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GURLITTS ENTARTETER SCHATTEN
SCHAUPLATZ INTERNATIONAL BERNER BÃœHNE digitales Programmheft
Walter Ellend, CĂŠline Funke, Nico Delpy
GURLITTS ENTARTETER SCHATTEN
SCHAUPLATZ INTERNATIONAL BERNER BÃœHNE
PREMIERE 1. November 2017, Vidmar +
DAUER DER VORSTELLUNG ca. 1h 15min, keine Pause
BESETZUNG regie, text & bühne Anna-Lisa Ellend & Albert Liebl, Schauplatz International kostüme Diana Ammann musik Kaspar von Grünigen, Fabian M. Mueller assistenz & künstlerische mitarbeit Michael F. Stoerzer lichtgestaltung Rolf Lehmann dramaturgie Fadrina Arpagaus bühnenbildassistenz Kim Zumstein mit Nico Delpy und Walter Ellend, Céline Funke, Bernhard Huwiler, Marianne Kaiser, Boris Wanzeck
technischer direktor Reinhard zur Heiden leiter bühnenbetrieb Claude Ruch leiter werkstätten Andreas Wieczorek leiterin kostüm und maske Franziska
Ambühl produktionsleiterin bühnenbild Konstantina Dacheva produktionsleiterin kostüm Maya Däster Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers von Konzert Theater Bern und Schauplatz International hergestellt. co-leitung malsaal Susanna Hunziker, Lisa Minder leiter schreinerei Markus Blaser leiter schlosserei Marc Bergundthal leiter dekoration Daniel Mumenthaler leiterin maske Carmen Maria Fahrner gewandmeisterinnen Mariette Moser, Gabriela Specogna leiter requisite Thomas Aufschläger leiter beleuchtung Jürgen Nase leiter audio-video Bruno Benedetti Leiter Vidmar Marc Brügger
Partner Maske Aesop & Dr. Hauschka eine Kooperation mit
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«UMSONST IST HIER DIE KUNST, NUR SCHATTEN, WAS MAN LIEBET.» BWV 221
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Marianne Kaiser, Céline Funke
SCHLEICHT, SPIELENDE WELLEN, U NEIN, RAUSCHET GESCHWINDE, DASS UFER UND KLIPPE ZUM ÖFTE DIE FREUDE, DIE UNSERE FLUTEN DIE JEGLICHE WELLE ZUM RAUSC DURCHREISSET DIE DÄMME, WORE UND SCHÜCHTERNHEIT ZWINGT. BW 6
UND MURMELT GELINDE!
ERN ERKLINGT! N ERREGET, CHEN BEWEGET, EIN SIE VERWUNDRUNG
WV 206
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PHANTOMBILD GURLITT Oliver Meier, Michael Feller, Stefanie Christ
Cornelius Gurlitt führt ein zurückgezogenes Leben in Salzburg und zuletzt in seiner Schwabinger Wohnung. Er beschäftigt sich mit seinen Bildern, liest – und spielt ab und an mit seiner Modelleisenbahn. Seit den Siebzigerjahren steht eine teure Musikanlage in der Wohnung, am liebsten hört er Richard Wagner. Seine Tage verbringt er mit Spaziergängen zum Supermarkt und im Café Gaumenspiel in seinem Münchner Stadtteil. Der einzige Luxus, den er sich zu gönnen scheint, ist, verschiedene Torten auszuprobieren. Seit das Zweite Deutsche Fernsehen 1963 seinen Betrieb aufgenommen hat, schaut er nicht mehr fern. Er verkehrt kaum mit anderen Menschen, stattdessen liest er Bücher. Zum Beispiel Kafka. Cornelius Gurlitt zahlt in Salzburg, wo er offiziell angemeldet ist, seine Grundsteuer pünktlich, doch ansonsten lebt er ausserhalb aller Systeme. Eine Rente hat er nicht, auch keine Krankenversicherung. Die Ärzte, die seinen grauen Star und das Herz behandeln, bezahlt er in bar. Wahrscheinlich sind es die unerwarteten Krankenhausrechnungen, die ihn im September 2011 zwingen, ein letztes Mal ein Bild zur Versteigerung einzuliefern. Nicht mehr in Bern, sondern im Auktionshaus Lempertz in Köln: Beckmanns «Der Löwenbändiger» (1930). Das Bild ist in schlechtem Zustand, es ist verstaubt und weist einen Riss auf – ein Fall für den Restaurator. Aber dennoch eine Sensation: Das Werk galt seit Jahrzehnten als verschollen. Am 2. Dezember 2011 wird es für 864 000 Euro verkauft. Vermutlich ist es Raubkunst: Das Bild gelangte über den jüdischen Kunstsammler und -händler Alfred
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Flechtheim zu Hildebrand Gurlitt. Gurlitt bleiben gut 400 000 Euro. Wie oft er nach dem Ende der Geschäftsbeziehung mit Kornfeld in die Schweiz fährt, lässt sich nur erahnen. Er ist auf das Geld angewiesen, weil er kein Einkommen hat. Aufgrund der Zollbestimmungen kann er jeweils nur einen Betrag von unter 10 000 Euro aus der Schweiz ausführen, deshalb muss er einige Male nach Zürich reisen. Die Fahrt am 22. September 2010 ist also nichts Aussergewöhnliches im Leben von Cornelius Gurlitt. Bis drei deutsche Zollbeamte gegen 21 Uhr bei einer Kontrolle im Eurocity-Zug 197 in seiner Jackeninnentasche einen weissen Umschlag mit achtzehn 500er-Scheinen finden – 9000 Euro. An diesen 9000 Euro ist nichts illegal. Doch Gurlitt begeht den Fehler, zu bestreiten, dass er Bargeld mitführt. Ein Zöllner wird misstrauisch. Nachdem das Geld zum Vorschein gekommen ist, wollen die Beamten mehr wissen. Cornelius Gurlitt sagt, das Geld stamme aus dem Erlös aus einem Bilderverkauf in der Berner Galerie Kornfeld. Er sei der Sohn Sohn von Hildebrand Gurlitt, lebe nur vorübergehend in München, bei seiner Schwester Benita. Die Beamten lassen den alten Mann weiterfahren. Ein Fahnder rapportiert, möglicherweise stamme das Geld aus Straftaten im Zusammenhang mit Beutekunst, «entarteter Kunst» oder Raubkunst. Ende Februar 2012 wird die Wohnung im Münchner Stadtteil Schwabing drei Tage lang durchsucht. Fenster und Balkontür sind verriegelt, frische Luft gelangt nur über ein einziges Fenster
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Marianne Kaiser, Bernhard Huwiler, Walter Ellend
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in die Räume. In Kisten, Schränken und selbstgezimmerten Regalen lagern die Bilder. Während die 30 Beamten die Bilder aus der Wohnung schaffen, sitzt der 79-jährige Mann teilnahmslos in seinem Sessel und beobachtet die Szene. 1280 Werke werden beschlagnahmt, auch seine liebsten: Max Liebermanns «Zwei Reiter am Strand» und Carl Spitzwegs Zeichnung «Das Klavierspiel». Werke, mit denen Gurlitt Zwiegespräche geführt hat. Für ihn sei dieser Abschied schlimmer gewesen als der von Vater und Mutter, sagt er später. Die dubiose Herkunft der 9000 Euro und mutmassliche Steuervergehen sind offiziell der Grund für die Aktion – deshalb eine ganze Kunstsammlung zu beschlagnahmen, mutet unverhältnismässig an. Doch es geht um mehr. Um einen Verdacht auf Raubkunst aus dem Zweiten Weltkrieg in der Sammlung Hildebrand Gurlitts, der für das Naziregime Kunst gesammelt hat. Um einen drohenden Imageschaden für Deutschland. Die Bilder werden in einem Kunsttransportlaster ins Zolllager nach Garching bei München gefahren. In Gurlitts Unterlagen taucht ein alter Brief von Roman Norbert Ketterer an Gurlitt auf, der im Zusammenhang mit dem Verkauf des Gemäldes «Bar, braun», von Max Beckmann steht. Er ist die Nummer 151/1 auf der Liste jener Bilder, die Hildebrand Gurlitt nach der Untersuchung durch die Alliierten 1950 zurückerhalten hat. Die «Bitte um Wahrung grösster Diskretion» im Brief lässt die Ermittler aufhorchen. Ebenso ein Buch mit dem Titel «England, Höhepunkte erotischer Literatur berühmter Autoren» etwa: Die Seiten 171 bis 520 sind so ausgestanzt, dass sich Banknoten im Wälzer verstauen lassen. Gurlitt ist gut im Verstecken von Dingen. Als er sich im Krankenhaus einer Herzoperation unterzogen hat, soll er im Papierhandtücher-Behälter seines Zimmers 7000 Euro versteckt haben. Ein Krankenpfleger findet das Geld.
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«Meisterwerke zwischen Müll – Fahnder entdecken in München Nazi-Schatz in Milliardenhöhe», titelt «Focus» am 4. November 2013. «Die Bilder waren im Dritten Reich von den Nationalsozialisten als entartet konfisziert oder jüdischen Sammlern geraubt worden», steht da. Die Summe ist massiv übertrieben und die Einschätzung höchstens halb richtig, doch dieser erste Artikel zum Thema setzt den Ton für die darauf folgende Debatte. Gurlitts Wohnung in München-Schwabing wird von Journalisten belagert. Für den Mann eine traumatische Situation. Er öffnet die Tür nicht und verlässt das Haus nur zweimal: Einmal geht er einkaufen, ein andermal fährt er mit dem Zug nach Stuttgart zu seinem Arzt. Die «Spiegel»-Journalistin Özlem Gezer begleitet und interviewt ihn, und so erfährt die Öffentlichkeit, was diesen Mann umtreibt. Den Rummel vor seiner Haustür nennt er eine «Büberei». «Ich bin kein Mörder, warum jagen die mich?», fragt er. «Ich bin doch nicht Boris Becker, was wollen diese Menschen nur von mir?» Er versteht nicht, weshalb sich die Leute für sein Privateigentum interessieren. «Freiwillig gebe ich nichts zurück», sagt er der Reporterin. Doch er wird seine Meinung unter mehr oder weniger sanftem Druck ändern. Am 11. November 2013 setzt die Bundesrepublik Deutschland eine Taskforce zur Erforschung der Bilder ein. Im Auftrag von Cornelius Gurlitt werden in Gurlitts Salzburger Haus weitere 238 Bilder sichergestellt. Security-Leute schirmen die Szene vor Schaulustigen und Fotografen ab. Ein von Betreuer Christoph Edel aufgebotener Detektiv schliesst die Tür auf. Arbeiter transportieren die Bilder und kistenweise Akten ab, das Haus ist voller Müll. Die Küche ist nicht mehr zu benützen, es stapeln sich Kisten voller Fertigknödel.
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Im Januar 2014 wird Gurlitt am Herzen operiert. Bevor sich der 81-Jährige dem Eingriff unterzieht, will er das Erbe regeln. Direkte Nachkommen gibt es nicht. Er ruft einen Notar ins Krankenhaus im baden-württembergischen Ludwigsburg, um sein Testament niederzuschreiben. Auf Anraten des Anwalts lässt er durch zwei Psychiatrieprofessoren bestätigen, dass er zurechnungsfähig sei. Er will die Dinge wieder gutmachen. Dass der einst so angesehene Familienname mit den Gräueltaten der Nazis in Verbindung gebracht wird, trifft ihn. Dass er Bilder besitzen soll, die verfolgten Menschen und deren Nachkommen gehören, ebenfalls. Denn er ist überzeugt, dass sein Vater im Zweiten Weltkrieg gegen das Regime und für die Juden gearbeitet hat. Er will zwei Dinge: den Ruf seiner Familie wiederherstellen und die Bilder ausser Landes bringen. Deutschland traut er nicht, er befürchtet, dass die Nazis wieder an die Macht kommen. Er vererbt sein Hab und Gut dem Kunstmuseum Bern. Doch das wissen an diesem Januarmorgen nur sein Notar, sein Schwager Nikolaus Frässle und er selbst. Die Verhandlungen mit Bayern gehen weiter und führen am 7. April 2014 zur Übereinkunft: Gurlitt verpflichtet sich, alle Raubkunstwerke zurückzugeben – gemäss den Washingtoner Prinzipien. Er unterschreibt das Papier im Beisein von Christoph Edel. Kurz darauf verständigt Edel das bayrische Justizministerium. Zwei Tage später gibt die Staatsanwaltschaft die Kunst frei zur Rückgabe an Gurlitt. Dennoch kommt es nicht mehr dazu. Die Bilder bleiben in einem Lagerraum, Gurlitt sieht sie bis zu seinem Tod nicht wieder. Am 6. Mai stirbt Cornelius Gurlitt: nach einem zurückgezogenen Leben, das ganz zum Ende eine rasante Wende genommen hat.
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Walter Ellend, Bernhard Huwiler, Boris Wanzeck
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Nico Delpy, Kaspar von GrĂźnigen
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GEGEN INTERPRETATION Susan Sontag Wie die Abgase der Autos und der Schwerindustrie, die die Luft der Städte verunreinigen, vergiftet heute der Strom der Kunstinterpretationen unser Empfindungsvermögen. In einer Kultur, deren bereits klassisches Dilemma die Überbewertung des Intellekts auf Kosten der Energie und der sensuellen Begabung ist, ist Interpretation die Rache des Intellekts an der Kunst. Mehr noch. Sie ist die Rache des Intellekts an der Welt. Interpretieren heisst die Welt arm und leer machen – um eine Schattenwelt der «Bedeutungen» zu errichten. Irgendwann in der Vergangenheit muss es einmal ein revolutionärer und schöpferischer Akt gewesen sein, Kunstwerke zu schaffen, die auf verschiedenen Ebenen erlebt werden konnten. Heute ist das nicht mehr der Fall. Irgendwann in der Vergangenheit muss es einmal ein revolutionärer und schöpferischer Akt gewesen sein, Kunstwerke zu interpretieren. Heute ist das nicht mehr der Fall. Unsere Kultur beruht auf dem Übermass, der Überproduktion; das Ergebnis ist ein stetig fortschreitender Rückgang der Schärfe unserer sinnlichen Erfahrung. Sämtliche Bedingungen des modernen Lebens – sein materieller Überfluss, seine Überladenheit – bewirken eine Abstumpfung unserer sensorischen Fähigkeiten. Heute geht es darum, dass wir unsere Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Höchstmass an Inhalt in einem Kunstwerk zu entdecken. Noch weniger ist es unsere Aufgabe, mehr Inhalt aus dem Werk herauszupressen, als darin enthalten ist. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, den Inhalt zurückzuschneiden, damit die Sache selbst zum Vorschein kommt.
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KATALOGWANDERN E. H. Gombrich In unseren Museen kann man öfters Leute beobachten, die mit dem Katalog in der Hand durch die langen Galerien wandern. Jedes Mal, wenn sie vor einem Bild stehen bleiben, suchen sie eifrig nach seiner Nummer, dann blättern sie im Katalog, bis sie den betreffenden Namen oder Titel gefunden haben, und dann gehen sie befriedigt weiter. Sie hätten genauso gut zu Hause bleiben können, denn sie haben das Bild kaum angeschaut, sie haben nur den Katalog kontrolliert. Es ist eine Art geistiger Kurzschluss, der natürlich mit Kunstgenuss nicht das Geringste zu tun hat. Menschen, die in bisschen Kunstgeschichte kennen, erliegen leider einer ähnlichen Versuchung. Wenn sie ein Kunstwerk sehen, halten sie sich nicht damit auf, es wirklich anzuschauen, sondern suchen gleich in ihrem Gedächtnis nach dem richtigen Etikett.
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Nico Delpy, Kaspar von GrĂźnigen, Fabian M. Mueller
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ÜBER RESTE Peter Geimer Irgendwann löst sich alles in Reste auf. Wenn es sich nicht um eine private Erinnerung handelt, wird ein Teil dieser Reste ausgesondert, konserviert und als Fundstück, Relikt oder Zeugnis der Vergangenheit öffentlich ausgestellt. «Museumsobjekte sind auch Reliquien.» Man versetzt die übrig gebliebenen Dinge in Vitrinen, leuchtet sie aus und versieht sie mit zahlreichen Einfassungen und Beschriftungen. Aber wer oder was redet in den Dingen? Diese Frage stellt sich insbesondere dann, wenn das ausgestellte Objekt keinen eigentlichen Materialwert besitzt, wenn es nicht als Kunstwerk gilt, keine kulturhistorische Bedeutung hat, sondern seinen Gehalt einzig einer symbolischen und unsichtbaren Beziehung verdankt: Wieso soll eine Reisekutsche beachtenswert sein, nur weil Johann Wolfgang von Goethe in ihr herumgefahren ist (Goethe-Haus Weimar)? Was bleibt vom Leben des Thomas Wolsey in jenem roten Kardinalshut zurück, den er im England des 16. Jahrhunderts auf dem Kopf trug (Bibliothek des Christ Church College, Oxford)? Was sagen uns die «Wasserhähne jener Badewanne, auf deren Rand sitzend Robert Musil im Genfer Exil am 15.04.1942 gestorben ist (Musil Archiv Klagenfurt)? Diese Exponate treten aus der Anonymität der Dinge heraus und werden so etwas wie individuelle Stellvertreter. Sie erhalten eine Bedeutung, die man ihnen nicht eigentlich ansieht, von der man aber wissen kann. Ihre Zeugenschaft wird ihnen zugeschrieben, kann ihnen – wie die Echtheit eines alten Gemäldes – aber auch wieder abgeschrieben werden: Wenn sich die Überlieferung als ungesichert, die Expertise als falsch, die Signatur als mangelhaft erweist, verlieren die Reste ihren Mehrwert.
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Unter welchen Umständen erlangen aber solche Reste Bedeutung? Wie werden Dinge im musealen Raum mit Bedeutung aufgeladen? Wie kann ihnen diese Bedeutung aber auch wieder abhanden kommen, so dass sie als rohe Objekte zurückbleiben? Mitunter bedarf es nur einer leichten Verschiebung – einer als falsch entlarvten Inschrift, dem Fund einer neuen Quelle – und das beredete Exponat wird wieder zum lakonischen Ding – Zeug, das uns nichts zu sagen hat. Wo wäre also die geschichtliche Zeugenschaft eines Gegenstands dingfest zu machen? Ist sie den Objekten anzusehen? Muss man von ihr wissen? Sieht man sie, sobald man von ihr weiss? Auf eine komplizierte Weise scheint jene «geschichtliche Zeugenschaft» weder in den Dingen zu sein, als deren stabile Eigenschaft – noch einfach in der Summe der wechselnden und beliebig austauschbaren Zuschreibungen, mit denen man ihnen zu Leibe rückt. Der Ort, an dem sie sich zeigt, ist jedenfalls vor allem auch ein Raum der Imagination. Die Dinge sprechen nicht, und es ist auch noch nichts davon bekannt geworden, dass sie Wünsche hegen oder Absichten verfolgen. Es erscheint deshalb fragwürdig, die fragilen Reste zu vermenschlichen und – etwa im Museum – dem stummen Zeug eine menschliche Stimme zu verleihen. In einem Raum des Haus der Geschichte in Bonn steht der einstige Dienstwagen Konrad Adenauers, ein schwarzer Mercedes Benz 300. Die Kuratoren hielten es für eine gute Idee, dem Fahrzeug eine menschliche Stimme zu geben und es in der Ich-Form erzählen zu lassen, wohin es den Kanzler in den Jahren 1951–1956 gefahren hat. Es gibt auch so etwas wie eine Anbiederung bei den Dingen. Angesichts des
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sprechenden Autos in Bonn kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass solche Formen von künstlicher Beatmung auch eine Hilflosigkeit darüber verarbeiten, dass die Objekte von sich aus erst einmal nichtssagend sind. Man versucht, sie zum Reden zu bringen, gerade weil ihr historischer Status alles anderes als selbstredend ist. Leider können die Gegenstände sich nicht dagegen wehren. Andererseits ist es unwahrscheinlich, dass sie überhaupt etwas von der Geschäftigkeit um sie herum bemerken. Gegenstände sind äusserst diskrete Wesen. Mann kann sie anreden, beschimpfen oder demolieren – sie äussern sich nicht. Die Dinge bleiben unter sich und verfolgen keine Absichten. In seiner Suche nach der verlorenen Zeit hat Proust wiederholt von dieser Indifferenz der Gegenstände berichtet. Schlaflos in seinem Bett liegend, ist der Erzähler «überzeugt von der Feindseligkeit der violetten Vorhänge und der unverschämten Gleichgültigkeit der Pendeluhr, die hoch oben vor sich hin schwatzte als sei ich gar nicht da.» Die Dinge ruhen in sich, als sei man gar nicht da. Wie das Jackett des Dichters überleben sie einen schon heute. In einer Passage seiner Cahiers hat auch Paul Valéry von dieser Entzogenheit oder Vorgängigkeit der Dinge geschrieben und ihren Ort als einen «Nullpunkt der Bedeutung» bezeichnet. Das eigentlich Dinghafte käme demnach erst zum Vorschein, nachdem man den Dingen ihren Sinn entzogen hat. Man müsste sie so anschauen können, wie ein Tier die Sprache der Menschen registriert, etwa so wie eine im Publikum dösende Katze den Redebeiträgen einer wissenschaftlichen Tagung lauschen würde – als einem mehr oder weniger störenden Rauschen und Scharren.
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Marianne Kaiser
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ZUM STÜCK GURLITT PERSPEKTIVEN – EINE FAMILIENAUF-/AUSSTELLUNG: Während am Kunstmuseum Bern die erste Schau mit Werken aus Cornelius Gurlitts Erbe über die Bühne geht, lädt Schauplatz International zur «einzig wahren Ausstellung» ins Theater. Sie veranstalten ein fiktives Familientreffen und stricken den weiterverästelten Stammbaum der Gurlitts weiter. Dem Ruf des unehelichen Sohns von Cornelius sind sein Stiefvater, ein ominöser Onkel, sein Halbbruder und eine entfernte Tante gefolgt. Alle haben eine Rede zu Ehren des Verstorbenen vorbereitet, und die gilt es für die Eröffnung zu proben. Schauplatz International hat vier Menschen aus Bern und den Schauspieler Nico Delpy zu persönlichen Gesprächen über Kunst getroffen. Diese Aufzeichnungen sind Basis des Stücks, das mehr Ausstellung ist als Theater, noch mehr aber ein Raum für Entladung. Und für Fragen: Wie kommt eine Kunst, die mit fast hundert Jahren brisanter Geschichte aufgeladen ist, wieder zu sich? Was bedeutet uns die Kunst, und wo verändert sie unser Leben? Cornelius Gurlitt selbst hat leidenschaftlich gern Musik gehört. In seinen Wohnungen wurden nicht nur Bilder, sondern auch unzählige Partituren von J. S. Bach gefunden. Und während sein Berner Familienzweig Bach-Kantaten erklingen lässt, surft Gurlitts Schatten am Horizont des Kunstmarkts lächelnd davon. Er ist zu schnell weg, um Bedeutung zu hinterlassen. Wir haben ein Phantombild gesehen.
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SCHAUPLATZ INTERNATIONAL Die Gruppe Schauplatz International wurde 1999 gegründet und besteht seit 2001 im Kern aus Anna-Lisa Ellend, Albert Liebl, Lars Studer und Martin Bieri (bis 2014). Die Gruppe agiert von Bern und Berlin aus und hat in den vergangenen 15 Jahren an vielen Festivals und Gastspielhäusern, Staats- und Stadttheatern gastiert. Dabei sind über 50 Stücke, Performances, Aktionen, Filme und Hörspiele entstanden. Mit klugen Konzepten, die auf umfassender Recherche basieren, fordern sie ihr Publikum heraus.
NACHWEISE IMPRESSUM TEXT- UND BILDNACHWEISE Oliver Meier, Michael Feller, Stefanie Christ, Der Gurlitt-Komplex. Bern und die Raubkunst, Zürich 2017. Peter Geimer, Über Reste, in: Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln 2005. E. H. Gombrich, Die Geschichte der Kunst, Berlin 2000. Susan Sontag, Gegen Interpretation, in: Kunst und Antikunst, München 1980. Probenfotos Philipp Zinniker
KONZERT THEATER BERN intendant Stephan Märki künstlerische leitung koop Sophie-Thérèse Krempl inhalt & redaktion Fadrina Arpagaus konzept & gestaltung formdusche, Berlin layout Murielle Bender, Konzert Theater Bern
redaktionsschluss 25. Oktober 2017 | Änderungen vorbehalten.
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«THE SURFERS CALL HIM «NOBLE» AND THAT’S JUST WHAT HE IS HE’S DEDICATED TO THE MIGHTY SEA SURFIN’ NIGHT AND DAY NEVER TWICE IN ONE SPOT HE’S SOMETHIN’ YOU AND I WOULD LIKE TO BE.»
The Beach Boys