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konzertante oper
FEIER DES LEBENS
Was für ein Wochenausklang: Yannick Nézet-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra zelebrieren den Doppelschlag mit einem konzertanten »Rheingold« und einem Abend für Alma und Gustav Mahler.
»Jetzt werde ich einen kurzen Ausschnitt aus Ravels ›Boléro‹ dirigieren«, sagt der Knirps, der da geschniegelt im weißen Hemd mit schwarzer Fliege vor seiner Schulklasse steht. Und kaum liegt die Nadel auf der Schallplatte mit Ravels »Boléro« legt er auch schon los wie die Feuerwehr. Wobei er sich die passende Maestro-Mimik unter Garantie von einem der alten Pultmeister abgeschaut hat. Die Klassenkameraden sind auf jeden Fall begeistert, während der gerade einmal Zehnjährige sein offizielles Pultdebüt mit zufriedenem Gesichtsausdruck bewertet. Applaus. Abgang. Zu sehen ist dieses herrliche kleine Amateurvideo in dem Filmporträt »Yannick: An Artist’s Journey«, das die Regisseurin Susan Froemke gerade über Yannick Nézet-Séguin gedreht hat. Und das Erstaunliche auch für Froemke war nun, dass Nézet-Séguin schon damals exakt diesen breitarmigen Dirigierstil pflegte, mit dem er heute die großen Orchester leitet.
Schon früh wollte Yannick Nézet-Séguin ein Stardirigent werden. Das Talent dazu hatte er. Doch es war speziell eine Person, der er fast alles verdanken sollte: der weltberühmte Dirigent Carlo Maria Giulini, der ihn unter seine Fittiche nahm und ihm auch so manch wichtige Leitsätze ins Stammbuch schrieb. »Du musst dir vorstellen, dass der Klang zwischen deinem Oberkörper und deinen Händen ist und du den Klang sozusagen festhältst«, riet ihm Giulini. Den zweiten Ratschlag des großen Italieners hat Nézet-Séguin aber vielleicht noch mehr beherzigt: »Dirigenten sind nur die Gepäckträger der Komponisten. Weshalb man sich nicht zu wichtig nehmen sollte.«
Tatsächlich kann Nézet-Séguin mit Glamour und dem ganzen Rummel, der ihn mittlerweile auch schon seit 20 Jahren begleitet, nicht viel anfangen. Vollkommen allürenfrei wirkt er außerhalb des Konzertsaals, in den Interviews. Aber auch in der Zusammenarbeit mit den weltbesten Orchestern gibt er nicht etwa den klassischen Herrscher-Typ. Nézet-Séguin ist detail- und disziplinverliebt (was ihn wieder mit Giulini verbindet). Trotzdem erkundet der aus dem kanadischen Montréal stammende Dirigent mit den Orchestermusikern
Do 28. + Fr 29.04.2022 · 19.00 + 20.15 Uhr
YANNICK NÉZET-SÉGUIN & ROTTERDAM
Rotterdam Philharmonic Orchestra, Yannick Nézet-Séguin Dirigent, Solistenensemble
PHILHARMONIC ORCHESTRA
Richard Wagner »Das Rheingold«, Alma Mahler Lieder und Gustav Mahler Sinfonie Nr. 4
quasi im Dialog, auf Augenhöhe die Meisterwerke des Repertoires. Kein Wunder, dass Nézet-Séguins Künstlerpersönlichkeit ankommt. Längst kann er sich als Opern- und Konzertdirigent die Angebote aussuchen. Und obwohl er mittlerweile drei feste Fulltime-Jobs hat, als Chefdirigent des Philadelphia Orchestra, als Musikdirektor der New Yorker MET und als Leiter des Orchestre Métropolitain, ist er in Europa weiterhin omnipräsent. Besonders treu ist er dem Rotterdam Philharmonic Orchestra geblieben, das er bis 2018 immerhin zehn Jahre lang hauptamtlich geleitet hat. Aber auch ins Konzerthaus Dortmund kehrt er regelmäßig zurück, zu dem er nicht erst seit 2013 eine enge Beziehung pflegt. Da wurde er allerdings zum Exklusivkünstler ernannt. Und gleich zu Beginn dieser dreijährigen Amtszeit sorgte Nézet-Séguin zusammen mit seinem Rotterdamer Orchester für eine große Wagner-Sternstunde – mit einer konzertanten Aufführung des »Fliegenden Holländer« und dem russischen Starbariton Evgeny Nikitin in der Titelrolle.
Seitdem ist Nézet-Séguin immer tiefer in den Wagner-Kosmos vorgedrungen, mit »Lohengrin« und dem »Parsifal«. Nun widmet er sich konzertant erstmals dem »Rheingold« und damit dem Vorabend des Bühnenfestspiels »Der Ring des Nibelungen«. Und für die Aufführung mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra hat Nézet-Séguin ein Vokalensemble zusammengestellt, das man garantiert auch einmal in Bayreuth präsentieren würde. Schließlich sind sämtliche Partien ausnahmslos mit Edelstimmen besetzt, darunter Michael Volle, Christiane Karg, Karen Cargill und Samuel Youn.
Weil man aber schon mal in Dortmund ist, geben sich Nézet-Séguin & Co. noch ein weiteres Mal die Ehre. Beim zweiten Konzert fokussiert man sich ganz auf das Ehepaar Alma und Gustav Mahler. Von Mahlers Gattin, die nebenbei Wiens berühmteste Circe war, singt die Mezzosopranistin Karen Cargill einige handverlesene Lieder, bevor dann Christiane Karg im Finalsatz von Mahlers 4. Sinfonie ihre Sopranstimme himmlisch leuchten lässt. Seinen Zugang zu den Sinfonien von Mahler verdankt Nézet-Séguin übrigens ebenfalls seinem väterlichen Idol Carlo Maria Giulini. Die erste Sinfonie, die er damals als 26-Jähriger dirigierte, war Mahlers bittersüße, bereits von der Welt abgewandte Neunte. Die 4. Sinfonie ist hingegen für Nézet-Séguin nicht nur eine Art Hommage an die Klassik, an Haydn und Mozart. Für ihn ist dieses Werk zugleich eine einzige Feier des Lebens und der Musik im Himmel und auf der Erde. Genauso dirigiert er sie auch jetzt – mit seinen markant ausschwingenden Armen, als wolle er so die Welt umarmen.