Programmheft Das Missverständnis

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schauspiel

DAS MISSVERSTÄNDNIS ALBERT CAMUS

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Michael Wilhelmi


DAS MISSVERSTร NDNIS ALBERT CAMUS Aus dem Franzรถsischen von Hinrich Schmidt-Henkel

PREMIERE 20. Dezember 2018, Vidmar 1

DAUER DER VORSTELLUNG 2h 10 min, eine Pause


BESETZUNG regie & fassung Claudia Meyer bühne Konstantina Dacheva kostüme Barbara Kurth musik Michael Wilhelmi licht Rolf Lehmann dramaturgie Michael Gmaj regieassistenz & abendspielleitung Jonas Junker bühnenbildassistenz Selina Howald kostümassistenz Melanie Häusler soufflage Gabriele Suremann inspizienz Hasan Koru technischer direktor Reinhard zur Heiden leiter bühnenbetrieb Claude Ruch leiter werkstätten Andreas Wieczorek leiterin kostüm & maske Franziska

Ambühl produktionsleiterin bühnenbild Konstantina Dacheva produktionsleiterin kostüm Sarah Stock Bühnenmeister Jean-Claude Bögli Tontechnik Carlos Aguilar, Simon Müri, Jeremias Schulz Requisite Barbara Salchli Maske Anja Wiegmann Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers von Konzert Theater Bern hergestellt. co-leitung malsaal Susanna Hunziker, Lisa Minder leiter schreinerei Markus Blaser leiter schlosserei Marc Bergundthal leiter dekoration Daniel Mumenthaler leiterin maske Carmen Maria Fahrner gewandmeisterinnen Mariette Moser, Irene Odermatt, Gabriela Specogna leiter requisite Thomas Aufschläger leiter beleuchtung Bernhard Bieri leiter audio & video Bruno Benedetti leiter vidmar Marc Brügger

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die mutter Heidi Maria Glรถssner martha Irina Wrona maria Marie Popall jan Nico Delpy der knecht Michael Wilhelmi

Partner Maske

Dr. Hauschka

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«EIN MENSCH IST IMMER DAS OPFER SEINER WAHRHEITEN»* Zum Stück Camus' Beschäftigung mit Das Missverständnis beginnt bereits bei der Arbeit an seinem Roman Der Fremde. Die Hauptfigur Meursault, ein teilnahmsloser, zum Tode verurteilter Mörder liest während seiner Haft immer wieder die gleiche Zeitungsnotiz: «Ein Mann war aus einem tschechischen Dorf aufgebrochen, um sein Glück zu machen. Nach 25 Jahren war er reich und mit Frau und Kind zurückgekehrt. Seine Mutter unterhielt mit seiner Schwester ein Hotel. Um sie zu überraschen, hatte er seine Frau und sein Kind in einem anderen Gasthof gelassen, war zu seiner Mutter gegangen, die ihn nicht erkannt hatte, als er hereinkam. Er hatte sein Geld gezeigt. Nachts hatten seine Mutter und seine Schwester ihn mit einem Hammer totgeschlagen, um ihn auszurauben, und hatten seine Leiche in den Fluss geworfen. Am Morgen war die Frau gekommen, hatte, ohne es zu wissen, die Identität des Reisenden enthüllt. Die Mutter hatte sich erhängt. Die Schwester hatte sich in einen Brunnen gestürzt.» Dieser tragische Bericht diente Camus als Schablone für sein Drama. Mutter und Schwester philosophieren darin über Verbrechen und Mord. Sie berufen sich auf ihre eigene, verklärte Sicht von Menschlichkeit beim Töten, da die Opfer ihrer Ansicht nach nicht leiden. So kommen sie zum Schluss, dass der Mord weniger grausam ist als das noch zu erwartende Leben und der unausweichliche natürliche Tod. Doch dann geschieht etwas, womit sie nie gerechnet hätten, und sie werden «Opfer ihrer eigenen Wahrheiten». Camus’ Dramen und Prosa können als theatrale und literarische Gedankenspiele seiner Existenzphilosophie verstanden werden,

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*Albert Camus in Der Mythos des Sisyphos


deren Schlüsselwerk Der Mythos des Sisyphos ist. Darin folgert Camus, die Existenz sei sinnlos. Wenn nun etwas, was geschieht, keinen Sinn hat, so ist es absurd. Das Leben an sich belegt diesen philosophischen Ansatz Camus’. Da der Tod selbst absurd ist, kann sich ein Mensch diesem existenziellen Dilemma noch nicht einmal durch Selbstmord entziehen. Martha, die zusammen mit ihrer Mutter ein Gasthaus irgendwo im Niemandsland betreibt, wünscht sich, der erdrückenden Vereinsamung zu entkommen, und sehnt sich nach dem Meer im Süden. Sie hat es noch nie zu Gesicht bekommen. Ein Gast besucht sie, der fatalerweise preisgibt, er sei vermögend. Martha sieht einen Ausweg aus ihrer Misere – sein Geld könnte die ersehnte Flucht ermöglichen. Die Mutter scheut sich eigenartigerweise, Jan zu töten, obwohl sie noch nicht weiss, wer er tatsächlich ist. Ihr Sohn, der sie vor mehr als einem Jahrzehnt verlassen hat, will prüfen, ob Mutter und Schwester ihn noch erkennen und hat sich unter falschem Namen im Gästebuch eingetragen. Seine Ehefrau Maria, die grosse Zweifel an seinem Plan hegt, hat ihn noch bis zur Schwelle begleitet. Erst auf sein Drängen überlässt sie ihn seinem Vorhaben. Nach und nach erkennt Jan, dass seine Absicht nur Enttäuschung bringt. So entschliesst er sich zur Abreise. Doch der Tee mit Schlafmittel ist bereits ausgetrunken, die beiden Frauen schreiten zur Tat. Es sind lebensentscheidende Zufälle, die zu dieser Tragödie führen; ihre Häufung im Stück machen sie zugleich «unglaubhaft». Für Camus ist der rasende Mechanismus dieser Ereignisse indes ein Bild für die Absurdität der Existenz. Mit den beiden Frauen wird die tödliche Konsequenz der Freiheit ohne Menschenliebe vorgeführt – sie ist Freiheit zum Mord. Dieses Schauspiel zwischen Grauen und Lachen ist ein Gleichnis, keine psychologische Studie zweier Mörderinnen.

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Das Missverständnis ist 1941 im okkupierten Frankreich entstanden. Camus selbst berichtete: «Ich lebte damals im Gebirge im Innern Frankreichs. Diese historische und geographische Lage mag die Klaustrophobie hinreichend erklären, an der ich damals litt und die sich in diesem Stück widerspiegelt.» Seine Idee war, eine modernes Drama zu schaffen, dessen Sprache die grössten Tragödien der Antike zum Vorbild hat. Tatsächlich ist der Text auch als Mahnung an seine Mitstreiter in der Résistance gedacht gewesen, der daran erinnern sollte, zu sich und seinen Werten zu stehen und die eigene Identität preiszugeben, nicht zu verheimlichen. Camus selbst stand immer wieder in Gefahr, als Mitglied des Widerstands enttarnt zu werden. Schlussendlich musste aber der Autor René Leynaud, der wie Camus für die Widerstandszeitung Combat arbeitete, mit seinem Leben dafür bezahlen. Hier erkannte Camus zum ersten Mal, dass Worte Bedeutung über Leben und Tod haben können: «Wenn die Schriftsteller nicht viel für die Résistance getan haben, so werden wir im Gegenteil sagen, … dass die Résistance viel für sie getan hat: Sie hat sie über den Preis der Worte belehrt … Wenn man sein Leben, und sei dies auch ein geringer Einsatz, riskiert, um einen Artikel drucken zu lassen, so lernt man das wahre Gewicht der Worte kennen.» Um Worte geht es auch in Jans Konflikt, um Worte der Aufrichtigkeit: «Wenn der Mensch erkannt werden will, muss er schlicht und einfach sagen, wer er ist. Schweigt oder lügt er, so stirbt er allein, und alles um ihn herum fällt dem Unglück anheim. Wenn er die Wahrheit sagt, wird er zwar immer noch sterben, aber davor hat er den anderen und sich selber geholfen zu leben.» Es ist ein indirekter Aufruf Camus’ Widerstand zu leisten. Seine Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs haben einen Wandel in seinem Denken ausgelöst. Das Missverständnis steht dabei am Scheitelpunkt dieser Veränderung. Schreibt Camus noch in Der Fremde von der «zarten Gleichgültigkeit der Welt», der es sich hinzugeben gilt, so geht es im Missverständnis

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um die «wohlwollende Gleichgültigkeit», die alles ist, was der Gast zu erwarten hat und die beiden Frauen nicht daran hindert ihn zu ermorden. Camus folgert, der Akt des Widerstands erlaube ein Entkommen von der Absurdität des Lebens und schildert das ausführlich in der 1951 veröffentlichten Essaysammlung Der Mensch in der Revolte. Man könnte meinen, Camus hätte sich selbst als Jan in das Stück eingeschrieben, als den Sohn, der in die Fremde geht und als Anderer Jahre später wieder nach Hause zurückkehrt. 1913 in Algerien in ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines französischen Siedlers zweiter Generation und einer Spanierin, die weder lesen noch schreiben konnte, geboren, ist sein literarisches Werk – und damit verbunden sein Aufstieg in die höchsten Ränge der Pariser Bohème – ein Phänomen. Er fühlte sich wohl tatsächlich fremd in der Welt, aus der er stammte, genauso wie in der anderen, in die er hineinwuchs. Doch die Erfahrung beider Welten ermöglichte es ihm, die schwierigen, die kritischen Fragen zu stellen. So zog Jan, ähnlich wie Camus aus ärmlichen Verhältnissen stammend, aus dem alten Europa «in das Land am Meer mit viel Sonne». Begriffe, die bei Camus immer wieder auftauchen, und die er trotz der Armut, die er in Algerien erlebte, immer als Begründung dafür lieferte, weshalb ein Junge eben doch überaus glücklich dort aufwachsen konnte. In diesem Süden machte Jan ein Vermögen und lernte seine Frau Maria kennen. In der Fremde fand er sein Glück – und eben nicht in der europäischen Heimat, die im Stück von Camus als veraltet, starr und verkrustet beschrieben wird. Somit wird Jan zu einer Art Umkehrung von Camus’ Person.

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In ihrer Inszenierung legt Regisseurin Claudia Meyer u.a. einen Fokus auf die Fremdheit der beiden Reisenden. Jan und Maria erscheinen in fremd anmutenden Kleidern, die nicht aus Europa stammen. Jan kleidet sich hier also wie ein Anderer, steht zu dieser Fremdheit und wird vielleicht gerade deswegen nicht von seiner Mutter und Schwester als Sohn und Bruder erkannt. Das Missverständnis gilt als Stück, das in seiner Entstehungszeit, in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, verhaftet ist. Ein Text, der heutzutage vermeintlich nicht mehr aktuell ist, obwohl man annehmen müsste, dass gerade Camus’ moralische Frage nach Aufrichtigkeit zeitlos sei. Im Stück ist der Grund, weshalb die beiden Gastgeberinnen reihenweise Männer umbringen, schlicht ihre Armut. Vor allem Martha möchte sich mit dem erbeuteten Geld am Meer ein neues Leben aufbauen. Die Fremdheit von Jan und Maria wurde in zahlreichen Inszenierungen übergangen, wahrscheinlich weil das Stück jene Fremdheit in den Dialogen nicht weiter ausführt. Das dramatische Potenzial des Stoffes verschärft sich aber deutlich, wenn man dem Fremden Beachtung schenkt. Maria, die aus der Fremde stammt, wird mit der Ermordung Jans auch selbst angegriffen und in ihren Grundfesten erschüttert. Nicht nur, weil ihr Mann, ihre grosse Liebe, kaltblütig aus dem Leben gerissen wurde, sondern weil man ihn umgebracht hat, weil man ihn umbringen konnte, da er ein «Fremder» war. Jan stellte sich als einer vor, nach dem keiner suchen würde; er sagte, seine Ehefrau wäre in der Heimat zurückgeblieben, es gäbe keine Verwandten vor Ort – freie Bahn also für Martha und ihre Mutter, zur Tat zu schreiten. Die beiden Figuren stehen bei Camus für ein verbrecherisches Europa, das den Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat. Heutzutage zwar kein Kriegstreiber mehr, ist Europa trotzdem mit einer bisher nie da gewesenen Anzahl von Geflüchteten und Expats konfrontiert, die unsere Werte auf den Prüfstand stellen. Menschen unterschiedlichster Herkunft,

DAS KOMPLETTE PROGRAMMHEFT IST FÜR CHF 3,– AM VORSTELLUNGSABEND ODER AN DER BILLETTKASSE ERHÄLTLICH.

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