Programmheft-Vorschau Ein Volksfeind

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VOLKSFEIND

erweitert von Dmitrij Gawrisch EIN

EIN VOLKSFEIND

Doktor Tomas Stockmann

Kilian Land Petra Stockmann Genet Zegay

Peter Stockmann Claudius Körber Aslaksen Jan Maak Hovstad Linus Schütz Billing

Viet Anh Alexander Tran

Regie Selen Kara Bühne

Lydia Merkel Kostüme Anna Maria Schories Musik

Vera Mohrs Licht Hanspeter Liechti Dramaturgie Elisa Elwert Regieassistenz Loreta Gashi, Yannic Sägesser Bühnenbildassistenz Dorothea Franziska Blank Kostümassistenz

Shayenne Di Martino Bühnenbildhospitanz Noah Kaiser Soufflage Sabine Bremer, Sebastian Tackmann Inspizienz Hasan Koru

19:30 Vidmar 1

Dauer der Vorstellung ca. 1 h 30

Merci Ruth und Arthur Scherbarth Stiftung

Technischer Direktor Reinhard zur Heiden Leiter Bühnenbetrieb Claude Ruch

Leiter Werkstätten Andreas Wieczorek Leiterin Kostüm & Maske Franziska Ambühl Produktionsleiterin Bühnenbild Konstantina Dacheva Produktionsleiterin Kostüm Maya Däster Bühnenmeister Jean-Claude Bögli Tontechnik Breandan Davey, Nicola Jannuzzo, Peter Tészás Requisite Gabriela Hess, Barbara Salchli Maske Anja Wiegmann

Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers der Bühnen Bern hergestellt. Co-Leitung Malsaal Jann Messerli, Lisa Minder Leiter Schreinerei Markus Blaser Leiter Schlosserei Marc Bergundthal Leiter Dekoration Oliver Schmid Leiterin Maske Martina Jans Gewandmeisterinnen Mariette Moser, Irene Odermatt, Sina Rieder Leitung Requisite im Team Leiter Beleuchtung Bernhard Bieri Leiter Audio & Video Bruno Benedetti Leiter Vidmar Marc Brügger

Premiere Sa 14.01.2023

Wer bestimmt die Spielregeln?

von Elisa Elwert

Die kleine Stadt floriert: Sie hat grosszügig in eine neue Kuranstalt investiert und hofft auf zahlreiche Badegäste und deren Geld. Die Saison, ja die Zukunft kann kommen. Bis Doktor Tomas Stockmann, der charismatische und stadtbekannte Kurarzt, mit einer wissenschaftlichen Entdeckung aufwartet: Das Wasser der Badeanstalt ist voll krankmachender Keime! Seine Tochter Petra ist entrüstet, die Presse wittert ihre Chance und bereitet Schlagzeilen vor, Stockmann sieht sich bereits als Retter gefeiert. Allerdings bekommt der Bruder des Badearztes, Peter Stockmann, als Stadtpräsident und Vorsitzender der Badeanstalt der Vorgesetzte von Tomas Stockmann, Wind von den Neuigkeiten und beginnt zu intrigieren. Er sorgt sich um die wirtschaftliche Situation des Ortes, ein Umbau wäre finanziell kaum zu verkraften, die ausbleibenden Gäste und der Imageschaden für die Stadt desaströs. Dass er pikanterweise auch Verantwortung für den Bau der fatalen Wasserleitung trägt, vermeidet er zu erwähnen. Ein erbitterter Streit zwischen den beiden entbrennt. Das existenzielle Wohl der Stadtbevölkerung steht plötzlich in Konkurrenz zum gesundheitlichen Wohl der Kurgäste, und ein Wettlauf um Veröffentlichung, Widerrufung und Auslegung der wissenschaftlichen Fakten beginnt.

In einer komplexen Gemengelage – wissenschaftliche Tatsachen und politische Wirklichkeiten treffen auf wirtschaftliche Interessen – besticht das Stück durch eine präzise Psychologie: Die Figuren des Dramas sind ambivalent gezeichnet, ausgehandelt werden die politischen und gesellschaftlichen Themen auf einem Nährboden von persönlichen Befindlichkeiten, Aufstiegs- und Geltungsdrang und Sturheit. Selbst der Kurarzt, überzeugt «von der Sache», verkennt die realen sozialen Bedingungen und isoliert sich gesellschaftlich zunehmend in seiner Kränkung.

Henrik Ibsen schrieb Ein Volksfeind im Jahr 1882 in Erwiderung auf die Ablehnung, die er auf seine Stücke Gespenster und Nora oder Ein Puppenheim erfahren hatte: Beide Stücke übten eine scharfe gesellschaftliche Kritik auf bürgerliche Konventionen und moralische Unfreiheiten aus. Öffentlich reagierten nicht nur die konservativen Stimmen, sondern auch liberale – ein besonderes Ärgernis für Ibsen. Er kritisierte, wie eine «öffentliche Meinung» zur gültigen Wahrheit wird und welche Konsequenzen das für diejenigen hat, die gegen gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten aufbegehren.

Im Stück verhandelt Henrik Ibsen die Themen Wahrheit und Recht im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft: Wer bestimmt, über welche Themen wie gesprochen wird? Wem wird Recht gegeben? Welche Diskurse werden öffentlich geführt und welche Meinungen gestalten sie massgeblich? Trotz Ibsens konkreter Anbindung des Dramas an die damalige bürgerliche Gesellschaft behält das Stück in seinen Motiven etwas überraschend Heutiges: 1. Die Zerstörung von Natur und Umwelt. Im 19. Jahrhundert aktuell durch die sich vollziehende Industrialisierung, ähnelt die Situation der heutigen Klimapolitik in einem Aspekt: Eine adäquate öffentliche Antwort angesichts einer Umweltkrise bleibt aus, die Öffentlichkeit sorgt sich vor unbequemen (finanziellen) Konsequenzen, anstatt aktiv zu werden. Ibsen geht über den konkreten Tatbestand hinaus, das Bild des Kurbades fungiert im Stück als Symbol der verseuchten Gesellschaft. 2. Die Macht des Journalismus. Die Spiegelaffäre, die Diskussion um Fake News ausgelöst durch Donald Trump, sogenannte Alternative Fakten in den Diskussionen rund um die Corona-Pandemie: Wie wird Journalismus zum aktiven Player und welche Rolle spielt er in politischen Aushandlungsprozessen? Wessen Meinung bekommt eine Bühne, auf welchen Konsens verständigt man sich öffentlich, wie hitzig wird der Ton? Und: Welche delikaten Themen werden öffentlich nicht thematisiert, weil politische Akteur*innen ein Interesse daran haben, sie zu vertuschen? 3. Wissenschaftliche Erkenntnisse und politischer Diskurs. Die Corona-Pandemie hat die Frage nach evidenzbasierter Politik neu gestellt. Wie können Wissenschaft und Politik zusammenarbeiten, gerade in Zeiten der Krisen? Im demokratischen System bleibt die Verantwortung für relevante gesellschaftliche Probleme im politischen Sektor. Die Aushandlungsprozesse der Politik sind geprägt von Zielkonflikten, unterschiedlichen ideologischen Positionen und der Vertretung verschiedener Interessen.

Für Ibsen versagte eine Demokratie, wenn sie das Recht des Individuums nicht gewährleisten konnte, wenn eine Majorität nicht das Recht der Minorität anerkannte. «Dumme Menschen sind überall auf der Welt in einer schrecklich überwältigenden Mehrheit. Aber verdammt nochmal es kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn die Dummen über die Klugen herrschen!», sagt Tomas Stockmann im Stück. Er kippt zum Ende in antidemokratische Tendenzen. In der Überzeichnung fragt das Drama: Wie viel Überzeugung und Radikalität Einzelner verträgt die Demokratie? Wie viel Wut braucht gesellschaftliche Veränderung und wo verunmöglicht sie produktive Kompromisse? Welche Möglichkeiten hat eine einzelne Person, sich politisch zu engagieren?

Für diese Inszenierung trifft das Drama des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen (1828–1906) auf Texterweiterungen von Hausautor Dmitrij Gawrisch (*1982). Gawrisch kommentiert und konfrontiert das Drama unter anderem mit Fragen nach der nachkommenden Generation und ihrer Rolle in aktuellen politischen Aushandlungsprozessen von Zusammenleben und Zukunft.

Über politische Handlungsmacht

Zeitenwende. Eine Inspektion von Individualität und gesellschaftlichem Zusammenhalt von Mathias Greffrath

Der komplette Programmflyer ist am Vorstellungsabend oder an der Billettkasse erhältlich.

Warum reagieren wir zu langsam auf den Klimawandel? Die Antwort fasst, sehr konkret, ein Ereignis zusammen, oder besser ein Nichtereignis, das sich Anfang der Achtziger Jahre in Bonn begab – oder eben nicht begab: Ein paar Jahre nach der zweiten Ölkrise wollte der Sozialdemokrat Hans Matthöfer mit einer Benzinsteuer die Mittel gewinnen für eine schnelle Einführung neuer, regenerativer Energien, eine bundesweite Einführung von Fernwärme, eine Verlagerung der Investitionen von Strasse auf Schiene und so weiter. Matthöfers «Ölpapier» scheiterte nicht an der Einsichtsfähigkeit von Kanzler Schmidt, und auch nicht am Fehlen öffentlicher Meinung: Es waren die Jahre, in denen die Demonstrationen gegen die Atomenergie tobten. Es waren die internen Mechanismen der Politik: In der rotgelben Koalition, aber auch in der SPD selbst, die meinte, einen solchen zukunftsweisenden Schritt vor anstehenden Landtagswahlen den Bürgern nicht zumuten zu können. 30 Jahre später antwortete der 90jährige Helmut Schmidt auf die Frage, warum wir immer noch nicht den Umbau in eine klima- und zukunftsgerechte Wirtschaft kraftvoll in Angriff nähmen: «Regierungen, die eine wesentliche Verringerung des Lebensstandards in Kauf nehmen, würden abgewählt. Deswegen tun sie es nicht. Hier liegt einer der eingeborenen Fehler der Demokratie.» Kapitalismus und pluralistische parlamentarische Demokratie arbeiten zusammen – «gegen die Natur». Und mehr noch: Das Menschheitsproblem scheint unlösbar, weil wir eben keine Menschheit sind. Die Fotos vom blauen Planeten, die von den Astronauten gefunkt wurden, haben eine Generation gerührt, das Wort vom Raumschiff Erde die Erkenntnis von der Begrenztheit der Ressourcen popularisiert. Vom Mond aus gesehen und im abstrakten Begriff sind wir eine Menschheit. Auf dem Boden der Interessen und Tatsachen leben wir als Nationen und Nutzniesser, Täter und Getriebene, Reiche und Arme, Ausbeuter und Ausgebeutete, als Alte und Junge, Produzenten und Verbraucher. Ihrer aller Repräsentanten kommen alle Jahre wieder auf den

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