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Shapeshifters

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Der Unbequeme

Der Unbequeme

SHAPESHIFTERS

Der Bezeichnung »Junger Wilder« machte Pekka Kuusisto in der gleichnamigen Konzertreihe am KONZERTHAUS DORTMUND während der Saisons 2009/10 bis 2011/12 alle Ehre. Als erster Finne hatte der Geiger bereits 1995 in Helsinki die renommierte »Sibelius Competition« mit der Interpretation des Violinkonzerts seines Landsmannes Jean Sibelius gewonnen und sich damit schlagartig einen Namen gemacht. In den »Junge Wilde«-Konzerten ließ er aber auch zuweilen gern seine E-Violine Loops vollführen, machte Ausflüge in den Jazz oder sprang für ein Daumenkino schon einmal wild über die Bühne. Inzwischen gilt Pekka Kuusisto in der klassischen Musikwelt als einer der großen Interpreten. Mit der klassischen Konzertform experimentiert er indes gern auf unkonventionelle Weise weiter – nun im Konzerthaus in der Reihe »Neuland« zusammen mit dem Mahler Chamber Orchestra (MCO).

Pekka Kuusisto

© Sonja Werner

Pekka Kuusisto, wie erinnern Sie sich an Ihre »Junge Wilde«-Zeit, was verbindet Sie heute mit dem Konzerthaus?

Ich habe sehr schöne Erinnerungen an die ganzen drei Jahre. Wahrscheinlich waren meine Konzerte etwas schwierig zu verkaufen, weil die Programme ziemlich seltsam ausgesehen haben dürften. Aber ich habe damals schon gehofft, dass meine Dortmund-Besuche über die Zeit des »Jungen Wilden« hinaus bis in die des »Alten Wilden« andauern würden, und dass ich eine lange Beziehung zum Konzerthaus und zum Publikum aufbauen könnte. Bisher hat das gut geklappt.

Sie bringen als neuestes Projekt Ihrer Zusammenarbeit mit dem Mahler Chamber Orchestra »Shapeshifters« auf die Konzerthaus-Bühne. Was erwartet da das Publikum?

Es ist ein Experiment mit der Form eines Konzerts und der Form eines Ensembles. Es stellt außerdem eine etwas flexiblere Verbindung zwischen den Künstlern und dem Publikum her. Ich kann nicht allzu viele Details darüber verraten, da wir es noch entwickeln, aber ich weiß, dass es an das MCO und mich viele neue und inspirierende Herausforderungen stellen wird. Da sind wir so etwas wie – im Wortsinn – Formwandler.

Aber Sie wissen zumindest bereits, dass »Thirteen Changes« der US-amerikanischen Komponistin Pauline Oliveros vorkommen wird...

»Thirteen Changes« bildet eine Art flüssiges Skelett für das ganze Konzert. Es versetzt uns alle hoffentlich an einen Ort, an dem wir frei sind, unsere künstlerische Existenz aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Pauline ist eine große Künstlerin, deren Bedeutung ich erst allmählich erkenne.

Gab es schon einmal eine Zusammenarbeit mit der Regisseurin Jorinde Keesmaat?

Ja, wir haben zusammen ein Konzert in Amsterdam veranstaltet, wo wir eine Sauna auf der Bühne gebaut, Brühwürste gekocht und zwischen den Stücken Bier getrunken haben und eine tolle Zeit verbrachten. Das »Shapeshifters«-Projekt ist eine Zusammenarbeit zwischen der Künstlerischen Leitung des MCO, Jorinde und mir.

Wie wichtig ist es, sich von traditionellen Konzertformen zu lösen und neue Wege zu gehen?

Ich würde sagen, sehr wichtig. Ich würde nicht sagen, dass wir die traditionellen Konzertformen ganz vergessen sollten, aber es ist ziemlich komisch, wie viel davon so lange gleich geblieben ist. Ich würde nie dafür plädieren, wichtige historische Lektionen aufzugeben, aber es beunruhigt mich ein wenig, wenn ich ein Konzertprogramm von vor 100 Jahren sehe und es sieht aus wie das Konzert, das ich letzte Woche besucht habe.

Wie ist Erneuerung denkbar?

Es ist nicht so schwierig, denke ich, neue Ideen zu entwickeln. Selbst kleine Veränderungen können sich wie ein Erdbeben anfühlen. Vor einigen Jahren ging ich zu einem Konzert eines fabelhaften Projektorchesters namens Spira Mirabilis. Sie proben etwas länger als normale Orchester, besprechen alle musikalischen Details zusammen und spielen immer ohne Dirigent. Ihr Spiel war außergewöhnlich, wie eine demokratische Explosion, und das Konzert bestand aus nur einer Sinfonie (Schuberts Nr. 4) und einer offenen Diskussion mit dem gesamten Orchester auf der Bühne. Sehr einfach, aber es fühlte sich irgendwie revolutionär an. Ein weiterer Stern am Horizont ist das Aurora Orchestra aus London, mit dem ich aufgetreten bin. Es spielt große sinfonische Werke aus dem Gedächtnis und setzt oft Bühne, Beleuchtung und andere visuelle Elemente auf fortschrittliche Weise ein. Indem Technologien wie Augmented Reality ein immer größerer Teil unseres Lebens werden, erhalten wir als Künstler völlig neue Werkzeuge, mit denen wir arbeiten können.

Andererseits spielen Sie in Sinfoniekonzerten klassisches Repertoire, zum Beispiel das Tschaikowsky-Violinkonzert vergangene Saison in Dortmund. Wie geht das zusammen?

Ganz einfach: Die Meisterwerke können auf so viele verschiedene Arten interpretiert werden. Auch wenn man etwa das Konzert von Tschaikowsky spielt, reflektiert man über die Tradition des Stückes, das Konzert als Form und die Rolle der Geige als solistisches Instrument, und man lernt, sich selbst und seinen Platz in der Welt etwas besser zu verstehen. Wie ein Schauspieler davon profitiert, sich selbst in einem Shakespeare-Stück zu erleben, so zieht der Geiger aus seiner Rolle Nutzen, der Erzähler eines großen Konzerts zu sein.

Wie wird Ihrer Meinung nach die Zukunft der Konzertsäle aussehen? Oder wie sollte sie aussehen?

Ich schätze, die Zukunft sieht gut aus, oder? In letzter Zeit denke ich über einige der jüngsten neuen Konzertsäle in Europa nach, und obwohl ich Architektur inspirierend finde, kann ich nicht umhin zu spüren, dass der monumentale Aspekt einiger dieser Gebäude die Botschaft vermittelt, als werde eine Art solide »Wahrheit« in den Konzerten dort geboten. Ich würde diese Kunstform aber gerne nicht als eine feste Wahrheit betrachten, sondern vielmehr als eine sich ständig weiterentwickelnde Sprache, eine Kette von Illusionen, Gerüchen und Geschmäckern, die jeder anders verstehen kann. Das Konzerthaus in Dortmund gefällt mir aus dem Grund sehr gut, weil man es so einfach betre- ten kann. Es ist keine Landmarke, vor der man ein Selfie macht, aber der Saal selbst verfügt über die Konzentration und Stille, die man braucht, um Geschichten zu erzählen.

PEKKA KUUSISTO, 1976 im finnischen Espoo geboren, Violinstudium. Der finnische Geiger ist ein leidenschaftlicher Anwalt Neuer Musik und glänzender Improvisator. Er setzt sich über traditionelle Genregrenzen hinweg und ist bekannt für seine innovative Programmgestaltung. 2009 – 2012 Künstler der Reihe »Junge Wilde« am KONZERTHAUS DORTMUND; Artistic Partner des Saint Paul Chamber Orchestra und Artistic Director des ACO Collective, einem Streichensemble aus den talentiertesten professionellen jungen Musikern Australiens; 2017 Artistic Best Friend der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen seit 2018; Artistic Partner des Mahler Chamber Orchestra; leitet u. a. die Tapiola Sinfonietta, das Scottish Chamber Orchestra und Swedish Chamber Orchestra

Live im Konzerthaus: »Neuland: Shapeshifters«, Di 19.11.2019 um 20.00 Uhr mit dem Mahler Chamber Orchestra

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