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EDITORIAL Die Gesellschaft in der wir leben bestimmt unser Denken und Handeln, unsere Ästhetik und Kommunikation. Design steht immer in fester Beziehung zur jeweiligen Kultur. Jeder Gestalter nimmt die Einflüsse einer Gesellschaft in seine Arbeiten auf, setzt sich mit ihnen auseinander und übt Kritik. So werden neue Ansätze, neue Denkweisen und neues Handeln gefördert. Gestaltung und Kommunikation sind eines der mächtigsten Werkzeuge um Veränderungen zu erreichen und die Massen zu bewegen. Im Design spiegelt sich daher der aktuelle Zeitgeist offensichtlicher wieder als in irgend einem anderen kulturellen Bereich. Dieses Phänomen greifen wir in komma acht auf und möchten durch die Arbeiten unserer Gestalter einen Blick in den Spiegel ermöglichen. Heike Wagner klärt uns zum Beispiel über unsere gnadenlose Abhängigkeit vom Material Plastik auf, mit all seinen ungeschönten Wahrheiten. Ali Badakhshan Rad und Philipp Kohl zeigen in ihrem Film Transnationalmannschaft das Zusammenspiel der multikulturellen Gesellschaft in Mannheims Zentrum. Alexandra Strömich portraitiert Menschen, die ihr Glück in der Unabhängigkeit versuchen, während Florian Poschlod die digitale Datenwelt mittels Data Bending zerstört und Neues schafft. Neues fanden wir auch auf einer Late-Night-Tour zum Thema Design in der Erotikszene mit Prof. Veruschka Götz in Mannheims Sexshops und auf einer Reise durch zentralasiatische Kulturen in einem Länderkompendium von Helena Maier. Die komma Redaktion wünscht viel Vergnügen. Peter von Freyhold

EIN MAGAZIN DER HOCHSCHULE MANNHEIM FAKULTÄT FÜR GESTALTUNG AUSGABE 8, APRIL 2011


I N H A LT

R A P I D

E Y E

M O V E M E N T E Y E S

W I D E

S H U T

Carolin Wanitzek erschafft fantastische Traumwelten aus Papier und zeigt uns die Grenze zwischen Traum und Realität.

In ihrer Bachelorarbeit »Myopia« erzählt Annika Goepfrich von Begegnungen und Orten hinter dem Schleier der Unschärfe.

Z W I S C H E N U N D

O R I E N T

O K Z I D E N T

M A N N H E I M E R S O M M E R M Ä R C H E N Helena Maier leistet in umfangreicher Form Aufklärungsarbeit über eine Region, die den wenigsten von uns bekannt ist – Zentralasien.

K U N S T S T O F F Philipp Kohl und Ali Badakhshan Rad zeigen in ihrem Film »Transnationalmannschaft« den Ausnahmezustand in zwei Mannheimer Stadtvierteln während der Fussball-WM 2010.

3 TA U S E N D P R O

N I C H T

V O N

I S T

PA P P E

S T I C H E

M I N U T E Ein Blick hinter die Kulissen des künstlichen Wunderstoffes, zusammengetragen von Heike Wagner.

Sebastiano Calleri gestaltete ein Flashbook, das mehr ist, als nur eine Sammlung von Tattoo Motiven.


A G A I N S T

A L L

O D D S

AT M O S P H Ä R E

Florian Poschlod bewegt sich mit seinem Buch »Bild/Klang – Raw Data Experimente« außerhalb des üblichen Datenrasters.

U M G E B E N Z E I T

VO N F Ü R

D E R

Ob Personen, Gerüche, Fotos oder andere Erscheinungen: Von allem gehen Atmosphären aus, die uns oft unbewusst beeinflussen.

S I C H 06 AKTUELLES

Projekte und Auszeichnungen

52 ALT WIRD ZEITGEMÄSS

Historische Schriften modern gestaltet

54 TOY STORIES

Durch die Nacht mit Prof. Veruschka Götz

Wir befinden uns in Heidelberg und in den Bergen um Tessin: Vier außergewöhnliche Menschen außerhalb unserer Stadtgrenzen laden uns zu einem kleinen Ausflug in ihre Welt ein.

57 TOTGESAGTE LEBEN LÄNGER Ein Statusbericht über HD Campus TV

58 VILÉM FLUSSER SYMPOSIUM

Zum Auftakt des neuen Forschungsschwerpunktes

61 TEMPORÄRE SKULPTUREN

VO N

F R Ö S C H E N

U N D

P R I N Z E N

Das Flash-Lab bezwingt Zeit und Raum

64 CURRICULUM

Absolventen berichten nach dem Studium

66 ICH BIN EIN ANDERER

Die Gewinnerin unseres Textcontests

68 GEGEN DIE ENTROPIE Kurt Weidemann im Interview

72 INDEX

Die Gestalter

Eva Gompper untersucht altbekannte Märchen auf ihren Wahrheitsgehalt. Mit erstaunlichen Ergebnissen…

74 IMPRESSUM


EIN BEMBEL FÜR DEN

KRABBENFISCHER ◊ Seit der Gründung von Bembel-With-Care, Ende 2007, haben die beiden Mannheimer DiplomDesigner Kjetil Dahlhaus und Benedikt Kuhn ein Ziel: Die Verbreitung des Apfelweins über die Grenzen des Odenwaldes hinaus. »Wenn der Krabbenfischer an der Nordsee sein Flensburger stehen lässt und stattdessen zum Bembel greift, dann sind wir fast angekommen...«, erfährt der ambitionierte Äbbelwoi-Liebhaber beim Blick auf die Internetseite. Nach über drei Jahren Apfelweinkultur 2.0 aus dem hessischen Heppenheim ist der Weg an die Nordsee nun nicht mehr weit. Bembel-With-Care wird bereits in deutschen Metropolen wie Berlin und München aus angenehm frisch gestalteten Steinkrügen und 0,5-Liter Dosen getrunken. Die einzigartige Idee der Vermarktung des regionalen Traditionsproduktes hat sich auch beim Wettbewerb der Bundesregierung zum »Kultur- und Kreativpiloten Deutschlands 2010« gegen 753 Konkurrenten behauptet, was den Erfolg in der Republik noch vergrößern sollte. Als einer von 32 Siegern beim Wettbewerb wird das Unternehmen mit dem ehrgeizigen Vorhaben »Bembel weltweit« sicherlich weiterhin er­folgreich sein und auf viele durstige Menschen Bembel weltweit im Netz unter: www.bembel-with-care.de treffen, sogar an der Nordsee.  pvf

SCHÖNE NEUE

D I G I TA L E W E LT ◊ Durch die rasante mediale Entwicklung wird es immer schwieriger auf dem Laufenden zu bleiben, und sich in diesem hoch­­komplexen Gewirr aus Mensch und Maschine korrekt zu verhalten. Wo früher noch eine gewisse Anonymität und Respekt herrschte, gibt es heute eine wahre Datenflut über jeden Einzel­nen. Die Verlagerung des analogen in den digitalen Bereich wird schneller und wichtiger für die Gesellschaft. Identitäten werden dabei transparenter und anfälliger für Übergriffe. Eine Ge­­­sell­­­­­­­­­­­­­schaft ist nicht mehr nur eine Gesellschaft, sondern eine Com­­­munity. Eine Community mit

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der Macht über den Fall und Aufstieg von Unternehmen, Politikern, Produkten und Einzelpersonen zu bestimmen. Die digitale Welt ist ein schnell wachsendes Gebilde, welches von Tag zu Tag neue Fragen aufwirft und kuriose, spannende oder inspirierende Dinge enthüllt. Das ist nur ein Teil des großen Ganzen. Darum haben sich Sammy Bohneberg, Inhaber der 2BC Kreativen Unternehmensberatung in Berlin und Predrag Vargovic, Student im 6. Semester der Fakultät für Gestaltung zusammengeschlossen und aus ihrer gemeinsamen Leidenschaft, den digitalen Medien, die Aufgabe

gemacht, das Blog 2bDigital.de zu gründen, welches als Plattform für digital Interessierte dienen soll. News, Kampagnen, gesellschaftliche Auswirkungen, Studien und Trends sollen einen Teil der Beiträge bilden. Das Ziel ist es, den Nutzer im Umgang mit den Neuen Medien zu sensibilisieren und zu informieren. Das Blog soll als Informations- und Inspirationsquelle für Jedermann dienen.  2bDigital


VON

WÜRFELN UND WÜRMERN ◊ Und wieder einmal meldet sich das Madlab, gegründet von Prof. Hartmut Wöhlbier, Leiter des Instituts für Interaktive Medien. Gleich mit zwei interaktiven Installationen konnte es für Auf­merk­samkeit sorgen. Die erste preisgekrönte In­­­­­­stallation namens Cube von Natalie Frank und Mahren Maurer macht sich das Phänomen der Trägheit des menschlichen Auges zunutze. Sie konstruierten einen Kubus, bestehend aus drei alten Laufrädern, die jeweils mit fünf RGBLEDs versehen sind. Mit Hilfe einer Achse wer­ den die Räder über eine Kurbel in Rotation ge­ bracht. Über einen Magnetkontakt an jedem Rad und eine ausgefeilte Programmierung ent­ steht dadurch jeweils ein rotes, ein blaues und ein grünes Quadrat. Zusammen erzeugen sie die Illusion eines Lichtwürfels, der im Raum zu schweben scheint. Die zweite Installation namens Brainworms von Christian Wiegert, Leonie Münch und Oliver Hannemann konnte auf

dem Mannheimer Nachtwandel 2010 für Stimmung sorgen. Mit Hilfe eines Helms mit eingebautem Be­schleunigungs­­sensor werden Würmer auf einer projizierten Spielfläche ge­steuert. Ziel des Spieles ist es, so lange wie mö­glich mit seinem eigenen Wurm zu überleben, ohne einen der anderen Würmer oder die Außen­ mem­bran zu be­­rühr­en.  dr

Foto: Thomas Tröster

LANGE

NACHT DER MUSEEN 2011 ◊ Aktiv das Stadtbild der Metropolregion RheinNeckar gestalten und als Fakultät sichtbar werden. So lautete das erklärte Ziel des Kurses Werb­liches Design, betreut durch Prof. Axel Kolaschnik. In Zusammenarbeit mit Delta Medien entwarfen die 17 Teilnehmer das Key Visual für die diesjährige meier Lange Nacht der Museen, das nun auf 120.000 Booklets, 6.000 Plakaten sowie Anzeigen in regionalen Medien zu sehen ist. Die Lange Nacht der Museen ist das größte kulturelle Ereignis des Rhein-Neckar-Deltas. Mehr als 100 Institutionen öffnen eine Nacht lang den über 25.000 Besuchern in den Städten Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen ihre Tore. Die Mannheimer Designer gestalteten eine große Bandbreite von Möglichkeiten für das neue Erscheinungsbild des Kulturevents – von laut und plakativ bis künstlerisch zurückhaltend. Sowohl Chefredaktion als auch Marketing der Stadt­illustrierten zeigten sich schwer beein-

druckt von der Vielfalt und der Qualität der Entwürfe. Das Rennen machte schließlich der Entwurf von Ashima Whitton – eine Art Collage aus angerissenen Bildfragmenten bekannter Werke, die im Streetart-Stil wieder zu einem Ge­sicht zu­ sammen­­gesetzt wurden. Gemeinsam im Team wurde ihre Idee weiterentwickelt und das Er­ gebnis lässt sich nun überall in der Metropolregion bewundern. Auch die anderen Werke werden bei der meier Lange Nacht der Museen in einer eigenen Ausstellungsstätte zu sehen sein. Zusätzlich wird über die Entwicklung des Projektes redaktionell im meier und auf meier-online berichtet. Ausstellung der Plakate im Rahmen der meier Lange Nacht der Museen, 09. April 2011, Playa del Mar Mannheim.  rs

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ILLUSTRATION

TRIFFT INDUSTRIE ◊ Zwischen meterhohen Turbinen und Schwerlastzügen, beschallt von Maschinenlärm waren zehn mutige Studenten des Illustrationskurses von Prof. Duttenhöfer im vergangenen Jahr unterwegs auf der Suche nach spannenden Motiven der industriellen Fertigung. Alstom Mannheim hatte die Türen seiner Produktionshallen geöffnet, um unter dem Motto »Industrie trifft Kunst« eine Dauerausstellung in Zusammen-

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arbeit mit der Hochschule zu organisieren. Bewaffnet mit Skizzenbuch, Bleistift und Schutzhelm erkundeten die Studenten das neue Ter­rain und wurden schnell fündig: Die skurrilen Formen der Rohteile aus Stahl, Maschinen in ihren stetigen Bewegungsabläufen, sowie Mensch und Technik als harmonische Einheit boten Raum für neue Interpretationen des Themas. Die zunächst vor Ort gefertigten Skizzen wur-

den später an der Hochschule durch Abstraktion in Rhythmus, Farbe und dem Einsatz verschiedener Techniken in freie Formen­­­sprache übersetzt. Pastellkreide und Kaltnadel kamen dabei zum Einsatz. Die Ergebnisse, 24 der besten Bilder, bereichern nun die Besucher und Mitarbeiter des Kommunikationszentrums.  as


RUHM

UND EHRE ◊ Ilko Hoffmann Bachelorarbeit »Pablo Neruda: 20 Poemas de Amor y una Canción Desesperada« red dot design award, best of the best 2010 Katharina Sommer & Eva Bührer Bachelorarbeit »Das Verschwinden der Nacht« Vida Paper Junior Award

Julian Zimmermann Bachelorarbeit »König Bansah« Junior Corporate Design Preis 2010 MfG Award 2010, Förderpreis beim Nach­wuchswettbewerb DDC Award 2011, Bronze in der Kategorie Zukunft

Carolin Wanitzek Semesterprojekt »Die Grenze« Veröffentlichung im Buch »Papercraft 2«, 2011 Gestalten Verlag Alexey Fedorenko Masterarbeit »Alice im Wunderland« red dot design award 2010

Steffen Brückner, Alexander Münch, Markus Kesper, Kolja van Boekel Filmprojekt »pure hate« Auszeichnung beim Kurzfilmfestival Zum Goldenen Hirsch

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Mehrwert, Transparenz, Information, Erlebnis, Identifikation, Dynamik, Interaktion, Spass, Innovation, Begeisterung, Faszination

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E Y E S W I D E S H U T

»HINTER DER ECKE HAT DIE SONNE EINEN HINTERHALT GELEGT. BRICHT HERVOR UND DIREKT INS GEMÜT. AUGEN SAUGEN DAS LICHT AUF UND PARIEREN FARBEN UND TRÄNEN« Annika Goepfrich lebt in einem Paralleluniversum. Dort schweben Geisterlinien über Berglandschaften und Impressionisten malen die Welt. Gesichter werden zu Ahnungen und rote Kamele lauern am Fenster. Annika ist kurzsichtig. Jenseits von Brillengläsern und Kontaktlinsen beginnt sie das Terrain der Unschärfe zu erforschen. In ihrer Bachelorthesis Myopia (gr. Myopie, Kurzsichtigkeit) begibt sie sich bewusst in ihre eingeschränkte visuelle Wirklichkeit und entdeckt dabei eine andere Qualität von »Sehen«. Der Blick der Gestalterin richtet sich auf die Anatomie der optischen Wahrnehmung, philosophische Betrachtungen und auf Visualisierungsversuche im Selbstexperiment. Die Ergebnisse ihrer Analyse fasst sie in einem Buch und einem Stereoskopieset zusammen, die durch klare, gut strukturierte Gestaltung und originelle Illustrationen, nicht zuletzt durch einen intensiv reflektierten, persönlichen Bezug bestechen. »Sehen ist ein zutiefst individueller und persönlicher Prozess. Unser Gesichtskreis, bedingt durch physiologische und psychologische Voraussetzungen, ist viel mehr der Ausdruck unseres Geistes als objektives Abbild der dinglichen Welt« heißt es im Vorwort zu Myopia. Schnell wird deutlich, dass es sich nicht nur um ein medizinisches Handbuch handelt, das dem Leser den Unterschied zwischen Stäbchen und Zapfen erklären soll. Die Forschungsreise einer Gestalterin in ein Gebiet, das einen primären Zugang zur Interpretation von »Realität« darstellt – und sich nebenbei bemerkt einem der wichtigsten Werkzeuge von Kommunikationsdesignern widmet – steht im Fokus der Betrachtung. Die Reise beginnt im Auge: Das einleitende Kapitel »Über Sicht« nähert sich wissenschaftlich recherchiert dem umfangreichen Stoff und erläutert Funktionen von Sehnerven und Gehirn, gibt aber auch Einblicke in den aktuellen Forschungsstand zur Sehschwäche. Die klare Linie der meist schwarz-weißen Illustrationen, die durch diverse Op-Art Effekte geschickt das Thema aufgreifen, hat dabei wenig mit den langweiligen Bildern aus den Schulbüchern im Biounterricht zu tun. So werden Infografiken, die sich mit den geschlechterspezifischen Statistiken  

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zu Kurzsichtigkeit oder der Leistungsfähigkeit von Schülern unter Myopie beschäftigen, zu auf dem Papier flimmernden Mustern, dynamischen Spiralen und verblüffenden Augentäuschungen. Dadurch kann der Betrachter bereits »am eigenen Auge« erleben, wie komplex und zuweilen auch trügerisch unser Gehirn Informationen verarbeitet. In ihren »Gedanken, die eigentlich nur stören und aufhalten und schrecklich uneffizient sind und nicht nur Myopia, sondern auch die ganz stinknormale Welt aus den Angeln heben können und gehoben haben« nimmt sich Annika Raum für eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit ihrem Paralleluniversum. Was ist Wirklichkeit? Wohin führt die Konfrontation mit der eigenen dezimierten Wahrnehmung? Lösungsansätze findet sie bei Aristoteles, Kant, Decartes und vor allem bei Prof. Dr. Gerhard Schweppenhäuser. Dieser beschäftigte sich in seiner Forschungsarbeit mit zwei elementaren Strömungen der Philosophie: dem philosophischen Realismus und dem radikalen Konstruktivismus. Ersterer bezieht Wahrnehmung und Vorstellung mit ein, während der Konstruktivismus »Realität« als schlichtes Konstrukt unserer Gehirnaktivitäten bewertet. Annika möchte keinem objektiven Realitätsanspruch gerecht werden. Sie widmet sich dem, was sie sieht (oder nicht sieht). Ihr eigenes Universum versucht sie für andere durch kleine Zeichnungen sichtbar zu machen. Wie sich Fläche und Linie, Farbe und der Sichtkreis bei Kurzsichtigkeit verhalten zeigen ätherisch wirkende Buntstiftillustrationen von Gesichtern, Landschaften und Farbflächen. Spätestens beim Betrachten der 77 Stereoskopiekarten wird der Zauber der verschwommenen Welt spürbar. Atmosphärische, vage Fotografien geben Bekanntes, durch Myopia doch so fremd Wirkendes aus Annikas Alltag wieder. »Licht, Gerüche, Farben, Geräusche, alles erscheint viel dichter« schreibt sie über ihre Reisen. Myopia sensibilisiert für zuvor verborgene Botschaften der Orte und Begegnungen. Die begrenzten optischen Informationen weichen Eindrücken von Atmosphäre und Vor-

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stellungskraft. So dokumentiert sie, direkt durch ihre Brille fotografierend, ihre Wurzeln an altbekannten Orten aus der Kindheit, Men­schen beim Public Viewing während der Fußball WM und die Dunkelheit in Nachtaufnahmen. Kurze, intuitive Texte beschreiben dabei die Wirklichkeit eines Augenblickes, einer flüchtigen Emotion, nicht aber das fotografierte Motiv als realen Gegenstand. Übrig bleibt die Erkenntnis, dass Menschen in ihren eigenen Wirklichkeiten leben. »Indem wir nichts ernst nehmen und unsere Empfindungen als die einzig gewisse Wirklichkeit betrachten, finden wir in ihr Zuflucht und erforschen sie wie große unbekannte Länder« lautet das Zitat von Fernando Pessoa auf der letzen Seite von Myopia. Kommunikation und Verständnis zwischen den vielen kleinen Universen ist gerade für Designer von Interesse. Unterschiedlichste Sichtweisen müssen parallel erfasst und angesprochen werden, was das Schulen des visuellen Ausdrucksvermögens fordert. Dass es möglich ist, trotz vermeintlicher Schwäche des Sehvermögens, den Blick für gutes Design und fesselnde Inhalte zu schärfen, hat Annika durch ihre Abschlussarbeit bewiesen. Es lohnt sich also, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen.  as

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ANNIKA GOEPFRICH »MYOPIA« BACHELOR BEI PROF. DR. JÜRGEN BERGER

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R A P I D E Y E M O V E M E N T

»EINES TAGES WIRD MAN OFFIZIELL ZUGEBEN MÜSSEN, DASS DAS, WAS WIR WIRKLICHKEIT GETAUFT HABEN, EINE NOCH GRÖSSERE ILLUSION IST ALS DIE WELT DES TRAUMES.« Salvador Dali Die Grenze lautete das Thema des Kernmoduls Fotografie im Wintersemester 10/11. Bei der Ideenfindung gelangte Carolin Wanitzek letztendlich zur Traumwelt. Genauer gesagt zu jenem kurzen Moment, in dem man die Traumphase verlässt und die Augen aufschlägt. Jeder kennt wohl diesen Zustand zwischen Träumen und Erwachen, der nur für ein paar Sekunden anhält. Eine Phase, in der man sich noch nicht wirklich zurechtfindet. Abrupt, durch das Klingeln des Weckers aus der Traumwelt gerissen, befindet man sich an einem Ort, an dem sämtliche Sinneseindrücke der wachen Welt auf einen einprasseln. Dennoch hat man Fragmente von Bildern oder Gefühlen aus der Traumwelt mit in den schmalen Streifen Niemandsland zwischen den beiden Wel­ ten gebracht. Jedoch ohne sich wirklich daran erinnern zu können, was gerade passiert ist oder wo man eigentlich war.

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Genau diesen Zustand, den schmalen Grad zwischen Traum und Realität, wollte Carolin in ihren Bildern darstellen. Bei der Suche nach einem geeigneten Medium zur Darstellung der Traumwelt, die man während des Tiefschlafs so selbstverständlich als »wirklich« betrachtet, und die man schon Momente nach dem Aufwachen als Bühnenbild des Unterbewusstseins begreift, gelangte Carolin irgendwann zu Papier. Ziemlich passend, denn das Material ist so dünn wie die Grenze zwischen den beiden Seinszuständen. Nach ca. 200 Stunden Schneiden, Falten und Kleben hatte Carolin in ihr­ em kleinen Heimatelier aus etwa 30 großen Bögen Pappe und Papier fünf Traumwelten erschaffen und in einem improvisierten Studio abgelichtet. Der anfängliche Gedanke alles in Originalgröße zu bauen wurde zugunsten der Modelle dann doch schnell wieder verworfen.  

II


Das Medium Papier als Arbeitsmaterial war für Carolins gestalterische Arbeiten kein Neuland. Auf ihrer Website www.zayoba.de kann man weitere Papercraft-Arbeiten von ihr bewundern. Dennoch stellte das Erschaffen die­ser Papierwelten eine gewisse Herausforderung dar, die sich vor allem in den vielen Details und dem Umfang der gebastelten Landschaften begründet. Die stundenlange Kleinstarbeit brachte ihr nun sogar eine Veröffentlichung in dem Buch Papercraft 2 und einen Auftrag für das Innenleben einer digitalen Schneekugel ein, die man unter www.wob-digital.de/snowball virtuell schütteln kann.  am

Doch das war nur der erste Teil der Arbeit. Im Fotostudio der Hochschule durften nun die Mo­dels in einem Bett erwachen, während Carolin auf den Auslöser drückte. Mit Hilfe digitaler Montage schuf sie aus den Papierwelten und den Fotos Momente des Übergangs vom Schlaf- zum Wachzustand. So sieht man auf ein­em der Bilder eine Person noch für ein­­­­­­en kurzen Augenblick ganz verdutzt die wunderbare Traum­­welt um sich herum bestaunen. Auf einem anderen Bild erwacht eine Kommilitonin angstschweißgebadet und froh, den Monstern aus ihrem Albtraum gerade noch einmal entkommen zu sein. Auch der Traum vom Fliegen löst sich auf einem weiteren Bild einen Wimpernschlag später auf.

CAROLIN WANITZEK »DIE GRENZE« SEMESTERARBEIT BEI PROF. FRANK GÖLDNER

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II



Fünf Länder im Herzen des asiatischen Kontinents, gefangen zwischen Tradition und Moderne. Ein jeder von uns erinnert sich noch gut an den Erdkundeunterricht der Schulzeit. Auf großen, oft vergilbten Landkarten und in abgegriffenen Weltatlanten studierte man die Länder dieser Erde. Behandelt wurde der Aufbau des Schwarzwaldhauses, die Felsenerosion des Grand Canyons oder etwa der rapide Zuwachs der Bevölkerungsdichte chinesischer Metropolen. Man sollte eigentlich meinen, man hätte über die bedeutsamen Länder ein solides Grundwissen erlangt. Fehlanzeige – einige wirklich spannende Regionen sind dabei erheblich zu kurz gekommen, wenn nicht sogar vollkommen unerwähnt geblieben. Dieser Misere nahm sich Helena Maier an, nachdem sie die Erfahrung gemacht hat, dass hierzulande nur wenig über die Heimat ihrer Vorfahren, Kirgistan, bekannt ist. Viele hatten schlichtweg noch nie davon gehört. Das veranlasste die Bachelorstudentin, mit ihrem Werk einerseits Aufklärungsarbeit zu leisten und andererseits in die Welt ihrer Ahnen einzutauchen. Entstanden ist ein Kompendium aus sechs Büchern, die sich jeweils der Region Zentralasien und deren Ländern Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan widmen.  

III


Wer jetzt an einen einfachen Reiseführer denkt, wird eines Besseren belehrt. Jedes Buch versucht dem jeweiligen Staat in seiner kulturellen und politischen Eigenheit gerecht zu werden. Dies geschieht, indem verschiedenste Seiten des Landes in den Kategorien »Land, Sehenswertes, Menschen, Kultur, geschichtliche Hintergründe und dunkle Seiten« beleuchtet werden. Unterstützt von aussagekräftigen Fotografien, Statistiken, Grafiken, Zitaten und informativen Texten zeigt sie auf zusammengerechnet fast 780 Seiten unverwechselbare Gesichter der Region Zentralasiens, in der viele Machthaber um die Vorherrschaft gekämpft und unterschiedlichste Spuren hinterlassen haben. Erst im Jahr 1991 erlangten diese Staaten ihre Unabhängigkeit vom Würgegriff der Sowjetunion. In den noch heute sehr gering besie-

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delten Ländern gaben sich persische, mongolische, chinesische und zuletzt russische Herrscher die Klinke der Macht in die Hand. Den­ noch hat die Bevölkerung ihre Traditionen bewahrt und lebt mitt­ lerweile in verhältnismäßig freien und souveränen Staaten. Faszinierende Landschaften mit unzähligen Seen und grünen Wie­ sen, hohen Gebirgen, Steppen und Wüsten, wie zu Zeiten des großen Perser- und Mongolenreichs, kennzeichnen das landschaftlich sehr abwechslungsreiche Gebiet. Viele Menschen auf dem Land leben in Jurten, den traditionellen Zelten der Nomaden. Hohe Achtung genießen die sogenannten »Aksakal«, die alten Männer mit weißem Bart. In manch großer Stadt stehen prächtige Sa­ kral­­bauten neben futuristischen Gebäuden. Seit Jahrhunderten wird auf malerischen Bazaren in gleicher Weise Handel betrieben. Und das Pferd ist das Statussymbol des Besitzers, wie hierzulande


das Auto. Doch auch diese schöne archaische Welt mit den bunten Seidenkleidern, der traditionell großherzigen Gastfreundschaft und der feuchtfröhlichen Feste hat Schattenseiten – Korruption, militanter Islamismus oder Hungersnöte. All dies ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was Helena Land für Land in umfangreicher Weise zusammengetragen und schließlich in Form und Gestaltung eindrucksvoll verpackt hat. Jedes Land ist mit einer speziellen Farbe versehen, die in Mustern, Grafiken und Textauszeichnungen wiederkehrt. Verschiedenartige Schnüre um den Schuber und an den Lesezeichen verleihen ihrer

Arbeit eine besondere Haptik. Minimalistisch auf Frontcover und Kapiteln sowie als Muster auf dem Inneneinband ist das landestypische Symbol, das der Nationalflagge entlehnt ist, zu erkennen. So erreicht Helena eine spannungsreiche, zugleich traditionelle und moderne Anmutung. Die puristische Art der Gestaltung mit viel Weißraum und bedachter Anordnung des Bildmaterials schafft eine Leichtigkeit, die den Inhalt stützt und dem Leser zugute kommt. Ein rundum gelungenes Werk, das Lust macht, selbst die einzigartigen Gefilde zu erkunden.  jh

HELENA MAIER »ZENTRALASIEN – EIN BUCHBAND« BACHELOR BEI PROF. VERUSCHKA GÖTZ

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M annheimer sommer m ä r c hen

Was passiert, wenn ein Ethnologe und ein Designer gemeinsame Sache machen? Etwas ganz Wundervolles wie der Film »Transnationalmannschaft« kann dabei entstehen. Sommer 2010, Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika, es herrscht Ausnahmezustand in den Mannheimer Stadtvierteln Jungbusch und Filsbach. Die deutsche Mannschaft schlägt sich erfolgreich, die Stimmung in den Kneipen, Biergärten und Cafés ist ausgelassen. Ein einziges Fahnenmeer wohin das Auge auch schweift. Musik liegt in der Luft. Für einige Wochen steht die Welt still und König Fußball regiert den Kiez. Mittendrin die zwei Filmemacher Philipp Kohl, Ethnologiestudent, und Ali Badakhshan Rad, Designstudent, die das bunte Treiben mit ihrem Filmteam dokumentieren. Herausgekommen ist ein mitreißender Fußballfilm, der genau 90 Minuten lang ist. Anhand der Spiele der deutschen Nationalmannschaft wird der Turnierverlauf dargestellt und die Geschichte von sieben Protagonisten erzählt.

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Aber es geht um mehr als nur um Fußball. Es geht um Identität, um Heimat und um die Frage, wie Mannheimer Bürger mit Migrationshintergrund die WM erleben und wie sie in dieser Stadt leben. Denn im Jungbusch und Filsbach liegt der »Ausländeranteil« bei über 60 Prozent. Anders als in vielen deutschen Städten befinden sich diese Viertel im Herzen der City und nicht marginalisiert in einem Vorort oder am Stadt­­­­­­­­­­­­­­ rand. Auch greift der Begriff »Migranten- oder Ausländerviertel« zu kurz, denn auf den Bezirk trifft so viel mehr zu. Früher als sozialer Brennpunkt verschrien, tummeln sich im Jungbusch und drum herum mittlerweile Studenten, Kreative und Nachtschwärmer. Immer mehr Agenturen, Galerien aber auch Kneipen, Clubs und Cafés zieht es in das Areal. Nirgendwo in Mannheim tut sich mehr als hier.

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Zurück zum Film und wie alles begann. Für sei­ ­­­ne Magisterarbeit untersuchte Philipp das Leben in den beiden Stadtquartieren, wo er und Ali selbst auch wohnen. Als er im November 2009 mit dem Kicker in der Hand in der Straßenbahn sitzt, kommt ihm die Idee anlässlich der anstehenden Fußball-WM einen Film über eben die­­se Stadtviertel zu machen und das Thema »Fuß­­­­­­­ball« als dankbaren Türöffner zu benu­tzen um Fak­­­ten wie Integration und Identität anzusprechen.  


Elf der 23 Spieler im WM-Kader 2010 der deutschen Fußballnationalmannschaft haben einen Migrationshintergrund. Längst feiern Politiker al­ler Parteien die Fußballer der Deutschen Nationalelf als Vorbilder für gelungene Integration und seh­en in der Mannschaft ein Spiegelbild der deutschen Multi-Kulti-Gesellschaft. Der bekannteste Spieler ist wohl Mesut Özil, Sohn türkischer Einwanderer. Da die türkische Na­ tio­­­­­­nal­­­mannschaft die Qualifikation zur WM nicht gepackt hat, müssen sich alle türkischstämmigen Bürger in Deutschland mit dem hiesigen Kader auseinandersetzen. So auch in Mannheim, wo die türkische Community den Großteil der Migranten stellt. Und die Meinungen gehen durchaus auseinander. Für die einen ist Özil ein Verräter, für andere ein wahrer Held und ein tolles Vorbild.

Philipp erkennt, dass das Thema brandaktuell und gesellschaftlich relevant ist. Als Neuling im Filmbusiness schließt er sich mit Ali zusammen, der bereits am Nationaltheater Mannheim und bei diversen Filmproduktionen professionelle Erfahrungen gesammelt hat. Schnell sind sich beide einig, dass Bild und Ton gewissen Qualitätsansprüchen genügen und Profis Kamera, Ton und Schnitt übernehmen sollen. Eine erste Kalkulation bringt die Einsicht, dass dies aus eigenen Mitteln nicht zu stemmen ist. So machen sich die Jungs, mit einem dicken Exposé unterm Arm, auf den Weg zur Film Commission Baden-Württemberg, um Fördergelder einzutreiben. Das Konzept gefällt und die Commission willigt ein, doch müssen noch viele weitere Klinken geputzt werden bis der nötige Betrag vorhanden ist. In einem dreimonatigen Fundraising-Marathon können die beiden Filmemacher mit viel Enthusiasmus und Charme schließlich einige namhafte Geldgeber wie den DFB als Hauptsponsor von ihrem Projekt überzeugen. Das Geld ist da, eine professionelle Crew steht parat und die WM rückt immer näher. Nun geht es an die Detailplanung. Spannende Protagonisten müssen gefunden und überzeugt werden, Locations für die Public Viewing Szenen gewählt und Drehgenehmigungen beantragt werden. Die Arbeitsfelder werden aufgeteilt. Philipp übernimmt Regie, Drehbuch und führt die Interviews während sich Ali vor allem um technischorganisatorische Abläufe, Crew und Disposition kümmert.

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Mitte Juni bricht ein spannender Monat für das Filmteam an. Denn trotz genauer Planung des Drehs spielen Zufall, Spontaneität und Glück eine sehr große Rolle bei Transnationalmannschaft. »Wie weit kommt die deutsche Mannschaft?«, »Wie ist die Stimmung in der gewählten Location?«, »Wie agieren die Darsteller vor der Kamera?« Doch genau von dieser Dynamik lebt der Film. Die Crew lässt sich auf die vielen Ungewissheiten ein und zeichnet dadurch ein lebendiges und höchst unterhaltsames Bild der Stadtquartiere. Unterstützt wird dieser Eindruck durch den Soundtrack, den Philipp großteils selbst geschrieben hat und der in kleinen Arrangements in nur einer Woche aufgenommen wurde. Herausgekommen ist ein exzellenter Stilmix aus orientalischen Klängen und atmosphärischen Kompositionen. Gefeiert wurde der Film sowohl auf der Premiere bei der Filmschau Baden-Württemberg, als auch im Mannheimer Atlantis-Kino. Oberbürgermeister Peter Kurz und das Stadtmarketing zeigen sich ebenfalls begeistert. Das größte Lob für das Team ist jedoch die Anerkennung ihrer Protagonisten, die sich allesamt adäquat repräsentiert fühlen. Transnationalmannschaft ist ein Film für »Underdogs«. Philipp und Ali lassen Menschen

zu Wort kommen, die oft kein Gehör finden. Dabei lassen sie den Beteiligten selbst die Deutungshoheit. Es gibt keine Stimme aus dem Off oder einen didaktischen Zeigefinger. Der Blick auf das Thema Integration ist hoffnungsvoll und positiv – eine schöne Abwechslung zu der typisch schwarzmalerischen Berichterstattung à la Sarrazin. Entstanden ist ein bezaubernder »Heimatfilm«, eine Liebeserklärung an Mannheim und seine Bewohner und natürlich an Kö­ ­nig Fußball. Anfang Juni wird Transnationalmannschaft in ganz Deutschland sowie in Öster­­reich und der Schweiz im Kino zu sehen sein. Unbedingt hingehen! Prädikat äußerst sehenswert!  rs

PHILIPP KOHL & Ali Badakhshan Rad »TRANSNATIONALMANNSCHAFT« BACHELOR BEI PROF. HEINZ WYRWICH

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K U N S T S T O F F I S T

N I C H T

V O N

P A P P E

ZU EINER PARTY EINGELADEN ZU WERDEN, IST IMMER EINE EHRE. FÜRS KOMMEN AUCH NOCH BESCHENKT ZU WERDEN – THAT‘S FANTASTIC?! Das Prinzip ist einfach. Als Gastgeber ein paar Freunde und Kollegen einladen, eine Dame mit Plastikutensilien kommt vorbei und versucht einem die vermeintlich praktischen Schüsselchen und Tellerchen schmackhaft zu machen. Ist doch nichts Schlimmes dabei, oder? Heike Wagner sieht das wohl ein bisschen anders. Mit ihrer Bachelorarbeit Plastik it‘s fantastic?! durchleuchtet sie kritisch das Thema rund um den Wunderstoff, dessen Entstehung und seine Auswirkungen auf unser Leben und die Umwelt. Umfassend dokumentiert sie das Thema mit Hilfe von Fotografien, Texten, Informationsgrafiken, sowie einem Kommunikationskonzept für den öffentlichen Raum. Wie wird Plastik hergestellt? Wie gelangt es in unseren Alltag? Welche Gefahr verbirgt sich hinter dem Wundermaterial? Welche Vorteile bietet Plastik im Vergleich zu anderen Werkstoffen? Diese und noch viel mehr Fragen versucht das altrosa eingebundene Buch zu beantworten. Es ist eine Art Enzyklopädie rund um den Kunststoff, unterteilt mit farbigem Papier in Fakten und Geschichtliches. Denn kaum einem ist bewusst, welche gravierenden Veränderungen Plastik in unserem Leben bewirkt hat. Gegenstände wurden leichter und verloren trotzdem nicht an Stabilität. So ist es nicht verwunderlich, welchen Siegeszug Plastik seit seiner Erfindung vor mehr als 100 Jahren hingelegt hat. Von Verpackungen bis hin zum Bauwesen

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und der Elektronik hat Plastik die Industrie und dessen Produktion revolutioniert. Nichts geht mehr ohne den flexiblen Kunststoff. So ist er im Laufe der Jahre neben Holz und Glas zu einem der wichtigsten Materialien geworden. Doch beim genaueren Betrachten wird einem schnell bewusst, dass der Stoff an Glanz verliert. Er ist nicht nur das, was er vorzugeben scheint. Vielmehr bekommt er durch Heikes Buch einen faden Beigeschmack, der wiederum den bewussten Umgang mit dem Kunststoff schärfen soll. Durch großflächige Zitate wird Plastik nicht verdammt, sondern in ein neues Licht gerückt. Denn in einer Zeit des Klimawandels und der Krisen geht der Trend immer stärker hin zum bewussten Konsum. Davon bleibt Plastik nicht verschont. Alternativen zum giftigen Stoff werden durchleuchtet, die weder die Umwelt noch die Gesundheit belasten. Alternativen, die keine krebserregenden Stoffe wie Phtalate oder Bisphenol A an die Umwelt abgeben, die keine 500 Jahre zur vollständigen Zersetzung benötigen und somit die Natur nachhaltig schädigen. Sogenanntes Bioplastik wird beispielsweise nicht mehr aus Erdöl, sondern auf Basis von nachwachsenden Rohstoffen wie Mais- oder Kartoffelstärke hergestellt. Es ist ungiftig und zersetzt  

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sich schneller, wenn es ins Meer oder die Natur gelangt. So werden bereits heute immer mehr Verpackungen und Artikel durch Biokunststoffe ersetzt. Doppelseitige Fotografien alltäglicher Plastikartikel zeigen jedoch, dass das Grundproblem dasselbe bleibt: unser Konsumverhalten. Sie zeigen Einwegprodukte, die eine durch die Jahre entstandene Arglosigkeit mit dem Umgang des Materials verdeutlichen. Tonnen von Plastikabfällen werden täglich ins Meer gekippt, werden ein Teil der Nahrungskette und landen schlussendlich wieder auf unseren Tellern. Das nennt man »Recycling«. Und doch konnte Heike dem Stoff etwas Gutes abgewinnen. Das schlicht, aber dennoch abwechslungsreich gestaltete Werk zeigt, dass es Künstlern und Designern ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Dinge wie Schmuck und Möbel, die vormals nur aus Holz oder Metall gefertigt wurden, werden zunehmend aus Kunststoff hergestellt. Und wer hätte nicht gerne den knallroten Stuhl von Verner Panton im Wohnzimmer stehen?!  dr

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HEIKE WAGNER »PLASTIC IT‘S FANTASTIC?!« BACHELOR BEI PROF. VERUSCHKA GÖTZ

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3 T A U S E N D S T I C H E

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M I N U T E

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VON DER LUST AM STECHEN ODER WIE SEBASTIANO CALLERI SEINE LEIDENSCHAFT ZUM HOBBY MACHTE. Herzen, Schädel, Blumen, Tiere, Kreuze, Muster, Spielkarten. Das Repertoire an Motiven, die unter die Haut gehen, ist unendlich. Der Imagewandel des Tattoos vom Seemanns- und Knastabzeichen zum salonfähigen Accessoire sorgte in den letzten Jahrzehnten dafür, dass Tattoo-Studios vielerorts regelrecht aus dem Boden sprossen. Die Bandbreite der Motive reicht vom fotorealistischen Porträt über fiktive Fantasy-Abenteuer bis hin zu einfachen, stilisierten Darstellungen alltäglicher Gegenstände. Doch Motive und Stilrichtungen kommen und gehen. Die Mode der Tattoo-Szene ist ständig im Wandel. Zierten vor zehn Jahren noch »Arschgeweihe« die Hintern tausender Mädchen, sind sie es heute, die Studios aufsuchen, um sich die Jugendsünde abdecken zu lassen – auch »Cover Up« genannt. Während der schnauzbärtige Vokuhilaträger nebenan seit Jahren die gleichen Tribals sticht, haben sich ambitionierte Tätowierer schon längst auf weitere Stile spezialisiert. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen.

Um Tattoos nicht zur Massenware verkommen zu lassen, sorgen viele Tätowierer dafür, ihre eigenen Ideen unter die Haut zu bringen und halten diese in gedruckter Form fest. Die Rede ist von »Flashbooks«. Motivkataloge, in denen Arbeitsvorlagen gesammelt werden. Diesem Thema hat sich Sebastiano Calleri in seiner Bachelorarbeit Vary Tattoo gewidmet. Er gestaltete ein Flashbook, das sich von den Standard-Mappen deutlich abhebt. Sebastiano beweist in seinem Flashbook auf über 100 Seiten, wie man mit einer ordentlichen Portion Kreativität die alt-eingesessene Tätowier-Szene aufmischen und für frischen Wind sorgen kann. Mit Standard-Mappen, die im Studio nebenan liegen, haben die Motive in seinem Flashbook nämlich kaum etwas zu tun – sie weisen ein spannendes Wechselspiel von Text, Illustration und Fotografie auf, die sogar manche Tattoo-Gegner zu einem Kunstwerk unter der Haut überreden können.  

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Die Motivvorlagen reichen von UFOs über Cover Ups und Bibeldarstellungen bis hin zu grafischen Formen, die alle Sebastianos Handschrift tragen. Sein Stil ist einfach und zugleich fesselnd. Durch starke Striche, die ungezwungen aber bestimmt wirken, erscheinen die Motive in harten Kontrasten und ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Da er sich meist auf das Wesentliche eines Motivs beschränkt, strotzen die Bilder vor Kraft. Vorlieben, Interessen oder Gegenstände, die Leuten am Herzen liegen, gelten im Allgemeinen als beliebte Ideen für ein Tattoo. Sebastiano berücksichtigt dies in seinen Motiven, interpretiert sie allerdings auf seine Weise und gibt in seinen Texten Vorschläge, wie man Lieblingsgegenstände zum Beispiel aus einem UFO fallen lassen und das Gesamtbild als Sleeve den Arm hinabstechen könnte. Motive wie klassische Herzen stellt er auf ironische Art als Organ dar, was sie ja im Grunde auch nur sind. Ein großes Thema seiner Motive ist die menschliche Sterblichkeit. Mit einfachen Strichen

und Linien greift Sebastiano den Gedanken des memento mori auf, um noch einmal darauf aufmerksam zu machen, dass alles vergänglich ist. Auf der anderen Seite widmet er sich aber auch der reinen Ästhetik von Motiven. Grafische Darstellungen von Linien und Kreisen dienen der Betonung bestimmter Körperpartien seiner Kunden und rücken diese in den Vordergrund. Da Sebastiano das Tätowieren eher als freischaffende Arbeit sieht, besteht seine Kundschaft hauptsächlich aus Bekannten und Freunden. Kurze Texte, in denen er die Motive und seine Vorstellung der richtigen Umsetzung erklärt, unterstützen die Wirkung der Bilder und lockere Zeichnungen leiten den Blick durch das gesamte Buch. Mit seinem ganz eigenen Stil übermittelt Sebastiano uns die Leidenschaft, die in seinen Arbeiten steckt und zeigt uns, dass man auch ohne Klarsichthülle und Ringbindung ein aussagekräftiges Flashbook erstellen kann.  lm

SEBASTIANO CALLERI »VARY« BACHELOR BEI PROF. JEAN-CLAUDE HAMILIUS

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A G A I N S T A L L

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»Data bending«, bestehend aus den englischen Worten »data« (Daten) und »bending« (biegen/verbiegen) beschreibt dieser Begriff einen experimentellen, künstlerischen Umgang mit digitalen Daten, bei dem es um das Zerstören und die Neuschaffung von Dateien geht. Es werden vielerlei Arten von Daten »verbogen«, hauptsächlich Video-, Audio- und Bilddaten. Hierbei wird besonderen Wert auf die abstrakten, willkürlichen Ergebnisse gelegt. Die üblichste und früheste Aktion ist das Ausschalten des PCs während des Speicherns oder auch das gewollte Überlasten des Systems.  

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In einer Welt voller Einsen und Nullen, in der sich alles in vorgefertigten Rastern bewegt und jedes Ergebnis durch Algorithmen vorherbestimmt ist, erkämpft sich Florian Poschlod mit seiner DIPLOMarbeit »Bild/Klang« ein Stück virtuelles Chaos. Über die Jahre wurden mit analogen Medien zahlreiche Experimente gemacht. Die daraus entstandenen Unvollkommenheiten wurden oftmals als Stilmittel genutzt und machten den Charme und Charakter aus. Gestaltungsmodi, wie Crossentwicklung, Rauschen oder Knistern, werden heute von Plug-Ins und Filtern exakt berechnet und nachgeahmt. Bei seiner Arbeit legt Florian Wert auf den freien, ungezwungenen Umgang mit der Materie, er tastet das Mögliche systematisch ab und verursacht digitales Chaos. Er nimmt Mängel in Kauf, überschreitet Grenzen und zerstört konservative Strukturen. Allen digitalen Daten liegt ein Maschinencode zugrunde. Dieser Code kann in unterschiedlichster Weise vom Computer interpretiert werden. Aus einem Bild kann eine Audiodatei werden und umgekehrt. Eine Datei besteht aus zwei Teilen, dem »Kopf« und dem »Körper«. Der Dateikopf, auch »Header« genannt, befindet sich am Anfang der Datei und definiert wie mit den Daten umgegangen werden soll. Hier wird bestimmt, um welche Art Datei es sich handelt. Die »Raw Data«, der eigentliche Maschinencode, bildet den Körper und ist wertfrei. Nun kann man dem Computer ein X für ein U vormachen, Audiodaten als Bild wiedergeben, Filter bekannter Bildbearbeitungsprogramme anwenden und so die Klänge verändern – zufälliger und auf eine völlig andere Weise als mit den Programmen, die den ursprünglichen Daten zugedacht waren. Ebenso wird eine digitale Fotografie zum Ton. Je komplexer die Pixelanzahl und Farbnuancen pro Zeile und je größer das Bild, desto länger und komplexer das Klangstück. Das neu interpretierte Bild klingt nun nach Störgeräuschen und mechanischem Klacken. Neben der Möglichkeit Filter auf bildgewordene Musik zu legen, kann man mit dem digitalen Pinsel einzelne Töne malen. Im ersten Kapitel Raw Data Sound zeigt Florian , wie präzise die Verbindung von Bild zu Klang funktioniert. Weiß ist Stille und Schwarz ergibt einen Ton, die Summe der Pixel einer Zeile ergeben die Klangfarbe. Durch Muster, die Bildern der Op-Art ähneln, ergeben sich Rhythmen, die der vergangenen »8-Bit-Game­-Ära« gleichen. Dem Umwandeln und Manipulieren seiner eigenen Foto-

grafien mithilfe von Soundprogrammen widmet sich Florian im zweiten Teil Data Bending. Hierbei wendet er vorgefertigte Stilmittel wie Echo, Phaser, Tonmischung und verschiedenste Klangmodulationen auf die Gestalt des Bildes an, modifiziert damit Farbe, Form, Zusammenstellung und erstellt willkürliche Wiederholungen innerhalb des Bildes. Teilweise sind diese Veränderungen eins zu eins nachvollziehbar, in einigen Fällen entstehen aus schwarz-weißen grafischen Formen aber auch kontrastreiche bunte Muster oder abstruse Wellenformen, wo einst Hochhausfassaden waren. Es entsteht eine neuartige Ästhetik in Bild und Klang, bei der man beinahe Zeile für Zeile beim Hören mitlesen kann, etwas Geduld und starke musikalische Nerven sollten vorhanden sein. Im dritten und letzten Kapitel Photoshop Musik lässt Florian Stücke Johann Sebastian Bachs in Bilder konvertieren. Er bearbeitet sie frei und nach eigenem Ermessen mit dem »Pixelquast«, überschreibt sie mit dem eigenen Maschinencode und fügt Pixellinien hinzu. Es entstehen verzerrte Tonfolgen, die von anderen Tönen überlagert werden – auch »Overdub« genannt. Bizarre Melodien erinnern noch an die Ausgangsdatei. Die Früchte seiner Versuche verarbeitet Florian in einem 30x36 cm großen Buch. Durch den Umschlag aus sprödem Plexiglas, das an die High-Speed-Fiberglas-Datenautobahnen erinnert, lässt sich die Technik erahnen, die hinter seinem Werk steht. Drückt man im Buch auf einen der gesiebdruckten Punkte, wird der zum jeweiligen Bild gehörende Sound abgespielt, vorausgesetzt, das interaktive Buch ist an den Computer angeschlossen. Möglich wird diese Interaktivität erst durch Strom leitende Siebdruckfarbe. Blättert man zum Ende des Buches, erkennt man erst, wie viel Arbeit wirklich dahinter steckt. Da jede Seite verkabelt ist, laufen die bunten Drähte im Buchrücken zusammen, wo sie in eine Platine münden. Als eine der letzten Diplomarbeiten zeigt dieses Buch was möglich ist, dass Regeln gebogen werden dürfen und der Gestalter klaren Verstandes auch in kurzer Zeit mehr erreichen kann als das zu Erwartende.  dj

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Florian poschlod »bild/klang – raw data experimente« diplomarbeit BEI PROF. Veruschka götz

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A T M O S P H Ä R E

Es ist mitten am Tag, doch durch das Aufziehen riesiger Wolken wird es rasant so dunkel wie in tiefster Nacht. Die Luft ist warm und zugleich unangenehm feucht. Man riecht und sieht, dass es bald ausbricht. Die bedrohliche Atmosphäre, die ein aufziehendes Unwetter ankündigt drängt sich ohne etwas dagegen unternehmen zu können jedem auf. Und kennt nicht auch jeder das Aufkommen auSSergewöhnlicher Atmosphären, beispielsweise beim Wiederfinden alter Spielzeuge aus der Kindheit? Sofort wird man zurückversetzt in alte Zeiten und verknüpft den Gegenstand mit bestimmten Erinnerungen und Gerüchen. Wir alle kennen unterschiedlichste Atmosphären, doch was genau eine Atmosphäre ist, lässt sich schwer erfassen. Ist sie einem Objekt, einem Ort oder dem Subjekt selbst, das sie erfährt zugeschrieben? Wo befindet sich eine Atmosphäre? Eine Atmosphäre kann in der Ästhetik auch mit den Begriffen »Stimmung« oder »Aura« gleichgesetzt werden. Mit diesen Zusammenhängen setzte sich 1995 Gernot Böhme, ein deutscher Philosoph, in Atmosphäre auseinander. Martina Wagner hat die vielen Fragen und Antworten zum Anlass genommen, eine Zusammenfassung von Böhmes Ausarbeitungen zu einem bebilderten Buch zusammenzuführen. Nach Böhme gibt es eine »Neue Ästhetik«, die sich nicht mehr nur mit authentischen Kunstwerken auseinandersetzt, sondern die breite Masse ästhetischer Arbeit mit ein-

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bezieht. Ästhetisch ist eine Arbeit dann, wenn es ihr gelingt Atmosphären zu schaffen. Solch eine Aura kann durch bestimmte Stimmungen der umgebenden Natur, und/oder durch die Gestimmtheit des Betrachters hervorgerufen werden. Demnach ist eine Atmosphäre nicht lokalisierbar, sondern ein reiner Träger von Stimmungen und Gefühlen. Der menschliche Körper kann von Stimmungen ergriffen werden, er kann die Anwesenheit von etwas spüren, also


geht eine wahrgenommene Atmosphäre direkt vom Subjekt aus. Andererseits sind es auch Objekte, an denen Atmosphären haften können. Ein Foto ist beispielsweise nicht nur ein sichtbarer Gegenstand, sondern ruft im Betrachter je nach Darstellung auch Gerüche oder haptische Wahrnehmungen hervor. Dadurch erzeugt es eine sekundäre Qualität (Ekstase), die neue Atmosphären hervorrufen kann. Daher sind Atmosphären weder etwas rein Objektives, noch alleine dem Subjekt zuzuschreiben. Der Ursprung einer Aura kann sowohl in einer bestimmten Eigenschaft des Dinges, als auch in dem Seelenzustand des Erfahrenden liegen. Als Beispiel bringt Martina ein grünes Blatt. Die Tatsache, dass es grün ist, ist eine rein objektive Eigenschaft. Wird das Blatt jedoch vom Menschen, dem Subjekt, als grün wahrgenommen, wird diese Gegebenheit zur gemeinsamen Wirklichkeit zwischen Objekt und Subjekt. Genau so entstehen Atmosphären, indem bestimmten Dingen oder Gegebenheiten gewisse Gefühle anhaften. Diese werden vom Subjekt erfasst und  

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eine Stimmung wird wahrgenommen. Beides verschmilzt zur gemeinsamen Realität. Die Erkenntnis, dass Atmosphären ganz einfach durch gezielte ästhetische Arbeiten erschaffen und gesteuert werden können, erklärt auch die zunehmende »Ästhetisierung der Realität«. Denn Ästhetik trägt zum Wohlbefinden der Menschen bei, weshalb sie auch mit zu den Grundbedürfnissen eines jeden gezählt wird. Die Macht, durch dingliche Eigenschaften bestimmte menschliche Gemütszustände hervorzurufen, kann gefährlich schnell zu Manipulation und Missbrauch dieser Möglichkeit führen. So etwa in der Politik oder in religiösen Sekten. Neben Form und Farben ist nach Böhme vor allem auch das wahrgenommene Material ein starker Atmosphärenträger. Material baut sich in Struktur, Aussehen, Funktion und Ökonomie auf und spaltet Gestaltung in ein inneres und äußeres Design. Jegliche Art von Oberflächenveredlung orientiert sich hierbei an ästhetischen Vorlieben und verdeckt ein Inneres, dass vor allem durch die Funktion und Ökonomie bestimmt wird (Bsp. die Spanplatte).

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Menschliche Bedürfnisse wie Hunger oder Müdigkeit lassen sich stillen, doch das Begehren, beispielsweise nach Reichtum kann keine Sättigung erreichen. Sie treten dann auf, wenn ein bestimmter Lebensstandard bereits gesichert ist und es nur noch um eine Steigerung, eine Verbesserung des Standards geht. Genau dieser Wunsch, der Wunsch nach immer mehr spiegelt den Kapitalismus unserer Zeit wieder. Was folgt ist die totale Überreizung und Unfähigkeit zu empfinden, auch »Anästhetisierung« genannt. Martina hat es geschafft den Begriff »Atmosphäre« so darzustellen wie Böhme ihn erklärt. Vom schweren Mythos befreit, als Grundbaustein der ästhetischen Wahrnehmung genannt und aufmerksam auf deren wachsenden Einfluss in einer »weitläufig inszenierten Welt« machend. Sie hat das Thema in zwei Kapitel unterteilt, die jeweils noch weitere Untertitel beinhalten. Mit diesen Unterteilungen und einer ausklappbaren Inhaltsübersicht gelingt es ihr, Struktur in Böhmes Abhandlung zu bringen und dem Betrachter ein sinnvolles Leitsystem anzubieten. Dieser Inhaltsplan ergibt außerdem ein

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komplexes Schaubild, welches die Atmosphäre in den Mittelpunkt stellt und die Zusammenhänge zur »Ästhetik«, dem »Objekt« und dem »Subjekt« auf ästhetisch und informative Art und Weise ersichtlich macht. Abgerundet wird die Gestaltung des Buches durch den offenen Buchrücken, der sichtbar macht, dass Martina auch handwerklich mit viel Liebe zum Detail arbeitet.  mf Martina Wagner »ATMOSPHÄRE« SEMESTERARBEIT BEI PROF. DR. Thomas Friedrich


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FÜR IHRE FOTOARBEIT »GRENZEN« HAT ALEXANDRA STRÖMICH VIER AUSSERGEWÖHNLICHE MENSCHEN AUSSERHALB UNSERER STADTGRENZEN BESUCHT: AUSSTEIGER, EINSIEDLER UND SELBSTVERSORGER, DIE SICH ZUGUNSTEN IHRER IDEALE BEWUSST FÜR EIN SOLCHES LEBEN ENTSCHIEDEN UND DAFÜR AUF DIE ANNEHMLICHKEITEN DER GROSSSTADT VERZICHTET HABEN. MENSCHEN, DIE DEN VERSUCH GEWAGT HABEN, UNSEREM SYSTEM ZU ENTKOMMEN. FAST ALLE HABEN DAS GESCHAFFT... Ein paar Monate nach dem Treffen in den Bergen begegnen sich Chandravali und die Fotografin Alexandra wieder in der Großstadt. Fast hätte Alexandra sie nicht erkannt, denn Chandravali ist normal angezogen und passt auch sonst ins gewohnte Bild der Menschen, die täglich in der Innenstadt von einem Kaufhaus zum Nächsten eilen. Die Kälte mache ihr zu schaffen, berichtet Chandravali. Sie spüre es zu arg in den Knochen. Leider habe sie ihre Wahlheimat in den Tessiner Bergen aufgeben und wieder von Heidelberg aus arbeiten müssen. Sie ist Übersetzerin spiritueller Texte. In den Bergen liegt in der Zeit zwischen November und Januar bis zu zwei Meter hoch Schnee. Die meisten Bergbewohner ziehen in dieser Zeit ins Tal zu Bekannten, um dort zu leben. Da fragt man sich nach der treibenden Kraft, die hinter der

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Entscheidung steht, einem solch mühseligen Lebensstil in relativer Isolation zu folgen. Die Gründe sind sehr unterschiedlich und reichen vom Systemboykott über Naturverbundenheit, Freiheitsdrang bis hin zum Wunsch nach spiritueller Selbsterfahrung. Genauso vielfältig fallen auch die Behausungen aus: Wohnwagen aller Art, Hütten, ähnlich wie in Kleingärten, oder die zeltartigen, sogenannten mongolischen Jurten, die in den schweizer Bergen oft anzutreffen sind. Manche fühlen sich in den Bergen so wohl, dass sie auch den Winter über in ihren Behausungen bleiben. Wie etwa Atul, der sich in solch einem Fall ein eigenes Tunnelsystem durch den Schnee gräbt. Unweit seines Hauses hat der gelernte Zimmermann eine Brücke gebaut. Zurzeit ist er mit dem Bau eines Erdhauses beschäftigt, das, wie er sagt, über besonders gute Isoliereigenschaften verfüge. Für Alexandra, die erst nach einem mühseligen dreistündigen Aufstieg Atuls Behausung erreichen konnte, war es eine ungewöhnliche Herausforderung an fremde Türen zu klopfen und die Ruhe  

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ausgerechnet der Menschen zu stören, die bewusst die Einsamkeit suchen. Sie wurde mit offenen Armen empfangen und staunte über die Gastfreundschaft der weder weltfremden noch scheuen Bewohner. Besonders Atul mit seiner ruhigen und gelassenen Art, mit seinen Blumentätowierungen und seinem stets verschmitzten Lächeln habe es ihr angetan. Sein Vormittag gilt der Nahrungsbeschaffung, beispielsweise dem Sammeln von Maronen. Am Nachmittag widmet sich Atul der Spiritualität und seinem eigenen Altar. Eine Gemeinsamkeit, die er mit Chandravali teilt, welche unweit von ihm in ihrer Jurte wohnt. Nachts kann man einen wunderbar klaren Sternenhimmel samt deutlich sichtbarer Milchstraße bewundern. Man hört das Geräusch eines Wasserfalls, der sich unermüdlich den Weg ins Tal bahnt und so auch für Elektrizität und fließend Wasser in Atuls Behausung sorgt. Wider Erwarten verfügt dieser sogar über eine Solaranlage und Internet – »Für die Besucher. Die verlangen danach!« Außer ein paar freundlich grüßenden Wanderern verirrt sich hierher keine Menschenseele. Gefahren gibt es keine.

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Eine deutliche Naturverbundenheit kennzeichnet auch Fred und Wilfried, die nicht in der bergigen Schweiz, sondern außerhalb Heidelbergs zwischen Wiesen und Feldern beheimatet sind. Fred lebt von seinem eigenen Anbau, dem Obst und Gemüse, das er Bioläden liefert. Wilfried wohnt alleine in einem Bauwagen, dessen Umgebung ein wenig an Kleingärten erinnert. Seine beiden Kinder sind oft bei ihm. Besonders viel Geld brauchen alle nicht, denn schließlich entfallen gravierende Kosten, wie beispielsweise die Miete. Es scheint ihnen an nichts zu mangeln. Sie sind umgeben von der Natur und der Zeit für sich, die uns Stadtmenschen so luxuriös erscheint. Sie empfangen Besucher, denen sie von sich erzählen. Atul berichtet schmunzelnd von einer Frau, die ihn einst umwarb: »Sie kam mich oft in den Bergen besuchen und backte mir immer jeden Tag einen Kuchen. Hmm… vielleicht hätte ich sie doch behalten sollen!«  mwg

ALEXANDRA STRÖMICH »GRENZEN« SEMESTERARBEIT BEI PROF. FRANK GÖLDNER

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1  Atuls Badezimmer 2  Chandravalis mongolische Jurte 3  Freds Eingangsbereich 4  Atul 5  Fred 6  Chandravali 7  Wilfrieds Wohnwagen 8  Wilfried


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V O N F R Ö S C H E N U N D P R I N Z E N

WIE GROSS MÜSSTE EINE ENTE SEIN, DAMIT SIE EIN KIND ÜBER DEN SEE TRAGEN KANN? UND WIE KANN EIN MÄDCHEN ÜBERLEBEN, OBWOHL ES AUF DREIFACHE WEISE VERGIFTET WIRD? DIESEN UND VIELEN ANDEREN MYSTERIEN AUS DER WELT DER MÄRCHEN GEHT EVA GOMPPER AUF DEN GRUND. Märchen kennt jeder. Von den Eltern vorgelesen, waren sie in der Kindheit der Höhepunkt des Zu-Bett-Gehens. Stand damals die Geschichte der hübschen Prinzessin im Vordergrund, wurde uns mit zunehmendem Alter bewusst, worum es wirklich geht – soziale Konflikte der Gesellschaft, hübsch verpackt und mit erhobenem Zeigefinger erzählt. Uns wurde also klar, wie unmöglich es ist, turmlange Haare auf dem Kopf zu tragen, an denen ein Prinz emporklettern kann. Oder wie brutal es ist, einem Mädchen die Zehen abzuschneiden, um ihren Fuß in einen Schuh zu zwängen, der ihr nicht gehört. Absurde Fakten gibt es bei Märchen zu Genüge.  

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Wie einst Jacob und Wilhelm Grimm Geschichten sammelten, sammelte Eva Gompper interessante Fakten der beliebtesten Märchen für ihre Bachelorarbeit. Sie gestaltete ein Buch, in dem sie zehn Märchen der Gebrüder Grimm analysierte. Es entstand eine große Sammlung informativer, aufklärender und witziger Fakten zu bekannten Märchen wie »Aschenputtel«, »Schneewittchen« und »Frau Holle«. Der Aufbau des Buches folgt einem strengen Raster, das alle Märchen in übersichtlicher Art und Weise gliedert. Eva nimmt sich jedes Märchen einzeln vor und untersucht es auf Wahrheitsgehalt und Logik der Ereignisse oder beleuchtet die sich wiederholenden Symbole innerhalb der Geschichte. Alle Märchen erscheinen zunächst in der Originalfassung und werden hinterher auf den Kopf gestellt. Heraus kamen Dinge, über die wir uns zuvor mit Sicherheit noch keine Gedanken gemacht hatten. Wer hätte gedacht, dass Hänsel und Gretel ganze 753 Stunden durch den Wald irren? Und wie groß müsste die Ente sein, die beide über den See nach Hause trägt? Um diese Erkenntnisse bildlich darzustellen, wählte Eva unterschiedliche Formen der Gestaltung. So ent-

schied sie sich bei der Zusammenfassung von »Hänsel und Gretel« für eine Zeitkarte. Schneewittchens Versuche trotz dreimaliger Vergiftung zu überleben, stellte Eva mit ausklappbaren Illustrationen dar. Eine Drehscheibe beim Märchen »Der Wolf und den sieben Geißlein« lädt zum Mitmachen ein und macht deutlich, wie viele Zicklein der Wolf tatsächlich verschlingt. Ein sich wiederholendes Highlight sind die sogenannten Infoboxen. Hinter jedem Märchen gibt es kleine Kärtchen, die der Leser durch Herausziehen sichtbar machen kann. Welche Brutalität sich hinter der Geschichte Aschenputtels verbirgt, wird bei einer verschiebbaren Illustration deutlich. Der Leser hat die Möglichkeit den goldenen Schuh beiseitezuschieben, um dann den darunterliegenden Zeh regelrecht vom Fuß zu reißen. Von Geschichte zu Geschichte können wir ein anderes Leseabenteuer erwarten und gespannt weiterblättern. Eva gelingt es, altbekannte Märchen erfrischend neu zu erzählen. Das Buch bietet mehr als nur das Lesen von Geschichten – es lädt uns ein, einzutauchen, um weitere Hintergründe zu erforschen.  lm

EVA GOMPPER »INFOGRAFISCHE ANALYSEN ZU DEN MÄRCHEN DER GEBRÜDER GRIMM« BACHELOR BEI PROF. ARMIN LINDAUER

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A U S A LT W I R D

ZEITGEMÄSS ◊

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Runenschrift, Griechische Linear B, Phönizische, Frühgriechische und Aramäische Schrift. Die wenigsten Designer unter uns werden wohl mit diesen Schriften im alltäglichen Leben gearbeitet haben. Doch sie sind wichtige Elemente in unseren kulturellen Entwicklung und haben sich im Laufe der Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zu dem entwickelt, was wir heutzutage als Schrift bezeichnen. Genau mit dieser Wandlung der Schrift haben sich die Studenten des 2. Semesters im Kurs Grundlagen der Gestaltung bei Prof. Veruschka Götz befasst. Aus einer handschriftlichen Vorlage einer alten Schrift entwickelte der Studierende dann eine zeitgemäße Druckschrift, die an der Grundform der Urschrift angelehnt ist. Die so entstandenen Schriften wurden als Faltplakate mit einer kleinen Erklärung zu den jeweiligen Entwürfen präsentiert. Die äußerst unterschiedlichen Resultate dieser anspruchsvollen Aufgabe können sich sehen lassen.  dc

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VERUSCHKA GÖTZ

TOY STORIES ◊

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Eine Safari durch die Designszene der Erotik mit gen Preissegment als Mädchen angesprochen, der komma Redaktion und Prof. Veruschka Götz. das die Verpackungsgestaltung mit seinen zarten Rosatönen und geschwungenen Schriften Mannheim, 22:30 Uhr. Hauptbahnhof. Wir tref- wahrscheinlich zuletzt im Spielzeugladen beim fen Veruschka Götz am Eingang. Sie kommt Kauf einer Puppe gesehen hat«, bemerkt Prof. gerade aus Berlin. Ein weiter Weg nach Mann- Götz. Und tatsächlich, vor den batteriebetrieheim, doch von Müdigkeit keine Rede: Mit ge- benen Lustspendern in handtaschenfreundlischärftem typografischen Blick betritt sie mit cher Größe stehend, fühlen wir uns wie in der uns ein heißes Pflaster. Die Rotlichter gehen Barbieabteilung von Toys R Us. Die meist vertian, die leichten Mädchen zupfen ihre BHs zu- kal ausgerichteten Verpackungen mit Sichtfensrecht und der nette ältere Herr von nebenan tern sind, wie auch die Produkte selbst, fast sucht mit tief ins Gesicht gezogenem Hut das ausschließlich in lieblichen und harmlosen Pasnächste Freudenhaus. Auch wir betreten nun tellfarben gehalten. »Ein ähnliches Phänomen das Land der niederen menschlichen Triebe. einer Verniedlichung von Weiblichkeit lässt sich Auf der Suche nach Spuren gestalterischer In- im übrigen im Verpackungsdesign von verschienovationen in der Erotikbranche irren wir durch denen Herstellern der Antibabypille beobachdie Nacht. Und werden fündig: In weiß leucht- ten«, ergänzt sie. Über 100 Jahre Emanzipatienden Lettern, umspielt von einer hohlkreuzi- on, die scheinbar an der Sexbranche spurlos gen Damensilhouette erhellt Erdbeermund die vorbeigegangen sind. Rosa für die Mädchen Dunkelheit. Ein Ort der Plastik- und Gummi- und Blau für die Jungs? In der Männerabteilung fantasien, der Geschmacks- und Duftexplosio- finden wir uns dann umgeben von Produkten nen in Tuben und Tiegeln – eine Spielwaren­ wieder, die versuchen durch lautmalerische Naab­teilung für Erwachsene, deren Libido das men wie Bam oder Colt an die Maskulinität der Porte­monnaie locker sitzen lässt. Wir sind ner- homoerotischen Lust zu appellieren. Die Vervös. Hoffentlich sieht uns keiner, denken sich packungen erscheinen hier in einer plumpen die meisten von uns, während wir auf die Ein- Bau­markt-Optik, in Silber, Dunkelblau und eigangstür zusteuern. Doch halt. Was hat die nem alarmierenden Ziegelrot. Ein Karton mit Rotis Schrift hier zu suchen? Und dann noch großzügig angelegten technischen Informatiochinesisch vertikal. Prof. Götz schaut skeptisch nen zu Größe und Material des Inhaltes erindurch das trügerische Neonlicht hindurch und nert an das Werkzeug eines Klempnermeisters, stellt mit analytischer Kühlheit fest: »Otl Aicher entpuppt sich dann aber als Analdusche für den würde sich im Grabe herumdrehen.« Steht die Herren (sogar mit fünf verschiedenen Düsen!). Rotis im Logo des Erdbeermund-Sexshops für Subtiles haben wir zwar gerade in der Männereinladend knisternde Erotik? Die Frage, was palette nicht erwartet, aber muss sich Lust imAicher dazu gesagt hätte, lassen wir offen. Viel- mer durch die Geschmacklosigkeit des Designs leicht wäre er auch zu sehr von den an Nylon- ausdrücken? fäden schwebenden Dildos im Schaufenster Wir gehen weiter, lassen die Filme und Bücher, abgelenkt worden, die zwischen Kunstblumen die Latexnachbildungen diverser Körperteile und Discokugeln den Besucher auf eine eher und eine besonders interessante aufblasbare eigentümliche Art einladen. Wir trauen uns Version von Eddie Murphy links liegen, immer trotz­dem hinein und schlendern vorbei an den noch auf der Suche nach gutem Design. Eine Verkäufern in Richtung »Damenabteilung«. edle Glasvitrine mit beleuchteten Objekten, die In den letzten Jahren haben zahlreiche Sextoy aussehen, als würden sie einer JuwelierabteiAnbieter ihre Produktpalette der potentiellen lung entspringen, zieht uns magisch an. StauKaufkraft weiblicher Kunden angepasst. Obs- nend stehen wir vor den ergonomisch geformkure Gerätschaften, die Namen wie Danny ten glänzenden Gebilden. Lelo, eine Firma, die Dolphin oder Tasty Ticker tragen, zieren min- sich auf die Herstellung edler, dezenter Sexdestens 30 Prozent aller Regale in dem Laden. spielzeuge für die Frau spezialisiert hat, präsen»Die weibliche Käufergruppe wird im niedri- tiert hier ihre Produkte. Unsere Begeisterung

wird von Prof. Götzs kritischem Blick entzaubert. »Lelo bedient sich einfach der Ästhetik, die man schon von Luxus-Kosmetikherstellern kennt«, erklärt sie. »Die Verkaufsständer sind in Schwarz gehalten und mit einer weißen serifenlosen, konstruierten Linearantiqua versehen – wer denkt da nicht sofort an Chanel? Die in diesen Ständern gezeigten Objekte sind wie Schmuckstücke präsentiert und haben auf den schnellen Blick eher den Anschein einer Puderdose oder eines Lippenstifts im Hochpreissegment.« Für Edelstahl-Varianten zahlt man ab 1000 Euro aufwärts, auf Anfrage gibt es den luxuriösen Lustspender mit 18 Karat vergoldet auch für ein Zehnfaches. Veruschka Götz analysiert weiter: »Auffällig ist, dass die Produktnamen alle weiblich sind, Iris, Ina, Ella und das wertvollste Goldstück gar Olga. Die anvisierte »verheiratete Frau um die vierzig, die schon alles hat« soll also eine Freundin erwerben. Natürlich ist das nicht pornographisch, aber auch nicht sexy.«

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Der Edeldildo also als beste Freundin. Auch hier scheint die angesprochene Kundin eher tragisch. Wir betrachten die gestalterische Intention der »Spielzeughersteller« einmal näher, immerhin gewinnen heutzutage auch Sextoys internationale Designpreise. »Design und Lösungen von höchster Qualität sind eine Selbstverständlichkeit bei LELO Produkten, denn LELOs eigentliche Leidenschaft gilt der Vermittlung von Lust und Glück«, lautet der Werbeslogan. Prof. Götz bemängelt, dass von »Lösungen« gesprochen wird, beispielsweise wie von einer gut designten deutschen Waschmaschine. »Schön« sieht das Ganze ja aus, aber nach Verführung und Sinnlichkeit sucht man auch hier vergebens. Ein Regal weiter entdecken wir das Apple-Pendant der Sexbranche: In minimalistisch-technisch anmutenden, weißen Schachteln erinnern uns die Geräte an hochwertige Hi-Fi-Produkte. Schwarz, Weiß, sowie Silber in einer kühlen Gestaltung sind die auffälligsten Designmerkmale und sollen die männliche Kaufkraft dazu anregen ihren Frauen etwas »Vernünftiges« zu kaufen. Nach so vielen gestalterischen Fehltritten, aber auch einigen Überraschungen, stellt sich die Frage, ob nicht vielleicht die Problematik in der Begrifflichkeit des Wortes »Erotik« selbst steckt. Die Erotik, so Wikipedia, ist die »sinnlich-geistige Zuneigung«, die ein Mensch einem anderen entgegenbringt. Liebe also, als die »emotional-seelische« Anziehung und die Erotik als eine »psychologisch-geistige«. Dabei geht es nicht unbedingt um einen besonders hohen Grad von Nacktheit eines menschlichen Körpers (was angesichts der fleischfarbenen Landschaft, die sich auf 100 Quadratmetern vor uns erstreckt, bei den meisten Anbietern noch unbekannt sein dürfte). Kleidungsstücke und Gegenstände, Mimik und Gestik, Sprachmelodie und -färbung etc. können erotische Anziehung erzeugen. Doch wie kann das neue, moderne Erotik-Design diesen Kriterien gerecht werden? »Die Produkte, die immer wieder in den Kontext »Erotik« gestellt werden, wie z.B. ErotikShops, Erotic-Products, wollen nicht pornographisch wirken«, stellt Veruschka Götz fest. »Pornographisch kann man die Produkte also nicht nennen, bzw. dem Käufer anbieten, gleichwohl die meisten Käufer triebgeleitet einen solchen Kauf vornehmen. Es ist, schenkt man der Definition Glauben, eine spannungsvolle Annä-

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herung zwischen zwei Individuen, die geistvoll Reize einzusetzen vermögen – ohne dabei zu offensichtlich oder platt zu werden.« Puppenhaftes Design, Baumarktoptik und Hightech-Spielereien sind also Resultate verfehlter Ästhetik in der Erotikbranche. Frau Götz verweist auf weitaus geschicktere Lösungen aus der Vergangenheit wie den Epochen des Rokoko oder Manierismus, die das leichte Spiel mit den Reizen und Spannungen perfektionierten. Selbst in Pompeji waren eingravierte Phalli und Hoden allgemeine Dekoration, aber auch als Wegweiser für Besucher, um diese zum Prostitutions- und Unterhaltungsbezirk zu geleiten. Ein ungezwungener Umgang mit Erotik oder Sexualität, die sich so der Öffentlichkeit in Stein präsentierte. Noch ein letztes Mal schauen wir uns um, bevor wir wieder Mannheims Nacht betreten. Den Versuch einer Gestaltung haben wir zwar gefunden, doch nach dem Ausflug in die ErotikBranche steht fest: Hier gibt es einen Markt für Designer. Die leichten Mädchen beenden langsam ihre Schicht, die roten Lichter gehen aus, der nette Herr von nebenan kehrt zu seinem Dackel zurück… und wir machen im Geiste schon erste Entwürfe.  as


TOTGESAGTE

LEBEN LÄNGER ◊ »HD Campus TV« – was war das gleich noch mal? Manch ein Mannheimer Designstudent denkt bei diesem Schlagwort sofort an das erste oder zweite Semester zurück und an den Werbefeldzug, den Prof. Wyrwich für dieses ambitionierte Projekt im Kurs »Audiovisuelle Grundlagen« startete. Manch einer schloss sich auch für ein Semester der wackeren Filmcrew an, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, das Campusleben in Bild und Ton für die Nachwelt zu dokumentieren. Doch viel mehr weiß kaum einer über das fakultätsübergreifende Projekt zu berichten. Im Jahr 2008 als Kooperation zwischen dem Institut für Zeitbasierte Medien der Fakultät für Gestaltung und dem Institut für Medienpädagogik der Fakultät für Sozialwesen ins Leben gerufen, bietet der von Studierenden für Studierende organisierte Kurs Studenten der gesamten Hochschule die Möglichkeit, mit neuester High-Definition-Technolgie eigene Film­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­projekte zu realisieren. Dabei verfügen die Studenten über völlige Autonomie was die Inhalte und die Formen der Filme angeht. So können sowohl Projekte aus dem Studium präsentiert als auch spezifische eigenständige Formate entwickelt werden. Gestalter können ihre theoretischen Grundlagen in der Praxis umsetzen und Studenten anderer Fachrichtungen haben die Chance den Umgang mit einer HD-Kamera zu lernen und bei einer richtigen Filmproduktion mit­ zuwirken. Unterstützt werden die Teilnehmer von einer wissenschaftlichen Hilfskraft, die eigens für dieses Projekt Tutorien veranstaltet und bei den Drehs mit vor Ort ist. Hört sich doch sehr gut an. Geht man jedoch auf die Seite von HD Campus TV im Designwiki findet man lediglich drei Beiträge, wobei der Jüngste auf das Jahr 2008 datiert ist. Schade ist vor allem, dass die Kooperation mit der Fakultät für Sozialwesen nie richtig funk-

tioniert hat und es bisher noch zu keiner nennenswerten gemeinsamen Produktion gekommen ist. Auch die anderen Fakultäten der HS Mannheim schenken HD Campus TV wenig Beachtung. Im Gegenzug wecken die hochtechnischen Studiengänge des Mannheimer Campus nur mäßiges Interesse bei den Gestaltern. Zu erwähnen bleibt ebenfalls, dass eine Teilnahme bei HD Campus TV zwar viele Erfahrungen bringen kann, aber leider keine Credits abwirft. Im vollgepackten Bachelor-Studium sehen viele keinen Platz für ein Projekt, das Zeit und Engagement fordert, aber nicht angerechnet wird. Ein Dilemma!? Es steht also nicht so gut um HD Campus TV, doch am Horizont erscheint nun endlich ein Hoffnungsschimmer. Seit letztem Semester belebt eine Gruppe von sieben Gestaltern das Projekt neu. Sie sind engagiert, arbeiten selbstständig und haben ein

großes Ziel. In kurzen Filmbeiträgen, im einheitlichen Look, sollen die Professoren und Mitarbeiter der Fakultät für Gestaltung und deren Unterricht vorgestellt werden. Wer sich für ein Designstudium in Mannheim interessiert, kann sich bald im Designwiki ein genaues Bild über Lehre und Lehrende machen – die perfekte Werbung für den Studiengang und die Fakultät. Zwei Beiträge dieser Art sind schon entstanden. In dem ersten kommt Prof. Thomas Duttenhöfer, verantwortlich für Zeichnen und Illustration, zu Wort, in dem neuesten Claudia Bärbel Kirsamer, die allseits geschätzte Dozentin für Schriftkunst und Kalligraphie. Es bleibt zu wünschen, dass sich das jetzige Team sein Engagement bewahrt, tolle neue Beiträge produziert und somit mehr Interesse bei anderen Studenten weckt. Das Team von HD Campus TV freut sich auf Eure Unterstützung.  rs

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VILÉM FLUSSER

SYMPOSIUM ◊ Die Fakultät für Gestaltung der Hochschule Mannheim eröffnet einen »geisteswissenschaftlichen Forschungsschwerpunkt«. Zu diesem Anlass gab es ein Eröffnungssymposium mit internationaler Beteiligung. An der Hochschule Mannheim ist ein neuer Forschungsschwerpunkt am Entstehen: »Erkundungen der Moderne. Wandel, Entwicklungen und Trends in Wissenschaft und Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur« lautet der Titel. Geplant ist, die geisteswissenschaftlich angelegten Forschungsaktivitäten der HS Mannheim zu fördern und auszubauen. Bisher beteiligen sich die Fakultäten für Gestaltung und Sozialwesen an diesem Projekt, das grundsätzlich allen Fakultäten offen steht. Für die beiden Fakultäten der HS Mannheim, Gestaltung und Sozialwesen, ist es von entscheidender Wichtigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse zu analysieren, Veränderungen früh zu erkennen und zu thematisieren, um anschließend Prognosen zu bilden. Dieser Schwerpunkt soll nicht zuletzt die Masterstudiengänge der Fakultät für Gestaltung und der Fakultät für Sozialwesen fördern und die Überführung und Betreuung einzelner Studenten mit Masterabschluss in Promotionsstudiengänge mit kooperierenden Universitäten ermöglichen.

Professorin Dr. Myriam Ávila und Professor Dr. Rodrigo Duarte lehren beide an der Universidade Federal de Minas Gerais, Brasilien. Bei diesem Symposium ging es um die Frage nach der »Bedeutung der Ästhetik für die Zukunftsfähigkeit der Menschheit«. Wir sprachen mit den Be­­­­­­­­­­­­teiligten über das Projekt und dessen Aktivitäten der Beteiligten gibt es bereits in fol- Wei­ter­entwicklungsmöglichkeiten. genden Institutionen: Soziologiekolloquium der Universität Frankfurt, Fachgruppe Ethik Wie kam die enge Verbindung zwischen der der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit, Hochschule Mannheim und der Universität von Konferenz der Ethikbeauftragten, Beilsteiner Minas Gerais zustande? Kreis, Zeitschrift für kritische Theorie, Zeitschrift Widersprüche, Gesellschaft für Designgeschich- Prof. Dr. Thomas Friedrich te, Deutscher Werkbund, Deutsche Gesellschaft Diese Verbindung kam über Weimar zustande. Ich hatte damals eine Stelle an der Bauhausunifür Semiotik. versität. Dort hatten wir uns kennengelernt. Damals entstand eine Kooperation zwischen der Gründungsteilnehmer sind: Prof. Dr. phil. Thomas Friedrich (Fakultät für Ge- Universität von Minas Gerais, die in Mannheim staltung, Leiter des Instituts für Design­wis­ weitergeführt wurde. senschaft), Prof. Dr. phil. Richard Utz (Fakultät 2001 war ich zum ersten Mal in Minas Gerais. für Sozialwesen, Prodekan), Prof. Dr. phil. Jürgen 2003 war Rodrigo Durate bei dem Symposium Berger (Fakultät für Gestaltung, Dekan), Prof. Dr. Bild-Klang-Wort in Mannheim. phil. Joachim Weber (Fakultät für Sozialwesen) Die geistige Basis unserer Kooperation ist »die Kritische Theorie« von Adorno, Benjamin und Anfang Februar diesen Jahres fand im Rahmen Horkheimer. dieses Forschungsschwerpunktes mit einem Vilém-Flusser-Symposium eine größere Veran- Was hat »Ästhetik« mit Geisteswissenschaft zu tun und was bedeutet »Ästhetik« in Zusamstaltung mit internationaler Beteiligung statt.

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menhang mit Kommunikationsdesign, wie es an der Hochschule Mannheim gelehrt wird? Prof. Dr. Thomas Friedrich Die »Ästhetik« war von Anfang an eine philosophische Disziplin und wurde ursprünglich als Lehre von der Wahrnehmung begriffen. Im 18. Jahrhundert hat der Begriff eine Bedeutungsverengung erfahren. Seit dieser Zeit hat man den Begriff nur auf das Künstlerische bezogen. Es gibt also sozusagen einen engen und einen weiteren Ästhetik-Begriff. Um auf das Design zu kommen: Unter Design versteht man in der Umgangssprache meist Produktdesign. Wir fassen diesen Begriff weiter und beziehen den Gestaltungsaspekt mit ein, die zweite Natur, das vom Menschen durch Gestaltung Geschaffene. Der Designer ist dort anzusiedeln, wo das Gedachte in Wirklichkeit überführt wird. Wenn eine Idee wirksam werden soll, muss sie gestaltet werden. Kann »Ästhetik« die Welt besser machen? Prof. Dr. Rodrigo Duarte Der Kunst kommt es zu, die Probleme zu zeigen, die für die meisten Menschen verborgen sind. Die »Ästhetik« ist Teil der Kultur und trägt die-


se Aufgabe mit. Die Literatur ist Teil der »Ästhetik« und zeigt die Welt, wie sie sein könnte. Das ist ein ethischer Anspruch, der durch ästhetische Mittel wie Farben, Formen, Töne, Sprache und so weiter gezeigt werden kann. Es gibt also eine sehr enge Verbindung zwischen Ethik und »Ästhetik«. Frau Prof. Ávila, Ihr Schwerpunkt liegt auf der Literatur. Welche Rolle kommt der Literatur im Zusammenhang mit der »Ästhetik« zu? Prof. Dr. Myriam Ávila Nach Flusser hat sich das Bild gegenüber der Schrift durchgesetzt. Wie geht es in der Zeit des Internet mit der Schrift weiter, wenn die Welt von Bildern gestaltet wird? Besonders in Brasilien, wo die Literatur keine solche Basis hat wie in Deutschland stellt sich diese Frage umso dringender. In Brasilien ist die Kultur von der Bilderwelt des Barock geprägt. Wir haben gewaltige Kirchen. Aber wir haben kaum Literatur. Un-

sere Dichter sind kaum übersetzt worden. Es gibt ganz wenig auf Deutsch. In meinem Vortrag über die Rolle der Literatur in Brasilien beziehe ich mich auf verschiedene Dichter, die für Flusser wichtig waren und mit denen er in persönlichem Kontakt stand.

des Spielens – ob ein Spiel aufbauend oder zerstörerisch ist – leitete er ab, wie die Menschen mit dem Leben und mit der Zukunft umgehen. Deshalb glaubte Flusser, wenn die Armut in Brasilien einmal überwunden sein würde, hätten es die Brasilianer leichter, Zukunftsmodelle zu entwickeln, die für die ganze Menschheit Welche Bedeutung hat Flusser für Brasilien? relevant sein könnten. Die Möglichkeit des Scheiterns hat er dabei Prof. Dr. Rodrigo Duarte aber auch mitbedacht, obwohl er sich in seinem Vilém Flusser hat die Probleme der Medien von Buch über Brasilien meist positiv über die Entheute schon vorausgesehen. Er war quasi der wicklungschancen äußert. Erste, der überhaupt über digitale Bilder nachgedacht hat. Frau Prof. Ávila, Herr Prof. Duarte, Herr Prof. Er lebte 32 Jahre in Brasilien, hauptsächlich in Friedrich. Ich bedanke mich für das Gespräch. São Paulo. Er hat hier Grundlagen gelegt, um die Art der medialen Wirklichkeit zu verste- Das Gespräch führte Helmut Orpel. hen. Beruflich bedingt war er viel unterwegs und hat das Land kennengelernt. Diese Reisen waren die Grundlage für sein Buch Brasilien, oder die Suche nach dem neuen Menschen. Die Menschen in Brasilien hat er spielerischer erlebt als die Europäer. Aus der Art und Weise

Fotos: Rainer Diehl

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FLASHLAB

TEMPORÄRE SKULPTUREN ◊ Vor ungefähr zwei Jahren stießen der Fotograf Olivier Pol Michel und Diplomdesigner Frank Hoffman (»Raum Mannheim«) beim Testen eines gerenteten »Scoro« Generators auf etwas, von dem sie damals wahrscheinlich nicht gedacht hätten, dass es sie so lange beschäftigen wird – temporäre Skulpturen. Durch das Blitzen mit einer entsprechenden Blitzanlage können geworfene Objekte in ihrer Bewegung eingefroren und der Moment auf einem Foto festgehalten werden. Was als Spielerei begann entwickelte sich schnell zu einem freien Projekt in dem die beiden ihrer Kreativität freien Lauf lassen – das Flashlab war

geboren. Bei den Shootings wird viel ausprobiert, Wurftechniken werden entwickelt und die verschiedensten Materialien ausprobiert. Natürlich gibt es im Vorfeld zu den aus Zeitgründen oft nachts stattfindenden Sessions immer ein Konzept, allerdings ist die entstehende Komposition kaum beeinflussbar. Der Zufall ist immer ein wesentlicher Bestandteil der Idee. Die Skulpturen bleiben bei ihrer Entstehung unsichtbar, lediglich auf dem Foto werden sie sichtbar. Genau da liegt der Anreiz, der das Projekt so interessant macht und Langeweile oder Stagnation gar nicht erst aufkommen lässt. Zudem gibt es gewisse Ansprüche, die die Macher an das Flashlab stellen. Es wird immer das ganze

Bildformat genutzt, ein Beschnitt findet nicht statt und es werden auch sonst keinerlei PostKorrekturen vorgenommen. Die entstehende temporäre Skulptur sollte von sich aus eine gewisse Irritation bei den Betrachtern hervorrufen, eine Lücke, die jeder für sich selbst füllen muss. Eine gewisse Menge an Ausschuss ist quasi vorprogrammiert. Nicht jede Idee funktioniert, dafür funktionieren andere so gut, dass sich gänzlich neue Gebiete erschließen, die es zu erkunden gilt. Erst bei der letzten Session gelang dem Team ein solcher Sprung. Eines der bisher ungezeigten Bilder wird hier in der komma zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert (siehe Bild 6).  

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So wandelbar wie die temporären Skulpturen sind, so hat sich auch das Flashlab-Team im Laufe der Zeit verändert. Neben Olivier und Frank befand sich zu Beginn noch Georg Lenz im Team, der mittlerweile nicht mehr dabei ist. Jetzt bildet der Architekt Jérôme Michel zusammen mit dem Fotografen und dem Designer den Kopf des Teams. Da die Skulpturen immer komplexer werden sind bei den Sessions aber immer auch einige Helfer, die sogenannten »Werfer«, mit dabei. Unter ihnen befinden sich auch immer wieder Studenten der HS Mannheim. Sie erfüllen jedoch nicht nur eine Arbeiterrolle, denn der kreative Austausch ist für die Drei sehr wichtig. Generell steht eine gewisse Naivität, der Spaß und vor allem das Projekt als Überindividuum im Vordergrund, die »Macher« treten in den Hintergrund. Nichtsdestotrotz sorgten die Arbeiten schon für einiges Aufsehen. Erst kürzlich konnten Bron und Phase One als Kooperationspartner gewonnen werden, die das Potential der Bilder erkannten und ihre Technik auf ganz besondere

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Weise an ihre Grenzen gebracht sahen. Die Bilder bergen eine gewisse Mystik, in der sich Proportionen und Raum auflösen. Die geworfenen Objekte stehen völlig still, sie sind in Raum und Zeit eingefroren vermitteln aber trotz­ dem eine explosionshafte Dynamik. Sie vereinen den Gegensatz von Ruhe und Unruhe und vermitteln somit perfekte Harmonie. Darin begründet sich die meditative Wirkung der Bilder auf ihre Betrachter. Dass diese Harmonie auch auf an dem Projekt völlig unbeteiligte Betrachter eine besondere Wirkung hat, wurde Olivier zum ersten Mal klar, als er zwei Prints aus der Serie TS2 im Rahmen des Fotofestival Mannheim mit zu einem Portfolioviewing nahm. Dort legte er seine Bilder einer Gruppe internationaler Galeristen, Kuratoren und Chefredakteuren vor. Alle blieben beim Durchblättern seiner Mappe an eben diesen Bildern hängen. Von da an war klar, das Flashlab birgt nicht nur für die »Macher« ein ganz besonderes Potential. Die Wirkung auf ein breites Spektrum an Men-

schen konnten die Drei dann im Winter 2009 während der von Rolf Lauter kuratierten Ausstellung Art Scout One in Mannheim beobachten. Seitdem konnte man die Arbeiten Anfang 2010 im Kunstverein Eisenturm in Mainz und im September bei der Gruppenausstellung zum Thema »Mickeyland« in der Galerie Art Present in Paris bewundern. Des Weiteren wurden die Skulpturen aus Mannheim neben Arbeiten von Gabriel Orozco und Viviane Sassen in der Photo­ ­works Ausgabe Spring/Summer gefeatured. Zu den bisherigen Käufern der Werke gehört unter anderem das Land Baden-Württemberg. Weitere Ausstellungen sind geplant. (Infos auf www.flash-lab.de)  am

1  TS | 2 | 0035 2  TS | 3 | 0187 3  TS | 4 | 0075 4  TS | 5 | 0030 5  TS | 9 | 0168 6  TS | 12 | 0366


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INTERVIEWS

CURRICULUM ◊ der meiner Meinung nach die Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Themas offenlegt. Als nächstes werde ich selbst ins Ausland gehen. Ein Semester in Amsterdam, in dem ich mich wieder stärker auf meine eigene fotografische Position konzentrieren will.

CASPAR SESSLER Du hast nach einem kurzen Intermezzo Informatik und einer Ausbildung in Karlsruhe dann Gestaltung in Mannheim studiert, bist dann nach Bremen. Wie kam es zu deinem Wechsel an die HfK Bremen? Die Entscheidung war eine Verquickung persönlicher, fachlicher und politischer Gründe. Ich bin von Bachelor/Master nicht sonderlich überzeugt und jetzt in Bremen der letzte Diplomand, also der Letzte, der in den Diplomstudiengang aufgenommen wurde. Die Zeit in der Stadt Mann­­ heim möchte ich nicht missen, vor allem wegen der guten Freunde, die ich dort gefunden habe. Gleichzeitig bin ich froh über den Wechsel. Hier habe ich viele neue Perspektiven auf unser Arbeitsfeld kennengelernt und mich persönlich weiterentwickelt. Die Freiheit, die man hier genießt zwingt zur Eigenständigkeit, zur intensiven Auseinandersetzung: wo, was und wie man arbeiten möchte. Nach deiner Mitarbeit an der komma, hast du an der VIER mitgewirkt, wie sehen deine heutigen (Hochschul-)Projekte aus? komma und vor allem VIER waren sehr wichtige Projekte für mich. Beide haben meine Liebe zum Editorial Design begründet und bestärkt. Gerade die »virtuell« Ausgabe der VIER war eine unglaublich wichtige Erfahrung. Die Herangehensweise, sich einem komplexen Sachverhalt in Form von Gesprächen mit klugen Leuten zu nähern, ist mir wichtig geworden. Das letzte große Projekt, das gerade frisch im Textem Verlag Hamburg erschienen ist, war quasi die logische Fortführung der Methode. Für das Buch Unfolding Perspectives. Beyond Identity - and beyond bin ich mit zwei Freunden, Judith Gärtner und Christian Heinz vergangenen Juni nach Kairo gereist, um mit einer Vielzahl von Künstlern und Kulturschaffenden über das Thema »interkultureller Dialog« zu sprechen, Positionen auszuloten und Erfahrungen zu sammeln. Zusammen mit einigen eher theoretisch angelegten Essays und diesen Interviews ist ein Buch entstanden, ein gemeinsamer Dialog,

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Bist du bereits im Beruf? Neben diesen großen Projekten entstehen natürlich auch kleinere Sachen. Zusammen mit meinen Freunden der Studenteninitiative link organisiere ich Vorträge und Workshops mit fantastischen Gästen, die wiederum gut kommuniziert werden wollen. Sehr viel Freude habe ich an kleineren Ausstellungsbeteiligungen, wie letztes Jahr in der Gallerie FLUT oder jetzt im April beim plattformfestival in Wilhelmshaven. Kleine, aber feine Auftragsarbeiten von CD-Covern bis Webauftritten sorgen dafür, dass mir selten langweilig wird.

was riesig Spaß gemacht hat! Aber ansonsten erzählt man das ja gar nicht, ich zumindest nicht. In der komma 6 konnte man von deiner Bachelorarbeit »Monsanto« erfahren. Welches Feedback gab es für die Arbeit? Sehr gutes eigentlich. Mittlerweile haben schon einige Leute meine »Monsanto-Arbeit« gesehen, und seien es Grafiker, Nicht-Grafiker, Studenten oder Leute aus der Wirtschaft, alle sagen mir immer, ich soll die Arbeit unbedingt veröffentlichen. Leider finde ich die Zeit nicht.

Du lebst und arbeitest in London? Wie hat es dich dahin verschlagen? Mich hat es schon immer nach England gezogen. Komischerweise fühle ich mich emotional sehr mit England verbunden. Ich kann gar nicht erklären warum. Aber als ich in London ankam, wusste ich sofort, hier gehör‘ ich hin! Und seitWie wird dein Diplom aussehen? dem ich nicht mehr als Touri identifiziert werDas wird die Zeit zeigen. Fürs Erste müssen die de und in der Masse der Londoner untergehe, Interessen und Fragestellungen reifen. Für das englische Freunde habe, gibt es ehrlich gesagt Diplom gibt man dem stärksten Impuls nach, keinen Ort, an dem ich lieber sein möchte! wagt das Experiment und lässt sich von Prozess und Resultat überraschen. Wenn ich jetzt schon Wo arbeitest du gerade und an was? wüsste, wie es am Ende aussieht, würde ich Ich arbeite in einer kleinen Londoner Agentur. mich selber langweilen.  dj Ich hatte mich für NKDcreative entschieden, weil da gerade enormer Drang nach Veränderung herrscht. Da ist der Diamant noch nicht geschliffen! Bei NKDcreative kann man sich noch zu 100 Prozent einsetzten und Dinge von Grund auf verändern, vielleicht sogar den Stil der Agentur mitprägen. Was will man mehr?! Glücklicherweise sind wir mit einer großen Kundenvielfalt gesegnet. Ich arbeite an Brand Identities, Visual Identities, Verpackungsdesign, allen möglichen Print Materialen, etc. Alles was man sich so vorstellen kann.

CHRISTINA SINN

Du bist »Designer of the Year« geworden! Herzlichen Glückwunsch! Wie kommt man zu der Ehre und wie geht man damit um? Diese Ehre wird einem erteilt, wenn man während des Master-Studiums (1 Jahr) die besten Noten eingeheimst und sich auch generell sehr engagiert hat. Der Titel hat mir, denke ich, schon sehr bei meiner Jobsuche genutzt. Die Engländer mögen solche Titel ganz gerne und laden einen dann doch schneller zu einem Interview ein! Dadurch, dass ich Designer of the Year war, hatte ich auch die Gelegenheit als »Graduated Teaching Assistant« zu arbeiten,

Welche Lebensweisheit würdest du deinen Kommilitonen mit auf den Weg geben? Don’t play safe! Immer experimentieren und Neues ausprobieren, Fehler machen! Denn mit jedem Fehler lernt man was Neues oder kreiert vielleicht sogar etwas Neues. Würdest du generell ein Auslandsstudium emp­ fehlen? Ja, definitiv! Schon alleine wegen dem kulturellen Austausch. Man kommt mit so vielen unterschiedlichen Menschen, Verhaltensweisen, Denkweisen in Kontakt, dass man viel toleranter, aufgeschlossener und auch kreativer wird.


In jedem Menschen habe ich auch ein Stück Inspiration gefunden. Aber auch der vollkommen andere Lehrstil meiner englischen Uni, hat mich als Designer unheimlich reifen las­sen.   mwg

AKIEM HELMLING Beinahe schon elf Jahre ist es her, da trat Akiem Helmling, aus Heidelberg stammend, mit dreiundzwanzig Jahren sein Grafik-Design-Studium an der Hochschule Mannheim an. Er gehört mit Bas Jacobs und Sami Kortemäki zu den Gründern des 1999 ins Leben gerufenen Grafik Design Studios Underware. Von seiner Studienzeit weiß er noch von Günther Meck zu erzählen, der freies Gestalten unterrichtete. Es gab spaßige Aktionen in einem Atelier mit 4,5 mal 4,5 Meter großen Leinwänden und Unmengen an Farbe, die es zu vernichten galt. Mit dieser Größe konnten sie Meck endlich ein wenig begeistern. Nach seinem Diplom und einem Praktikum bei Inken Greisner in Berlin ging er in die Niederlande. In Den Haag besuchte er ein Aufbaustudium im Bereich Schriftgestaltung und lernte dort auch seine späteren Arbeitskollegen kennen.

ßen Namen zu machen. Apropos, wie kamt ihr eigentlich auf den Namen Underware? Zwei Spanier, ein Finne, ein Deutscher & ein Niederländer + eine Nacht in einem alten 11 Meter hohen Archiev + Jonge Jenever + verse haring + Papier + Feder + Blut + secret-love-affair-after-party = offizielle Urkunde. Leider ist die im Laufe der Jahre verschwunden. Die Schriftfamilien Auto, Bello, Dolly, Fakir, Liza, Sauna und Unibody hat das unschlagbar lustige Trio bisher erarbeitet und beispielsweise für Daimler und MyFonts neue Firmenschriftzüge entworfen. Zu sagen, jetzt ist die Schrift wirklich fertig ist immer eine schwere Entscheidung und dauerte bei ihrer im Juli 2009 veröffentlichten Schrift Liza sogar über fünf Jahre. Wenn sie nicht gerade dabei sind sich originelle Namen und Charaktere für ihre Schriften auszudenken oder workshops für Jedermann zu veranstalten, dann haben die Drei trotzdem noch genug zu tun. Welche anderen Projekte sind am Laufen? Updates von unseren Schriften und Internetseiten, zwei Exklusievschriften, Typeradio und 234 andere Projekte, die so nebenher laufen.«  mf

Wie kam es dazu, dass ihr ein gemeinsames CHRISTOPHE Büro gegründet habt? Der Kurs war damals sehr klein. Da wir damals CHAN HIN schon sehr gute Freunde waren, Schriftgestaltung sehr viel Arbeit ist und man deshalb allei- Christophe, deine Bachelorarbeit »Ideal« (siene auch sehr schnell die Motivation verlieren he komma 2) ist vor ein paar Monaten beim Kunstanstifter Verlag erschienen. Wie musskann, war das eine logische Konsequenz. test du die Arbeit für den Release ändern? Außergewöhnlich an Underware ist, dass alle Ein neues Vorsatzpapier und die Schriftgröße Drei in unterschiedlichen Städten arbeiten. wurde erhöht. Ansonsten waren das Meiste Akiem Helmling in Den Haag, Bas Jacobs in Kleinigkeiten. Inhaltlich hat sich so gut wie Amsterdam und Sami Kortemäki sogar im weit nichts geändert, eine Lektorin hat den Text entfernten Helsinki. Trotzdem schaffen sie es nochmal durchgelesen – aber viel musste ich mit einem gemeinsamen Konto und einem ge- da nicht machen. Zum Glück! meinsamen Vorhaben immer wieder frische, erfolgreiche und bis ins Detail ausgearbeitete Wie ist die Zusammenarbeit mit dem Verlag? Schriften zu entwickeln und sich so einen gro- Sehr entspannt! Die Konditionen sind gut, auch

wenn das Meiste Geld an den Händler geht. Amazon verlangt besonders viel, 60% wollen die haben. Wenn man dann Druckkosten noch mit einberechnet bleiben für Autor und Verlag nicht mehr so viel übrig. Du lebst von deiner Arbeit bei der Ultrabold Kommunikationsdesign GmbH, die ihren Sitz in Mannheim/ Jungbusch hat. Wie bist du da aufgenommen worden? Ich bin während dem Studium von einem Kommilitonen darauf aufmerksam gemacht worden, das die Leute suchen. Eigentlich Vollzeit. Ich hab einfach mal angefragt und war dann eine Woche später drin – als Werksstudent, zweimal die Woche. Du warst also der Agentur bereits bekannt und hattest, wie schon beim Finden des Kunstanstifter-Verlags, den »Freunde-Bonus«! Das Studiennetzwerk hält weit über das Studium hinaus – und auch für Freelancer kommen eine Menge Jobs über ehemalige Kommilitonen rein. Aber kurz danach sind in der Agentur auch zwei Leute über eine normale Bewerbung, über eine Anzeige reingekommen. Letztendlich ist wichtig, dass man Informationen bekommt! Für Freelancer gilt das glaube ich noch mehr: Die ehemaligen Studienkollegen sind nicht in erster Linie Konkurrenz, sondern bringen schonmal den ein oder anderen Job rein. Viele Freelancer, die wir beschäftigen, sind persönliche Kontakte. Was würdest du deinen Kommilitonen noch mit auf dem Weg geben? Hm. Ich denke wenn man weiß, was man will, sollte man das auch kommunizieren. Ein Praktikum anzufangen, wenn man eigentlich eine Festanstellung haben möchte, ist denke ich, der falsche Weg. Insgesamt sollte man sich nicht zu viel Zukunftssorgen machen. Von meinen damaligen Kommilitonen sind doch die meisten irgendwo untergekommen. Und die wenigen Ausnahmen, bei denen das nicht so ist, haben das meistens aus freien Stücken entschieden und wollten dann doch was anderes machen. Warum keine Praktika? Also, grundsätzlich sind Praktika jetzt nicht schlecht, aber nur, wenn man wirklich nur was lernen will. Aber selbst dann: Eine Festanstellung heißt ja jetzt nicht, dass man da nie mehr wegkommt.  mwg

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ICH BIN EIN

ANDERER ◊

Der Takt des Zuges auf den Schienen forderte ihren Kopf zum Tanz auf. Der Takt, mechanisch wie ein Metronom, welches einen Rahmen bot, den es zu füllen galt. Gleichermaßen Herausforderung und Chance. Sie reichte der Maschine ihre Hand und sie begannen zu tanzen. Sie bewegten sich. Die uniformen Häuser, die Monokel trugen, flogen in Reih und Glied salutierend an ihnen vorüber. Magie. Der Takt wurde schneller, sowie auch ihre Bewegungen. Zunehmend ungehalten tanzten sie sich frei. Frei von Beton, frei von den unzähligen Menschen in der Großstadt, frei von dem Dreck und dem Gestank. Sie atmete ein. Ihr Kopf drehte sich noch im Takt, als sie in Euphorie lächelte und aus der Fens-

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die Zeit schien eingefroren zu sein. Sie war die unfreiwillige Braut des Winters, tarnte sich im Schnee und schlitterte den leichten Anstieg herauf, der ihr den Atem raubte. Da war es, das Schild mit den schreienden Lettern »Psychiatrisches Zentrum für Suchtkranke«. Den Gebäudekomplex erreichte sie nach einem kurzen Waldstück. Sie öffnete das Tor und betrat einige Momente später die kühle Empfangshalle mit der noch kühleren Empfangsdame darin. Die graue Dame war wie ein Relikt aus der Dinosaurierzeit. Unauffällig nichtssagend und trotzdem von unschätzbarem Wert für die Geschichte und die Halle. Sie thronte sicher verwahrt hinter einer Glasscheibe. Doch in der jungen Frau wuchs die Gewissheit, dass der Glaskasten nicht etwa wie gewöhnlich zum Schutz für das Skelett diente, sondern vielmehr seine Funktion in der Sicherung der Besucher vor der Dame hatte. Sie nickte dem alten Knochen freundlich zu, ohne eine Reaktion zu erwarten. Dem Dino-Skelett schien die Möglichkeit auf Emotionen mit dem Alter genommen worden zu sein. Das Einzige, das ihm blieb, war die Sekunden zu zählen und zu warten, bis sie den Tod in der Halle empfing. Es war daher nicht weiter verwunderlich zu sehen, wie die Empfangsdame lediglich mit den Fingern auf die graue Wanduhr hinter der Frau wies und durch das Mikrofon krächzte »Sie sind zu spät. Ihr Dienst hat vor vier Minuten begonnen. Der Doktor erwartet sie.« Unbeirrt strahlte die junge Frau das Relikt an »Verzeihen Sie mir Fräulein. Doch draußen scheint die zweite Eiszeit ausgebrochen zu sein.« Sie schmunzelte über ihren an sich selbst gerichteten Spaß, drehte sich energisch um und begann die Treppen zu erklimmen. Sie hörte das »Pfff« des Dinos genauso wenig, wie sie das verheißungsvolle Ticken der Wanduhr wahrnahm.

Während die Frau in Weiß im Gebäude immer höher ihrem Ziel entgegenstieg, fiel ein fremder Gast in seinem Zimmer in ein immer tieferes terscheibe ironisch den letzten Häusern am schwarzes Loch. Stadtrand entgegen salutierte. Sie trug immerhin auch eine Uniform. Sie hörte die Geräusche, bevor sie die SicherDann ein Fluss, Felder, Bäume. Sie verbeugte heitsschleuse durch die Stationstür verließ. Den sich in einem Knicks und dankte der Maschine Mantel wollte sie nicht ausziehen. Die Kälte für den Tanz. Sie setzte sich auf eine Sitzbank war unerträglich. Sie öffnete die Tür. und beobachtete die vorüberziehende Land- Eine Armee in weiß kämpfte im Krieg. Hektik. schaft, wie es seit einigen Wochen ihre Routi- Leid. Wahnsinn. Schreie. Kalter Entzug. »Morne war. Kurze Momente der Freiheit, bevor ihre gen«, die Mitarbeiter verziehen ihre Gesichter Arbeit sie in die nächste Bedrückung zwang. zu zähnebleckenden Fratzen. Ihre Augen bleiDann läutete der Hügel vor ihr in königlicher ben kalkuliert. Imitation eines Lächelns. KariManier ihre baldige Ankunft ein. Die Krone des katuren ihrer selbst. Eine Ironie sich gegenseiHügels bildete eine Häusergruppe. Diese ent- tig mit »Schwester« anzusprechen. Waren sie flammte das Gefühl von Ehrfurcht in der jungen doch von der Nähe und Gemeinschaftlichkeit, Frau. Angekommen, schien sie sich homogen in die das Wort implizierte, weit entfernt. dem eingefrorenen Städtchen aufzulösen. Auch Desillusioniert, argwöhnisch und zynisch. Dar-


an erkannte man die Sippe. Eine »Schwester« mit enormer Brust, grotesk dünnen Beinchen und einer Stimme, die einer Alarmsirene mehr glich als einem menschlichen Geräusch, würgte der jungen Frau in weiß ein »Los, los!« entgegen. Doch da die Analogie zu einem Huhn geradezu lächerlich offensichtlich war, konnte die junge Schwester über den Lärmpegel hinweg bloß ein »Bockbockbock...« erlauschen. Ein dominantes Geräusch, das die anderen verstummen ließ, zog das Schwesterchen an. Es war das Kratzen eines Stiftes auf Papier, sie folgte dem Geräusch. Der Wolf im Arztkittel. Ein argwöhnischer Blick. »Wie lang brauchen Sie denn, Engelchen? Vorige Nacht sind Neue reingekommen. Silvesternacht und Alkohol. Wir sind total überbelegt, einige mussten wir auf die Heroinstation verlegen…Trotz, dass Sie keine Ausbildung haben, lässt es sich nicht verhindern, dass Sie nun einige Patienten selbstständig überprüfen müssen. Zahlen ablesen und eintragen kann ja jeder, nicht? Ein bisschen Quatschen auch, nicht?« Selbstgefälliges Grinsen des Arztes trifft auf stahlgraue Augen des Engelchens. Die Muskeln in ihrer Hand verkrampfen sich, doch sie lächelt »Ja, nicht. Da haben wir ja den gleichen Glauben an die Menschheit.« Nachdem das junge Küken ihre bekannten Patienten, für die sie aufrichtige Sympathie empfand, in Gespräche verwickelt und deren körperliche Zustände auf Zahlen in den Akten reduziert hatte, machte sie sich auf den Weg ihrem Schicksal zu begegnen. Vor mir die Tür 505 mit dem Neuen darin. Noch alkoholisiert sind viele unberechenbar. Meine Fingerspitzen berühren den Türknauf. Irgendwoher höre ich das Knistern eines laufenden Plattenspielers. »Zahlen ablesen… ein bisschen quatschen, nicht?« Ich trete ein. Düster. Ein Körper ist an eine Maschine angeschlossen. Ersatzdrogen. Er ist nicht bei Sinnen. Ich atme ein. Kein Geruch von Alkohol und Schweiß. Dafür... vebranntes Papier. Nervosität. Wie ist das möglich? Der Gedanke an Feuerwerk und Rauch auf den Straßen liefert mir die Erklärung. Ich sehe mich um, meine eiskalten Hände werden feucht, während mein Inneres Feuer fängt. Ich keuche. Trägt der Patient etwa einen Zylinder? Fassungslos stolpere ich an das Bett heran. Schatten. Illusion. Der Takt des Piepens von dem Gerät, an dem der Patient angeschlossen ist, fordert meinen Kopf zum Tanz auf. Ich drehe mich. Magie. Einzelne Bilder stellen sich scharf, der Rest verschwimmt. Enger Raum. Grüne Lichter der Maschine. Mantel über einem Stuhl. Zylinder. Irgendwoher das Knistern eines Plattenspielers. Der Geruch von verbranntem Papier. Seine Hände am Bett fixiert. Ver-

brauchtes Gesicht. Ergraute Locken. Mein Kopf steht nun still. Mir ist übel. Ich zittere. Die Akte: Igor Rastelli; Geschlecht: männlich; Alter: 52; Promille bei Ankunftszeit: 5,7; Entzüge insgesamt: 9; Sonstiges: schwere Depressionen. Es ist schön, wie er daliegt. Ohne schreien, ohne Krämpfe. Ganz ruhig. Es ist warm in dem Raum. Melancholische Ruhe. Ich ertrage die Brutalität seiner Gefangenschaft nicht. »Was ist mit Ihnen geschehen, Herr Rastelli?… Ich befreie Sie.« Euphorie. Kann ein Lächeln nicht verbergen. »Nennen Sie mich des Wahnsinns fröhliche Beute«, stelle ich mich vor, dann löse ich die Fixierbänder. Die Schwester beobachtete in der kommenden Woche den seltsamen Gast beim Ausnüchtern. Die Wärme, die von Ihnen beiden ausging, machte sie zu Verbündeten gegen ihre eingefrorene groteske Umgebung. Manchmal spricht er gar nicht, sondern schreibt bloß. Von sich selbst sagt er, er sei dem Schreiben verschrieben, aber er hasse es. Seinen Zylinder behielt er stets auf. Über seine Probleme sprach er nicht, bloß davon, dass er ein Sklave seiner selbst war, doch nicht zum Dienen geboren. Auf ihre Frage hin, warum er nicht die Macht über sich selbst haben wollte, antwortete er, dass er ein anderer sei und Hierarchien hasse. Mit einem Blick, der keine weiteren Fragen duldete, sagte er flüsternd: »Es ist das Feuer in mir.« Sie verstand nicht, aber duldete. Über den ganzen Winter hinweg, war die junge Frau in weiß immer wieder den Launen des Arztes und der Schwestern ausgesetzt. Und das Relikt vergaß nicht darauf hinzuweisen, dass ihre Zeit hier bald zu Ende ging. Mit dem Frühling kam die Erkenntnis »Die lassen mich hier nie wieder raus.« In Rastellis Akte wurde unter der Spalte »Sonstiges« nach einigen Monaten noch »Durch Alkohol bedingte Schizophrenie« hinzugefügt. Ich setze mich neben den Magier und zünde eine Kerze an, um ihn zu wärmen. »Rastellis magische Show. Eine Sensation für die Nation.«, sagt er. Ich ertrage die Brutalität seiner Gefangenschaft nicht. Verdränge nicht weiter die Klarheit der Zusammenfassung des dämonischen Arztes über Rastellis magisches Leben. Stelle mich: Es ist nicht möglich! Ich werde nichts verändern, auch wenn ich ewig bleibe. Doch etwas hat sich verändert: Ich starre in die Flamme. Rausch. Sie ist wunderschön. Sie berührt mich. Ich sehe meine einzige Liebe darin. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? – Lange Jahre. – »Du fehlst mir«, höre ich mich sagen. »Mit wem sprichst du, meine Schwester?« Rastellis braune Augen ruhen auf mir. Mein Atem geht gleichmäßig. »Rastelli. Wir haben nichts Bedeutendes hin-

terlassen. Du nicht mit deinen Worten und ich nicht mit meinen Taten.« Doch etwas hat sich verändert. Die einzige Lösung drängt sich auf. Ich schaue ihn an, meine Hand sucht seine. Roter Faden? Der viel besungene Weg? Gab es das, so war das Feuer unser Schicksal. Wenn ich allein die Kraft nicht habe, Dinge zu verändern... und du nicht, zusammen haben wir es. Zusammen mit dem Feuer. Rastelli versteht. »Magie«, sagt er traurig und nickt. Wir umarmen uns zum Abschied. Ich schaue in die Flamme. Es beginnt mit einem Knistern, wie bei den meisten Liebeleien. – Bereit für dich. Bereit einen Teil von mir auszulöschen. Ich nehme die Akte. Einen letzten Blick darauf. Name: Louise Dämpfle; Geschlecht: weiblich; Alter: 28; Schwere Depressionen mit Wahnvorstellungen; Schizophrenie; nachgewiesene Personen: Louise Dämpfle und Igor Rastelli. Ich lächle. Das erste Papier fängt Flammen. Es ist ein Rausch. Wärme. Welch ein Glück, dass ich dich wiederfinde! Pläne, Heilung - Adieu! Mein Leben lang mit falschen Mitteln gegen die falschen Probleme gekämpft. Beachtlich unbeachtete Taten. Alles um uns herum ist überladen, Rastelli. Alles im Übermaß. Wir fressen uns fett an der Stumpfsinnigkeit. Du, Feuer zeigst mir klar, was die Welt wirklich braucht: Reduktion. Ich lösche aus, um neuen Platz zu schaffen. Rastelli, Feuer, wir drei heilen die kranke Welt. Die Sicht wird mir recht unklar. Oh Tränen! Oh Freude! Oh Wahrheit! Du bist wunderschön. Ich taumle, ich falle in dich! Ich liebe dich. Meine Wahrheit, meine Liebe, mein Feuer. Bereit für dich. Bereit einen Teil von mir auszulöschen. Wie die Patientin in weiß an die Kerze gekommen ist, bleibt ungeklärt. Doch das Knistern des Papieres forderte ihren Kopf zum Tanz heraus. Den Magier hat es niemals real gegeben. Doch das Feuer gab es. Der Takt wurde schneller, das Feuer verschlang den Gebäudekomplex. Zunehmend ungehalten tanzte Louise sich frei. Frei von Beton, frei von den unzähligen Menschen, frei von dem Dreck und dem Gestank. Frei von der Gefangenschaft. Sie atmete ein. Ihr Kopf drehte sich noch im Takt, als sie in Euphorie lächelte und ironisch den letzten Häusern am Stadtrand entgegen salutierte. Sie trug immerhin auch eine Uniform. Einreichung zum »Text vs. Bild« Contest von Ann-Katrin Gehrmann

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GEGEN DIE

ENTROPIE ◊ König und Narr, Exzentriker und Rationalist, eine unverwechselbare Marke und kaum er selbst. Die Wahrheit über Kurt Weidemann liegt wohl irgendwo zwischen diesen Polaritäten, in denen er lebt und arbeitet, seit nunmehr fünf Dekaden; dem ästhetischen Verfall entgegen. Wir sind aufgebrochen, um ihm die großen Fragen über den Erfolg, seinen Durchbruch als Gestalter und seine drei Zapfanlagen zu stellen. Die meisten davon haben wir nach dem dritten Maulbeerschnaps vergessen. Der Rest ist hier nach­­­­­­­­­zulesen.

Man kann diesen Wunsch natürlich auch als schlichtweg menschlich ansehen; oder siehst du das Ganze als ein Symptom gerade unserer Zeit? Ja. Es ist ein Symptom einer egomanischen Zeit. Das Grundproblem ist, dass wir keinen Zeitgeist haben. Beim Jugendstil gab es einen Zeitgeist, in der Art-Deco Zeit gab es einen. Ein Gemeinschaftsgefühl für bestimmte Dinge. Die hatten auch ihre Helden. Im Jugendstil war es Hoffmann. Klimt, Schiele, usw. in der bildenden Kunst. In der Art-Deco war es auch noch so, Darf, deinem Verständnis nach, der Designer aber bei uns gibt es keinen Zeitgeist. Ich wüssnach Erfolg in Form von Selbstverwirklichung te nicht, auf wen wir uns einigen sollten. Auf streben, oder ist das Gestalten an sich eher eine einen Habermas? Art ehrenamtliche Aufgabe? Nein, es ist ein Dienstleistungsberuf, wie Ge- Der Individualismus als Idee ist ja nun auch noch päckträger am Bahnhof oder Pastor. Also eine nicht so alt… Dienstleistung an der Gemeinschaft. Selbstver- Sicher. Und auch das sogenannte »Glücksstrewirklichung ist eine schöne Sache, aber dann ben«. Glücklichsein ist in der Schöpfungsgebin ich kein Designer, sondern Künstler. Selbst- schichte nicht vorgesehen. Ich habe ja eine verwirklichung spielt bei mir keine Rolle. Schrift für die Bibel gemacht.

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Die Biblica… Also die kenne ich nun ganz genau (lacht). Aber das Wort »Glück« kommt nirgends vor. Das ist eine Erfindung aus dem 19. Jahrhundert. Eine eher pessimistische Sicht… Nicht pessimistisch – realistisch. Ist das eine Einstellung, die auf die Erfahrungen zurückzuführen ist, die du im Krieg gemacht hast? Ja, ja (überlegt). Es ist ein Begriff, der keine Substanz, keine Herkunft hat. Und keinen Wert hat. Privat bist du eher ein extrovertierter Mensch. Typografisch gesehen, vertrittst du jedoch die Meinung, ein guter Typograf muss in der Lage sein, sich selbst in seiner Arbeit zurückzunehmen. Wie verbindest du diese Gegensätze? Das ist sehr gut zu machen. Die Dienstleistung, die ich zu erbringen habe ist: maximale Lesbarkeit mit einer dem Text angemessenen Schrift.


Schrift heißt im Englischen »character« und im Agentur nehme, dann rücken die hier mit fünf Französischen »caractère«. Es wäre schön, wenn Mann an und besabbeln mich.« es im Deutschen auch so heißen würde. Die Franzosen sagen »Qu'est-ce qui le caractère Wir werden vom Klingeln des Telefons unterbrotu as choisi?« Und wenn man dann sagt, ich chen. Kurt murmelt etwas Entschuldigendes, wähhab was von Hermann Zapf genommen, dann rend er sich erhebt, um den Anruf entgegenzunehsagen sie, »Das ist doch ’n Weichei«. (lacht) men. Immer noch ist er eine Eminenz, dessen Rat die verschiedensten Entscheidungsträger schätzen Der Beruf Designer geht für dich weit über das und dessen Segen sie einholen. Gestalten von Werbeauftritten hinaus, oder? Ein tätiges Leben. Genauso wie das frühe AufsteEs gibt Unternehmen, die nennen mich ihren hen. Er kann nicht anders. Als das Gespräch bebesten Unternehmensberater, weil ich auch in endet ist, entschuldigt er sich nochmals für die Einstellungen eingreife. Ich sage immer, ihr Unterbrechung, während er uns gegenüber Platz müsst es zu allererst den Leuten verkaufen. Erst nimmt. Das Aufnahmegerät läuft wieder. wenn die alle sagen, »Ja, ich kann mich damit identifizieren«, dann geht ihr damit auf den Deine Meinung zu Stefan Sagmeister? Markt. Aber nicht andersherum, erst auf den Ich bin ja beim Lucky Strike Design Award in der Markt gehen und die Leute überraschen. Solche Jury gewesen – und war ’95 selbst Preisträger. Dinge. Das ist Unternehmensberatung – Um- Stefan Sagmeister kannte keiner von 8 Jurogang mit Menschen. Einflussnahme also, in das ren, ich habe den Namen reingebracht. Dann Selbstverständnis eines Unternehmens. hieß es, wir zeichnen doch nur Lebenswerke aus, Ich frage oft: »Wie seht ihr euch? Wer seid ihr das heißt, man musste schon zwischen 60 und eigentlich?« Und oft kommt da heiße Luft. scheintot sein. Aber was er gemacht hat, ist mehr als das Lebenswerk von anderen Leuten, Genießt du bei Kunden ein gewisses Vertrauen die wir ausgezeichnet haben. dadurch, dass du deinem Selbstverständnis als Karl Lagerfeld zum Beispiel hatte vor mir schon Gestalter nach sehr viel Wert auf Integrität legst? den Preis. Der inszeniert sich, er ist brillant. Also etwas sagst, auf die Gefahr hin, dass es Dann habe ich bei der Preisverleihung in Berlin nicht so verstanden wird, wie es gemeint war? im Charlottenburger Schloss beim Mittagessen Ja. Ich habe ja auch Sachen abgelehnt. Aber es zu ihm gesagt »Karlchen, ich habe gegen dich ist wichtig, dass wir mit dem Kopf unseres Kun- gestimmt«. Er fragt mich: »Warum?« Und ich den denken können. Ist er nur umsatzorientiert, sage zu ihm: »Als Designer ist jeder drittklassioder ist er auch führungsorientiert? Ist er mo- ge Japaner besser.« Die Japaner haben irre Motivationsorientiert, oder ist ihm das alles scheiß- deleute. Als Illustrator hätte ich ihn nicht an der egal? Helmut Nanz sagte zum Beispiel zu mir: Akademie aufgenommen. Der macht so Barock»Mit dir brauch ich nur ’ne Viertelstunde reden zeichnungen. Dann hat er mich gefragt: »Wie und du machst alles richtig. Und wenn ich ’ne viele wart ihr denn in der Jury?« Und ich sage:

»Acht.« Darauf meinte er: »Na, das ist doch Prima. Wäre ja sonst ein DDR-Ergebnis gewesen.« Das fand ich gut. (lacht) Sagmeister ist natürlich auch ein Selbstvermarktungsgenie… Natürlich. Das gehört dazu. Und ist in den USA leider notwendig. All die guten Leute dort… Saul Bass hatte über seinem Arbeitsplatz den Spruch – das hab ich auch irgendwo – »They need us more than we need them«. Das ist ja auch ein Status, den man sich erst mal erarbeiten muss. Wie kommt man dorthin, Aufträge nach Belieben annehmen oder ablehnen zu können? Ja... (hält kurz inne), ich habe damals eben Coop gewonnen. (Der Coop-Wettbewerb war eine Ausschreibung zur Gestaltung des neuen Coop Erscheinungsbilds, Anm. d. Verf.) Das war sozusagen abends beim Bier mit Dr. Fischer. (Jurymitglied, Anm. d. Verf.) Er hat mich nach meinem Entwurf gefragt, ich habe ihm mein Konzept erklärt und er meinte zu mir: »Herr Weidemann, Sie haben gewonnen.« Und ich hab nur gesagt: »Wie meinen Sie das? Der Wettbewerb, bei dem Sie auch Jurymitglied sind, ist morgen.« Ist das so, dass Wettbewerbe auch mal abends beim Bier entschieden werden? Nein, nein. Aber persönliche Gespräche sind wichtig. Ich bin zum Beispiel mit Heinz Dürr befreundet. (Heinz Dürr ist ein deutscher Unternehmer und Manager. Ab 1991 war er erster Präsident der Deutschen Bundesbahn, Anm. d. Verf.) Dann kam der Deutsche Bahn Wettbewerb. Die DDR, also die Deutsche Reichsbahn, war  

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bereit, sich der Deutschen Bahn anzuschließen. Das war ein politischer Kampf, der auch sehr lange gedauert hat. Die Ausschreibung hat Heinz Dürr gemacht. Und ich habe zu ihm gesagt: »Pass auf, ich möchte dich bitte in diesem Wettbewerb nicht ein einziges Mal sehen.« Ich wollte verhindern, dass jemand sagen kann »der ist mit Weidemann befreundet, also gewinnt der auch«. Deine Arbeit für die Deutsche Bahn hat damals in der Bevölkerung für Empörung gesorgt, kann man sagen. Kurt erhebt sich plötzlich, beginnt eine Weile nach etwas zu suchen und kramt schließlich ein Buch hervor. Darin zeigt er uns seinen Entwurf von damals und anschließend das alte »DB Erscheinungsbild«, zum Vergleich. Das ist das Alte und das hier das Neue. Das alte siehst du auf 120 Meter und das neue auf 160 Meter Entfernung, bei gleicher Größe. Haben wir alles getestet. Ich habe rote Buchstaben in ein weißes Feld gestellt und vorher waren weiße Buchstaben in einem roten Feld. Die Bahn spart pro Jahr allein an Siebdruckfarbe – nur Siebdruckfarbe – fünfhunderttausend DM – damals noch DM. Über mein Honorar wurde ich dann in Stern-TV befragt »Wie lange haben sie denn daran gearbeitet?«, »Zwanzig Minuten«, antwortete ich. Zwei Buchstaben in ein rechteckiges Feld mit abgerundeten Ecken hineinstellen, das muss in zwanzig Minuten machbar sein. Sonst muss man Taxifahrer werden. Herr Jauch hat mich dann gefragt: »Dafür haben Sie 1,2 Millionen bekommen?« Und ich sage zu ihm: »Ja, beinahe. Sie müssen nur mal eine Null abstreichen.« Außerdem habe ich 6 Hefte zu je 48 Seiten gemacht mit Reinzeichnungen und allem. »Da bleibt ein Stundenlohn übrig, für den würden Sie noch nicht mal den Mund aufmachen«, sagte ich wortwörtlich zu ihm.

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Muss man manchmal frech sein ? Ja, dummerweise nennt man das bei uns heute Nicht frech. Nein, mutig. Das musste ich schon »verkaufen«. Aber das ist kein verkaufen, es ist im Krieg. Ja, Mut hab ich gelernt. Vertrauenserwerb. Eine Zahnpasta, die ich ganz gut finde, aber nicht andauernd weiter benutIst Frechsein eine Frechheit?, hast du mal gefragt, ze, ist ein Flop. in einem deiner Essays… Ja, richtig. Frechsein ist, wenn es auf guten Ar- Typografie ist für dich eine Art Gefäß für die gumenten steht, absolut erlaubt. Sogar notwen- Sprache. Der Designer muss sich mit seinem dig. Zum Beispiel Werner Niefe, »Mr. Mercedes« Ego hinten anstellen, aus Respekt vor der Spraschlechthin, war ein Super-Typ. Aber mit dem che… bin ich völlig ruppig umgegangen. Von den grafischen Sparten – Illustration, Fotografie, Corporate Identity usw. – ist Typografie Und hat das zum Ziel geführt ? die Intelligenteste. Sie setzt ein hohes Maß an Ja, indem er mich hat machen lassen. (parodiert Sprachgefühl voraus, ein sehr hohes Maß an Bilein Gespräch zwischen Niefe und ihm) dung. Ich kann Sprache nur an Bildung schulen. »Dann mach doch, du Blödmann«. »Und du Auch wenn ich ins Theater gehe, lese ich sozuhast keine Ahnung, das ist viel schlimmer.« sagen ein Stück. Der Umgang mit Sprache ist (lacht) So haben wir miteinander geredet. Mut für mich der primäre Zugang zur Typografie. beruht auf der Tatsache, dass man dem Mann, dem man gegenübersitzt, Respekt entgegen- Kannst du heute noch Zeitung lesen, ohne dich bringt, ihm aber trotzdem Sachen sagt, die er permanent über den Satz aufzuregen? notfalls vorher noch nie gehört hat. Nein, kaum. Ich habe Zeitungen ja zum Teil geVon Konrad Lorenz gibt es den Satz: »Gesagt staltet, und da habe ich gesagt: »Leute, dreiist nicht gehört, gehört ist nicht verstanden, ver- undzwanzig bis dreißig Buchstaben, auf Block standen ist nicht einverstanden, einverstanden gesetzt, das kann sich die Bild-Zeitung erlauben«. ist nicht angewendet, angewendet ist nicht bei- Mit zweigeviertem Abstand zwischen den Worbehalten«. Wenn ich nicht beibehalte, kann ich ten und mit dreizehn Trennungen in fünfzehn alle vier Stufen der Kommunikation erfüllen, Zeilen. Natürlich kann ich nicht eine Volkserzieaber die Beibehaltung findet nicht statt. Dann hungsgruppe für Typografie bilden, aber im ist Schluss. Das heißt von zehn Produkten, die Grunde genommen müsstest du jeder Sekretäauf den Markt kommen, sind neun ein Flop – rin, die schreiben lernt, mindestens fünf Sätze Man muss sehr viel tun heute. Genauso ist es beibringen, was sie nicht machen darf. Dann mit dem Vertrauen. Vertrauen ist das, was man wäre die Typografie unendlich viel besser, dass miteinander erreichen kann. Aber das dauert. Es der Durchschuss, also der Raum zwischen den ist eine sehr hohe Stufe, die viele Vorstufen hat. Zeilen, größer sein muss, als der Raum zwischen Das ist es, was wir als Kommunikationsleute den Worten, der Ausschluss. Das ist der erste heute erreichen müssen. Ich muss mit dir schnell Satz, den du als Schriftsetzer lernst. so weit kommen, dass du mir vertraust. Kleist konnte das noch: 53 Worte in 13 Zeilen mit 27 Kommas. Aber heute musst du schreiben: Mercedes soll es angeblich siebenmal so viel Geld Subjekt, Prädikat, Objekt, Punkt. Der Sprachkosten, einen Neukunden zu gewinnen, wie ei- umgang bei uns heute ist ziemlich miserabel, nem bestehenden Kunden wieder einen Merce- da kann die Typografie nicht viel besser sein. des zu verkaufen. Schrift beruht ja auf zwei Sachen: auf Rhythmus,

also auf Abstand und auf Proportion. Die Corporate wird jetzt zum Beispiel ausgebaut auf 45.000 bis 50.000 Figuren; Mongolisch, Chinesisch, Japanisch, Koreanisch... und die korrigiere ich. Weil ich im Mongolischen genauso auf Rhythmus und Proportion achte, wie im Kyrillischen oder Griechischen. Ich kürze Formen oder erhöhe sie und die Korrekturen werden akzeptiert. Ich mache die Schrift schöner, obwohl ich sie gar nicht kenne. Die Formbeherrschung oder die Formerkenntnis ist also außerordentlich wichtig. Formschulung findet zum Beispiel beim Bleisatz statt, weil du die Figur spiegelbildlich über Kopf siehst. Du siehst ja dann kein F, sondern du siehst einen Schwung oder einen Strich. Sitzt er an der richtigen Stelle, oder ist der Schwung unten zu groß, oben zu klein und so weiter? Wie überzeugt man den Kunden davon, dass das was man selbst will, auch das ist, was er will? Oder anders gefragt: wie macht man ihm klar, dass man mehr Ahnung hat? Wenn er wirklich meint, dass er das besser weiß, dann gehe ich von ihm weg und sage: »Du bist ein glücklicher Mensch, dass du mich nicht brauchst.« Etwas anderes ist es, wenn er zu mir sagt: »Du erzählst mir Sachen, die ich vorher noch nicht gehört habe... « (hält inne) Kreativität ist, wenn der Papagei ein Wort sagt, das er selbst noch nicht gehört hat. Alles andere ist nachplappern. Wie oft ist deine Zapfanlage in Benutzung ? Eine? Ich habe drei. Nicht schlecht. Hast du je über deinen Ruhestand nachgedacht? Nein, ich gehe nicht in den Ruhestand, das bin ich schon seit 25 Jahren. (lacht) Interview mit Kurt Weidemann von Philipp Leicher und Sebastian Schellenberger.

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komma beruht auf der Diplomarbeit von Moritz Nolting.

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