LESEPROBE: Die verirrten Hirten

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MARIA 2.0 FRANKFURT

DIE VERIRRTEN HIRTEN Edition



DIE VERIRRTEN HIRTEN Vom Missbrauch in der katholischen Kirche


IMPRESSUM ©2023 Quell Verlag GmbH Saalgasse 12 60311 Frankfurt am Main info@quell-online.de Besuchen Sie uns im Internet: www.quell-online.de Cover und Gestaltung: Antje Therés Kral www.lupinus.de Foto: Andrea Tichy Lektorat: Claudia Löwenberg-Cohen Druck und Bindung: www.bod.de ISBN 9783981993691


MARIA 2.0 FRANKFURT

DIE VERIRRTEN HIRTEN Vom Missbrauch in der katholischen Kirche

Edition


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INHALT

Seite 1. Maria 2.0 Frankfurt – wer wir sind, für was wir uns engagieren

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2. Katholische Kirche – Vertuschung und Unwahrhaftigkeit als System

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3. Der schwierige Umgang mit dem Missbrauch(ten)

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4. Öffentlichkeit und Aufklärung zum Missbrauch in der katholischen Kirche sind weiterhin notwendig

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5. Aufarbeitung des Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche Deutschlands

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6. „Im Übrigen meine ich, dass Frauen geweiht werden müssen“

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7. Die Justiz und die Institution Kirche

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8. Kardinal Woelki und der Meineid

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9. Die Kirche und das Geld

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10. Fallanalyse S.N. aus dem Bistum Essen

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11. Was bleibt von der katholischen Kirche übrig?

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12. Warum wir in der katholischen Kirche bleiben

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13. Übersicht zu Missbrauchsgutachten

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Literaturverzeichnis

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Register

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1. KAPITEL

Maria 2.0 Frankfurtwer wir sind, wofür wir uns engagieren Die Bewegung Maria 2.0 ist im Frühjahr 2019 entstanden als Reaktion auf die Veröffentlichung der MHG-Studie* im Herbst 2018, in der sexueller Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland in ungeahnter Dimension öffentlich wurde. Schnell wurde deutlich, dass es nicht um Einzelfälle geht, sondern dass es strukturelle Faktoren in der katholischen Kirche gibt, die Missbrauch ermöglichen und begünstigen. Fassungslosigkeit und Wut über die Verlogenheit und Feigheit der Kirchenmänner, über den Vertrauensmissbrauch von Gemeindemitgliedern und Betroffenen, die Verantwortungs- und Empathielosigkeit gegenüber Kirchenmitgliedern und Opfern, über die grobfahrlässige und vorsätzliche Vertuschung und Ermöglichung von Missbrauch war unsere Motivation, die Stimme zu erheben. Eine Kirche, deren Lehre von Frauenmissachtung bis zur Frauenverachtung und von Homophobie geprägt ist, ist kein Wirkort des Heiligen Geistes. Eine Kirche, die bewusst wissenschaftliche Erkenntnisse über die menschliche Psyche und Sexualität ignoriert und negiert, ist auf dem Irrweg und steht für Unheil.

Maria 2.0 ist eine Graswurzelbewegung. Maria 2.0 ist eine Hoffnungsbewegung, für viele (noch) eine Alternative zum Austritt. Maria 2.0 ist ein „freischwingendes Netz“. Deutschlandweit und darüber hinaus haben sich Gruppen von engagierten, tief in der Kirche verwurzelten Menschen gebildet, für die ein Weiter-so nicht möglich ist angesichts der Abgründe, die sich weltweit unter dem Deckmantel der katholischen Kirche auftun. An vielen Orten erheben Menschen ihre Stimmen und organisieren Aktionen, die ihren Charismen und Möglichkeiten entsprechen, um eine Erneuerung der katholischen Kirche einzufordern. Sie stehen für eine Kirche, die auch in ihren Strukturen dem Geist des Evangeliums gerecht wird und die für Heil anstatt für 8


Maria 2.0 Frankfurt - wer wir sind, für was wir uns engagieren

Unheil steht. Maria 2.0 hat keine aufwendige Verwaltungsstruktur, ist kein neuer Verband, hat keine Hierarchie. Ein jährliches deutschlandweites Treffen ist geplant und hat im Frühjahr 2023 erstmals in Frankfurt stattgefunden. Im Mai 2019 begannen bundesweit Protestaktionen mit einem „Kirchenstreik“. Frauen waren aufgerufen, ihre Ehrenämter ruhen zu lassen und sich vor den Kirchen zu versammeln. Dadurch sollte unter anderem sichtbar werden, dass in der Kirche nichts funktioniert ohne Frauen. Die Frankfurter Maria 2.0 Gruppe versammelte sich während der Streikwoche jeden Tag vor einer der Kirchen an den sieben Kirchorten der Dompfarrei St. Bartholomäus. Die Teilnehmenden trugen weiße Kleidung als Zeichen für einen Neuanfang. Aus diesen Versammlungen entwickelte sich eine monatlich stattfindende Kundgebung auf dem Domplatz vor dem Frankfurter Dom St. Bartholomäus. Neben Kundgebungen und Austausch ist fester Bestandteil der Zusammenkünfte das Schritt für Schritt Gebet der Benediktinerinnen um Irene Gassmann aus dem Kloster Fahr in der Schweiz. Corona hatte im Jahr 2020 die monatlichen Kundgebungen vor dem Dom St. Bartholomäus sehr schwierig gemacht. Daher hatten wir zu Zeiten von Versammlungsverboten unsere donnerstäglichen Treffen so gestaltet, dass wir auf dem Domplatz an langen Leinen Fotos mit den Gesichtern der engagierten Marien aufgehängt und somit sichtbar gemacht hatten. Im Frühjahr 2021 beteiligte sich Maria 2.0 Frankfurt an der bundesweiten Aktion eines Maria 2.0 – Thesenanschlags. 2021 waren wir auch präsent mit einer Aktion zum ökumenischen Kirchentag an der Frankfurter Hauptwache. 9


1. KAPITEL

Maria 2.0 Frankfurt hat einige Briefe geschrieben an Bischof Bätzing. Es kam zu einem Treffen in Limburg mit einem bestärkenden Austausch. Auch an Kardinal Stella haben wir geschrieben als Antwort auf sein Schreiben zur klerikalen Umkehr. Uns wurden dabei die Äonen deutlich, die zwischen der klerikalen Kirchenwelt und der Welt der Laien liegen. Die Frankfurter Maria 2.0 Gruppe hat ihre Forderungen unter dem Motto Gleiche Würde, Gleiche Rechte für alle in der Kirche zusammengefasst. Konkret fordert sie:

Maria 2.0: Für einen Aufbruch in der Kirche

• Wir Frauen engagieren uns für die Kirche, nicht gegen sie. • Die vormodernen Strukturen der Kirche entsprechen nicht mehr den Gegebenheiten in der Gesellschaft, in denen Frauen Teilhabe in allen Bereichen haben, in Wirtschaft, Politik und Kultur. Wandel in der Kirche tut not. • Wir Frauen fordern einen Aufbruch, bei dem die Talente der Frauen stärker als bisher zum Einsatz kommen. • Partizipation und Geschlechtergerechtigkeit: Wir unterstützen die Generaloberinnen der deutschsprachigen Kongregationen und die vielen Verbände, vor allem die Frauenverbände, in dieser Forderung. • Wir fordern Öffnung der Weiheämter für Frauen. • Der Vatikan repräsentiert mehr als 1,2 Milliarden Gläubige. Davon sind mehr als die Hälfte Frauen. Aber nur 3 Prozent der Führungspositionen sind mit Frauen besetzt. 10


Maria 2.0 Frankfurt - wer wir sind, für was wir uns engagieren

Wir fordern mehr Frauen in Führungspositionen des Vatikans. • Die derzeitigen Strukturen in der Kirche haben den massiven Missbrauch von Schutzbefohlenen mitverursacht. Das hat die MHG-Studie* gezeigt. • Wir fordern gleiche Rechte und gleiche Würde für alle Menschen in der Kirche. Amtsträger in der Kirche dürfen nicht durch ihr Amt besonders geschützt werden. Die Frankfurter Gruppe hat ein kraftvolles und herausforderndes Logo: Vor einem dunklen Hintergrund erhebt sich ein dem Betrachter zugewandtes filigranes Handgelenk mit eintätowiertem kleinem Kreuz, darüber eine zur Faust geschlossenen Hand; sie könnte von Frau bis Mann von jedem Menschen sein; neben dem Erwachsenenarm reckt sich mit gleicher Geste die weiche, pummelige Hand eines Babys. Die hochgereckte geballte Hand erinnert an die gereckte Faust der Black Power Bewegung; damals wie heute steht die Geste für den ohnmächtigen Schrei nach Gerechtigkeit. Das Logo von Maria 2.0 drückt Verletzlichkeit und Zärtlichkeit und zugleich Aufbegehren und Entschlossenheit aus. Nicht wenige fühlten sich von dem Logo irritiert und lehnten die vermeintlich aggressive Geste ab. Der Schrei und die Widerständigkeit im Namen der Gerechtigkeit sind für uns wichtig und unüberhörbar. Seit 2020 hat Maria 2.0 Frankfurt zusammen mit vielen anderen Reformgruppen die Tagungen des Synodalen Wegs von außen begleitet: In der Spannung von Kampf und Kontemplation (Frère Roger) hatten die Kundgebungen von Maria 2.0 Frankfurt immer eine politische und eine spirituelle Komponente, eine Aktion vor dem jeweiligen Tagungsort der Synodalversammlung und eine spirituelle Feier in und um den Dom St. Bartholomäus. Im Januar 2020 begleiteten wir den Synodalen Weg unter dem Motto: Mehr Gerechtigkeit wagen mit einem bestärkenden, begeisternden und 11


1. KAPITEL

beflügelnden Gottesdienst, gestaltet von verschiedenen Reformgruppen in dem brechend vollen Dom St. Bartholomäus und mit anschließender Nachtwache auf dem Domplatz mit Komplet und frühmorgendlicher Laudes. Coronabedingt fand die nächste Synodalversammlung als Regionenkonferenz an fünf verschiedenen Orten statt. In Frankfurt waren wir präsent und verteilten an die Teilnehmenden weiße Kugelschreiber mit der Aufschrift: Gleiche Würde, Gleiche Rechte. Im September 2021 war das Motto der Maria 2.0 Frankfurt Aktion: Schneidet die alten Zöpfe ab, verbildlicht durch eine riesige Mitra, an der dicke, aus Stroh geflochtene Zöpfe befestigt waren, die demonstrativ abgeschnitten und an Synodenteilnehmende überreicht wurden. Bei der darauffolgenden Synodalversammlung in Frankfurt im Februar 2022 platzierten wir ein großes Banner mit unserem Logo und der Aufschrift: Genug geredet, Taten jetzt. Die Maria 2.0 Unterstützenden waren aufgerufen, nicht persönlich zu kommen, um mit einem „donnernden Schweigen“ auszudrücken, dass unsere Geduld am Ende ist. Im September 2022 errichtete Maria 2.0 Frankfurt vor dem Tagungsort der Synodalversammlung einen Segensbogen, eine „Heiliggeistpforte“. Die Synodenteilnehmenden waren eingeladen, durch den Bogen zu schreiten und sich segnen zu lassen. Selbstermächtigung. Viele nahmen das Angebot an. Zudem verteilten wir weiße Schals an die Kongressteilnehmenden mit der Aufschrift: Gleiche Würde, Gleiche Rechte. Wenige Tage vor der Synodalversammlung hatte Maria 2.0 Frankfurt beim Stadtkirchenfest um den Dom St. Bartholomäus mit einem Stand über den Synodalen Weg informiert und dazu eingeladen, auf kleine, farbige Zettel bestärkende Wünsche und Gebete für die Synodenteilnehmenden zu notieren. Diese wurden nun bei der Eröffnung der Synodalversammlung verteilt.

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Maria 2.0 Frankfurt - wer wir sind, für was wir uns engagieren

Die letzte Synodalversammlung des Synodalen Wegs fand am 5. März 2023 auf dem Messegelände in Frankfurt statt. Viele Reformgruppen waren gekommen, aber auch viele Gruppen, die Gegner des Synodalen Weges sind. Diese letzte Synodalversammlung stand unter einer riesigen Sorge des Scheiterns, was zum Glück verhindert werden konnte, allerdings zu einem hohen Preis und mit vielen Kompromissen. Es wurde jedoch deutlich, dass die Gegenkräfte sich formiert und positioniert haben und zum Angriff auf die Reformbestrebungen übergegangen sind. Viele der Maria 2.0 Engagierten sind derzeit in verschiedenen Gremien in der Stadtkirche Frankfurt und im Bistum Limburg in dem Transformationsprozess des Bistums Limburg engagiert, bei dem die über 60 Empfehlungen zur Verhinderung von Missbrauch der Gutachter der von dem Bistum in Auftrag gegebenen Missbrauchsstudie umgesetzt werden. Schritt für Schritt. Es ist deutlich, dass wir einen langen Atem brauchen, um wirklich Neuerungen zu erreichen. Noch ist nichts gewonnen, aber es ist vieles in Bewegung - nicht nur in Richtung Kirchenaustritt. Das Anliegen von Maria 2.0 Frankfurt mit dieser kleinen Publikation ist es, einer breiten Öffentlichkeit zu ermöglichen, sich mit der problematischen Seite der katholischen Kirche zu beschäftigen, und verständlich zu machen, warum ein Wandel der Kirche wirklich notwendig ist. Immer wieder werden wir angesprochen von Menschen, die sich für das Engagement von Maria 2.0 bedanken, die uns zurufen: Bleibt dran, ihr seid unsere Hoffnung! Also bleiben wir dran. Monika Humpert *Das Forschungsprojekt MHG Studie ist ein Konsortium aus verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen. Dazu gehören das Zentralinstitut für seelische Gesundheit (Mannheim), das Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg, das Institut für Gerontologie der Universität 13


1. KAPITEL

Heidelberg und die Professur für Kriminologie, Jugendrecht und Strafvollzug an der Universität Gießen. In der Kurzform „MHG-Studie“ ist sie benannt nach den Orten der Universitäten des Forschungskonsortiums – M(annheim)-H(eidelberg)-G(ießen) – und trägt den Titel „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“

X Nachtwache vor dem Dom St. Bartholomäus im Januar 2020 Impressionen der Aktionen von Maria 2.0

Aus dem festlichen Licht des Domes hinaustreten in das winterabendliche Dunkel, in das Stimmengewirr von Menschen, die erfüllt und beseelt von der wunderschönen Wortgottesfeier den Domplatz füllen und erfüllen. Um 21 Uhr wird vor dem Eingang des Doms ein Feuer in einer Osterschale entzündet. Das Licht zieht die Menschen an, auch Teilnehmer des synodalen Wegs kommen nach ihrem langen Arbeitstag dazu, aus der Enge der Tagungsräume ins Offene, um das Licht und unter dem Nachthimmel werden wir eins in Hoffnung, Dankbarkeit, Einklang und Einmütigkeit – Gebet. Abendgespräche, Reflexionen, Müdigkeit und tagesgesättigt. Freude auf die Erholung im nächtlichen Schlaf, Gerüstet sein für den kommenden Tag mit seinen Herausforderungen. Um das Feuer bleiben Menschen versammelt, während die Nacht alles umhüllt. Singen, ein Rosenkranz aus Lichtern ist gestellt, die immer wieder vom Wind ausgeblasen werden. Die Gebete werden nicht ausgeblasen und der Turm des Domes singt und klingt in den Windböen. Gespräche, Gesang, Gelächter kommen auf und verebben, das Feuer brennt nieder und frisches Holz wird nachgelegt, die Kälte kriecht in die Kleider und wird 14


Maria 2.0 Frankfurt - wer wir sind, für was wir uns engagieren

im geheizten Pfarrsaal mit heißem Tee wieder vertrieben. Heiterkeit und Gelassenheit bleiben. Kampf gegen die Müdigkeit. Drei Frauen aus Hinterzarten im Schwarzwald brechen gegen 2.30 Uhr auf, um den Zug nach Freiburg zu erwischen, denn am nächsten Tag schon ist die „Aufwache“ auf dem Freiburger Münsterplatz. Wir lernen von ihnen das Lied der Freiburger Marien: Wenn einer allein träumt, ist es ein Traum, wenn viele gemeinsam träumen, ist das der Beginn, der Beginn einer neuen Wirklichkeit. Träumt unsern Traum! (Text: Dom Helder Camara, Melodie: Ludger Edelkötter). Auch die Mainzer Marien sind in der Nacht aufgebrochen, um am nächsten Tag in Mainz am Leichhof zu stehen. Jeder und jede steht am Feuer für sich und zugleich für viele andere, für das Licht der Träume und Hoffnungen von vielen. Lichtwache, Lichthüterinnen. Bevor man das Morgenlicht sieht, spürt man es. Ein Aufwachen liegt in der Luft. Aus der Dunkelheit kommen schlaftrunkene Menschen und versammeln sich um das verglimmende Feuer. Laudes. Lieder und Gebete erklingen über den morgendlichen Platz. Und lassen uns ankommen in einem neuen Tag. Bischöfe und andere Synodenteilnehmer werden begrüßt, befragt, ermutigt, bestärkt und bekommen Aufgaben ins Gepäck auf ihrem Weg zum Morgengottesdienst. Über allem liegt Heiliger Geist. Monika Humpert

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2. KAPITEL

Katholische Kirche- Vertuschung und Unwahrhaftigkeit als System Im Umfeld der katholischen Kirche gedeiht offensichtlich eine Kultur des Verschweigens und des Vertuschens von sexuellen und anderen Verbrechen. Wie kommt es, dass „das hörende Herz“ von kirchlichen Amtsträgern allenfalls für Kleriker-Kollegen schlägt und nicht für die Opfer von sexueller Gewalt? Der Pflichtzölibat ist Teil der Unwahrhaftigkeit und des Unheils der katholischen Kirche in ihrer derzeitigen Verfasstheit. Deshalb setzt sich Maria 2.0 für die Abschaffung des Pflichtzölibats ein.

In den letzten Jahrzehnten wurde deutlich, dass sexueller Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche weltweit nach den gleichen Mustern ermöglicht und gedeckt wird. Dazu gehört, dass Priester und hochrangige Kleriker kraft ihrer amtlichen Autorität und ihres Images als besonders integre Vertrauenspersonen Freiräume haben, die sie zu Missbrauch und zur Begehung von Straftaten fast ungehindert nutzen können. Schutzbedürftige werden ihnen anvertraut oder vertrauen sich ihnen an. Dieses blinde Vertrauen wird und wurde in unerträglichem Maß missbraucht und ausgenutzt. Es ist eigentlich nicht zu fassen, dass gerade die Institution Kirche derart versagt beim Schutz und der Fürsorge für die Schutzbefohlenen. Woran liegt das? Wie kann es sein, dass dieses Muster weltweit zu finden ist, so dass zigtausendfach Missbrauch begangen werden kann? Wie ist es möglich, dass gerade in kirchlichen Machtzentralen derart empathie- und verantwortungslos gehandelt wurde? Woher kommt diese Unkultur der Verheimlichung und Vertuschung? Nicht umsonst ist in modernen Rechtssystemen der Grundsatz der Öffentlichkeit zentral für Wahrheitsfindung und zum Schutz vor Machtmissbrauch. Klandestine Prozesse verdunkeln und liefern aus. Öffentlichkeit bringt Licht ins Dunkel. Der weltweit stattfindende Missbrauch und seine komplizenhafte Verheimlichung 16


Katholische Kirche – Vertuschung und Unwahrhaftigkeit als System

innerhalb des Klerus haben ihre Ursachen tief in der DNA der Kirche und in den Schaltzellen der Macht. Verheimlichen, vertuschen, verschweigen, wegschauen sind institutionell verankert. Zwei der zahlreichen systemische Ursachen sollen hier in den Blick genommen werden:

1. Der Pflichtzölibat Zu den heiligen Kühen der Institution Kirche gehören der Pflichtzölibat samt Keuschheitsgelübde, d.h. die für den Klerus konstituierende Entsagung von menschlichen basics wie Liebe, Partnerschaft, Kinder und somit Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Zärtlichkeit, Erotik, Sexualität, Lust und Leidenschaft, Nähe und Berührung. Durch diese Entsagungen soll der Kleriker als Sondermann reiner, Gott näher und irgendwie hochwertigerer Mensch sein und werden als der banale Rest, das Bodenpersonal. Er soll herausgehoben sein aus den Verstrickungen und Verwirrungen des Lebens. Für geistliche Gemeinschaften, Mönche und Eremiten mag das stimmig sein, nicht jedoch für einen kirchlichen Behörden- und Machtapparat. Das dieser Vorstellung zugrunde liegende Menschenbild ist längst überkommen und trägt zur Begehung von Missbrauch bei. Denn der durch das Zölibatsgelübde zur Lichtgestalt gewordene Kleriker ist zu oft ein Wolf im Schafspelz; er trägt gleichsam einen Tarnmantel wie es der Priester und Kirchenhistoriker Hubert Wolf beschreibt, denn der Zölibat verleiht ihm eine besondere Patina als einer, der nicht ganz von dieser Welt, unberührbar, asexuell, quasi in höhere Sphären entrückt ist. (Wolf) Gegen die klerikale Allmacht und Aura hatten die Opfer nie eine Chance, sie fanden nicht einmal Gehör. Der sexuelle Missbrauch ist leider nicht ein 17


2. KAPITEL

zeitlich eingrenzbares Phänomen, vielmehr können Forscher Hinweise auf sexuellen Missbrauch finden, seitdem wir Quellen über Kleriker und deren Verhalten haben, stellt Wolf fest. Keinesfalls handelt es sich beim Zwangszölibat um eine unveränderliche Tradition der Kirche. In der alten Kirche gab es neben zölibatär lebenden Priestern auch verheiratete. So gab es beispielsweise im 17. und 18. Jahrhundert ganze Priesterdynastien im Münsterland, in denen das Priesteramt über Generationen hinweg vom Vater auf den Sohn weitergegeben wurde. Erst 1917 wurde die Weihe im kirchlichen Gesetzbuch (CIC) zum Ehehindernis und die Ehe zum Weihehindernis erklärt. (Wolf). Laut Wolf schafft der Zölibat quasi von selbst eine Priesterkaste mit klerikalem Korpsgeist und Standesdünkel. Er führt zu Milieuverengung und Selbsthermetisierung. Er ist wichtiger Identitätsmarker des klerikalen Systems. Zölibatäre Priester sind leichter zu dirigieren, leichter zu steuern – und leichter zu erpressen. Nicht zuletzt wegen des bekannt hohen Anteils an Zölibatsverstößen. Das Verbot der gelebten Sexualität, Liebe und Elternschaft für Kleriker hat zahlreiche Kollateralschäden: Verheimlichte Liebesbeziehungen, verheimlichte sexuelle Beziehungen, verschwiegene Priesterkinder, Partnerinnen und Partner von Priestern, die das unheilige Spiel der Verheimlichung mitzuspielen gezwungen sind. Viele Priester vereinsamen, entwickeln beispielsweise Verhaltensauffälligkeiten oder Depressionen, verfallen dem Alkohol oder flüchten sich in autoritäres Gehabe. (Wolf). Schon heute gibt es in Deutschland verheiratete Priester, z.B. solche, die früher evangelische Pfarrer waren. „Schon zur Zeit des Konzils war für bestimmte Weltreligionen – etwa Afrika oder Lateinamerika – völlig klar: ehelose Priester – das geht dort nicht. Weder soziokulturell noch spirituell: Wo das Leben des Menschen als Geschöpf Gottes in Einklang mit der Schöpfung gesehen und dem geweihten Priester die Aufgabe zugesprochen wird, als Mann Gottes die Einheit mit Natur und Schöpfung herzustellen, dort hat der Ausschluss der Sexualität keinen Platz. Der Priester muss 18


Katholische Kirche – Vertuschung und Unwahrhaftigkeit als System

selbst im Einklang mit der Natur und nicht wider sie leben, wenn seine Botschaft authentisch sein soll“. (Wolf) Dank Fortschritt und Wissenschaft wissen wir, dass die göttliche Schöpfung noch viel faszinierender, vielfältiger und wunderbarer ist als in alten Glaubensweltbildern angenommen. Mensch sein heißt auch, neugierig und entdeckerfreudig zu sein. Daher ist das Gewinnen von Erkenntnissen und die Fähigkeit, sein eigenes Weltbild zu korrigieren, zutiefst menschlich und somit Gott gegeben und gewollt. Das gilt auch für die modernen Erkenntnisse über Sexualität und Homosexualität. Die kirchlichen Aussagen zu diesen Themen sind weitgehend schlicht falsch, verletzend und unwahr. Veraltete Vorstellungen werden gegen die wissenschaftliche Erkenntnis verteidigt. Augen und Ohren werden gegen Vernunft, Aufklärung und Logik verschlossen. Aus dieser Haltung entsteht Blind- und Taubheit und störrische Verweigerung. Ein falsches Bild wird aufrechterhalten. Eine falsche Fassade wird verteidigt. Aus all dem leitet sich für Hubert Wolf und Maria 2.0 zwingend die Forderung ab, die zwingende Verbindung von Zölibat und Priestertum aufzugeben.

2. Homosexualität Ein falsches Menschenbild hat die Kirche nicht nur in Bezug auf Sexualität, sondern auch ganz besonders zur Homosexualität. Homosexuell veranlagte Menschen sind aus kirchlicher Sicht Mängelwesen, die es eigentlich nicht geben sollte, die aber keinesfalls in die edle Klasse der Kleriker aufsteigen dürfen. Aber gerade diese Klasse scheint eine besondere Anziehungskraft auf Homosexuelle auszuüben. Der Journalist und Soziologe Frédéric Martel hat mehrere Jahre das Thema der Homosexualität im Vatikan erforscht und darüber ein Buch geschrieben: 19


2. KAPITEL

„Sodom: Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan“. Nach seinen Erkenntnissen ist gelebte, verheimlichte, verschwiegene und unterdrückte Homosexualität im Vatikan eine wirkmächtige Realität. Nach Martel handelt es sich bei klerikaler Homosexualität oft um eine verdrängte, nicht angenommene Homosexualität. In den 40er oder 50er Jahren war der Priesterberuf für homosexuelle Männer eine brauchbare Lösung: Man konnte unter Männern leben und bekam zu hören, man dürfe keinen Sex mit einer Frau haben. Genau das wollte man hören. Mit der Schwulenbewegung hat nach Martel die verinnerlichte Homophobie abgenommen und heute hat ein Homosexueller in vielen Ländern viele andere Möglichkeiten, einen guten Ort für sich zu finden, als Priester zu werden. Auch das trägt zum Rückgang der Priesteranwärter bei. Martel stellt fest, dass unterdrückte, verneinte, verdrängte Homosexualität zu Hass auf Homosexuelle und damit zum Selbsthass führt. Er sagt: „Je homophober ein Kleriker ist, desto wahrscheinlicher ist er selbst homosexuell, und je entspannter er gegenüber Homosexualität ist, desto wahrscheinlicher ist er nicht homosexuell. Faktisch schaffen Pflichtzölibat und Keuschheitsgelübde Vertuschung und falsche Fassaden, die angreifbar und verletzlich machen. Denn viele Kleriker führen ein Doppelleben, und nach Martel werden viele Bischöfe oder Kardinäle, die homosexuell sind oder eine Frau haben, von pädophilen Priestern erpresst, die sie benutzen, um sich zu schützen und ihre Missbrauchstaten zu verheimlichen. Die Verheimlichungskultur ist in seinen Augen der Hauptgrund für die massenhaften, wiederholten Missbrauchsfälle weltweit. „Wir sprechen von tausenden von Priestern, die heute in Australien, den USA, in Chile, Kolumbien, Mexiko angeklagt sind. Es sind keine Einzelfälle, sondern es ist ein System. Es gibt tiefe Verbindungen zwischen einer Kultur der Lüge und des Geheimnisses in der katholischen Kirche und der Ablehnung von Homosexualität.“(Martel).

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Katholische Kirche – Vertuschung und Unwahrhaftigkeit als System

Homophobie und Doppelmoral im Vatikan sind nach Meinung von Martel auch der Schlüssel zum Verständnis für viele Verbote und Entscheidungen des Heiligen Stuhles in den letzten Jahrzehnten: Für das Verbot künstlicher Empfängnisverhütung, die Ablehnung des Kondoms, die strikte Verpflichtung der Priester zum Priesterzölibat; die Bekämpfung der Befreiungstheologie; die Affäre der Vatikanbank in Zeiten des (homosexuellen) Erzbischofs Marcinkus, die Entscheidung, Kondome als Mittel im Kampf gegen Aids zu verbieten – und das, obwohl die Pandemie 35 Millionen Tote fordern würde –(so viel zum Thema: Schutz des Lebens !); die Skandale Wikileaks 1 und 2 im Vatikan, die häufige und oft bodenlose Frauenfeindlichkeit vieler Kardinäle und Bischöfe, die in einem Umfeld ohne Frauen leben; die Abdankung Benedikts des XVI; die aktuelle Revolte gegen Papst Franziskus – jedes Mal spielen unterdrückte Homosexualität und Homophobie eine zentrale Rolle, was wir zwar ahnen, was aber nie ausgesprochen wird, wie er feststellt. An vielen Stellen in der Bibel heißt es: Fürchtet euch nicht! Offenheit und Wahrhaftigkeit sind Grundvoraussetzungen für christliches Leben. Phobien stehen konträr zum Wirken des Heiligen Geistes. Sie führen zu Feindseligkeit gegenüber Liebe und Leben, gegenüber Frauen und homosexuell Liebenden. Homophobie, Keuschheitsgelübde, Pflichtzölibat berauben die Liebe ihrer schönen Formen und zwingen sie in hässliche, deformierte Gestalten. Angesichts dieser Tatsachen ist die Aufhebung des Pflichtzölibats für Kleriker notwendig. In der jetzigen Form ist der Klerus als Machtzentrale und Behörde mit seinen falschen Götzen wie dem Pflichtzölibat und den zahlreichen Phobien, der Doppelgesichtigkeit, der Verheimlichungskultur, seiner „Vorne hui und hinten pfui Fassade“ jedenfalls kein Bauwerk des Heiligen Geistes. Nur ubi caritas et amor ibi deus est. Monika Humpert

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3. KAPITEL

Der schwierige Umgang mit dem Missbrauch(ten) Kinder und Jugendliche, die von sexueller Gewalt betroffen sind, versuchen sehr wohl, nahestehende Personen auf das Geschehen aufmerksam zu machen. Doch Betroffene müssen einen langen und beschwerlichen Weg der Aufdeckung auf sich nehmen. Bis Anzeichen und Offenbarungen zu einer Intervention führen, sind statistisch bis zu sieben Anläufe nötig. Was geht in den Personen vor, die von sexueller Gewalt erfahren, sie ahnen oder vermuten könnten und nicht aufdecken?

In der Auseinandersetzung um sexuellen Missbrauch durch Angehörige der katholischen Kirche geht es häufig um die systemimmanenten Strukturen, die Missbrauch begünstigen. Gleichermaßen reduziert sich in der Betrachtung des Umgangs mit den Betroffenen sexueller Gewalt wiederum alles auf das System. Dabei gibt es viele Hinweise darauf, dass in ähnlichen Kohorten mit Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Personen ähnliche Verhaltensweisen vorkommen. Neben den spezifisch katholischen Phänomenen gibt es jene, die mit der Ausübung von sexueller Gewalt und den emotionalen und psychischen Folgen bei Opfern als auch bei Aufdeckenden zu tun haben. Durch den mutigen Schritt von Betroffenen sich zu solidarisieren und in die Öffentlichkeit zu treten und über Taten, Tatmuster und Reaktionen im Aufdeckungsprozess zu berichten, sind viele neue Erkenntnisse ans Licht gekommen, die bei der Ursachenforschung rund um sexuellen Missbrauch weiterhelfen können. Erstmalig wurde offenkundig, dass männliche Personen in größerem Maß Opfer sexueller Gewalt werden, als man es in früheren Forschun22


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