ Vitamine in Nahrungsergänzungsmitteln vor Verderb. Propylgallat führte bei Säuglingen zu einer lebensbedrohlichen Blausucht. Zwar darf es der Säuglingsnahrung nicht zugesetzt werden, ist aber für typische Kinderprodukte wie Marzipan, Nougat, Knabberartikel oder vorgekochte Getreidekost erlaubt. Im Tierversuch beeinträchtigten Gallate die Infektabwehr. Typische Allergene, vor allem E 311.
Bewertung: Die Zulassung sollte wegen gesundheitlicher Bedenken (weiter) eingeschränkt werden.