E I N M A G A Z I N D E R H O C H S C H U L E M A N N H E I M , FA K U LTÄT F Ü R G E S TA LT U N G , A U S G A B E 6 , M Ä R Z 2 0 1 0
CUI HONOREM, HONOREM
Auf der Suche nach einer wertigen und passenden Druckveredelung r komma6 fanden wir Kremo. Kremo widmet sich seit 1988 hingebungsvoll der Druckveredelung. Gerade die Papiergravur und filigrane Ausstanzung mit dem Laser passte perfekt in unser Konzept. Die Möglichkeiten sind grenzenlos – das Ergebnis beeindruckend. Wir danken Kremo r die tolle Unterstützung.
E d i t o r i a l
Achtung, Gretchenfrage: Wie steht es eigentlich mit der Verantwortung? Grundsätzlich ist man als Gestalter ja fein raus. Da man im Kommunikationsdesign hauptsächlich Inhalte anderer strukturiert und aufbereitet – anfangs auch gerne mal mit Blindtext – ist es leicht sich davon zu distanzieren. Ist ja schließlich nicht die persönliche Meinung. Wirklich? Steigt nicht in dem Maß, in dem man die Wirkung einer Information verstärkt, auch die Verantwortung, die man dafür trägt? Theoretisch ganz plausibel und ohne weiteres umsetzbar. Geht es jedoch um die eigene Existenz in einer Wirtschaftslage, in der jeder Mensch austauschbar ist, wird es schon schwieriger. Nettes Zitat von Bushido zum Thema: »Wenn man seine Seele verkauft, muss wenigstens der Preis stimmen.« – Aha. Zur Orientierung in diesem Schlamassel hilft nur eines: Persönliche Grenzen zu definieren, die bestimmen, was vertretbar oder nicht vertretbar ist. Kurz: Werte. Werte kann man nicht erlernen, man kann sie nur finden. Aber wo startet man am besten mit der Suche? Google verweist direkt auf das World of Warcraft Forum »Suche Addon für Gegenstände mit ähnlichen Werten (+Stärke, +Ausdauer…)« Praktisch, aber in der Realität wenig hilfreich. Wie wäre es dann mit traditionellen Werten, wie Familie, Sittsamkeit oder Disziplin? Sich an etwas zu orientieren, weil es eben schon immer so war? Ebenfalls kein befriedigender Ansatz. Eine kleine Auswahl an persönlichen Werten haben wir als Stillleben auf dem Cover der aktuellen Ausgabe arrangiert. Entdeckt haben wir sie in den vorgestellten Studentenarbeiten. Denn trotz des gerne unterstellten Werteverfalls der jungen Generation genügt es vielen nicht mehr, etwas Schönes zu produzieren. Loreen Müller sucht in ihrer Bachelorarbeit nach der Zusammengehörigkeit an der innerdeutschen Grenze, Anna Schlecker schenkt mit en garde Menschen eine Plattform, die für Freiheit und Gerechtigkeit eintreten, und Henning Schmidt beweist, dass Systemgastronomie und Nachhaltigkeit keine Gegensätze sein müssen. Wem das alles zu traditionell erscheint, dem bleibt noch ein Ausflug in die unendlichen Flausen des MAD Labs. Außerdem berichtet der Filmemacher Klaus Wyborny im Gespräch über den Wert eines echten Experiments. Vielleicht findet der ein oder andere in komma6 etwas, das für ihn von Wert scheint, und nimmt es ein Stück mit. Allen anderen sei weiter viel Glück bei der Suche gewünscht. Annika Goepfrich
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IM INNEREN DER GRENZE
ORDNUNGSPRINZIPIEN
Loreen Müller folgt auf einer Suche nach sich selbst ihrem inneren Kompass, der sonderbarerweise nach Osten weist. Oder nach Westen?
Sorgfältig und detailverliebt inszeniert Krzysztof Graf Mannheimer Künstler in ihren Ateliers – bis jeder Pinselstrich sitzt.
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DUNKEl GEMUNKEl
DES WEIbES TÜCKE
DER GRÜNE GaUMEN
Geschwind wie ein Käfer, kann der Tod aus einem düsteren Winkel hervorkriechen. Martina Wagner entwirrt die Fäden des Störenfrieds und bannt sie im Tageslicht.
Im Bewusstsein, dass irdisches Leben stets welken kann, arrangiert Luise John einen schillernden Strauß Fataler Frauen, Unschuldsengel und Schwarzer Witwen.
Käse und Schinken sind Symbole für Unsterblichkeit und Reichtum. Henning Schmidt labt den geschundenen Städtergaumen mit genauso reich- wie nachhaltigen Speisen.
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INDEx
HIN UND WEG
WUNSCHbRUNNEN
SCHÖNE NEUE WElT
Auch wenn die ganze Welt offen steht, findet man zuweilen einen Ort, den man niemals mehr verlassen möchte. Alexandra Schilowskaja hat ihren auf Papier mit nach Hause genommen.
Echte Perlen zeichnet ihre individuelle Vollkommenheit aus. Und in den Tiefen von Nadine Fischers Wunschbrunnen schimmert es ganz verheißungsvoll.
Mit ihrem Geläut schlägt die Glocke Dämonen in die Flucht. Christina Sinn ruft zum Angriff gegen den Genfoodmogul Monsanto.
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vERlaUTbaRUNGEN DIE DÄMONIE DER lEINWaND
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aUF ZUR vIlla KUNTERbUNT
S.26
Die Flucht vor der Herbstdepression führte die Redaktion im Oktober nach Berlin. Willkommen im Farbenfrühling der Illustrative 2009.
Der Experimentalfilmer Klaus Wyborny erklärt im Gespräch warum es gut ist, besser sein zu wollen als Godard.
HTTP://MaDlab.KOMMa-MaNNHEIM.DE
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Interaktives Design braucht keinen Screen. Stattdessen Werkbänke, Leuchtdioden und ein Labor, in dem nichts unversuchbar ist.
PRaKTISCHE THEORIE
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Prof. Thomas Friedrich gibt in seinem neuen Buch über Bildsemiotik eine Einführung in Syntaktik, Semantik und Pragmatik visueller Gestaltung.
UNTER DEN WOlKEN
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Prof. Frank Göldner hat die letzten Stunden des Berliner Flughafen Tempelhof fotografisch festgehalten. Im Interview spricht er über seine Ausstellung, die diesem fast mythischen Ort Tribut zollt.
TISCHlEIN DECK DICH
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Was macht man eigentlich nach dem Studium? Zum Beispiel ein Kartenspiel mit 52 Assen für die Agentur 12ender. Grund genug die Macher zu einer Runde Poker herauszufordern.
OFF WITH HIS HEaD
GlaUbENSFRaGEN
Spielkarten symbolisieren die Hoffnung des Menschen auf irdisches Glück. Alexey Fedorenko hat den verrückten Hutmacher die Karten mischen lassen.
Selbsterkenntnis begegnet man nur selten beim Blick in den Spiegel. Häufiger durch ein Gespräch an einem besonderen Ort – wie im Café Beichtstuhl von Sylvia Weinheimer.
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DIE laDENHÜTER
FREI
WO DIE REISE HINFÜHRT
Schlussverkauf ? Mirka Laura Severa fotografiert und interviewt fünf Menschen, die ihr Leben einem Gewerbe verschrieben haben, dessen Zeit langsam aber sicher abläuft.
Anna Schlecker ergreift den Fehdehandschuh der Gerechtigkeit, um zu zivilem Ungehorsam und Guerilla Gardening aufzurufen.
Was ist uns vorherbestimmt? Maciej Staszkiewicz spiegelt in seinen Fotografien Wimpernschläge menschlicher Schicksale, bevor sie sich im Strom der Zeit verflüchtigen.
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verlautbarungen
WEITER GESPONNEN DRUCKFRISCH Vier literarische Neuerscheinungen locken seit Ende 2009 Lesebegeisterte mit visuellen und gedanklichen Reizen: Mit sensiblem Bilderwerk und außergewöhnlichem Wortschatz erwecken Autor Steffen Herbold und Gestalter Martin Burkhardt die sehr betrübliche Geschichte der Lili Lillersen zum Leben. Es gibt Piraten gibt kleinen und großen Menschen eine gehörige Prise Mut und einen Hoffnungsfunken. Ebenfalls funkensprühend doch vor allem laut und etwas schräg präsentiert sich das mittelalterliche Bremen unter den illustratorischen Handgriffen des Trickfilmzeichners Oliver Schoon. Das Chaos in der Hanse öffnet die Augen für die wahren Geschichten rund um die Bremer Stadtmusikanten und andere Besucher aus dem neuzeitlichen Hamburg. Ganz und gar anders zeigt auch der Illustrator Jürgen Schlotter Franz Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler. Rau und kantig wirkt das ineinandergreifende Zusammenspiel aus eigens geschnitzter Schrift und dunklen Bildern, die von menschlichem Streben, Versagen und einem tief zerrissenen Geist künden. Zuletzt darf Peter Fox’ Stadtaffe in offiziellem Gewand sein zweites Gesicht präsentieren. Mit bildlicher Hingabe, zahlreichen Beigaben und ganz viel Fuchs schuf
Sandra Leyendecker eine aufwändig überarbeitete Deluxe Version des Erfolgsalbums zum Lesen, Betrachten und natürlich zum Anhören (siehe komma5). mw
Bastian Allgeier hat im Zuge seiner Masterarbeit eine komplett überarbeitete Zootool Version gestartet (siehe komma3). Der umgebaute Zoo ist heller und freundlicher gestaltet. Dabei ist er zur modernen Webapplikation herangewachsen. Hinzu gekommen ist außerdem, dass man Einträge wesentlich einfacher und intuitiver mit Freunden über Twitter, Facebook, Friendfeed oder Delicious austauschen kann. Mittlerweile hat das Zootool rund 7 000 Benutzer, die insgesamt über 160 000 Einträge gesammelt haben.
http://www.zootool.com
Dick – Dicey Desicions geht in die nächste Runde (siehe komma5). Martin Wojciechowski und Markus Lenz haben mit Dick das gemacht, worauf wir alle gewartet haben. Er stößt im zweiten Teil auf mehr Action, mehr Blut und noch viel mehr Sex. Geil. ml
http://www.dynmx.de/dick2.html
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TYPO ROYAL SCHÖNER SCHEIN Im Sommersemester 2009 fand eine Zusammenarbeit zwischen der ortsansässigen BMW Niederlassung Mannheim und der Fakultät für Gestaltung statt. Studenten des Kernmoduls Editorial Design entwickelten unter der Leitung von Prof. Armin Lindauer Entwürfe für eine Neugestaltung der oberen beiden Stockwerke der Fassade. Sie beschäftigten sich mit verschiedensten Techniken zur Bespielung des Gebäudes, wie zum Beispiel einer Darstellung von Filmsequenzen mit dem Diaprojektor, sowie einer Lichtinstallation aus abwechselnd farbigen Säulen. Die Welt des Automobils wurde mit unterschiedlichen Motiven wie dem Minitop, einer Dschungelatmosphäre im Innenraum des Fahrzeuges, visualisiert. Außerdem wurden Bühnenbilder erdacht, welche überlebensgroße Puppen die Fassade hinauf klettern ließen oder auf einem durchsichtigen Balkon wechselnde Installationen zeigten. Monika Martens entwarf einen LED-Vorhang, der individuell bespielbar ist, und überzeugte die Jury mit ihrer Idee. Ob diese umgesetzt werden kann, steht jedoch leider noch in den Sternen. cw
NETZ WERK
Die kreativen Köpfe der Region vernetzen sich im Internet. Die Stadt Mannheim launcht zur Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft in der Metropolregion Rhein-Neckar das Portal c-hub. Unter der Leitung von Prof. Axel Kolaschnik wurde das Projekt umgesetzt, die Gestaltung übernahm Sascha Klein im Rahmen seiner Masterarbeit. c-hub ist eine branchenübergreifende Online-Plattform, auf der die Kreativen der Region ihr Leistungsspektrum potentiellen Auftraggebern präsentieren können. Außerdem steht die Vernetzung und Kooperation der Kreativen aus den Bereichen Design, Film, Musik, Mode & Kunst, Werbung, Literatur, Software & Games, und Architektur im Vordergrund. Neben einer Mitgliederübersicht gibt es einen Marktplatz für Jobs und Projekte, Rubriken für Termine und Auszeichnungen, sowie Informationen zu Ausbildungsmöglichkeiten. Für die regionale Kreativwirtschaft und Szene könnte sich c-hub als großer Gewinn erweisen und dazu beitragen, das Kreativpotential Mannheims auch nach außen noch besser zu präsentieren. pvf http://www.c-hub.de
Der Kunde ist König. Klar. Doch wie geht man damit um, wenn ein echter König Kunde ist? Julian Zimmermann entwickelt in seiner Bachelorarbeit ein würdiges Erscheinungsbild für Togbui Ngoryifia Kosi Olatidoye Céphas Bansah, König von Hohoe Gbi Traditional Ghana. Dieser ungewöhnliche Monarch lebt in Ludwigshafen, betreibt tagsüber eine KFZ-Werkstatt, war aktiver Amateurboxer und betätigt sich als Sänger. Seinen Regierungsgeschäften widmet sich König Bansah nach Feierabend. Per Mail und Telefon kümmert er sich um das Wohlergehen seiner rund 210 000 Untertanen. Ein Freizeitkönig also? Einer, der sich vor der Armut seines Volkes nach Deutschland flüchtet? Weit gefehlt. König Bansah nimmt von seinem Volk kein Geld an. Seine medienwirksamen Auftritte nutzt er, um diverse Hilfsprojekte wie den Aufbau von Schulen oder die Verbesserung der Infrastruktur in seiner Heimat zu finanzieren. Zusätzlich fliegt er mehrmals im Jahr nach Ghana, um den direkten Kontakt zu den Menschen zu halten. ag
Über seine Zusammenarbeit mit König Bansah wird Julian Zimmermann im Rahmen der Typo Berlin am Samstag, 22.5.2010, um 19.00 Uhr im Haus der Kulturen der Welt berichten.
RUHM & EHRE Katharina Boepple, Ann-Kristin Stock, »Dwister« Merzpreis Martin Burkhardt »Es gibt Piraten« Bestes illustriertes Buch national 2009 Freistil-online Choukri Bijjou, Salvatore Costa »Culabu« Exist-Stipendium
DIE NEUEN WILDEN Die Jugendmedientage gastierten 2009 zum ersten Mal auf dem Campus der Hochschule. Organisator von Fakultätsseite war Prof. Heinz Wyrwich. Auch die komma Redaktion leitete in diesem Rahmen einen Workshop mit rund 20 Teilnehmern aus Mittel- und Oberstufe. In zwei Tagen wurden den Schülern Grundlagen in Layout, Bildbearbeitung und Typografie vermittelt. In Gruppenarbeit konnten sie die neu erlernten Fähigkeiten in eigenen Artikeln zum Thema der Veranstaltung »Wir. Generation Egoismus.« ausprobieren. Gesammelt wurden diese in einem gelungenen Mini-Magazin, das jeder Teilnehmer mit nach Hause nehmen durfte. vp
Mircea W. Gutu, Christof Kurz, Alexander Lenhart, Carolin Metzger, Lydia Waldmann, Christian Schäfer, Ulrich Westner »Pool Projekt« LBBW-Förderpreis komma Redaktion »komma 3« Red Dot Design Award, EdAward Bronze
Constanze Brückner, Mario Ignazio Cigna, Martin Wojciechowski 3. Platz, Mannheimer Innovationswettbewerb
Michael Löchinger, Mirka Laura Severa, Predrag Vargovic, Julian Zimmermann 1. Platz, Mannheimer Innovationswettbewerb
Kjetil Dahlhaus, Benedikt Kuhn »Bembel with care« IMD Förderpreis
Nadine Maier »Zeit« Photographie Förderpreis PhotoVision 2009
Helena Dell »Vom Traumpfad zum Surfboard« Vida Paper Award 2009
Bärbel Reimold 2. Platz, Mannheimer Innovationswettbewerb
Sascha Klein »c-hub« Kommunikator 2009
GUT ÜBERDACHT Vanessa Zeiler entwickelte als Teil ihrer Bachelorthesis schon 2008 eine Kampagne und ein fiktives neues Erscheinungsbild für die UNO-Flüchtlingshilfe e.V. 2009 erarbeitete sie in Zusammenarbeit mit dem Verein und Prof. Axel Kolaschnik eine neue Marken- und Kommunikationsstrategie und eine neue Corporate Identity, die noch im selben Jahr in die Realität umgesetzt wurden. vp http://imd-mannheim.de/ ?page_id=168 9
Martina Wagner »Der Störenfried« Vida Paper Junior Award, ddc Award Zukunft
Fotos: Rainer Diehl
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20 Jahre Mauerfall – 2009 war ein denkwürdiges Jahr deutschdeutscher Geschichte. Ist das Trauma eigentlich schon überwunden, fühlen wir uns »deutsch«? Oder sind wir immer noch die »Ossis« und »Wessis«, von hier oder von drüben, egal von welcher Seite der gedachten Mauer?
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G e s e l l e n s t ü c k e
Loreen Müller war für ihre Bachelorarbeit über eine Woche lang auf der Reise. Eine Reise, auf der sie eigentlich schon ihr Leben lang war, und heute bestimmt auch noch ist. Sie ist die ehemalige innerdeutsche Grenze abgefahren, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, allein. Täglich hat sie mit ihrem Rucksack, der Tasche mit dem technischen Equipment und ihren immer nassen Füßen mindestens einmal die Grenze überquert. Doch wie kam es dazu? Loreen wurde 1984 in Görlitz, also der ehemaligen DDR, geboren. Im Jahre 1988 zog die Familie nach Berlin. Erst 1994 siedelte sie sich im Süden, bei Heidelberg, an. Loreen hat nicht viele Erinnerungen an den Osten. Doch sie weiß noch, dass sie '89 mit ihrem Vater Mauerklopfen war, und dass die Eltern nach der Grenzöffnung kurz »rüber gemacht« haben und ihr und ihrem kleinen Bruder West-Kuscheltiere mitbrachten. Ihr Bruder habe seines sogar noch. Loreen hat immer »den Ossi in sich« gespürt, obwohl das zu Hause gar nicht groß thematisiert wurde. Sie erinnert sich an zahlreiche Situationen aus der Schulzeit, in denen sie sowohl Lehrern als auch Mitschülern Einblicke in die ehemalige DDR verschafft hat. Einfach aus der Tatsache heraus, dass sie der einzige »Ossi« in der Klasse, ja vielleicht der ganzen Schule war. Und mit diesem Hintergrund fällt es nicht schwer, nachzuvollziehen, dass Loreen eine große Frage umtreibt. Welche das ist, kann sie selbst nicht genau sagen, es ist eher ein Gefühl, eine Suche.
Als es dann an die Bachelorarbeit ging, sah sie für sich die Chance, ihrer Frage und deren Antwort näher zu kommen. Passend zum Jubiläum des Mauerfalls und der noch immer stattfindenden Annäherung der ehemals zwei deutschen Staaten entschloss sie sich, die innerdeutsche Grenze nachzuvollziehen, auf einer realen wie auch symbolischen Reise. Was sie dabei interessiert, sind die Menschen. Im ehemaligen Grenzgebiet herrschte Ausnahmezustand, die Menschen beider Seiten lebten unter besonderen Umständen. Loreen wollte herausfinden, wie sich die Leute heute wahrnehmen, wie sie auf die letzten 20 Jahre zurückblicken, ob sie zufrieden sind, und nicht zuletzt, ob sie sich selbst heute eher als »Wessi«, als »Ossi« oder als »Deutsche« betrachten. Ursprünglich wollte sie die Leute im Zug, auf der Reise, interviewen. Doch sie musste rasch feststellen, dass Reisende meist verschlossen und eher misstrauisch sind. Also improvisierte sie und verlegte sich darauf, immer wieder Station an möglichst grenznahen Orten zu machen, um die Bewohner direkt an ihrem Gartenzaun anzusprechen. »Die Leute fühlen sich sicherer, wenn sie in ihrer gewohnten Umgebung, in ihrem Einflussbereich stehen. Sie sind dann ruhiger und geben viel mehr über sich preis, es wird persönlicher.« So hat sie es geschafft, in neun Tagen über 25 Personen zum Teil wirklich intime Gespräche zu entlocken. Sie zeichnet ein Stimmungsbild, natürlich in keinster Weise
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statistisch repräsentativ, aber dafür umso gefühlvoller und ehrlicher. Eine Art »Allgemeinzustand der innerdeutschen Seele«, wie sie es nennt. So kann sie am Ende resümieren, dass die meisten Leute, die sie getroffen hat, sich eher als »Deutsche« denn als »Ossi« oder »Wessi« bezeichnen würden. Was sie freut ist, dass sie kaum auf Feindschaften weder gegen Ost noch West gestoßen ist. »Die Unterschiede finden sich eher zwischen den Generationen als zwischen den alten und neuen Bundesländern.« Ihre tiefgründige, feinfühlige Recherche hat Loreen in ein wahrhaft monumentales Buch gebunden. Mit seinen 295 x 420 mm wirkt es wie ein Atlas entlang der Grenze in Deutschland und in unseren Köpfen. Zahlreiche Fotografien unterstützen die Stimmung der Gespräche, verstärken die Symbolik der Reise, nehmen den Betrachter mit. Sie sind mit einer kompakten Digitalkamera aufgenommen und somit weder optimal aufgelöst noch perfekt belichtet, doch die Unmittelbarkeit der gefühlvollen Schnappschüsse bewirkt genau den richtigen flüchtigen und momentanen Eindruck, der so perfekt zum Inhalt passt. Das Buch vermag zu verzaubern. Man befindet sich bei der Lektüre genau da, wo Loreen einen hinbringen will: in einer Zwischenwelt zwischen Ost und West, gestern und heute, du und ich. Der Leser beginnt, über seine eigenen Erfahrungen und Einstellungen zum Thema nachzudenken, findet neue Aspekte bei sich selbst, auf die er sonst nicht gekommen wäre. Für Loreen jedoch ist es ein persönlicher Bericht, in dem andere sprechen. Sie hat immer darauf gewartet, dass einer mal einen Satz sagt, der alles erklärt, ihre Suche beendet. Doch dazu ist es leider nie gekommen. Dafür hat sie aber etwas viel besseres gefunden: »Wenn ich das Buch in der Hand halte, habe ich das Gefühl, das ist die Antwort.« vp
Loreen müller Im Inneren der Grenze bei Prof. Veruschka Götz loreen.mueller@gmx.de
G e s e l l e n s t ü c k e
»Manchmal gab es auch schöne Sachen hier, da gab’s dann auch mal so kuriose Übungen und so was haben wir gemacht. Oder manchmal hat sich so ein Rangierer von Büchen, hat sich nen Gag gemacht, hat auf dem Güterzug auf den Wagen geschrieben, in diesem Wagen ist eine Bombe… Oh ein Elend hier, ein Theater hier… Haben sie das Ding auf Nebengleis gestellt und dann stand da ein Schuhkarton mit einem Zettel drin, da stand ätsch drauf. Aber da hat man sich halt kaputt gelacht.« Dieter aus Schwanheide Buch bei Issuu, Blog zur Arbeit & Filme zum Buch: http://issuu.com/loreen/docs/iminnerendergrenze http://iminnerendergrenze.wordpress.com/ http://www.komma-kino.de
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»Strukturen bestimmen auch unser Leben, sie zwängen uns ein, in ihnen entfalten wir uns.« Bernhard Sandford
O rdnun G s prinzipien
Krzysztof Graf ist es gelungen, Porträts zu zeichnen, die mehr als bloße Abbildungen sind. Er stellt Mannheimer Künstlern ihr Atelier gegenüber und lässt ihnen zudem Raum, sich selbst in Worten auszudrücken.
Der schwarze Schuber fällt auf, zwischen den Zeitschriften des letzten Monats und Mandarinenschalen, die sich winden, als wollten sie in Farbe und Form vor der Ordnung fliehen. Kein Name zu sehen, kein Titel, der die schlichte Eleganz aus dem Gleichgewicht bringt. Ich neige den Schuber, nehme die Blätter entgegen und entferne ihn mit einer Bewegung, die ins Stocken gerät, als meine
Augen beginnen, nach einer freien Stelle für diesen zu suchen. Diese Arbeit beansprucht Ordnung, denn es braucht noch mehr Platz, die einzelnen Blätter aufzufalten. Weiße, quadratische Faltblätter, am rechten Rand mit dem Namen des Künstlers versehen. Das Format erinnert an ein Fotoalbum. Und wie ein Fotoalbum
ist die Arbeit erweiterbar und ein Ort, an dem sortiert und in Reihenfolge gebracht werden darf. Das erste Auffalten legt das Künstlerporträt und den vom Künstler selbst verfassten Text frei. Texte, die das erfassen, was der Künstler als sagenswert erachtet hat und das von ihm gezeichnete Bild damit bereichern. Sie berichten von ihren Ateliers, ih-
F r ü h w e r k e
rer Arbeitsweise oder steuern selbstverfasste Gedichte bei. Die Künstler selbst werden sachlich und streng porträtiert, ohne dass dabei das Gefühl von Intimität abhanden kommt. Sie scheinen sich ihrer Fertigkeiten bewusst und vermitteln eine Gewissheit, mit ihren Werkzeugen umgehen zu können. Eine Gewissheit über das eigene Vermögen, die jeden Politiker als schlechte Motivwahl für ein Plakat enttarnt. Bild und Text sind auf allen Blättern gleich angeordnet. Vollständig aufgefaltet befindet sich auf der rechten Seite das Porträt des Künstlers, auf der linken ein Bild des Ateliers. Doch nicht nur die Gestaltung an sich, auch die Abbildungen der Ateliers unterliegen strengen Ordnungsprinzipien. So fällt der Blick immer frontal auf eine Atelierwand, die Linien fliehen in nahezu perfekter Symmetrie. Alle Abbildungen sind in schwarz-weiß gehalten. Keine Farben und in den Räumen nur Stille und Ordnung. Das Unfertige, Chaotische und Farbenfrohe, das dem künstlerischen Schaffensprozess anlastet, wird beinahe vollständig ausgeblendet. Sind Künstler also Herrscher über das Chaos, auch in Bereichen abseits des Leinwandarrangements? Anscheinend, aber ob diese Künstler das Chaos vollständig bezwungen haben, lässt sich wohl erst dann sagen, wenn sie uns einen Blick in ihre Schubladen werfen lassen. Der Fotograf hat in einem Atelier selbst für etwas mehr Ordnung sorgen müssen. Diese einzige Ausnahme bildet der jüngste der porträtierten Künstler, dessen Atelier bezüglich der Ordnung immer noch deutlich abfällt. Als Vertreter einer anderen Generation bildet er den Gegenpol in Krzysztofs Künstlerporträts und steht für das, worin man die Aufgabe moderner Kunst sehen kann: Etwas mehr Chaos in die Ordnung zu bringen. ml
krzysztof graf Künstlerporträts bei Prof. Veruschka Götz & Prof. Frank M. Göldner herrgraf@gmx.de
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DUNKEL GEMUNKEL Es geht der Menschheit an den Kragen. Doch nicht globale Erwärmung und Terroristen bringen den Untergang. Fast vergessen lauert jemand im Verborgenen und sammelt seine Kräfte für den entscheidenden Schlag. Martina Wagners »Störenfried« erzählt die ebenso ungewöhnliche wie bizarre Geschichte eines alten Feindes. Das Buch wurde 2009 mit einem Vida Paper Award und einer Auszeichnung beim DDC prämiert.
Tief unter der Erde ruht ein Geheimnis. Ein uralter Pilz, eine mächtige Kollektivintelligenz, lauert darauf, hervorzubrechen, die Welt endlich wieder der Menschheit zu entreißen und seiner eigenen Gattung zurückzugeben. Der Störenfried wirkt im Verborgenen, webt ruhig sein Netz und schleicht sich in die menschlichen Gedanken, ohne dass diese vom drohenden Untergang ahnen. Doch noch gibt es Hoffnung. Die Studentin Finn verheddert sich ungewollt in den verschwörerischen Machenschaften und beginnt, die Fäden zu entwirren. Mit Hilfe der weisen Kräuterhexe Marianne arbeitet sie sich immer weiter ins Dunkle vor. Am Ende ist es jedoch die Natur selbst, die aufräumt, das Gleichgewicht wieder herstellt. Oder doch nicht? Die Geschichte vom Störenfried, eigentlich eine Semesterarbeit im Fach Verschwörungstheorie, hat Martina Wagner nicht losgelassen. Erdacht in Gruppenarbeit und von ihr selbst in Worte gefasst, entstand zuerst ein Hörbuch. Der Pilz jedoch ließ nicht locker, verlangte nach Form, nach einem Platz am Tageslicht. Also entstand ein Buch. Nicht zu groß, um weiter im Verborgenen wirken zu können. Nicht zu dünn, um die Weisheit vergangener Zivilisationen vermuten zu lassen. Mit Seiten, als würde man sich durch steinigen Erdboden kratzen. Durchzogen von den faserigen Auswüchsen des Verschwörers. Umgarnt und umschmeichelt zieht es den Leser leise in die Unterwelt hinab. Und lässt niemanden mehr los. ag
F r ü h w e r k e
(Textauszug) »Hallo?!« Es war die bezaubernde Finn, die den alten Mann, der zeitlebens ihr Onkel Erwin gewesen war, in seinem Garten hinter dem Haus finden sollte. Man könnte wohl sagen, dass in diesem Moment ein kleines Stückchen von Finn brach, ihr Herz einen feinen Sprung erhielt und sie um einen wunderbaren Gedanken ärmer wurde. Es war nicht des Todes wegen, denn der alte Mann war ein Mensch gewesen, der sein Leben gelebt hatte, glückselig, es genießen zu können, erfüllt – gegangen war. Und aus diesem Blickwinkel gesehen, konnte Finn mit dem Tod ihres Onkels leben. Nein, es war das Gefühl, welches sie sofort beschlich, als sie ihre Entdeckung machte. Nicht die Trauer oder Bestürzung, sondern eine Empfindung, die sich wie ein schwarzer Schatten leise an sie heranschlich, während sie auf der Suche nach dem alten Mann war. »Onkel Erwin?!« Schon machte der Schatten seine ersten Bewegungen. Beim Betreten des Häuschens strömte ihr ein Schwall feuchter, warmer Luft entgegen, welcher einen seltsam penetranten, leicht süßlichen Gerucht mit sich führte. Nirgendwo war auch nur der klein-
ste Lichtschein zu erhaschen, obwohl nun der Nachmittag schon weit vorangeschritten war und das Tageslicht zunehmend mit sich genommen hatte, so wie es lange Wintertage an sich haben. Und immer größer wurde der Schatten, als die bezaubernde Finn durch die Räume des alten Mannes lief. Immer schneller, wie um dem Dunkel zu entfliehen und ihren Onkel wohlbehalten und bei bester Gesundheit im nächsten Zimmer zu finden. Doch das Haus blieb stumm. Aus den Wasserhähnen sprudelte warmes Nass, sämtliche Heizungen des Hauses pochten und lieferten zusammen unerträglich feuchtwarmes Klima. Ein seltsames Netz erstreckte seine feinen, weißen Fäden wie lange Arme über die geblümten Tapeten und abgenutzten Möbel und hatte sich auf eigenartige Weise eng mit dem Teppich im Flur verwoben, auf dem Finn als kleines Mädchen immer ihre Autos sortiert hatte. »Onkel?!« Der alte Mann war, splitterfasernackt, in seltsam unnatürlich zusammengekrümmter Haltung gestorben, das Gesicht im Gras an die Erde gedrückt, die Hände über den Hinterkopf gefaltet. In einer der hinters19
ten, wildesten Ecken des Gartens. Als ob er vorgehabt hätte, wie ein Maulwurf ins Unterreich zu verschwinden, ihm seine Hände aber den Dienst verweigert hätten. In den letzen Tagen seines Lebens hatte sein Körper jede Form verloren. Auch schien er über und über mit hellem Gespinst überzogen. Ebenwelches auch sein altvertrautes Heim befallen hatte. Fest in jenem merkwürdigen Netz eingesponnen, in der dunkelsten Ecke des winterlichen Gärtchens, fand ihn seine Nichte. An dem Tag, als Finn ihren Onkel zum letzten Mal verließ, tat sie dies in dem Wissen, dass der dunkle Schatten ihr folgen würde. Das Hörspiel mit der ganzen Geschichte gibt es unter http://www.komma-kino.de
martina wagner Der Störenfried bei Prof. Armin Lindauer & Prof. Thomas Friedrich tinhia_ti@web.de
D es W ei b es T ücke
Warum bekommen Morde, die von Frauen begangen werden, soviel Medien- aufmerksamkeit? Warum findet man bei Amazon ein Buch über Mörderinnen mit Titel »Furchtbar Feminin« aber keines über Mörder namens »Monströs Maskulin«? Luise John holt mit ihrem Ausstellungskonzept »Mörderinnen – Sünderinnen« einen uralten Mythos auf den Boden der Tatsachen zurück.
M e i s t e r s t r e i c h e
5. Dezember 2009, Italien. Amanda Knox betritt den Gerichtssaal. Ihre kühle, distanzierte Art hat der 21-jährigen Amerikanerin den Namen Engel mit den Eisaugen eingebracht. Als die Geschworenen sie für schuldig erklären, bricht sie schreiend in den Armen ihres Anwalts zusammen. Amanda ist des Mordes angeklagt. Des grausamen Mordes an ihrer Mitbewohnerin, deren Leiche 2007 vergewaltigt und zu Tode gequält in ihrem Zimmer aufgefunden wurde. Das Urteil tritt einen erbitterten Pressekrieg zwischen alter und neuer Welt los. Die amerikanischen Me-
kalationen menschlicher Beziehungen. Viele Taten geschehen im Affekt. Die Mordwaffe ist das, was man gerade zur Hand hat: Kabel, Schraubzwingen, Bierkrüge oder Taschenmesser. Frauen greifen dabei öfter zu Waffen, da sie bei männlichen Opfern den Kräfteunterschied ausgleichen müssen. Der allgemeine Glaube, Frauen würden immer mit Gift morden, ist nicht richtig, da absolut gesehen mehr Männer ihre Opfer vergiften. Generell verbindet man das Weibliche lieber mit Heimtücke als mit Aggression. Eva verführt den ahnungslosen Adam mit dem Apfel.
tiert wird nach sieben Tatmotiven, den sieben Todsünden. Der Besucher findet sich in einer Halle voller Kreideumrisse wieder, die eine imaginäre Straße mit Wohnhäusern zeigen. Da Frauen meist im häuslichen Umfeld morden, begegnet man auch den einzelnen Mörderinnen im Inneren der Häuser. Jedes steht dabei für ein Tatmotiv. Wie auf einer Theaterbühne, ausstaffiert mit charakteristischen Möbeln, Beweisstücken, Bildern, Tatwaffen und Zeitungsausschnitten, eröffnen sich individuelle Szenarien. Steht man eben noch in Mag-
»es ist doch klar, dass ich ihn umbringen wollte, als ich auf ihn geschossen habe« ruth ellis dien beklagen einen Indizienprozess und Justizskandal. Für die Italiener ist Amanda Knox schlicht die Manifestierung des Bösen. Leider scheint das internationale Interesse weniger in der verabscheuungswürdigen Tat zu wurzeln als in Geschlecht und Aussehen der Täterin. Ihr im gleichen Fall verurteilter Freund wird kaum in einem Nebensatz erwähnt. Ein hübsches Mädchen kann doch nicht böse sein? Und dann ausgerechnet Sexualmord? Die Gleichberechtigung ist noch nicht bei Gewaltverbrechen angekommen. Wo Frauen aus Rollenbildern ausbrechen erregen sie Aufmerksamkeit. Eine Bundeskanzlerin ist aufregender als ein Bundeskanzler. Eine Päpstin ist aufregender als ein Papst. Eine Mörderin ist aufregender als ein Mörder. Zusätzlich scheint es bei weiblichen Tätern stärker als bei männlichen einen gesellschaftlichen Drang zu geben, die Beweggründe zu erforschen. Immerhin, seit 1950 werden relativ konstant nur 15% der Todesdelikte von Frauen begangen. Gewalt ist auch im 21. Jahrhundert Männersache. Ein Mord, noch dazu ein besonders bestialischer, passt einfach nicht ins traditionelle Bild der Frau als sanftmütige Lebensspenderin. Tötungsdelikte sind selten so spektakulär wie der Fall Amanda Knox. Gewöhnlich sind gewaltsame Tode nicht mehr als finale Es-
In der Öffentlichkeit neigt man deswegen dazu, die Fälle stark zu emotionalisieren. Täterinnen werden entweder als Femme Fatale in eine Schublade aus Empörung und erotischer Faszination gestopft oder als Unschuldsengel auf einen Märtyrersockel gehoben. Ein Kompromiss findet sich selten. Die Frau als Mensch verschwindet hinter dem Mythos der Mörderin. Luise John hat beschlossen diese Menschen aufzuspüren. Für ihre Masterarbeit Mörderinnen – Sünderinnen heftet sie sich an die Fersen der Täterinnen, wobei sie keinen Unterschied zwischen Mord und Totschlag macht. Bekannte historische Figuren wie Medea oder Judith recherchiert sie genauso wie Fälle aus dem 20. Jahrhundert. Die Bandbreite reicht von Geschichten, die so haarsträubend sind, dass sie den Nachtschlaf rauben, bis zu solchen, die sich einer kranken Komik à la Ingrid Noll nicht entziehen können. Zum Beispiel der Fall von Vera Renczi, die innerhalb eines Jahrzehnts nicht weniger als 35 Männer vergiftete und sie in Zinksärgen in ihrem Keller einlagerte. Sie gab später an, sich immer gerne in einen Sessel zwischen die Särge gesetzt zu haben, um ihre Bewunderer stets um sich zu sehen. Die gesammelten Indizien verarbeitet Luise zu einem fiktiven Ausstellungskonzept. Sor-
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da Goebbels Salon, beherbergt der nächste Raum schon den Badezuber, in dem JeanPaul Marat starb. Immer neu wird der Besucher mit einer Frau und ihren Motiven konfrontiert. Hat man genug, kann man aus der erzwungenen Nähe ausbrechen und auf eine kleine Galerie steigen. Dort erhält man die Möglichkeit alles aus der Distanz zu betrachten und harte Fakten in Form von Statistiken zu lesen. So können die Gedanken geordnet und aus der emotionalen Beklemmung der häuslichen Umfelder befreit werden. Am Ende hat man unbewusst Urteile gefällt. Man verachtet, verurteilt, fürchtet oder versteht. In jedem Fall aber hat sich der mystische Nebel um das Thema aufgelöst. Mord, das mutwillige Auslöschen von Leben, ist nicht weniger als der Diebstahl einer Zukunft, das Vernichten aller kommenden Erfahrungen eines Menschen. Und ob das Messer von einer schönen Frau, einem dicken Mann oder einem Affen auf Rollschuhen geführt wurde – dem Opfer dürfte es egal sein. ag
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1 Schuber mit Ausstellungskatalog und Konzeption 2 Marie Anne Charlotte Corday d‘Armont, Mörderin von Jean Paul Marat im Jahr 1793, im Bereich Superbia (Hochmut) 3
Invidia (Eifersucht) von oben, im Vordergrund: Bereich von Vera Renczi, die 35 Männer – darunter Ehemann und Sohn – tötete und in Zinksärgen in ihrem Keller einlagerte
4 Kanapee bei Julie Malwine Gabriele von Telekes, die aus Eifersucht die Ehefrau ihres Geliebten mit Zyankali vergiftete 5 Seitenansicht von Ausstellungsraum und Galerie mit Statistiken 6
Marsh’scher Apparat, mit dessen Hilfe Marie Fortunée Lafarge, die beschuldigt wurde ihren Ehemann mit Arsen vergiftet zu haben, überführt wurde, Haus Avaritia (Habgier)
Von Luise John geführte Interviews zum Thema und ein virtueller Ausstellungsrundgang finden sich unter http://www.komma-kino.de
Luise John Mörderinnen – Sünderinnen bei Prof. Jürgen Berger luise.john@gmx.de www.miss-john.blogspot.com
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DER GRÜNE GAUMEN Für den Städter auf dem Öko-Trip konzipiert Henning Schmidt in seiner Bachelorarbeit den natürlichen Feind der Burger-Bude. Ein grünes Systemgastronomie-Projekt in Frankfurt.
»Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht. Würde der Städter kennen, was er frisst, er würde umgehend Bauer werden.« Dieses Zitat von Oliver Hassenkampf trifft das Problem erstaunlich genau. Kaum einer weiß mehr, was da eigentlich vor einem auf dem Teller liegt. Zeit für einen neuen, grüneren Lifestyle. In Deutschland gehören zur Zielgruppe der LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainibility) schon etwa 15 Prozent der Bevölkerung und täglich entscheiden sich mehr Menschen für ein ökologischeres Leben. LOHAS erkennt man jedoch nicht an langen Haaren und Birkenstock-Sandalen. Die Bewegung konzentriert sich auf die urbanen Zentren der westlichen Welt und nutzt modernste Technik, um ökologisch sinnvoll zu handeln. Der typische Neo-Öko definiert sich über den Konsum nachhaltiger Produkte und schätzt ökologische Qualität, nicht Quantität, wobei auch Design und Ästhetik eine große Rolle spielen. Er versteht sich als Konsum elite, was man auch an seinem Einkommen klar erkennt. Natur und Technik bilden für ihn keinen Widerspruch, daher nutzt er vorwiegend das Netz als Medium und Informationsquelle. Die moderne, kulturreiche Stadt ist sein Zuhause, die Natur aber trotz allem für den Ausgleich wichtig. Neben der Nachhaltigkeit verliert ein LOHAS allerdings nie das eigene Ich aus den Augen und lebt sehr genussorientiert. Damit der Genuss für die neuen Trendsetter nicht zu kurz kommt, schafft Henning Schmidt mit der Leibwache ein Systemgastronomie -Konzept, bei dem jedem LOHAS das Wasser im Mund zusammenläuft. Die Leibwache ist ein reales Projekt, welches in Zusammenarbeit mit der Agentur Das Markenhaus als Selbstbedienungsrestaurant mit Lage in der Frankfurter Innenstadt konzipiert ist. Die Planung für die Umsetzung
steht allerdings noch nicht fest. Das Restaurant unterscheidet sich von der gemeinen Burger-Bude radikal und macht all jenen Hoffnung auf ein leckeres und gesundes Essen, die gerne wissen möchten, was in der Pfanne landet. Im Angebot stehen frische Speisen aus regionalen und saisonalen Zutaten, natürlich aus ökologischem Anbau und von bester Qualität. Die Essensausgabe erfolgt an verschiedenen Tresen, unterteilt nach den Kategorien Leibgemüse, Leibgericht und Leibgetränk. Alle ausgewählten Speisen werden dort auf einer Karte gespeichert. Gezahlt wird schnell und stressfrei am Ausgang, so fällt das lästige Schlange stehen aus. Für alle Menschen mit noch weniger Zeit bietet die Leibwache auch alle Leckereien zum Mitnehmen an, in praktischen Faltschachteln aus Biokarton. Ergänzt wird das Angebot unter anderem durch hauseigene Limonade und Olivenöl, Freizeittipps im Grünen oder auch eine iPhone App mit aktuellen Tageskarten. Na also, wer sagt’s denn. Fastfood geht auch ohne Umweltsünden, schlechtes Gewissen und Zuckerschock. Leibhaftig lecker. pvf
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HENNING SCHMIDT Leibwache bei Prof. Jean-Claude Hamilius henning@team42.de
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Klaus Wyborny erklärt, was Lücken in der Wand mit einem Experiment zu tun haben und verrät uns seine Strategien.
D I E DÄ M ON I E DER LEI NWAND
In der Schule hat unser Deutschlehrer einen Filmclub gemacht. 1962/63, als ich 17 war, hat er eine Reihe mit Filmen von Ingmar Bergmann in Harburg gezeigt, wohin die Schüler
Wie sind Sie zum Film gekommen?
Klaus Wyborny ist seit 2009 Gastprofessor für Creative Filmmaking und Experimentalfilm an der Hochschule Mannheim. Er selbst studierte theoretische Physik in Hamburg und arbeitet seit den 60er Jahren als Experimentalfilmer. Unterrichtet hat er unter anderem schon in New York, Ohio, Berlin, Hamburg und Zürich. Im Gespräch gibt er uns einen Einblick in seine Welt des Filmemachens.
dann eingeladen waren. Ich hatte mit 18 schon zehn Ingmar Bergmann Filme gesehen. Das war natürlich interessant. Als junger Mensch ist man ja von so etwas leicht beeindruckt. Er hat mich auch auf Polanski hingewiesen und war ein großer Fan von Western. Unser Lehrer war auch einfach so ein sozialer Typ, dass er uns zu sich nach Hause zu seiner Familie eingeladen hat. Einmal ist er nachts mit uns nach Hamburg gefahren in die Spätvorstellung im Kino. Da gab es damals immer Western. Und es gab einen Filmclub an der Universität, in den ich eingetreten bin, weil es mich interessiert hat. Da haben wir immer an der Uni Kinoveranstaltungen gemacht. Und damals gab es noch
kein Kunstfernsehen, sondern nur so ganz blödes Zwei-Drei-Stunden-Idiotenprogramm, also keine Kunst, keine guten Filme. So machten wir Filmveranstaltungen im Audimax. Es kamen immer 1 500 Leute an, die sich solche Filme angeschaut haben. Die haben jeder eine Mark bezahlt, da kam viel Geld rein. Dann haben wir einen gemeinnützigen Filmclub gehabt, für den wir Filmapparate, 16 mm Kameras und Schneidetische gekauft haben und damit haben wir dann selbst Filme produziert. Damals gab es noch keine Filmhochschulen, nix, deshalb haben wir uns gegenseitig das Filmemachen beigebracht. So entstand das. Und es hat sich eigenständig entwickelt. Ich traf andere Filmemacher und das war so anregend, dass ich dann auch selbst versucht habe, Filme zu machen. So begann das eigentlich. Was zeichnet für Sie konventionelle Filme aus, bzw. wann wird ein Film experimentell? Ich unterscheide da zwischen experimentell und konventionell. Nicht in dem Sinne, dass Spielfilme unbedingt per se konventionell sein müssen, viele Spielfilme haben enorme Intensität. Mir geht es eigentlich nur um Intensität. Es gibt natürlich so ein Kino, das immer dieselben Schablonen wiederholt, wo man gar nicht richtig zum Gucken kommt, wo einem die Augen mehr oder weniger zugeklebt werden, weil sie einem immer vorschreiben, wie man eigentlich gucken muss. Bei Filmen mit Intensität öffnet man die Augen immer weit auf, da gibt es so viel zu sehen, dass man aus dem Staunen eigentlich gar nicht mehr rauskommt. Das ist bei den meisten Filmen leider nicht so und das ist auch eine Tendenz. Es werden zwar viele kleine Appetitreize gegeben, aber man staunt eigentlich nicht mehr. Filme, die nach einer bestimmten Schablone gemacht werden, gefallen mir nicht, man kann systematisch versuchen, diese Schablone zu vermeiden und versuchen, Formen zu entwickeln, die diese Schablone nicht bedienen müssen. Mich interessiert das ganze Spektrum und das Experimentelle ist nur ein Teil davon. Ich bewege mich manchmal auch dicht an der Spielfilmform.
als mit einem für den ich nur 20 000 oder 10 000 habe. Wo ich dann völlig frei bin und mich viel mehr meinem Denken nähern kann. Und dadurch gibt es auch die Möglichkeit, Sachen auszuprobieren, die noch nie jemand gemacht hat. Also im Sinne von Fortschritt der Kunst. Da gibt es ein bestimmtes Fortschreiten und das gibt es auch im Film. Und das ist in der Spielfilmform doch sehr gemächlich. Wenn ich sehe, was es für qualitativ hochwertige, tolle Filme schon 1960 gab. Heute sind die Leute froh, wenn sie 30 Prozent von der Intensität Bergmanns kriegen oder der von Antonioni oder Godard, dann sagen sie schon, das ist ein Meisterwerk, aber keiner versucht eigentlich diese zu übertreffen. Es gibt also so etwas wie einen Rückschritt im kommerziellen Kino. Die schönsten Filme sind wirklich in den 50er Jahren, auch im kommerziellen Kino, gemacht worden, auch in Hollywood. Da glaubten alle Leute an die Zukunft des Kinos, und seither bewegt sich das mehr oder weniger auf so einem Plateau und im experimentellen Bereich war das lange anders. Dadurch habe ich eben so eine Motivation gehabt, weil ich besser sein wollte als Godard und Antonioni. Das konnte man nur sein, wenn man etwas Neues macht, etwas wirklich Neues macht. Und im Experimentellen boten sich da in den 60ern viele Sachen an, die im kommerziellen Kino nicht möglich waren. So kam das. Ihrer Biografie haben wir entnommen, dass sie auch bereits in New York, Ohio, Berlin, Hamburg und Zürich unterrichtet haben. Jaja, ich habe zwischendurch immer wieder gewechselt zwischen Filme machen und unterrichten.
Und warum sind Sie hauptsächlich in Richtung Experimentalfilm gegangen?
Und was haben sie dort für Einflüsse oder vielleicht sogar Vorbilder und Inspirationen mitgenommen?
Weil man mit relativ wenigen Mitteln relativ viel ausdrücken kann. Das ist sozusagen eine Frage der Effektivität. Wenn ich einen Spielfilm mache, kostet das eine Millionen und ich sitze drei Jahre dran. Und dann kann ich damit eigentlich, weil mir finanziell oft die Hände gebunden sind, weniger sagen
Es gibt viel. Ich bin befreundet mit einigen amerikanischen Filmemachern, wie Hollis Frampton, und vor allem Jonas Mekas, das ist eine ganz glänzende Figur. Ich treffe ihn immer wieder mal. Der hatte in Köln ja letztes Jahr eine große Ausstellung im Museum Ludwig mit seinen Arbeiten. Und
die so genannten New American Cinema Leute, da habe ich eine ganze Reihe von Freunden, die mich sehr stark beeinflusst haben. Ken Jacobs ist eine andere Person, mit dem habe ich zusammen an der New York State University unterrichtet. Am stärksten hat mich Hollis Frampton beeinflust, der leider 1986 gestorben ist. Dem fühle ich mich intellektuell am meisten verpflichtet als Filmemacher. Und da gibt es eine ganze Reihe von Leuten. Auch in Hamburg gab es einen, Heinz Ewigholz, der ist jetzt Professor in Berlin und macht sehr spektakuläre Filme. Wir begleiten einander seit 1970, pushen uns immer weiter zu neuen interessanten Sachen. Wie entsteht ein Experiment? Hat ein Experiment ein Konzept? Und wieviel in ihren Filmen ist überhaupt experimentell und was Konzept? Konzept kann man nicht sagen. Strategien. Es gibt Strategien, um sich Neuland zu erschließen. Diese Strategien sind nicht nur für einen Film einsetzbar, sondern sind längerfristige Sachen. Ich verfolge zwei Strategien, vor allen Dingen eine, die sich mit dem Verhältnis von Bildern und Texten beschäftigt. Da habe ich sehr viel Sachen ausprobiert und bin immer wieder versucht, neue Sachen zu kreieren, weil ich auch sehr gerne und sehr viel schreibe. Ich schreibe an einer Romanserie und bin da immer wieder am arbeiten. Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zur Sprache und versuche immer wieder Relationen zu Bildern zu finden. Das ist eine Sache, die mein ganzes Werk durchzieht, dass ich die Beziehung zwischen Bildern und Sprache untersuche. Nicht umsonst habe ich die Filmform Einstellung – Titel – Einstellung – Titel – Einstellung – Titel als Fundamentalform des Kinos gesehen. 1908 hat sich das angeboten und ich finde das immer noch total aufregend, was die Sprache mit den Bildern macht. Wie die Bilder modifiziert werden und wie die Texte wiederum eine Plausibilität kriegen, die sie in sich selbst gar nicht hätten. Sobald ein Bild das illustriert, wirkt alles total einleuchtend. Das nenne ich wirklich die Dämonie der Leinwand, die Dämonie des Bildes. Die Hand weiß, wie
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»Dadurch habe ich eben so eine Motivation gehabt, weil ich besser sein wollte als Godard und Antonioni.«
»Ein Experiment muss schon einen Bereich öffnen, der noch nicht geöffnet wurde, sonst ist es kein Experiment, sondern Zeitvertreib.« sich Bilder und Worte verbinden, das ist die eine Ebene. Die andere Ebene, auf der ich viele Strategien entwickelt habe, ist die Analogie zwischen Musik und Film. Genauso wie Musik in Zeit strukturiertes Geräusch ist, so ist Film in Zeit strukturiertes Bildmaterial. Da bin ich sehr weit gegangen mit bestimmten Analogien und habe mit Rechnern in den 80er Jahren Musik so analysiert, dass ich das in Bildfolgen umsetzen konnte, die exakt synchron sind mit dem Tonmaterial. Sobald ein neuer Ton kommt, kommt ein neues Bild. Es gibt zum Beispiel Lieder der Erde. Das sind fünf lange Filme, insgesamt etwa sechs Stunden, die sich nur mit dieser musikalischen Auffassung der Welt befassen, 20 000 Bilder, überall auf der Welt aufgenommen, viele in Afrika, Indien, Amerika, überall. Lieder der Erde, das ist die zweite Ebene, an der ich gearbeitet habe. Wie können ihrer Meinung nach heutige Filmemacher von den damaligen Avantgardisten noch profitieren? Das weiß ich nicht. Dieses Profitieren findet immer indirekt statt. Das ist nicht direkt. Wenn sie Aerograd heute angeschaut haben, da können sie Ideen rauskriegen. Wenn sie da die Augen geöffnet haben, können sie tausend Ideen aus diesem Dsiga Wertow rausbeziehen. Und so ist es auch bei diesen Avantgardefilmen. Ohne, dass man jetzt Filme wie Aerograd machen muss oder Der Mann mit der Kamera, die intellektuell so avanciert waren, kann man da praktisch die Ideen rausklauen. Ohne dass man genau benennen kann, was man kriegt. Man verschafft sich praktisch so eine Beweglichkeit im Kopf in Bezug auf Bildmaterial, damit man nicht unbedingt Filme wie Vorabendserien machen muss, das ist das Entscheidende dabei. Dass die Vorabendserie oder die Filmserie, die Komödienserie nicht das ästhetische Ziel der Menschheitsgeschichte gewesen sein kann, das kann man da entnehmen. Denn es ist sehr schwer, überhaupt momentan eine ästhetische Richtung zu erkennen. Da kann man Denkweisen entdecken, die vielleicht ermöglichen, sich selbst einen Weg zu bahnen durch diese scheinbare Stagnation, die im Moment existiert. Im Internet wird im Augenblick die Geschichte des Films wiederholt. Was man im Internet sieht, ist fast wie das Kino vor dem ersten Weltkrieg. Das
sind ganz simple Filmchen, ganz simpel geschnitten, da muss man schon richtige Filme runterladen, um etwas Kompaktes zu kriegen. Das ist ja auch immer wieder ein neues Zitieren untereinander. Ja, neues Zitieren. Also diese Sachen, die ich hier so exemplarisch zeige, die werden dann auch immer wieder zitiert und modifiziert und immer wieder neu gemacht, das sind natürlich Klassiker. Gibt es ein gutes oder ein schlechtes Filmexperiment? Das weiß ich nicht, es gibt einfach eine intellektuelle Qualität oder erfindungsreiche Qualität. Es gibt natürlich einfallslose Sachen oder Sachen, die einfach nur nachgemacht sind. Wenn sie einen Apfel fallen lassen und dann sagen: »Och, das ist aber interessant!«, und nicht wissen, dass um siebzehnhundert schon ein Typ namens Newton sowas gemacht hat und genau beschrieben hat. Ein Experiment muss einen Bereich öffnen, der noch nicht geöffnet wurde, sonst ist es kein Experiment, sondern Zeitvertreib. Und dazu gehört ein gewisses intellektuelles Kaliber, das überhaupt erkennt, wo sich im Augenblick Lücken in der Wand, die uns vom Fortschritt abzutrennen scheint, auftun können. Was und wie kann jetzt in unserem Fall Kommunikationsdesign vom Experimentalfilm lernen? Es geht nur um geistige Beweglichkeit, dass man bei diesen Bewegtbildern überhaupt eine Vorstellung davon bekommt, was alles geht. In der Werbung haben wir ja meistens relativ verbrauchte Sachen, die wurden sozusagen maximal aufpoliert. Davon kann man natürlich eine ganze Weile zehren, aber das reproduziert sich. Man braucht wieder eine neue Idee, damit sich die Werbung weiterentwickeln kann, damit sich das Design weiterentwickeln kann. Und wie das jetzt im einzelnen konkret aussieht, das weiß ich nicht, darüber mache ich mir auch nicht besonders viele Gedanken, man kann nur im Gespräch mit Studenten überlegen, wie man sie optimal fördern kann. Im Studium besteht eigentlich die einzige Möglichkeit für Sie, intellektuell beweglich zu
sein. Sobald Sie im Berufsleben sind, werden Sie erstmal in Ecken abgeschoben und machen immer dasselbe, müssen mit dem, was sie hier an der Hochschule bekommen, ihr ganzes Leben lang weitgehend auskommen. Alles, was nicht ihren Beruf betrifft, von dem werden Sie später radikal ausgesperrt und jetzt müssen Sie sehen, dass sie so viel mitnehmen, wie Sie überhaupt nur können. Da brauchen sie möglichst divergente Dozenten, die nicht alle dasselbe machen, sondern verschiedenen Unterricht, damit sie da ausbrechen können. Später im Leben hängt ihre Karriere oft von der richtigen Idee ab, von einer wirklich guten Idee. Und was dazu beiträgt zu dieser einen guten Idee – das weiß kein Mensch. Herr Wyborny, wir bedanken uns für das anregende Gespräch. mk, cw
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Arduinoboard, Lötkolben, Kabelknäuel und Schraubzwingen. Funken fliegen und blinken mit LEDs um die Wette. Im neuen Mannheim Digital Lab glühen nicht nur die Drähte, sondern auch die Studenten vor Arbeitseifer.
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Ein Interview mit Prof. Hartmut »Habu« Wöhlbier, Ann-Kristin Stock und Katharina Boepple, den BegründerInnen des Mannheim Digital Labs. Wie kam es zum »MAD Lab«? Gab es irgendwelche Vorbilder? Anni: Ein Anreiz zum MAD Lab war die ENSCI, eine Hochschule für industrielles Design in Paris. Dort hat jeder Student seinen eigenen Arbeitsplatz, seine eigenen Schränke. Die Schule war rund um die Uhr geöffnet und jeder konnte dann arbeiten, wann er wollte. An dieser Freiheit der Arbeitsatmosphäre haben wir uns orientiert. Habu: Unter interaktiven Medien verstand man bis vor kurzem nur Screendesign, es beschränkte sich auf den Monitor als Computerschnittstelle, die Tastatur und die Maus. Das ändert sich, der Computer wandert in die Hosentasche und es werden immer neuere Bedienungsparadigmen möglich und eingeführt. Ich glaube, Physical Computing kriegt in Zukunft einen total hohen Stellenwert, das heißt man muss neue Wege gehen, man muss basteln. Hat euch das bisher gefehlt? Habu: Uns hat einfach der Raum gefehlt. Ab einem gewissen Punkt habe ich mir gesagt, die Form von Unterricht, die ich machen will, benötigt keine Tische, sondern eine Werkbank, es muss mehr Laboratory sein als Klassenraum. Ich wollte das ganze aktiver gestalten im Sinne von learning by doing, nicht drüber reden, sondern machen.
Jemand, der Leute zusammenbringt. Die Wissenswelt ist heute so diversifiziert und komplex geworden, daher ist es überhaupt keine erstaunliche Situation, wenn vereinzelte Studenten mehr wissen als der Professor. Diesen Studenten kann ich nichts mehr beibringen, aber diese wiederum den anderen Studenten. Gerade in schnell entwickelnden Bereichen wie den Neuen Medien ist das einfach besser, das Ganze umzustricken. Deswegen ist es meiner Meinung nach wichtig, als Professor eine Plattform oder einen Raum zu bieten, an dem man sich gegenseitig befruchtet. Einfach ein Enabler sein. Inwiefern greifst du als Professor in den kreativen Prozess deiner Studenten ein? Habu: Jeder kann seine Aufgabe selbst bestimmen, das wird sich im nächsten Semester vielleicht etwas ändern. Es ist Teil der Aufgabe, sich zu überlegen, was man machen will. Es ist so einfach, Fragen zu beantworten, aber Fragen zu stellen ist wesentlich schwieriger. Teil der Aufgabe ist es einfach, sich selbst eine Aufgabe zu geben. Kathi: Es ist auf jeden Fall toll, nicht eingeschränkt zu sein. Man braucht natürlich jemanden, der einen leitet, aber den Ideen freien Raum lässt.
Die Studenten arbeiten ja sehr frei und eigenverantwortlich. Ist das Teil der Philosophie?
Anni: Im Vergleich zu den anderen Kursen, die angeboten werden, total anders. Man kann machen was man möchte und hat trotzdem immer einen Ansprechpartner. Unser Projekt Dwister ist eines der wenigen, bei denen wir am meisten gelernt haben, gerade auch durch den Bezug zu anderen Fakultäten. Diese Erfahrung ist einfach sehr wertvoll und lässt sich in anderen Kursen aufgrund der Vorgaben schlecht umsetzen.
Habu: Ich sehe mich nicht als derjenige, der sein Wissen vermittelt. Meiner Meinung nach ist das ein völlig antiquierter Ansatz von Bildung. Ich sehe mich als Katalysator.
Kathi: Hier arbeiten einfach alle zusammen. Durch die Interaktion tauchen plötzlich Fragen auf, die man selber gar nicht gesehen hat und Probleme lassen sich einfach in
»Die Informatiker dachten, wir sind hier nur am Malen«
der Gruppe besser lösen als wenn man zu Hause arbeitet, wo man niemanden nach seiner neutralen Meinung fragen kann. Sind die Projekte des »MAD Labs« an einen deiner Kurse gebunden oder ist eine Kooperation mit anderen Instituten möglich? Habu: Also, der Raum ist nicht groß, deswegen ist es momentan noch so, dass die Projekte an meine Kurse gebunden sind. Das heißt allerdings nicht, dass andere Leute nicht willkommen sind. Teil des Konzeptes ist es ja, Brücken zu schlagen zu den anderen Fakultäten, zu der Informationstechnik, der Informatik oder dem Sozialwesen. Der Raum dient schließlich auch als Treffpunkt. Obwohl erst die erste Generation der Projekte am Start ist, ist es euch schon gelungen, mit »Dwister« den Merz-Preis zu gewinnen. Was wünscht ihr euch für die Zukunft des »MAD Labs«? Anni: Auf jeden Fall mehr Zulauf und Transparenz nach außen. Die Leute sollen sehen, was hier gemacht wird, dass es nicht nur Print gibt, sondern an unserer Fakultät auch Dinge entstehen, die in eine völlig andere Richtung gehen als bisher. Kathi: Wir wollen uns damit auch von anderen Hochschulen abheben. Zum Beispiel waren Informatiker total begeistert und wussten gar nicht, dass es zwischen ihrem und unserem Studiengang eine solche Schnittstelle gibt. Die dachten, wir sind hier nur am Malen. Habu: Ich wünsche mir, dass wir mit einem gesunden, guten Wachstum immer mehr Akzeptanz finden, ausgehend zunächst mal von den Studenten, zu anderen Fakultäten, dann zu anderen Hochschulen, auch im Ausland, vielleicht irgendwann auch zur Industrie. Ich glaube, wir können in den Bereichen total erfrischende Impulse bringen. Das soll aber nicht von heute auf morgen passieren, sondern einfach gesund und gut wachsen. bk, mk
http://madlab.komma-mannheim.de
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HIN UND WEG Eine »leichte«, »mittelschwere«, »schwere« oder sogar »wirklich schwere, extreme Wiensucht« könnte einen ereilen beim Betrachten von Alexandra Schilowskajas Bachelorarbeit. »Wien wartet auf dich – Der etwas andere Stadtführer«, dem ein Text der Journalistin Christine Weiner zugrunde liegt, zeigt Verführungen, denen man bei einem Wienbesuch nur schwer widerstehen kann.
Über eine Agentur findet Alexandra Schilowskaja den Kontakt zu Christine Weiner und nach einem Treffen wird klar, dass Alexandra die gesamte Gestaltung des Reiseführers übernimmt. Fast am Ende ihres Studiums angelangt, beschließt sie, das Realprojekt als Bachelorarbeit umzusetzen. So folgt Alexandra am Anfang ihrer Recherche den Schilderungen der Autorin und begibt sich zunächst auf Spurensuche, direkt an den Ort des Geschehens – nach Wien. Bewaffnet mit Papier und Bleistift, Fotoapparat und selbstverständlich mit dem blanken Text des zukünftigen Reiseführers, geht sie auf Entdeckungstour, erforscht die Stadt und erlebt selbst die Faszination, welche die Autorin mit der Welt teilen möchte.
Viele Skizzen und Notizen, sowie Fotos und natürlich der eigene Eindruck begleiten sie auf dem Nachhauseweg und sind die Grundlage für das entstehende Buch. Doch vor allem der persönliche Text, der Alexandra von Beginn an leitet, definiert den nostalgischen Stil, in dem sich das Buch entwickelt. Man könnte fast meinen, es handele sich um ein Tagebuch, so voll bepackt mit Anekdoten ist der Text. Und das ist es auch, was diesen so besonders macht: die vielen spannenden Geschichten, die die Autorin aus ihrem Repertoire zieht, hauchen ihm Leben ein. Doch nicht nur der Text, sondern das gesamte Buch beweist Charakter. Der Verzicht auf die üblichen Touristenfotos und die Entscheidung für Illustra-
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tionen zur Untermalung des Stadtbildes bedingen seine Individualität. So wie sich das Geschriebene vor allem mit dem »alten« Wien auseinandersetzt, so vermitteln dies auch die nachträglich kolorierten Bleistiftzeichnungen auf eine Art, wie es moderne Fotografien nicht könnten. In natürlichen Farben gehalten, teils zurückhaltend, teils mit Akzenten, illustriert Alexandra textnah bekannte und weniger bekannte Stellen der Stadt, viele Köstlichkeiten und Eigenheiten, die sich dort finden lassen. So haben Christine Weiner und Alexandra Schilowskaja ihre Sicht auf die Stadt dargelegt. Die eine im Text, die andere in Bild und Satz. Dank der Illustrationen, die es vermögen, einen in eine andere Zeit zu versetzen, verströmt das Buch viel Atmosphäre, die Atmosphäre einer Stadt, in der viel geschehen ist, die viel zu erzählen hat. Dieser Reiseführer ist anders und das ist gut! Auf der Reise durch die Kaffeehäuser, beim Umgang mit den Wienern oder auf kulturellen Pfaden – der Leser ist geködert. Aber Achtung! Ich will Sie noch einmal darauf hinweisen: Es besteht Suchtgefahr. gs
ALeXANDRA SCHILoWSKAJA Wien wartet auf dich – Der etwas andere Stadtführer bei Prof. Veruschka Götz a.schilowskaja@web.de
DER STOFF AUS DEM DIE TRÄUME SIND Nadine Fischer liebt das Zusammenspiel von Design und Mode. Aus diesem Grund hat sie im Rahmen ihrer Masterarbeit ein eigenes Modelabel entwickelt: Wunschbrunnen – Taschen nach dem Baukastenprinzip.
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Stärke und Leidenschaft sind zwei Dinge, die sich gut vereinen lassen. Nadine Fischer ist Kommunikationsdesignerin und kann mit der Nähmaschine umgehen. Sie hat ein Gespür für handgemachte und außergewöhnlich anmutende Dinge. Als Nadine ein Thema für ihre Masterarbeit suchte, kam ihr die Idee, diese beiden Eigenschaften zu verbinden und ein Modelabel zu gründen. Es war ihr sehr wichtig, ein reales Projekt zu starten, das nach der Masterarbeit nicht in der Schublade verschwindet. Entwickelt hat sich Wunschbrunnen, ein Label für Taschen, die dem Gedanken des Individualismus entsprechen. Denn jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen, wie Dinge auszusehen haben und möchte sich von der Masse abheben. Bei Wunschbrunnen gibt es nun die Möglichkeit, diese Bedürfnisse mit einzubringen. Dank des Baukastenprinzips hat man die Wahl zwischen unterschiedlichen Formen, Größen, Verschlüssen, Extra-Taschen und Fächern. Des Weiteren kann man sich dazu eine eigene LederStoff-Kombination in den Lieblingsfarben und bestimmten Mustern auswählen. Somit weicht die Massenproduktion dem Persönlichen und Handgemachten und lässt den Menschen mit seinen Wünschen und Bedürfnissen mitbestimmen. Nachdem man sich sein Wunschexemplar zusammengestellt hat, fertigt es Nadine selbst an. Für die Laptoptaschen müssen bei einer Bestellung auf http://www.wunschbrunnen.org zum Beispiel ein
fach nur die genauen Maße des Laptops an gegeben werden. Die Tasche wird auf diese Weise nicht nur zum Unikat sondern zur Maßanfertigung. Nadine hat schon einige Läden ausfindig gemacht, die Produkte von kleinen oder noch unbekannten Labels verkaufen. In solchen Läden werden von Nadine vorgefertigte Taschen als Anschauungsexemplare ausliegen, die der Kunde ebenfalls kaufen kann. Auch sollen in Zukunft Katalog und Flyer dort zu finden sein. Im Moment ist Nadine noch auf der Suche nach weiteren Läden, die von ihrer Idee begeistert sind und ihre Taschen bei sich verkaufen möchten. Also keine Scheu, denn wir lieben es, wenn unsere Wünsche in Erfüllung gehen. cw
NADINE FISCHER Wunschbrunnen bei Prof. Armin Lindauer mail@noedine.de www.noedine.de
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PRAKTISCHE T H EOR I E Das designtheoretische Werk »Bildsemiotik – Grundlagen und exemplarische Analysen visueller Kommunikation« von Prof. Dr. Thomas Friedrich und Prof. Gerhard Schweppenhäuser ist eine Einführung in Syntaktik, Semantik und Pragmatik visueller Gestaltung. Die Autoren bereiten das Thema leicht zugänglich für Lehrende und Studierende auf. Die Gestaltung des Buches übernahm Prof. Veruschka Götz (HS Mannheim).
Gestalter entwerfen und produzieren Bilder, um bestimmte Inhalte mithilfe unterschiedlicher Medien visuell zu vermitteln – Inhalte, die vom Auftraggeber gewünscht sind und ökonomischen Nutzen schaffen sollen; Inhalte, die kulturell relevant sind, und Inhalte, die kommunikatives Handeln ermöglichen. Das Ziel ist dabei jeweils, intellektuelle, handlungsorientierte oder emotionale Inhalte in zweidimensionale Formen zu übertragen. Kommunikationsdesigner produzieren Bilder, die Informationen und Emotionen vermitteln und bewirken sollen. Dabei interpretieren sie die Inhalte und schaffen eine eigene Bild-Realität. Ihre Bilder haben gleich zeitig Bezüge zu den vermittelten Objekten und zu den Subjekten, die über und durch gestaltete Bilder interagieren. Das ist der semantische Bereich der Bildsemiotik. Für die Analyse und die Gestaltung von Bildern ist es essenziell, die Strukturgesetze der Ko dierung und Dekodierung visueller Artefakte zu kennen. Das ist der syntaktische Bereich der Bildsemiotik. Die Sphäre der intersubjektiven Kommunikation mittels Bildern, für die sich neuerdings der Begriff des »Bildhandelns« eingebürgert hat, ist der pragmatische Ort, an dem die Bildsemiotik zur Anwendung kommt. Das vorliegende Buch enthält eine systematische Darstellung von Kriterien, die aus unserer Sicht sowohl für die Analyse als auch für die Produktion von Bild-Text-Kommunikation unerlässlich sind. Häufig wird man feststellen können, dass die erläuternde Darstellung der Methoden und Kategorien in erster Linie eine Ex-
plikation dessen ist, was man intuitiv an wendet. Aufgrund unserer eigenen Bildungsgeschichte vermuten wir, dass dies hier und da durchaus überraschend sein wird. Diese Einführung in die Grundlagen der Bildsemiotik ist für den Gebrauch durch Studierende und Lehrende im Bereich der visuellen Kommunikation gedacht. Sie ist auf der Grundlage von Erfahrungen entstanden, die wir über viele Jahre im Bereich der Ausbildung von Kommunikationsdesignerinnen und -designern an verschiedenen Hochschulen gesammelt haben. Wir haben versucht, aus dem großen Wissensbestand auf diesem Gebiet dasjenige auszuwählen, was sich nach unseren Erfahrungen bewährt hat. Die wichtigsten Grundbegriffe und produktivsten Analysemethoden sollen so einfach wie möglich dargestellt werden, ohne dass dabei ihre Komplexität über Gebühr reduziert wird. Mithilfe dieses Buches können sich Studierende und Praktiker, die ihre Tätigkeit reflexiv begleiten, der Disziplin der Bildsemiotik annähern. Im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen im Bereich der Gestaltungsausbildung wurde häufig unser Eindruck bestätigt, dass ein übersichtliches Kompendium für die Lehre fehlt; daher hoffen wir, dass Lehrende ebenfalls von unserem Versuch profitieren. Im ersten Kapitel wird dargelegt, warum es im Kommunikationsdesign unerlässlich ist, sich mit Theorie zu beschäftigen und zu lernen, seine Gestaltungsentscheidungen ebenso zu begründen wie die Kritik an Gestaltungsentscheidungen anderer. Danach wer-
den allgemeine Grundlagen der Bild-TextKommunikation (Kapitel 2) sowie Begriff und Definition der Semiotik erläutert (Kapitel 3). Hier werden prinzipielle Überlegungen zum Begriff des Zeichens angestellt und designrelevante Aspekte der linguistischen Schlüssel-Begriffspaare Diachronie/ Synchronie, Langue/Parole, natürlich/arbiträr und Signifikant/Signifikat erläutert. Es gibt eine kurze Einführung in Charles W. Morris’ Unterscheidung der drei Bereiche der Semiotik: Syntaktik, Semantik und Pragmatik. Und schließlich werden die semiotischen Grundbegriffe Ikon, Index und Symbol nach Charles Sanders Peirce vorgestellt. Kapitel 4 und 5 enthalten ausführliche Beispielanalysen, in denen diese drei Kategorien methodisch angewandt werden. Kapitel 6 führt in die visuelle Rhetorik ein und enthält praktische Analyseübungen (nach Gui Bonsiepe und Hanno Ehses) anhand von Beispielen aus dem Bereich der Werbung. Kapitel 7 stellt die strukturale Analysemethode der Rhetorik des Bildes (nach Roland Barthes) – oder, in einer etwas modifizierten Terminologie, die Analyse der rhetorischen Codes mit ihren verbalen und visuellen Registern (nach Umberto Eco) – vor. Sie wird in praktischen Übungen anhand von Beispielen erprobt, die ebenfalls aus dem Bereich der Werbung ausgewählt wurden. Das Buch endet mit einem kurzen Ausblick auf Fragen der Semiotik des Films in Kapitel 8. (Auszug aus dem Vorwort der Autoren)
Das Buch ist erschienen im Birkhäuser Verlag, ISBN 978-3-0346-0111-5, 136 Seiten, 40 Abbildungen, 17 in Farbe, Softcover.
E x k u r s
Dr. phil. Thomas Friedrich ist Professor für Designtheorie und Philosophie sowie Leiter des Instituts für Designwissenschaft an der Fakultät Gestaltung der Hochschule Mannheim. Dr. phil. habil. Gerhard Schweppenhäuser ist Professor für Design-, Medien- und Kommunikationstheorie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg.
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SCHÖNE NEUE W E L T
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Christina Sinns Bachelorarbeit liest sich wie ein Krimi: die Opfer sind wir und der Täter lauert tatsächlich im Garten. Der Gärtner ist »Monsanto«, Marktführer für gentechnisch veränderte Organismen, der erst kürzlich wieder negativ in den Medien aufgefallen ist.
Monsanto ist ein US-amerikanischer Konzern mit Sitz in St. Louis/Missouri, der zum größten Saatguthersteller weltweit avanciert ist. Zu seiner Produktpalette zählten das Entlaubungsmittel Agent Orange, das Süßungsmittel Aspartam, das Hormon rGBH und das chemische Gift PBC – alles Substanzen, die nachweislich hochgefährliche Nebenwirkungen besitzen. Doch die Selbstdarstellung Monsantos ist durchweg positiv, man sieht sich verantwortlich für Landwirte, Agrarprodukte und Umwelt: Die genannten Lebensmittelzusätze und Pestizide dienen angeblich dem Erhalt natürlicher Ressourcen und steigern die Qualität der Erzeugnisse. Christina Sinn glaubt diesem sauberen Image jedoch nicht. Für ihre Bachelorarbeit untersucht sie in einem gut strukturierten Infomagazin die Hintergründe des Konzerns und bringt erschreckende Wahrheiten ans Licht. Sie erkennt Strukturen von Lobbyismus, Vertuschung und Korruption, findet verseuchte Landstriche, todkranke Menschen und patentierte Schweine. All das macht sie öffentlich und schafft damit einen Gegenpol zur propagierten schönen neuen Welt von Monsanto.
1 Schöne neue Welt oder hochgefährliche Verschleierungstaktik? Umschlag und
Schwerwiegender Inhalt benötigt nicht selten einen leicht zugänglichen Designansatz. Christina führt den Betrachter spielerisch in die Tiefen der Thematik, indem sie eine bewusst naive und einladende Bildsprache verwendet. Doch beim zweiten Blick wird schnell klar: hier wird die Firmenpolitik Monsantos überspitzt gespiegelt. Alles ist wunderschön, bunt und einfach – aber eben nur aus Pappe. Das ist der Punkt, der Christina am Herzen liegt: der Konsument soll sich fragen, was sich hinter der schönen Kulisse verbirgt. Ist das Produkt gut für mich, weil es perfekt aussieht und sogar seine Schädlinge selbst zu zerstören vermag? Oder könnte das nicht auch für mich gefährlich sein? In der logischen Konsequenz zu ihrem Thema hat Christina auch darauf geachtet, im Sinne des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit modernste umweltfreundliche Materialien für ihre Arbeit zu verwenden. Und im Anhang der Broschüre findet man einen Saisonkalender der heimischen Obst- und Gemüsesorten – ein Begleiter für die ersten Schritte in die eigene Unabhängigkeit von Monsanto. vp
Schutzumschlag – Monsantos Firmen politik auf einen Blick. 2 Innenseiten: Kapitel und Kapiteltrenner 3 Informationsflyer zu jedem Kapitel
G e s e l l e n s t ü c k e
2 Broschüre bei Issuu: http://issuu.com/c.sinn/docs/monsanto_web_csinn Filmlinks zu Monsanto: Monsanto, mit Gift und Genen, ARTE Frankreich Gift im Angebot – Die Erfolgsstory des US-Multis Monsanto, SWR/RP Das Leben außer Kontrolle, DENKmal Film, Haifisch Film, SWR Arme Sau – Das Geschäft mit dem Erbgut, WDR The future of food, Produktion von Lilly Films Tote Ernte – Der Krieg ums Saatgut, Kai Krüger & Bertram Verhaag alle Filme auf youtube.de veröffentlicht
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CHRIStINA SINN Monsanto – Welternährer oder Weltbeherrscher bei Prof. Veruschka Götz christinasinn81@aol.com
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O ff with his he a d ! Was könnte schon schief gehen bei dem Versuch, sich Hals über Kopf in einen Kaninchenbau zu stürzen? Alexey Fedorenko beweist, wie ein kopfloses Unterfangen Form annehmen kann!
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Es ist kein modernes Phänomen, alles und jeden in Schubladen stecken zu wollen. Es ist einfacher, wenn man als Konsument auf den ersten Blick erkennt, worum es geht, wohin die Reise führt. In kommerziellen Buch-
läden werden Bücher schon nach Farbe sortiert, um den Kunden nicht zu überfordern. Lieblingsgenre? Rot! Man gewöhnt sich an so eine Welt, man wächst hinein. Man passt sich an, um besser zu verstehen und verstanden zu werden. Vor allem lernt man, dass man als Erwachsener alles wissen müsste und nicht zu oft nachfragen sollte.
M e i s t e r s t r e i c h e
1 Eine von 80 Illustrationen auf 120 Seiten aus »Alice’s Adventures in Wonderland«
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2 Die Initialen für »Alice« & »Wonderland« als Goldprägung auf dem Buchcover und in einer Blindprägung auf dem Schuber 3 Das Buch hat die Maße 20,8 x 23,8 cm 4 Auf jeder Doppelseite ist mindestens eine Illustration zu sehen
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Allein 25 Verfilmungen tragen zur Bekanntheit von Lewis Carrols Geschichte über Alice bei, die während eines Picknicks mit ihrer Schwester einschläft und dem weißen Kaninchen ins Wunderland folgt. Hat Alice eben noch einer skurrilen Teegesellschaft beigewohnt und sich über den Sinn einer Uhr, die nur den Tag anzeigen kann, Gedanken gemacht, muss sie sich später aufklären lassen, warum im Garten der Herzkönigin weiße Rosen heimlich rot angemalt werden. Alice ist immerhin die Urquelle des magischen Realismus, die Mutter der Nonsensliteratur.
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vom »Playboy« existieren können. Selbst Alice, teilweise ähnlich illustriert wie in der Urausgabe von 1865, also als gut behütetes, braves Mädchen, wird von Alexey auch mal als frecher Teenie mit Bierflasche oder als sinnliche, erwachsene Frau dargestellt. Das Auffälligste an seinen Illustrationen ist gewiss der heftige Stilmix und der Wunsch des Betrachters, einen roten Faden darin finden zu wollen.
Blättert man Alexey Fedorenkos bildgewaltige Masterarbeit durch, staunt man über seichte Aquarelle und Ölbilder, die problemlos neben wilden Collagen mit Logos
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Wie entsteht so etwas? Alexey hat erst in Moskau Literaturwissenschaften studiert, bevor er sich für Mannheim entschied. Daran mag es liegen, dass er besonders gut nachvollziehen kann, was Alice fühlt, als sie sich ins Wunderland begibt. Permanent irritiert, stellt Alice den Bewohnern, die mit den vorherrschenden Gesetzen mühelos zurechtzukommen scheinen, einfache, ehrliche Fragen und bekommt dafür nur kryptische Antworten. Hinweise darüber, wie Alice sich zu verhalten habe oder wer sie sei, erscheinen sinnlos. »Alice ist klug und selbst zur Analyse fähig«, erklärt Alexey im Interview, »Und
trotz der unerwünschten Etiketten, die man ihr versucht aufzudrücken, bleibt sie stets höflich und fair. Sie verzichtet ihrerseits auf stereotypes Denken und wirkt durch ihr verständnisvolles Benehmen wie ein Prisma, das dem Nonsens eine Form gibt«. Genauso unvoreingenommen und neugierig wie Alice
scheint er selbst an verschiedenste Kunststile heranzugehen. Er arbeitet zur Hälfte am Computer, zur Hälfte analog. In der Regel zeichnet er alle Illustrationen zuerst mit Bleistift vor, bevor er die Vorteile jeder Maltechnik ausgiebig nutzt, um seinen Illustrationen den entsprechenden Schlag zu geben. Der gesuchte rote Faden ist der, dass Alexey den Leser immer wieder aufs Neue überraschen kann. Selbst wenn man die Arbeit fast bis zum Ende betrachtet hat, kann man unmöglich voraussagen, was man auf den letzten Seiten erleben mag. Selten hat man bei einem Buch den Eindruck, etwas sehenswertes zu verpassen, wenn man es nicht bis zum Ende liest. Schade, dass nicht jede Lektüre einen für seine Neugierde derartig belohnt.
M e i s t e r s t r e i c h e
Bei der Vielfalt an Zeichenstilen kann man zwar behaupten, das ein oder andere gefalle persönlich nicht, aber man kann nicht behaupten, dass einem überhaupt nichts zusagen würde.
Ein paar Gemeinsamkeiten gibt es dennoch in all seinen Bildern: grundsätzlich wirken sie rau und grunge-artig. Oft sind Aquarellelemente darin zu finden, Ölspritzer, bei den digitalen Bildern oft skurrile 3D-Figuren. Aber kann man Alexey Fedorenko nun einfacher in eine Schublade stecken? Stellt man zu viele Fragen, könnte man leicht das Wunderland entzaubern. mg
ALEXEY FEDORENKO Alice’s Adventures in Wonderland bei Prof. Thomas Duttenhöfer sizpred@gmail.com www.inconstantart.com
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Spiegelungen, optische Täuschungen und Dinge, die sich erst auf den zweiten Blick offenbaren: Sylvia spielt in ihrer Gestaltung des Café Beichtstuhls immer wieder mit der Wahrnehmung der Gäste.
Sylvia weinheimer Café Beichtstuhl bei Prof. Veruschka Götz sylviaaivlys@web.de
G e s e l l e n s t ü c k e
M O k assins & G lau bensfR aGen Unsere Welt wird immer hektischer, wir sind außer Atem. Zeit sich wieder auf sich und seine Mitmenschen zu besinnen. Sylvia Weinheimer nimmt sich diesem Problem in ihrer Bachelorarbeit an: mit dem Konzept für ein Café voller Inspirationsquellen und Ruheoasen.
Die Tür schwingt auf, eine wohlige Atmosphäre mit leisem Stimmengewirr umfängt mich, nimmt mich auf. Mein Blick schweift über die kuscheligen roten Sessel und die Wand-Illustrationen, die immer wieder mit optischen Täuschungen spielen. Ich nehme in einem der Zweiersitze auf der oberen Etage Platz. Sofort gewinnen einige Bierdeckel meine Aufmerksamkeit: die goldene Farbe wirkt sehr edel, doch der eigentliche Eyecatcher sind die über den Rand hinauslaufenden Worte, die man aus mehreren Deckeln zu neuen Wortkreationen zusammensetzen kann. So vertreibe ich mir die Zeit bis zum Eintreffen meiner Interviewpartnerin. Leider ist dieser Ort momentan nur Fiktion. Ein behagliches Luftschloss, erdacht von Sylvia Weinheimer. Das Café Beichtstuhl gibt es noch nicht – das Interview allerdings schon.
Wann warst du selbst das letzte Mal beichten? Obwohl ich bis zu meinem 18. Lebensjahr katholisch war, bin ich selbst nie beichten gewesen. Heutzutage machen immer weniger Menschen Gebrauch von der Beichte, sodass dieses alte Wort schon fast in Vergessenheit geraten ist. In meiner Arbeit habe ich das Wort neu interpretiert und auf die heutige Gesellschaft angewandt. Gibt es einen persönlichen Bezug zur Ideen- und Namensfindung? Für mich steht der Beichtstuhl für drei Dinge: erstens für ein Gespräch unter vier Augen, zweitens für ein Gespräch, in dem es um Angelegenheiten geht, die einem wirklich auf der Seele brennen statt um oberflächliche Worthülsen und drittens für ein Möbelstück, das abgeschirmt ist und Schutz bietet, sodass man den Mut findet, persönliche Dinge anzusprechen. Im Café Beichtstuhl steht der Beichtstuhl als Synonym für ein gutes Gespräch unter vier Augen. Im Unterschied zur kirchlichen Beichte geht es dabei um einen gleichberechtigen Austausch auf Augenhöhe, bei dem man sich gerne Herzensangelgenheiten erzählt. Besonderen Wert habe ich daher auf eine vertrauensvolle und gemütliche Atmosphäre gelegt. Hattest du Zweifel, der religiöse Kontext könnte deine Arbeit zu stark beeinflussen? Als ich auf den Namen Café Beichtstuhl kam, hatte ich keine Zweifel, dass der Name als witzige Idee verstanden würde und keinesfalls als religiöse Institution. Schließlich ist ein Beichtstuhl außerhalb der Kirche
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zweckentfremdet und steht im Widerspruch zur Religion. Der klassische »Beichtstuhl« ist nur Katholiken vorbehalten, doch die Beichte an sich, das »Sich-Eingestehen von Fehlern«, sollte jedem möglich sein. Die Beichte ist nichts anderes als ein Gespräch, normalerweise allerdings zwischen Pfarrer und Büßer. Da diese Rollen im täglichen Leben oft nicht so klar verteilt sind, finde ich das »Beichten« in einer Kirche nicht mehr zeitgemäß. Die moderne Art sollte vielmehr die Suche nach einem guten Gespräch sein, in dem man versucht, sich gegenseitig zu erklären und zu verstehen, statt einen Schuldigen zu suchen. Du betonst immer wieder »die Änderung der Sichtweise« durch ein intensiv geführtes Gespräch. Bist du der Meinung, in unserer Gesellschaft denkt man zu viel in vorgeprägten Mustern, anstatt sie zu hinterfragen? Ich denke, wir übernehmen oft unreflektiert Verhaltens- und Gedankenmuster, ohne sie zu hinterfragen. In meinem Café möchte ich den Gästen immer wieder kleine Impulse geben, über ihr Handeln nachzudenken. Ein indianisches Sprichwort besagt: »Beurteile nie einen Menschen, bevor Du nicht mindestens einen halben Mond lang seine Mokassins getragen hast.« Dieses Sprichwort habe ich für mich mit dem Slogan »sieh’s mal anders« übersetzt. Ein Café ist ein wunderbarer Ort, um sich füreinander Zeit zu nehmen und ein Stück in Gedanken mit dem Gesprächspartner mitzugehen und zu fühlen. bk http://www.cafe-beichtstuhl.de
F r ü h w e r k e
DIE LA DENHÜTER Hier und dort sind sie noch zu finden. Kleine Fachgeschäfte, betrieben von Personen, die ihr Handwerk schon Jahrzehnte lang ausüben und ihre Quittungen noch mit der Hand schreiben. Mirka Laura Severa hat sich in Mannheim auf die Suche gemacht und wurde fündig. Mit Großformatkamera, Rollfilm und einem offenen Ohr traf sie auf die Inhaber.
»Nachdem ich sechs Kinder großgezogen hatte und mich von meinem Mann scheiden ließ, brauchte ich eine neue Existenz. Da hörte ich, dass jemand seine Schneiderei verkaufe«, erzählt Sigrid Brenner, 78, die seit 33 Jahren ihre Änderungsschneiderei in der Mannheimer Innenstadt betreibt. Hinter ihrer braunen Holztheke steht sie mit Maßband, Nadel und Faden bereit, um Hosen zu kürzen, Röcke zu ändern und – was sie am liebsten macht – zu beraten. »Manchmal sitze ich einen Tag da, ohne Arbeit zu haben.« Viele ihrer Stammkunden leben nicht mehr. Sigrid Brenner ist einer von fünf Menschen, die Mirka Laura Severa für ihre Fotodokumentation Die Ladenhüter über ihre Arbeit und ihr Leben befragt und im Zeitungsformat porträtiert hat. Sie alle haben etwas gemeinsam. Sie betreiben ein langsam aber sicher aussterbendes Gewerbe. Sei es die Schuhmacherei von Walter Essig, den über viele Generationen weitergegeben Großfachhandel Weyer oder aber die Polsterei des Polstermeisters Emil Holz. Vor vielen Jahrzehnten fasste jeder von ihnen den Beschluss, einen eigenen Betrieb zu gründen, die Einen, um eine alte Familientradition weiterzuführen, die Anderen über mehrere Umwege und Zufälle, wie Zdena Zulkova, die mit 20 Jahren von Tschechien nach Mannheim flüchtete und dort nun seit bereits 25 Jahren ihre Reinigung Blütenfrisch betreibt.
Jahrzehnten stehengeblieben. Diese Menschen, die ihr Leben lang hinter der Ladentheke stehen oder standen, geben Einblick in ihre Geschichte, ihr Handwerk und berichten voller Stolz, Interesse und Wehmut über glückliche und ebenso schwere Zeiten, in jedem Fall aber vergangene Zeiten, die sie geprägt haben. Vermischt mit eigenen Fotos der Ladenbetreiber entsteht ein einfühlsames und nostalgisches Porträt der Ladenhüter, die ihr Leben dem Betrieb und einem Gewerbe verschrieben haben, für das in der heutigen Zeit aufgrund von Globalisierung und fehlender Nachfrage wenig Bedarf mehr besteht.
»Manchmal sitze ich einen Tag da, ohne Arbeit zu haben«
»Bis zum Winter muss ich definitiv aufhören, weil ich kein Heizöl mehr habe, und es würde sich nicht rentieren, den Tank nochmal aufzufüllen«, merkt Sigrid Brenner an. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis der Letzte der Ladenhüter den Rolladen ein letztes Mal herunterlassen wird und die Ladentüren geschlossen bleiben. Was übrig bleibt, sind diese Bilder, Geschichten und Erinnerungen an vergangene Zeiten. jb
MIRKA LAURA SEVERA Fotos von rosafarbenen Blumentapeten, Nähmaschinen, alten Preistafeln und der stets ordentlich und liebevoll gepflegten, meist selbst geschusterten Ladeneinrichtung geben uns das Gefühl, die Zeit wäre vor einigen
Die Ladenhüter bei Prof. Veruschka Götz & Prof. Frank M. Göldner mirka.laura.severa@googlemail.com
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AUF ZUR V I LLA KUNTER BUNT
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Raus aus Mannheim, hinein in eine bunte, experimentelle und fantastische Welt – auf zur Illustrative 2009. Berlin, die Stadt, in der scheinbar alles immer ein bisschen frischer, aufregender und kreativer ist als in anderen Städten, beherbergte vom 16.10. bis zum 01.11.2009 die internationale Illustrationskonferenz.
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Austragungsort der Illustrative war die in Mitte gelegene Elisabethenkirche und die daran anschließende Schinkelbau-Villa.
Schabbilder der deutschen Künstlerin Line Hoven beeindruckten nachhaltig durch ihre erzählerische Tiefe und stilistischen Charme.
So grau der Winter in Berlin sein mag – im schmucken Altbau regierten die Farben. Auf drei Stockwerken stellten über sechzig Künstler Illustrationen, Animationen, Installationen und Kunstwerke aus. Auf der Suche nach spannenden Geschichten, die hinter den Werken stecken, wurden wir insbesondere bei dem von Julian von Bismarck entwickelten Perpetual Storytelling Apparatus fündig. Eine vollautomatisierte Zeichenmaschine, die Tag und Nacht damit beschäftigt ist, eine unendliche Geschichte auf meterlange Papierbahnen zu bannen. Auch die
Es waren die eher unauffälligeren und dezenten Arbeiten, die zum genauen Hinsehen aufforderten, dem reizüberfluteten Blick Entspannung und einen Moment Ruhe zum Nachdenken gaben. Nachdenken über die Illustration an sich und deren Aufgabe, Geschichten zu erzählen. jb
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1 Ville Savimaa »A1« 2 Olaf Hajek »Welcome« 3 Christian Montenegro »Pride« 4 Katja Fouquet »Mumbai«
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»Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei, du warst hier und wir war’n frei und die Morgensonne schien.«
Mit offenen Augen träumen. Eine Gabe, die viele Menschen, festgezurrt in gewohnter, vermeintlich naturgegebener Normalität, tief in sich begraben haben. Doch ist ein Traum oftmals ein Fenster mit Blick auf die Möglichkeit einer eigenen Welt, ein Spiegel durchaus realer Wünsche und Visionen, denen Anna Schlecker nun eine offene Tür geschaffen hat. Menschen haben die verschiedensten Bedürfnisse und sie sind erfindungsreich. Um den eigenen Weg gehen zu können, ihre Träume zu verteidigen, werden einige von ihnen aktiv, nehmen den Fehdehandschuh auf und setzen sich zur Wehr – mit den verschiedensten Mitteln. In diesem Sinne hat nun Anna Schlecker, im Zuge ihrer Masterarbeit, die Plattform en garde ins Leben gerufen: eine Aufforderung, eine Initiative und eine Unterstützung in Gestalt einer Gazette sowie einer weiterführenden Seite im Internet. en garde gazette ist Annas Hommage an Aktivisten, Andersdenker und Nonkonforme, an all jene, die mit voller Hingabe ihre Ideale und Überzeugungen leben. Doch geht es ihr eher um die unauffälligen Menschen im Hintergrund, jenseits der randalierenden Masse. Um ihren Platz in der Welt und den Weg, den sie wählen, um diesen zu erobern und, gegebenenfalls, auch zu verteidigen. Oft ist der Pfad des maßvollen Widerstands schmal und es heißt laut sein, ohne zu schreien, Platz schaffen, ohne zu zerstören und frei sein, ohne einzusperren.
M e i s t e r s t r e i c h e
Zwei Degen auf dem Cover des Magazins laden auf unwegsames Terrain, geprägt durch beharrlichen, aber fairen Einsatz voll Herzblut. Das Brechen des blauen Themensiegels der ersten Ausgabe Lebensräume gewährt Einzug in jene umkämpften Gedankenlandschaften. Ganz in Schwarz, hier und da auch in einem Hauch von Cyan, sprengen Pflanzenbomben organische Flecken in kargen Beton, entflammt ganz offen ein Kampf um freie Felder, stehen Hausbesetzer im Kreuzfeuer der Gentrifizierung und lagern bescheidene Stadtnomaden Tür an Tür mit bürgerlicher Kleingärtnerei.
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» Der Traum ist aus! Der Traum ist aus! Aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird.« Ton Steine Scherben, 1972
Widerstand und Protest in vielfältigster, ganz unerwarteter Ausprägung werden auf den dünnen Seiten des grauen Zeitungspapiers spürbar lebendig. Flächige Illustrationen, handgemachte Papierkulissen und geschehensnahe schwarz-weiß Fotografien untermalen jeden Artikel in sich neu und detailverliebt. Es wird präsentiert, ohne zu zwingen, doch weist ein kleines Streichholz allen Entflammbaren den rechten Weg zum Selbermachen. Tiefer hinter die Kulissen führt die Internetseite. Von Angesicht zu Angesicht mit den Aktivisten, Beweg- und Hintergründen, konfrontiert, kommt man nicht umhin, sich auf diese oftmals etwas andere Sicht der Dinge einzulassen. Schlussendlich jedoch stellt en garde weder Regeln auf, noch den einen vorgegebenen Patentplan zum Handeln, es erwächst kein Müssen, entspringen soll lediglich der freie Wille, dem einladenden Wink mit der Schachtel Streichhölzer zu folgen. Touché! mw
Anna Schlecker en garde bei Prof. Armin Lindauer hello@anna-schlecker.de, www.anna-schlecker.de
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U nter D en W O l ken Der letzte Abflug vom Flughafen Berlin-Tempelhof führte nach Mannheim. Pünktlich von Mannheim nach Berlin zog es Prof. Frank Göldner, der die letzten Stunden des geschichtsträchtigen Flughafens mit der Großbildkamera festhielt.
Die Ausstellung: THF – A Tribute to Tempelhof, zu sehen im Flughafen Berlin Tempelhof (ehemaliger GAT-Bereich) ab Mitte Februar bis Mitte Juni 2010 (im Juni kurz unterbrochen von der Messe Bread & Butter). Zu sehen gibt es: 45 Bilder in den Formaten 60 x 75 cm, 100 x 126 cm und 60 x 146 cm. Kameras: Großbild: Sinar F 4 x 5 ", Panorama: Noblex 150 UX, Mittelformat: Mamiya 7II Filme: Kodak Portra 160NC/400NC, Fuji NPL/Pro 160S/Pro 800Z/Rro 400H Die Aufnahmen entstanden in circa zwölf Tagen im August bis Anfang September 2008 und noch einige Tage nach der Schließung. Insgesamt sind circa 230 Motive auf Planfilm 4 x 5 " entstanden. Dazu noch etwa 30 Rollfilme.
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Herr Göldner, der Großteil der Bilder wirkt sehr nüchtern und dokumentarisch. Kann man das als Hauptbestandteil des Konzepts ansehen? Durchaus. Zwar gibt es für mich auch einen emotionalen, persönlichen Zugang zu dem Thema, da ich als Kind von Tempelhof zu meinen ersten Flügen startete, aber zum einen ist der Flughafen Tempelhof von 2008 nicht derselbe wie der von 1968 und zum anderen ist mein Blick auf die Dinge doch ein gänzlich anderer als der als Kind. Das Areal ist Zeugnis einer äußerst wechselvollen und konträren Geschichte, stark von divergierenden Ideologien geprägt, mythisch aufgeladen und nebenbei ein normaler Verkehrsflughafen. Eine Bewertung dieser verschiedenen Aspekte ist ein zutiefst individueller Akt eines Betrachters. Also habe ich mich bewusst für eine sehr klare, präzise Abbildung des Bestehenden entschieden. Dementsprechend ergab sich auch folgerichtig die Arbeitsweise mit der Großbildkamera, die eine bewusste Planung der einzelnen Aufnahmen verlangt und so eine sehr entschiedene Gestaltung der einzelnen Bilder fördert. Trotzdem verraten die Bilder sicherlich vieles über meine individuelle Sicht auf THF.
habe ich später noch fotografiert, zum Beispiel auf der Startbahn, da war vorher kein Hinkommen. Die wichtigsten Anlagenteile habe ich alle irgendwie geschafft. Vermissen tue ich mehr Details und Blicke hinter die Kulissen. Schwieriger war mein Alltag:
»ICH WAR GEZWUNGEN IMMER MINDESTENS EINEN WACHMANN AN MEINER SEITE ZU HABEN« Die Wachmänner waren oft nicht begeistert von meinem Anliegen. Das ist aber in der Regel immer so bei solchen Projekten. Die Leute müssen ihre Arbeit machen, und dann kommt ein Fotograf und hält sie davon ab – ich habe immerhin 54 Mannstunden verbraucht.
Nein. Nie. Mein Ziel war ja eine Dokumentation des Bestehenden. Ich hatte für alle Fälle auch eine Blitzanlage mit, habe dann aber doch nur mit dem vorhandenen Licht gearbeitet. Also auch das Licht ist authentisch. Sie hatten sich ja mehrere Tage auf dem Gelände aufhalten dürfen. Inwiefern kann man da in Ruhe das Motiv planen? Mussten Sie sich beeilen? Man muss mit einer Großbildkamera ohnehin Motive planen. Bei einem Areal dieser Größe findet man ständig neue Dinge, die man gar nicht auf dem Plan hatte. Da heißt es flexibel sein und die Chancen wahrnehmen. Mehrmals wurde der Plan für den Tag also spontan über Bord geworfen, wenn sich Besseres ergab. Wichtig ist es aber, das große Ganze nicht aus dem Auge zu verlieren. Beeilen musste ich mich sowieso. Einmal, weil ich die Wachleute nach Stunden bezahlen musste, viel mehr aber noch, weil ich ja nur einen sehr begrenzten Zeitraum zum Fotografieren hatte. Im Schnitt habe ich zwei Bilder pro Stunde gemacht, was mit einer Großbildkamera sicherlich kein schlechter Wert ist. Was hat denn am meisten Spaß gemacht?
Gibt es Motive, die Sie nicht durchführen konnten? Nicht durchgeführte Motive sind immer noch jede Menge dort. Es gibt verschiedene Angaben über die Größe der Anlage: es geht los mit dritt- oder viertgrößtes Gebäude der Welt, bis unter den ersten zehn in Europa (nach Fläche gerechnet). Von einem Mitarbeiter, der ca. 40 Jahre dort gearbeitet hat, gibt es die Einschätzung, dass er in dieser Zeit etwa 80% des Geländes gesehen hat. Das gibt einen guten Eindruck von den Dimensionen. Einige Bereiche, die vor der Schließung nicht möglich waren,
Haben Sie versucht, Bilder zu inszenieren?
Am meisten Spaß: zum Beispiel mal mit dem Auto eine ganze Startbahn für sich zu haben, oder mal im Cockpit einer Junker Ju 52 zu sitzen. Anekdote: An einem Tag kam einer der Geschäftsführer der Berliner Flughäfen mit zum Shooting. Zuvor mussten wir zur Security um für mich einen Passierschein zu holen. Er legt seinen Dienstausweis vor, da fragt ihn der Wachmann: Von welcher Firma? 3
Herr Göldner, danke für das Gespräch! mg
Z w i e g e s p r ä c h
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Diese Windfahne befand sich am Ende des Vorfelds, wo der Taxiway zur Startbahn begann. So konnte der Pilot noch kurz vor dem Start die aktuelle Windrichtung und ungefähre Windstärke beurteilen. Die Baumgruppen im Hintergrund markieren das Gelände, wo der im Krieg zerstörte Vorgängerflughafen aus den neunzehnhundertzwanziger Jahren stand.
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Eines der markantesten Merkmale des Flughafen Tempelhofs stellt das riesige Vordach dar, unter das die ankommenden Flugzeuge fuhren. So konnte man auch bei Regen trocken zum Ausgang gelangen. Hier wartet eine Douglas DC-3, ein ehemaliger »Rosinenbomber« aus den Tagen der Luftbrücke, auf die Teilnehmer eines Rundfluges.
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Der ganze Gebäudekomplex ist von über 5 Kilometern Versorgungstunneln unterzogen. Hier Prof. Göldner bei der Arbeit mit seiner 4 x 5 " Großbildkamera in einem Schacht unter Halle 7. Dieser Tunnel läuft unter dem gesamten Rundbogen des Flughafen lang. Foto © Philipp Jester
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In der großen Eingangshalle gab es einige fluggeschichtliche Exponate zu bewundern. Die Decke ist abgehangen und wäre gemäß ursprünglicher Planungen fast noch ein Drittel höher gewesen. Ursprünglich war auch dort, wo jetzt die Rückwand zu sehen ist, ein großes Panoramafenster zum Flugfeld geplant.
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TISCHLEIN DECK DICH Die Agentur 12ender, seit 2007 mit Büro in Mannheim, hat mit der Hilfe von 52 Designassen aus aller Welt ein preisgekröntes Pokerdeck illustriert. Auch einige Studenten sowie Ehemalige der Hochschule Mannheim haben an diesem Projekt mitgearbeitet. Grund genug, sowohl das Gestaltungsteam als auch das Design herauszufordern!
Martinis auf grünem Filz, um uns herum konzentrierte Ruhe, Barjazz. »Ab und zu braucht man Jobs, bei denen man sich kreativ voll austoben kann«, erklärt Agenturchef Marc Wnuck im trüben Licht eines Freitagabends. Sprich: Projekte mit Herzblut, die nicht weniger als den eigenen, hoch gewachsenen Ansprüchen genügen müssen. 12ender versteht sich als Designbüro und nicht als klassische Werbeagentur, auch wenn unterschiedlichste Aufträge zum Arbeitsalltag der Agentur gehören.
Ab und zu entsteht dann eine Idee wie diese, welcher die naheliegende Feststellung, dass Pokerdecks hässlich sind, zugrunde liegt. Schnell ist der Entschluss gefasst, das geilste Pokerdeck der Welt zu gestalten. Durch den Begriff des Designasses entsteht in der Agentur die Idee, 52 Spielkarten von 52 Designassen aus aller Welt gestalten zu lassen. Durch das Online-Buchportal Zeixs, das die 12ender GmbH zusammen mit dem Verlag Feierabend-Unique-Books aus Berlin betreibt und das bereits vielen Gestaltern eine Plattform bieten konnte, ist der Kontakt zu begabten Illustratoren bald hergestellt.
A l u m n i
»Die erste Resonanz war super. Einzige Vorgabe von uns war, dass der jeweilige Kartenwert in der richtigen Farbe dargestellt werden musste. Fast alle wollten natürlich das Herz-Ass haben.« Leider schränkt das hohe Maß an kreativer Freiheit die Spielbarkeit der Karten in vielen Fällen etwas ein. Wer um Millionen spielen will, wird also auf gewöhnliche Decks zurückgreifen müssen. Daher versucht man mit der auf 999 Stück limitierten Steelbox beim visuell anspruchvollen Spieler ein Begehren zu wecken. Aufgrund des Erfolgs des Decks und einer Auszeichnung mit dem begehrten Red Dot Design Award ist nun auch eine günstigere Light-Edition erhältlich. »Dieser Erfolg ist mehr wert als jegliches Honorar.« Und wer meint, bessere Karten zu haben, der zeixs! Wir mussten uns jedenfalls geschlagen geben. ml
http://www.12ender.de http://www.zeixs.com
6♦ 7♣ K♠ K♣
Christin Georgi (http://www.christingeorgi.de) Yann Ubbelohde (http://www.yannubbelohde.com) Fine Kohl (http://www.finekohl.de) Martin Burkhardt (http://www.martinburkhardt.de)
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w O die reise
Man kann es in Kristallkugeln finden oder in der Handfläche. Man kann Tarotkarten zu Rate ziehen, Hühnergedärm und Kaffeesatz lesen… oder es einfach bleiben lassen und sich endlich auf den Weg machen.
H in F ührt
F r ü h w e r k e
Wie nähert man sich einer Arbeit über das Schicksal? Warum nicht das Wörterbuchorakel um Rat fragen und blind auf ein Wort tippen? Heraus kommt, und das ist nicht lustig, aber eine brauchbare Antwort: INOPERABLE – inoperabel, nicht operierbar. Hoffentlich lacht jetzt jemand über mich. Schicksal oder Zufall? Die Größe dieser Frage lässt einem kaum eine Wahl. Entweder man glaubt oder steht dem Ganzen eher ablehnend gegenüber. Maciej Staszkiewicz hat es geschafft, sich diesem großen Thema auf eine natürliche und einleuchtende Art zu nähern. Der Name Maktub ist Paolo Coelhos Fabel Der Alchimist entlehnt.
Santiago, ein Hirte aus Andalusien, ist auf dem Weg nach Ägypten. Er hat wiederholt davon geträumt, dort einen Schatz zu finden. Auf dem Weg begegnet er einem Glashändler, der ihn das Wort »Maktub« lehrt – arabisch für »es steht geschrieben«. Wie im Alchimist geht es in Maktub um das Reisen und Lernen. Erst auf den zweiten Blick eröffnet sich die Frage nach dem Suchen und Finden des Schicksals und letztendlich nach dem Glauben an eine individuelle Bestimmung. Maciej begibt sich selbst auf eine Reise. Keine, die an einen Ort gebunden wäre. Sie hat kein Ziel, muss nirgendwo hinführen. Es steht geschrieben.
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Ausgangspunkt ist das Kernmodul Fotografie. Maciej packt seine Kamera und macht sich auf den Weg, Menschen in deren Umwelt zu porträtieren. Jede Person wird in einem eigenen Kapitel, das mit einer Großaufnahme dieser eingeleitet wird, porträtiert. Über das Vergangene berichtet er in Textform. Man erfährt von Reisen, die diese Menschen unternommen haben, welche Einflüsse in ihr Leben gedrungen sind und es bereichert haben. Manche sind ihnen aufdiktiert worden, andere wiederum wurden von ihnen selbst eingefordert. Sein Text erzählt uns von Wendungen und den Umständen, die jede der Personen hinter sich gebracht und an den Ort ih-
rer jetzigen Bestimmung geführt hat. So schafft er das Fundament für die Bilder. Die scheinbare Komplexität der schicksalhaften Verstrickungen und des gesamten Themas löst sich auf und mündet in einfachen, lebendigen Fotografien. Sie verschaffen einen intimen Einblick über den Ausgang ihres bisherigen Lebens. Wiederkehrende Motive sind dabei Familie und Freunde, das Zuhause, Einrichtungsgegenstände von persönlicher Bedeutung und der Arbeitsplatz. Wir nehmen dabei mit Maciej die Rolle des stillen Beobachters ein, zu keiner Zeit hat man das Gefühl, dass unsere Anwesenheit den natürlichen Lauf der Dinge stört. So entwickelt jedes Kapitel und da-
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mit jede Menschenwelt ihre eigene Flora. Sie scheint beim Betrachten der Fotografien für sich abgeschlossen, perfekt und zur einzig logischen Ausprägung gelangt zu sein. Jede dieser Welten mutet klein und beschaulich an, bis Maciej an ihr Ufer stößt. Irgendwo auf dem Weg, den er mit einer Person beschritten hat, bricht eine Bekanntschaft, eine Freundschaft, eine Liebe in die Welt ein und lässt ihn eine neue Spur verfolgen. Zwischen den Kapiteln dokumentiert er die Begegnung der beiden Personen, bevor er sich vollständig der nächsten Menschenwelt zuwendet. So reist er von Person zu Person und überlässt sich selbst und die Arbeit dabei dem Schicksal. Es entsteht eine enge Verbundenheit des Themas mit der Struktur der Arbeit. Grenzen fangen an zu verschwimmen. Individuelle Interessen und Vorlieben wer-
den nebensächlicher. Wie bei einer echten Reise weitet Maktub den Blick, bricht die Welten auf und zeigt uns, dass durch uns selbst alles miteinander verbunden ist: Einen Sinn ergibt, an den es sich zu glauben lohnt. Denn wer sich nicht auf den Weg macht, wird nie erfahren, was das Schicksal für einen bereithalten könnte. Als sich Santiago in Ägypten am Ziel wähnt und nach dem Schatz zu graben beginnt, wird er von einer Bande gestellt, die an dieser Stelle Diebesgut versteckt hält. Santiago erzählt von seinem Traum, woraufhin ihm einer der Diebe entgegnet, selbst von einem vergrabenen Schatz in Santiagos Heimat Andalusien geträumt zu haben. Da es sich aber nur um einen Traum handle, wäre es töricht, diesem nachzugehen. Wozu auch? Hat er sich doch 65
als Dieb schon lange dafür entschieden, sich auf nichts als sich selbst zu verlassen. Sein Unglaube gleicht also einem Fluch, der ihn glücklos bleiben lässt. Santiagos Traum hingegen geht nach langer Reise dort in Erfüllung, wo er sie vor vielen Jahren begonnen hat. Er findet schließlich den vom Dieb beschriebenen Schatz in seiner Heimat. ml
maciej Staszkiewicz Maktub – Es steht geschrieben bei Prof. Veruschka Götz & Prof. Frank M. Göldner www.knasterbart.com
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