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MIRGA GRAŽINYTĖ-TYLA

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Bis auf den Grund

Bis auf den Grund

MIRGA GRAŽINYTĖ-TYLA

OMG IT’S A GIRL!

Im November 2017 dirigierte sie zum ersten Mal im KONZERTHAUS DORT-MUND. Nun wird Mirga Gražinytė-Tyla hier regelmäßig zu erleben sein – dieerste künstlerische Entscheidung, die Raphael von Hoensbroech als neuerIntendant getroffen hat. Gerade hat sie als erste Dirigentin einen Exklusiv-vertrag bei der Deutschen Grammophon unterschrieben. »Als erste Dirigentin«– ist das eigentlich erwähnenswert?

Als Nadia Boulanger 1938 als erste Frau überhaupt ein amerikanisches Orchester dirigierte, das Boston Symphony Orchestra, musste sie sich vielen Fragen der Journalisten und Reporter stellen. Dabei die häufigste: Wie fühlt es sich an, als Frau dieses Orchester zu dirigieren? Ihre Antwort darauf wurde berühmt: »Ich bin seit etwas über fünfzig Jahren eine Frau und habe das anfängliche Staunen darüber inzwischen abgelegt.« 80 Jahre später sind die Fragen der Journalisten nicht origineller geworden – was natürlich auch an der sich allzu langsam entwickelnden gesellschaftlichen Stellung von Frauen liegt. Und so bekommt Mirga Gražinytė-Tyla bei fast jedem Gespräch eine Frage nach ihrem Frausein gestellt. Wie damals Nadia Boulanger kann sie nicht so richtig verstehen, warum es überhaupt erwähnenswert ist, dass sie eine Frau ist. Unangemessen findet sie es aber, wenn der Umstand, dass sie eben eine Frau ist, den Aspekt, dass sie eine Dirigentin ist, übertönt. In den vielen Berichten zu ihrer Berufung als Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO) vor drei Jahren wurde sie meist als »zierliche« Dirigentin beschrieben. Das sei natürlich nicht falsch, meint sie, aber niemand würde doch beispielsweise Georg Solti als »kahlen« Dirigenten beschreiben. Oder? Stimmt, da liest man etwas von »nassforsch«, »machtbewusst«, »herausragend«, »rastlos«. Soltis Aussehen spielt im Gegensatz zu seinen Eigenschaften allerdings nie eine Rolle.

Nun hofft Mirga Gražinytė-Tyla also, dass sie der letzten Dirigentinnen-Generation angehört, die sich mit solch eindimensionalen Zuschreibungen auseinandersetzen muss. Immerhin wuchs sie mit dem wunderbaren Selbstverständnis auf, dass ihr die Welt zu Füßen liegen kann – ganz gleich, welchen Beruf sie wählt, und ganz ungeachtet der Tatsache, dass sie eine Frau ist. Im August 1986 wurde sie im litauischen Vilnius geboren, ihre Mutter ist Pianistin, ihre Großtante Komponistin, ihr Vater leitet wie so viele in diesem gesangstraditionsreichen Land einen Chor. Die Musiker-Eltern wollen ihrem erstgeborenen Kind eine Kindheit ersparen, in der sich alles nur ums Üben dreht, und lassen sie erst einmal kein Instrument lernen. Aber das funktioniert natürlich nicht so richtig in einer Familie, in der Musik eine so große Rolle spielt. Mit elf Jahren verlangt Mirga also aktiv danach, endlich auch Unterricht zu bekommen.

Aber worin? Jetzt noch ein Instrument lernen? Eigentlich zu spät. Also besucht sie Unterricht im Chordirigieren, bekommt auch Lektionen in Musiktheorie und Gehörbildung und beginnt am Ende tatsächlich ein Studium an der Musikuniversität Graz. Schnell findet sie Orchesterdirigieren dann doch spannender als die Leitung reiner Vokalensembles. Und schon nimmt die Karriere ihren Lauf.

FOTO: VIGANTAS OVADNEVAS

Kein Instrument spielen zu können empfand Mirga zuerst als Nachteil. Denn wenn man vor so ein Orchester tritt und zugeben muss, dass man allerhöchstens ein paar Töne auf dem Klavier anklimpern kann, aber nicht so richtig weiß, wie sich ein Aufstrich im Gegensatz zu einem Abstrich bei den Streichern anfühlt oder wie man den Ansatz als Oboist oder als Hornistin vorbereitet, dann kann das das Selbstbewusstsein schmälern. Inzwischen aber weiß die Musikerin zu vermitteln, dass eigentlich fast alles beim gemeinsamen Musizieren auf dem richtigen Atem beruht, Bogenbewegungen genauso wie Lippenspannungen. Und singen – das kann Mirga Gražinytė- Tyla, denn das macht sie schon ihr Leben lang.

Das erklärt vielleicht auch, warum sie als hauptverantwortliche Dirigentin zuerst ihr Debüt im Operngraben und dann erst auf der Konzertbühne feierte. 2010 war das, in Osnabrück mit »La traviata«, danach arbeitete sie als Kapellmeisterin an den Bühnen in Heidelberg und Bern, bis 2015 die erste große Stelle als Musikdirektorin des Salzburger Landestheaters folgte. Da hatte das CBSO, das ja gemeinhin dafür bekannt ist, (noch) unbekannte Talente zu verpflichten, bereits von der litauischen Dirigentin gehört und sie eingeladen. Eine Probenphase und ein Konzert später war dann alles klar. Der Orchestermanager erinnert sich daran, dass er noch in der Nacht nach dem Konzert begeisterte Mails von den Orchestermitgliedern bekommen habe. Sechs Monate später war Mirga Gražinytė-Tyla die neue Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra.

Wer damals nicht darüber schrieb, dass nun eine Frau Chefin eines der wichtigsten Orchester der Welt sei, der schrieb darüber, dass eine erst 29-Jährige diesen wichtigen Posten ergattert habe. Irgendwas ist immer, oder? Außerdem wurde oft erwähnt, dass Mirga Gražinytė-Tyla ihre Positionen immer nur so kurz halten würde. Nur jeweils zwei Spielzeiten in Heidelberg, Bern und Salzburg – hat da etwa jemand Bindungsängste? Nein, eher ist da jemand auf der Suche nach Antworten auf die Fragen: »Was liegt mir? Was kann ich lieben? Kann das sinfonische Repertoire ein Zuhause werden wie die Vokalmusik?« Jetzt, drei Jahre später kennt sich Mirga dank dieser kurzen Stationen, die in der Rücksicht wie wohlüberlegte Karriereschritte aussehen, ganz sicher besser.

»Wie alle meine Kollegen möchte ich für meine Arbeit beurteilt werden.« Das klappt immer besser, wenn man sich die Artikel anschaut, die heute über Mirga Gražinytė- Tyla veröffentlicht werden. Da wird ihre unglaubliche Musikalität hervorgehoben, ihr großes Talent, eine Verbindung zwischen den Orchestermusikern und dem Publikum herzustellen, ihr unnachahmliches Gespür für gute Programmatik und augen- und ohrenöffnende musikalische Erlebnisse. Drei Jahre lang darf das Dortmunder Publikum Mirga Gražinytė-Tyla nun ganz genau kennenlernen, als Dirigentin natürlich, als Sängerin, als Programmmacherin und als Gesprächspartnerin. Und vielleicht war dies der letzte Beitrag über sie, der dem Frausein der außergewöhnlichen Musikerin so ein Gewicht verleiht.

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