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RAUS AUS Dem tschechischen Komponisten und Wahl-Berliner Ondrˇej Adámek ist die Zeitinsel der Saison 2021/22 gewidmet. Neben extra komponierten Werken, etwa für die WeltklasseDEM Geigerin Isabelle Faust und den Top-Cellisten Jean-Guihen Queyras, gibt es die deutsche Erstaufführung seiner Oper »Seven Stones«. Und mit einem Airmachine-»Ballett« zeigt Adámek, dass Neue Musik und Humor sehr gut zusammenpassen. KORSETT
Auf einen Schlag strecken sie sich stolz in die Lüfte. Zehn aufgeblasene Latexhandschuhe. Und herrlich skurril winken sie da solange in der Luft herum, bis ihnen wieder der Lebensatem ausgeht. Schlaff fallen sie zusammen und bilden irgendwie ein trauriges Bild. Aber zum Glück gibt es da noch die Faschingströten, lustige Gummischweinchen oder luftpumpenartige Röhren. Denn auch all diese quietschig bunten Fundsachen aus dem Kinderzimmer, aus der Küche oder dem Partykeller werden von Ondřej Adámek über Luftdüsen gestülpt, um über ein angeschlossenes Keyboard nicht nur herrlich surreale Ballette hinzulegen. Für genauso viel Spaß sorgen die bizarren Geräusche, mit denen Adámek diesen Gegenständen für einen kurzen Moment auch hörbar unerwartet neues Leben einhaucht. Oder wie es einmal die »Zeit« in einem Porträt über den tschechischen Komponisten geschrieben hat: »Einerseits [ist es] eine herrliche Kinderei, andererseits der genial Feinmechanik gewordene Surrealistentraum zwischen gaga und Dada.« Airmachine nennt sich diese ausgetüftelte mechanische Spielwiese. Und wenn Adámek sie in Betrieb nimmt bzw. den On-Knopf drückt, macht er einmal mehr seinem Ruf als einer der erfrischendsten, unkonventionellsten und eben auch amüsantesten Neue-Musik-Erfinder alle Ehre.
Doch Adámek schreibt seine Stücke nicht für Insider, sondern für die gesamte Breite des Publikums, wie er immer wieder betont. Also für alle möglichen Leute, »die offen sind, jung, alt, dazwischen, Musiker und Nichtmusiker, andere Künstler und keine Künstler, Leute, die neugierig kommen und etwas erleben wollen. Nicht nur Spezialisten, die schon wissen, was ihr Geschmack ist, was letztes Jahr los war.« Der Kernsatz seines rigide undogmatischen, offenen Klangdenkens lautet daher auch: »Am wichtigsten ist mir, Distanz zu überwinden.«
Genau das gelingt ihm. Und zwar mit absolut unkalkulierbarer Treffsicherheit und allen auch außermusikalischen Mitteln. Bildende Kunst und Theater, Live-Video und Licht-Design fügen sich da ein zu einem multimedialen Fundament zusammen, auf dem sich Adámek musikalisch frei bewegen kann. Mal lässt er sich von der japanischen oder der afrikanischen Musik inspirieren. Oder es sind scheinbar banale Alltagsgeräusche, mit denen Adámek auch ungemein bewegende, unter die Haut gehende Klangdramen speist. Wie etwa im Fall seines Chorwerks »Schreibt bald!«, mit dem er die Geschichte seines Großvaters Alfred Pokorny erzählte, der in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Auschwitz-Birkenau inhaftiert war.
So – So 23. – 30.01.2022
ZEITINSEL ADÁMEK
Gespräche, Workshops, Konzerte und die Oper »Seven Stones« Alle Termine unter konzerthaus-dortmund.de/adamek
Das Unfassbare, das der Mensch sich antun kann, und das Unterhaltsame, mit dem sich der Mensch von jeher auch vor dem Unfassbaren zu schützen vermag – diese beiden extremen Pole markieren das Musikverständnis eines Komponisten, der seinen Geheimtipp-Nimbus längst abgelegt hat und mit seinen Werken mittlerweile bei den renommiertesten Festivals und Orchestern angekommen ist. Erst im Februar wurde sein jüngstes Werk »Where are you?« von Sir Simon Rattle uraufgeführt. Mit diesem Werk gastierte Rattle zusammen mit Magdalena Kožená und dem London Symphony Orchestra im Konzerthaus – und läutete damit erfolgreich das Ondřej Adámek gewidmete Zeitinsel-Komponistenporträt ein, das nun mit sechs Konzerten, Aufführungen und Veranstaltungen seinen zweiten Höhepunkt erreicht.
Und natürlich entpuppt sich dabei der gebürtige Prager auch als Komponist zum Anfassen. »Ich will nicht, dass die Leute im Publikum sitzen und ein Gefühl von Distanz bekommen«, so der Kontakt- und Kommunikationsmensch. »Ich möchte erreichen, dass die Energie nicht nur von der Bühne kommt, sondern dass sie zirkuliert.« Genau das wird nicht nur im Gespräch mit dem Konzerthaus-Intendanten Raphael von Hoensbroech passieren, sondern auch in dem von Adámek mitkonzipierten Programm. Aus dem konfektionierten Aufführungskorsett brechen da die Streicher des Ensemble Resonanz zusammen mit dem französischen Cellisten JeanGuihen Queyras aus, wenn sie Adámeks Cellokonzert »Illusorische Teile des Mechanismus« in der Regie von Éric Oberdorff im gesamten Konzertsaal welterstaufführen.
In der halbszenischen Fassung von Regisseur Éric Oberdorff ist zuvor die deutsche Erstaufführung von Adámeks Oper »Seven Stones« zu erleben. Aber selbstverständlich ist »Seven Stones« kein klassisches Musiktheaterstück. Ein Orchester gibt es nicht. Stattdessen erzählen vier Solisten und ein zwölfköpfiger Chor die surreale, über alle Kontinente hinweg und bis hinauf zum Mond reichende Geschichte eines Steine- und Mineraliensammlers, der seine Frau in flagranti erwischt und tötet. Und für diese zwischen Traum und Realität changierende Welt hat Adámek eine faszinierend schillernde Vokalpartitur geschrieben, bei der geräuschhafte Lautmalereien von einem Sänger zum anderen kreisen und wie ein schwereloser Ball zwischen ihnen hin- und herspringen.
Um ganz neue, grenzenlose Klangräume und Raumklänge dreht sich aber auch der für die Zeitinsel entstandene Dialog zwischen Isabelle Faust und der Malerin Charlotte Guibé. »Violine trifft Live-Malerei« ist dieses spannende Konzertexperiment überschrieben, wenn sich barocke Geigenstücke etwa von Bach und Pisendel mit Soli von Adámek abwechseln und zugleich Charlotte Guibé zu Gemälden inspirieren. Danach heißt es: Guck mal, wer da trötet! Im Abschlusskonzert dieser Zeitinsel wirft dann nämlich Perkussionist Roméo Monteiro Adámeks Airmachine an – und freudig erregt feiern auch die frisch aufgepumpten Latexhandschuhe ihr (flüchtiges) Dasein. Herrlich!