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Interview mit Anna Vinnitskaya

HIMBEERFINGER SPITZENGEFÜHL

Musikstudenten in Hamburg haben es gut: Neben dem Umstand, dass die Hochschule für Musik und Theater unweit der Außenalster am Harvestehuder Weg im Budge-Palais, einer Villa im klassizistischen Stil, geradezu mondän untergebracht ist, genießt das Institut einen ausgezeichneten Ruf als Ausbildungsstätte in allen künstlerisch-wissenschaftlichen Bereichen. Insbesondere Klavierstudenten haben es hier gut, denn mit Anna Vinnitskaya wirkt seit zehn Jahren eine profilierte Professorin und, wie der Berliner »Tagesspiegel« schreibt, »große Rhapsodin« auf ihrem Instrument an der Hamburger Hochschule. Anna Vinnitskaya, von 2009 bis 2012 »Junge Wilde« am Konzerthaus, zählt heute zu den bedeutendsten Klavierkünstlern. Im Unterrichtsraum, bevor im Anschluss ihr Klassenvorspiel beginnt, erzählt uns die Pianistin, warum das Programm ihres Dortmunder Klavierabends Anfang Mai sie selbst herausfordert.

Wie ist es, nach langer Zeit nach Dortmund zurückzukehren?

Eine der »Jungen Wilden« zu sein, vor allem in diesem wunderbaren Saal und in dieser Akustik zu spielen, war eine großartige Erfahrung. Ich war sehr begeistert. Durch die Schulbesuche, was damals für mich ganz aufregend und neu war, habe ich auch viel gelernt. Ein tolles Projekt! Heute freue ich mich zurückzukehren – nicht mehr jung, nicht mehr wild...

Apropos Schule: Wenn ein Kind ein Instrument lernen soll, muss es üben. Manche Lehrer zwingen es sogar dazu…

So wie man mich auch gezwungen hat … aber ich finde das ganz normal. Ich halte es nur nicht für richtig, so wie es zuweilen in Russland praktiziert wurde, dass man auf Kinder Druck ausgeübt hat, die möglicherweise gar nicht begabt waren und schließlich jede Lust verloren, ins klassische Konzert zu gehen. Man sollte schon herausfinden, ob ein Kind überhaupt Talent hat und ob es ihm Spaß macht Musik zu spielen – um es dann zu fördern.

Bei Ihnen war dies zweifellos der Fall?

Meine ganze Familie hatte etwas mit Musik zu tun, da war es also ganz natürlich. Ich habe mir nie die Frage gestellt, was ich in Zukunft machen möchte. Als ich noch klein war, bis ich elf oder zwölf wurde, wollte ich nur spielen. Also Konzerte spielen! Da haben meine Eltern mir dann beigebracht zu üben. Um Konzerte zu spielen, muss man üben. Als Kind wollte ich mich natürlich lieber mit meinen Freunden treffen und nicht am Klavier sitzen. Aber nach vier, fünf Jahren war auch diese Phase vorbei und dann hatte ich wirklich Spaß an den Übungsstunden.

Müssen Hochtalentierte weniger Etüden spielen?

Heute brauche ich viel weniger Zeit, weil ich mir beim Studium in Russland eine gewisse Basis erarbeitet habe. Üben an sich bringt nichts, es gibt Schüler, die acht Stunden am Tag arbeiten – und es ist verschwendete Zeit. Dann gibt es andere, die ihr Talent nicht pflegen und gar nicht üben, was auch nicht gut ist. Im Idealfall fallen Talent, Disziplin und Spaß am Musizieren zusammen. Schließlich sind wir ja kreative Personen, die beim Klavierspielen experimentieren und etwas ausdrücken wollen.

Dann sind Sie nach Deutschland gekommen…

Ich wollte nicht nach Moskau, das war für mich klar. Am Moskauer Konservatorium gab es nach meinem Eindruck eine Art Fabrik von Tausenden von Pianisten. Ich hatte in Rostow am Don bei einem sehr guten Professor angefangen zu studieren. Er hat mir stundenlang von dieser Anschlagstechnik erzählt, um auf dem Klavier singen zu können: »Stell dir vor, du tauchst mit deinen Fingern in Butter hinein oder du drückst mit den Fingerspitzen auf eine Himbeere. Solch ein Gefühl musst du beim Spielen haben.« Man lernt tatsächlich auf diese Weise einen besonderen Anschlag. Aber die Konzertlandschaft in Rostow war provinziell. Erst als ich nach Deutschland kam war es z. B. möglich, live die Matthäus-Passion zu hören – diese Erfahrung werde ich nie vergessen, es war wie ein Schock für mich. Seit ich hier bin, gehe ich jedes Jahr zu Ostern in eine Matthäus- oder Johannes-Passion, das ist mir zur Tradition geworden. Und ich wollte damals einfach solche Pianisten wie Sokolov, Perahia, Koroliov live hören.

Wussten Sie, dass Sie zu Evgeni Koroliov kommen würden?

Nein, ich hatte zuerst 2001 oder 2002 bei einem Wettbewerb in Spanien Ralf Nattkemper, der auch Professor an der Hamburger Hochschule ist, kennengelernt. Er hat mich eingeladen nach Hamburg zu kommen, wo ich schließlich Schülerin von Herrn Koroliov wurde. Er ist immer noch mein Vorbild, nicht nur was Musik angeht, sondern menschlich. Ich würde ihn nicht als Pianisten bezeichnen, er ist kein Pianist, das ist nur das Mittel sich auszudrücken, er ist vielmehr ein Künstler. Das fasziniert mich an ihm. Seinen Schülern und auch mir hat er geholfen, die eigene Seele in der Musik wiederzufinden und mit dem Herzen zu spielen – dem eigenen Herzen, nicht mit dem von Koroliov, und das versuche ich auch meinen Studenten beizubringen.

Ihre Interpretationen russischer Komponisten, etwa Rachmaninow, werden gerühmt; im Mai in Dortmund spielen Sie aber Debussy, Bartók, Schumann und Chopin...

Bei Rachmaninow habe ich eine genaue Klangvorstellung im Kopf, das funktioniert intuitiv. Die russischen Komponisten liegen mir insgesamt sehr nah, aber ich möchte sie nicht zu viel spielen. Schließlich will ich mich musikalisch entwickeln. Und ich möchte auch Stücke spielen, die mich herausfordern. Für Schumann oder Chopin, auch Debussy – da muss ich Zeit investieren, um zu suchen. Im Fall der Chopin-Préludes war ich z. B. erst nach zwei Jahren zufrieden mit meinem Spiel. Aber dieses Experimentieren macht Spaß, häufig assoziiere ich beim Spielen bestimmte Bilder mit der Musik. Debussy und Bartók im ersten Programmteil wirken als Kontrast. Die Musik Bartóks hat mich schon immer fasziniert, aber für viele Zuhörer klingt sie zu modern. Aber was heißt das? Seine Sonate hat er 1926 geschrieben – jeder Zuhörer im Saal ist jünger als dieses Stück! Ich möchte zeigen, dass es geniale Musik ist. Diese Musik spricht zu mir und ich liebe die Komponisten.

Gibt es neue Pläne und Projekte?

Im März oder April erscheint eine neue CD, und ich bin so glücklich über dieses seit über zehn Jahren verfolgte Projekt: Bachs Konzerte für ein, zwei und drei Klaviere – mit Evgeni Koroliov und seiner Frau. Endlich haben wir sie mit der Kammerakademie Potsdam aufgenommen. Ich hoffe sehr, dass die Menschen sie ebenso lieben werden wie wir. Diese Musik liegt so sehr in meinem Herzen. Bei Musik von Bach – nur bei Bach – merke ich immer wieder, wenn ich müde und erschöpft bin durch zu viel Unterricht, zu viel Üben, zu viele Konzerte: Bach kann ich trotzdem immer wieder hören. Es wird nie ein Gefühl sein von »Ich möchte jetzt keine Musik hören«. Bei Bach kommt das nie vor.

Das Interview führte Jan Boecker.

LARS BORGES · SONY CLASSICAL

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