spartenübergreifend
DIE FORMEL ODER DIE ERFINDUNG DES 20. JAHRHUNDERTS
DORIS RECKEWELL, TORSTEN RASCH
Gabriel Schneider
PRODUKTIONSFOTO
DIE FORMEL ODER DIE ERFINDUNG DES 20. JAHRHUNDERTS
DORIS RECKEWELL, TORSTEN RASCH Uraufführung
PREMIERE 02. März 2018, Stadttheater
DAUER DER VORSTELLUNG ca. 2 h 10 min, eine Pause
BESETZUNG regie Gerd Heinz musikalische leitung Jonathan Stockhammer bühne & kostüme Lilot Hegi licht Bernhard Bieri choreografie Sabine Mouscardès chorleitung Patrick Secchiari dramaturgie Fadrina Arpagaus studienleitung Hans Christoph Bünger korrepetition Georg Köhler regieassistenz Sophia Aurich regiehospitanz Joris Immenhauser bühnenbildassistenz Selina Howald kostümassistenz Clara Sollberger soufflage Sabine Bremer inspizienz Hasan Koru übertitelung Annette Huber statisterie Irene Bürgi technischer direktor Reinhard zur Heiden leiter bühnenbetrieb Claude Ruch leiter werkstätten Andreas Wieczorek leiterin kostüm und maske Franziska
Ambühl produktionsleiterin bühnenbild Konstantina Dacheva produktionsleiterin kostüm Maya Däster bühnenmeister Vinzenz Kocher schnürmeister Jürg Streit, Roger Grandi tontechnik Urs Haller, Breandan Davey videotechnik Jonas Mettler requisite Gabriela Hess dekoration Thomas Wittwer maske Gabriele Basler, Carmen Maria Fahrner, Sibylle Langeneck Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers von Konzert Theater Bern hergestellt. co-leitung malsaal Susanna Hunziker, Lisa Minder leiter schreinerei Markus Blaser leiter schlosserei Marc Bergundthal leiter dekoration Daniel Mumenthaler leiterin maske Carmen Maria Fahrner gewandmeisterinnen Mariette Moser, Gabriela Specogna leiter requisite Thomas Aufschläger leiter beleuchtung Jürgen Nase leiter audio und video Bruno Benedetti
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lenin David Berger nadeshda krupskaja Milva Stark nadeshda krupskaja (traum) Evgenia Grekova paul klee Luka Dimic lily stumpf Irina Wrona lily stumpf (traum) Eleonora Vacchi albert einstein Gabriel Schneider mileva marić Mariananda Schempp mileva marić (traum) Marielle Murphy robert walser Todd Boyce savonarola / newton / karl v. Jürg Wisbach st. just / goethe / tizian Jonathan Loosli gudrun ensslin / lieserl Johanna Dähler margaret thatcher Lilian Naef Vokalensemble ardent Camerata Bern Boy Choristers of Gloucester Cathedral (leitung Adrian Partington – dirigent Jonathan Hope – aufnahme Matthew Clark) Statisterie Konzert Theater Bern
in Kooperation mit
merci!
Partner Maske Aesop & Dr. Hauschka
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VOKALENSEMBLE ARDENT sopran Caroline Dähler, Verena Forcher, Eva Grandjean, Adrienne Müller, Sabine Rohner, Tina Monika von Känel alt Anna Knecht, Kristina Nyfeler, Verena Oberholzer, Eva Rüegger, Isabelle Schmied, Cornelia Stettler tenor Paul Bär, Nicola Imseng, Urs Knecht, David Schmitz, Beat Vogelsanger, Wolfgang Wassmer bass Enrico Flores, Andreas Häsler, Wolfgang Käppeli, Patrick Secchiari, Heiko Wehse, Norbert Wernicke
CAMERATA BERN erste violine Sonja Starke (Konzertmeisterin), Elvira van Groningen, Hayley Wolfe, Simona Bonfiglioli zweite violine Michael Brooks Reid, Sibylla Leuenberger, Michael Bollin, Daniel Bertschinger viola Patrizia Messina, Javier Lopez Sanz, Nada Anderwert cello Thomas Kaufmann, Domitille Jordan kontrabass Käthi Steuri akkordeon Viviane Chassot zymbalom Françoise Rivalland schlagzeug Pascal Viglino, Ralph Marks
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Luka Dimic
«2 x 2 = 22» Robert Walser in Die Formel
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DAS SUCHEN HILFT BEIM FINDEN Zum Stück Manche sagen, dass wir heute mehr wissen denn je. Andere entgegnen, dass es gerade das Eingeständnis der eigenen Unwissenheit sei, das Erkenntnis überhaupt möglich mache. Denn wenn ein allwissender Gott nicht existiert, müssen wir selbst erkennen – das ist der Grundimpuls der Aufklärung. Wieder andere behaupten, dass wir verdummen würden, weil wir hilflos im Informationsmeer ertrinken, während manche sich sicher sind, dass die Intelligenz auf dem Planeten nicht abnehme, sondern sich einfach auf mehr und besser vernetzte Menschen und Maschinen verteile. Und praktisch jeder beklagt seufzend, dass die Welt komplex sei. Vermutlich haben alle recht. Aber damit ist die alte Frage «Was können wir wissen?» noch nicht geklärt.
1905 – PLUSMINUS
In Die Formel oder die Erfindung des 20. Jahrhunderts machen sich sieben Persönlichkeiten auf, darauf zu antworten. Robert Walser, Lenin und Nadeshda Krupskaja, Paul Klee und Lily Stumpf, Albert Einstein und Mileva Marić treffen im Winter 1905 in Bern per Zufall zusammen, und es wäre ein historischer Moment geworden, wäre er nicht von der Autorin Doris Reckewell erfunden. Nicht erfunden sind hingegen die tatsächlichen Kreuzungspunkte der sieben mit der Stadt. Während Lenin und Nadeshda im Genfer Exil nach dem gewaltsam niedergeschlagenen Arbeiteraufstand am «Petersburger Blutsonntag» die Rückkehr nach Russland vorbereiten und dafür die Behörden der Hauptstadt aufsuchen, lebt
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und malt Paul Klee nach einem abgebrochenen Kunststudium in München wieder in Bern. Er wird ein Jahr später die Konzertpianistin Lily Stumpf gegen den Willen ihrer Eltern heiraten und wieder nach München ziehen, in die direkte Nachbarschaft des Künstlerpaars Vladimir Kandinsky und Gabriele Münter, wo Lily mit Klavierstunden den Unterhalt der jungen Familie Klee bestreitet. Einzig Albert Einstein scheint für einen Augenblick fest in Bern verwurzelt, bevor er im Laufe seines Lebens die Orte und Pässe fliegend wechselt: Er arbeitet beim Patentamt, hält Vorlesungen und lebt mit Mileva Marić in der Kramgasse. Die beiden haben sich am Zürcher Polytechnikum kennengelernt, wo Mileva als einzige Frau des Jahrgangs und als erste serbische Studentin mit Einstein Kurse in Physik belegt hat. Noch vor der Heirat mit Albert hat sie bei ihren Eltern in der Vojvodina ein Kind zur Welt gebracht, über dessen Verbleib bis heute nichts bekannt ist – vermutlich ist das «Lieserl» früh verstorben. Mileva wird später, nach der Trennung von Einstein, in Zürich als alleinerziehende Mutter zwei Söhne aufziehen.
DIE FORMELN DER MÄNNER
Politik, Kunst, Wissenschaft – dafür stehen Lenin, Klee und Einstein exemplarisch. Die Inszenierung von Gerd Heinz zeigt aber nicht die historischen Figuren, sondern – viel universeller – Suchende. «Die Welt ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben», heisst es in Die Formel, und auch wenn sich an diesem Abend immer wieder alle gegenseitig aufs Glatteis führen: Diese Aufgabe nehmen sie ernst. Nach der ersten Zufallsbekanntschaft am Bahnhof platzen die Herren Klee und Lenin in Einsteins Hörsaal, begegnen sich später im Souterrain der Klees, wo Lenin und Nadeshda auf Lilys Einla-
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Die Formel der Formeln: Die Lagrange-Dichte des Standardmodells der Materie nach T. D. Gutierrez
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dung hin nicht nur sich, sondern auch kurzerhand russische Emigranten einquartiert haben, und treffen sich dann bei den Einsteins zum Dinieren und Musizieren. Ein letztes Gespräch, das emotionalste und uneinigste, führen sie schon leicht resigniert in einer Gartenwirtschaft, bevor die Züge kommen, die sie alle wieder auseinander tragen – fast alle. Wer die Paare verbindet und trotzdem aussen vor bleibt, ist einer, der selbst immer ganz genau hinschaute und die Gegenwart doch rätselhaft in Worte verschlüsselte: Robert Walser hält die sechs zusammen und trennt sie zugleich, indem er sie, ganz wie ein Shakespearscher Narr, in ihrer Weltsicht provoziert und in ihrem einseitigen Streben entlarvt. Er tänzelt, singt, träumt – und tänzelt wieder. Und keiner weiss, warum.
DIE VISIONEN DER FRAUEN
Politik, Kunst, Wissenschaft – und was noch? Wenn ein Leben als fortgesetztes Zwiegespräch mit der Welt bezeichnet werden kann, dann sind die Zugänge zur Realität so vielfältig wie die Menschen. Diese Zugänge verändern sich, genauso wie sich Wissen verschiebt, anders tradiert, gespeichert und in Köpfen und Servern verwaltet wird. Während von Lenin, Klee und Einstein politische Taten, Werke und Schriften ihre Leben überdauern, ist die Arbeit von Nadeshda Krupskaja, Mileva Marić und Lily Stumpf – und das mag ihrer Zeit geschuldet sein – weniger dokumentiert und immer eng mit den Biografien ihrer Männer verflochten. Rücken die Frauen in den Mittelpunkt der Inszenierung, wechseln die Qualitäten des Raums und des Ausdrucks. In drei visionären Träumen stellt Komponist Torsten Rasch den dreien ein singendes Seelendouble an die Seite, das über die Musik die Tiefen ihrer Existenz auslotet: Mileva erblickt ihre Tochter Lieserl, in der sich ihr Scheitern in der Doppelrolle als Wissenschaftlerin
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und Mutter manifestiert – ein Scheitern, das sie nicht selbst verschuldet hat. Nadeshda blickt in die fragwürdige Zukunft eines repressiven sozialistischen Staates, den sie als Bildungspolitikerin der UdSSR und als Organisationszentrum der Kommunistischen Partei Russlands stark mitgeprägt hat, und Lily Stumpf antizipiert die kommenden Auswüchse des kapitalistischen Kunstmarkts. Der Absprung in die Träume ist aber persönlicher Natur: Es sind Sätze der Männer, die bei den Frauen eine Irritation auslösen, die sich in den geträumten Sequenzen als ein tiefes Nicht-Einverstandensein mit der Gegenwart ausdrückt. Diese Vor- und Rückblenden sind «unzeitgemässe Betrachtungen», die der Sehnsucht nach der Eindeutigkeit einer griffigen Weltbeschreibung eine beunruhigende Tonspur unterlegen.
SCHWARZE LÖCHER IM NETZ DER ZEIT
«Unzeitgemäss» ist auch das Jahr 1905; es ist das Jahr, in dem die Zeit mit der Veröffentlichung von Einsteins Schriften zu Zeit und Raum ihre Linearität aufgibt. Ab sofort ist sie relativ, anachronistisch, oder – wie sie der Komponist Alois Bernd Zimmermann beschrieben hat – «kugelförmig». In einem nicht linearen Kontinuum lassen sich ahistorische Begegnungen imaginieren, die nicht stattgefunden haben und dabei Fragen, die aus anderen Epochen kommen, miteinander überlagern und neu stellen. So schlüpfen in Die Formel weitere Grössen vergangener Jahrhunderte durch die Löcher der Zeit und ergattern sich einen Auftritt: In kurzen Traumsequenzen debattieren in Lenins Kopf der streitbare florentinische Bussprediger Savonarola, der französische Revolutionär St. Just, die raf-Terroristin Gudrun Ensslin und Margaret Thatcher über Gewalt als rechtmässiges Mittel zum politischen Umbruch; in Einsteins Kopf streiten Goethe und Newton über die Möglichkeit einer wertefreien Wissenschaft, in Klees Imagi-
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nation diskutieren Tizian und der Habsburger Kaiser Karl V. über Malerei. Indem Karl, in dessen gewaltigem Reich die Sonne nie untergeht, den heruntergefallenen Pinsel des Malers aufhebt, erweist er diesem die grösste denkbare Ehre – und ehrt so auch die Kunst. Alle drei Dispute bleiben unabgeschlossen.
DIE SEHNSUCHT NACH DER WELTFORMEL
Die Idee, mit einer einzigen Formel die Welt fassen zu können, gilt heute als zu einfach. Das heisst aber nicht, dass Erkenntnisse unmöglich sind. Die Physik hat Newtons Gesetze der Mechanik und Einsteins Allgemeine und Spezielle Relativitätstheorie experimentell weitgehend bestätigt. Doch auf subatomarer Ebene, im Bereich der Quantenphysik, greifen diese Formeln interessanterweise nicht. Newton und Einstein lieferten das Gerüst, das den Bereich des Sichtbaren erfasst; in der mikroskopischen Tiefe der Dinge jedoch walten Gesetze, die noch weitgehend unbekannt sind und diesem Rohbau widersprechen. Je tiefer wir in die Welt eindringen, desto klarer wird, dass sie noch nicht abschliessend beschrieben worden ist. In den noch unsichtbaren Gegenden der Natur setzt die Wildnis des Wissens ein. Dorthin gehen heutige Forscherinnen und Forscher, wenn sie die Gesetzmässigkeiten von Strings in derart komplizierten Gleichungen berechnen, dass sie den Horizont des menschlich Vorstellbaren fast sprengen. Möglicherweise ist der Begriff des «Wissens» aber auch falsch gewählt. Er legt nahe, dass es etwas gibt, das als gesichert gilt und das man haben, verwalten und in Formen, Formeln und Sprachen festhalten kann. Vielleicht geht es aber bei einem fortgesetzten Gespräch mit der Welt vielmehr darum – und hier sind wir sehr nahe bei Paul Klee –, Dinge ins Sichtbare zu heben. Wissen ist demnach kein Resultat, sondern ein Vorgang; es ist der Umgang
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mit etwas Fluidem, das sich ständig verändert, wenn es mit Worten, Tönen und Farben und in Gesprächen bearbeitet wird. Dieses Eindringen ins Nichtsichtbare mit dem Ziel, es der Zeit und der laufenden Gegenwart auszusetzen, ist eine Arbeit, die Künstlerinnen und Künstler immer wieder leisten – aber auch die sozialen Studien eines politischen Denkers wie Lenin, der seine Analysen kontinuierlich mit der Realität einer Gesellschaft abglich.
WAS KÖNNEN WIR WISSEN?
Wie wir der Welt begegnen und mit ihr ins Gespräch treten – auch das zeigt Die Formel oder die Erfindung des 20. Jahrhunderts –, ist historisch bedingt und individuell. Es hängt davon ab, welche Kriege um uns stattfinden oder wer unsere Eltern sind, welche Techniken und Informationen uns zur Verfügung stehen, wen wir lieben oder mit wem wir leben, was uns reizt und triggert. Uns bleibt die Aufgabe, im Multiversum der verfügbaren Sprachen aus Kunst, Politik und Wissenschaft eine für uns zu finden und mit ihr beschreiben zu lernen, was wir sehen und fühlen, analytisch und intuitiv zugleich. Dabei gilt es auszuhalten, dass das, was wir als wahr betrachten, wahr ist und immer zugleich auch nicht, und jede Erkenntnis temporär, dabei aber trotzdem von Wert. «Was können wir wissen?» Vielleicht das, was wir suchen. Fadrina Arpagaus
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«KUNST = NATUR − X» Arno Holz
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David Berger, Ensemble ardent
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WILLKOMMEN IM MULTIVERSUM Rüdiger Vaas Es ist beinahe wie im Märchenland: Man findet den Zipfel einer Zauberdecke, zieht daran – und entdeckt eine völlig neue Welt. Doch hier geht es um seriöse Wissenschaft und multidimensionale Mathematik: Mit der Superstring- oder M-Theorie haben Physiker den ersten Kandidaten für eine «Weltformel» gefunden, die alle Arten der Materie und Kräfte beschreiben soll und sogar den Urknall und die Schwarzen Löcher zu erklären verspricht. Der Preis ist freilich hoch: Neben der vertrauten vierdimensionalen Raumzeit müssten noch sechs oder sieben weitere Dimensionen existieren – und unzählige andere Universen. Die Stringtheorie ist eine vereinheitlichende Theorie der vier bekannten Naturkräfte und eine Theorie der Quantengravitation, die die Allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantenphysik verbindet. Ihr zufolge setzen sich die Objekte im Universum nicht aus quasi punktförmigen Elementarteilchen zusammen, sondern aus winzigen Saiten (Strings), als deren Anregungsformen das gesamte Spektrum der Partikel entsteht. Allerdings gibt es mindestens fünf verschiedene zehndimensionale supersymmetrische Stringtheorien. Sie sind aber Teile der umfassenderen und bislang nur rudimentär ausgearbeiteten M-Theorie. Diese ist elfdimensional und beschreibt neben den eindimensionalen Strings auch mehrdimensionale Branen. Die String-/M-Theorie bietet nicht nur eine Erklärung des Allerkleinsten an, sondern hat sich als mathematisches «Werkzeug» bereits als sehr nützlich erwiesen. Vielleicht ist sie auch der Schlüssel zum Verständnis des Weltalls insgesamt – und weit darüber hinaus. Die winzig kleinen Extradimensio-
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Luka Dimic, Todd Boyce
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nen können auf unzählige Weisen kompaktifiziert («aufgerollt») sein. Diese Vieldeutigkeit legt die Existenz von Myriaden fremder Universen nahe – mit jeweils anderen Naturgesetzen. Das jedoch stellt den Status der Stringtheorie als überprüfbare Wissenschaft infrage und hat zu lebhaften Kontroversen geführt. Sind die vielen Welten der Weltformel ein notwendiges Übel, eine kolossale Katastrophe oder eine geniale Erkenntnis? Der Traum vieler Elementarteilchenphysiker und Kosmologen, eine grundlegende und einheitliche Erklärungsebene zu finden, eine «Theory of Everything», die alle Elementarteilchen, fundamentalen Wechselwirkungen sowie Raum und Zeit einheitlich beschreiben soll, ist noch nicht erreicht, aber auch noch lange nicht ausgeträumt. Zuweilen wurde spekuliert, ob die String-/MTheorie, würde man sie nur richtig kennen, eine fundamentale Theorie sei. Aber selbst wenn, wäre es zunächst nötig, dies auch zu zeigen. Und das ist sowohl theoretisch wie experimentell nicht ansatzweise gelungen. Doch kann es eine Art von «Weltformel» überhaupt geben? Und sind wenigstens einige Menschen intelligent genug, sie zu finden und zu verstehen und irgendwie zu belegen? Es gibt tatsächlich starke Argumente dafür, dass sich nicht alles erklären lässt, und zwar nicht einmal im Prinzip, weil es gar nicht ersichtlich ist, dass für alles ein zureichender Grund bestehen muss. Und selbst wenn dies für alle Vorkommnisse in der Welt so wäre, wenn es also keine unhintergehbaren Zufälle gäbe, folgt daraus nicht, dass es für die Welt als Ganzes der Fall ist – dass es also einen Grund gibt, warum sie existiert, und etwa nicht oder auf andere Weise existiert. (Schliesslich folgt aus der Tatsache, dass alle Mitglieder eines Vereins eine Mutter haben, auch nicht, dass der Verein selbst eine Mutter besitzt.) Aus prinzipiellen erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Erwägungen he-
raus kann es letzte und vollständige Erklärungen grundsätzlich nicht geben (weshalb die Wissenschaft ein unabschliessbares Unternehmen ist). Denn keine Erklärung ist voraussetzungslos. Und jede Erklärung oder Begründung basiert entweder auf einer nicht weiter hinterfragten – aber ja doch hinterfragbaren – Annahme, oder sie würde auf eine unendliche Begründungskette referieren müssen (einen unendlichen Regress) oder auf eine, die das zu Begründende schon voraussetzt (also ein Zirkelschluss wäre). Das ist wie bei Kindern, die scheinbar endlos «warum, warum, warum?» fragen: Entweder gibt man immer eine Antwort, wenn man eine hat, und wird nie fertig; oder man bricht das Gespräch ab («weil es eben so ist, basta!»), oder man wiederholt sich. All das ist letztlich unbefriedigend – und das wissen kluge Kinder auch... wie Wissenschaftler und Philosophen. Ob und warum die physikalischen Gleichungen zur Welt passen, ist ebenfalls unklar. «Wie ist es möglich, dass die Mathematik, ein Produkt menschlichen Denkens, welches unabhängig von Erfahrung ist, so exzellent den Objekten physikalischer Realität entspricht?», fragte sich Albert Einstein immer wieder. Und selbst eine irgendwie erhärtete Weltformel wäre nicht die Welt selber, sondern bloss eine eingeschränkte, abstrahierte Beschreibung der Welt. Was würde sie wirklich erklären können – und was nicht? «Auch wenn nur eine einheitliche Theorie möglich ist, so wäre sie doch nur ein System von Regeln und Gleichungen. Wer bläst den Gleichungen den Odem ein und erschafft ihnen ein Universum, das sie beschreiben können?», fragte Stephen Hawking am Ende seines epochalen Buchs Eine kurze Geschichte der Zeit. «Warum muss sich das Universum all dem Ungemach der Existenz unterziehen? Ist die einheitliche Theorie so zwingend, dass sie diese Existenz herbeizitiert?» Angesichts all dieser grossen Fragen und Schwierigkeiten mag man vielleicht resignieren und kapitulieren. Die Welt ist in ihrer Tiefe vermutlich
Marielle Murphy, Ensemble ardent
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absurd und letztlich unverständlich. Aber das heisst nicht, dass sie alle Geheimnisse für immer verschlossen hält. Die Geschichte der Naturwissenschaften zeigt ja deutlich, wie weit die Forscher schon in den «Ozean der Wahrheit» (Isaac Newton) vorgedrungen sind und wie viele Dinge sie dabei entdeckt haben, gerade auch entgegen der Vorurteile des «gesunden Menschenverstands», und schliesslich sogar nutzbar zu machen vermochten – Dinge, die sich zwei oder drei Generationen zuvor noch niemand hätte vorstellen können. In seiner Dirac-Vorlesung 1986 an der University Cambridge hat Steven Weinberg einmal gesagt: «Ich bin nicht sicher, ob es etwas wie eine Menge von einfachen, endgültigen Gesetzen in der Physik gibt. Doch ich bin ziemlich sicher, dass es gut ist für uns, danach zu suchen – ähnlich wie die spanischen Explorer, die erstmals vom Zentrum Mexikos nach Norden vorgestossen sind und nach den sieben goldenen Städten von Cibola gesucht haben. Sie fanden sie nicht, aber sie entdeckten andere nützliche Dinge, zum Beispiel Texas.»
Rüdiger Vaas ist Wissenschaftsreporter, Astronomie- und Physikredakteur bei bild der wissenschaft und hat zahlreiche Bücher und Publikationen zur modernen Kosmologie verfasst.
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«OPEL UND FERNSEHEN.» Gudrun Ensslin in Die Formel
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Gabriel Schneider, Mariananda Schempp, David Berger, Milva Stark, Luka Dimic, Irina Wrona
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DIE BIBLIOTHEK VON BABEL Jorge Luis Borges Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unendlichen Zahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte, die mit sehr niedrigen Geländern eingefasst sind. Von jedem Sechseck aus kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen: grenzenlos. Die Anordnung der Galerien ist unwandelbar dieselbe. Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten ausser zweien: ihre Höhe, die sich mit der Höhe des Stockwerks deckt, übertrifft nur wenig die Grösse eines normalen Bibliothekars. Eine der freien Wände öffnet sich auf einen schmalen Gang, der in eine andere Galerie, genau wie die erste, genau wie alle, einmündet. Links und rechts am Gang befinden sich zwei winzig kleine Kabinette. In dem einen kann man im Stehen schlafen, in dem anderen seine Notdurft verrichten. Hier führt die spiralförmige Treppe vorbei, die sich abgrundtief senkt und sich weit empor erhebt. In dem Gang ist ein Spiegel, der den äusseren Schein verdoppelt. Die Menschen schliessen gewöhnlich aus diesem Spiegel, dass die Bibliothek nicht unendlich ist; ich gebe mich lieber dem träumerischen Gedanken hin, dass die polierten Oberflächen das Unendliche darstellen und verheissen... Wie alle Menschen der Bibliothek bin ich in meiner Jugend gereist; ich habe die Fahrt nach einem Buch angetreten, vielleicht dem Katalog der Kataloge; jetzt können meine Augen kaum mehr entziffern, was ich schreibe; ich bin im Begriff, nur ein paar Meilen von dem Sechseck, wo ich geboren ward, zu sterben. Wenn ich tot bin, wird es nicht an
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mitleidigen Händen fehlen, die mich über das Geländer werfen werden; mein Grab wird die unauslotbare Luft sein; mein Leib wird immer tiefer sinken und sich in dem von dem Sturz verursachten Fallwind zersetzen und auflösen. Ich behaupte, dass die Bibliothek kein Ende hat. Die Idealisten argumentieren, dass die sechseckigen Säle eine notwendige Form des absoluten Raums sind, oder zumindest unserer Anschauung vom Raum. Sie geben zu bedenken, dass ein dreieckiger oder fünfeckiger Saal unfassbar ist. Für jetzt mag es genügen, wenn ich den klassischen Spruch zitiere: Die Bibliothek ist eine Kugel, deren eigentlicher Mittelpunkt jedes beliebige Sechseck ist, und deren Umfang unzugänglich ist. Auf jede Wand jedes Sechsecks kommen fünf Regale; jedes Regal fasst zweiunddreissig Bücher gleichen Formats; jedes Buch besteht aus einhundertzehn Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus achtzig Buchstaben von schwarzer Farbe; Buchstaben finden sich auch auf dem Rücken jeden Buches; doch bezeichnen diese Buchstaben nicht, deuten auch nicht im Voraus an, was die Seiten sagen werden. Ich weiss, dass dieser fehlende Zusammenhang zuweilen mysteriös angemutet hat. Bevor ich die Lösung, deren Entdeckung trotz ihrer tragischen Auswirkungen wohl der Hauptgegenstand der Geschichte ist, in gedrängter Form wiedergebe, will ich ein paar Axiome ins Gedächtnis zurückrufen. Erstes Axiom: Die Bibliothek existiert ab aeterno. An dieser Wahrheit, aus der unmittelbar die künftige Ewigkeit der Welt folgt, kann kein denkender Verstand zweifeln. Der Mensch, der unvollkommene Bibliothekar, mag vom Zufall oder von den böswilligen Dämonen bewirkt sein; das Universum, so elegant ausgestattet mit Regalen, mit rätselhaften Bänden, mit unerschöpflichen Treppen für den umherwandernden und mit kleinen Stufen für den sitzenden Bibliothekar, kann nur durch einen Gott bewirkt sein. Um die Kluft, die zwischen dem Mensch-
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«ROSE! ROST! KIRS FLAMINGO!» Robert Walser in Die Formel
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IRSCHE!
Eleonora Vacchi, Ensemble ardent
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lichen und dem Göttlichen liegt, so recht zu ermessen, braucht man nur die zittrigen Zeichen, die meine hinfällige Hand auf den Einband eines Buches krakelt, mit den organischen Lettern im Inneren zu vergleichen: gestochen, feingeschwungen, tiefschwarz, unnachahmlich symmetrisch stehen sie da. Zweites Axiom: Die Anzahl der orthographischen Symbole ist fünfundzwanzig. Diese Feststellung ermöglichte es vor dreihundert Jahren, die allgemeine Theorie der Bibliothek in Worte zu fassen, und das Problem, das keine Konjektur entschlüsselt hatte, befriedigend zu lösen: die formlose und chaotische Beschaffenheit nämlich fast aller Bücher. Eines, das mein Vater in einem Sechseck des Umgangs fünfzehnhundertvierundneunzig erblickte, bestand aus den Buchstaben m c v, die sinnlos von der ersten bis zur letzten Seite wiederkehrten. Ein anderes (das in dieser Zone sehr gefragt war) ist ein reines Buchstabenlabyrinth, aber auf der vorletzten Seite steht: Oh Zeit, deine Pyramiden. Man ersieht hieraus: auf eine einzige verständliche Zeile oder eine richtige Bemerkung entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Kauderwelschs, zusammenhanglosen Zeugs. Vor fünfhundert Jahren stiess der Chef eines höheren Sechsecks auf ein Buch, das so verworren war wie die anderen, das jedoch fast zwei Bogen gleichartiger Zeilen aufwies. Er zeigte seinen Fund einem ambulanten Entzifferer, der zu ihm sagte, sie seien auf Portugiesisch abgefasst; andere sagten dagegen, auf Jiddisch; bevor ein Jahrhundert um war, konnte die Sprachform bestimmt werden: es handelte sich um einen samojedisch-litauischen Dialekt mit einem Einschlag von klassischem Arabisch. Auch der Inhalt wurde entschlüsselt: es waren Begriffe der kombinatorischen Analysis, dargestellt an Beispielen sich unbegrenzt wiederholender Variationen. Diese Beispiele setzten einen genialen Bibliothekar instand, das Fundamentalgesetz der Bibliothek zu
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entdecken. Und zwar stellte dieser Denker fest, dass sämtliche Bücher, wie verschieden sie auch sein mögen, aus den gleichen Elementen bestehen: dem Raum, dem Punkt, dem Komma, den zweiundzwanzig Lettern des Alphabets. Auch führte er einen Umstand an, den alle Reisenden bestätigt haben: In der ungeheuer weiträumigen Bibliothek gibt es nicht zwei identische Bücher. Aus diesen unwiderleglichen Prämissen folgerte er, dass die Bibliothek total ist und dass ihre Regale alle irgend möglichen Kombinationen der zwanzig und soviel orthographischen Zeichen verzeichnen, mithin alles, was sich irgend ausdrücken lässt: in sämtlichen Sprachen. Alles: die bis ins einzelne gehende Geschichte der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium von Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolationen jeden Buches in allen Büchern. Als verkündet wurde, dass die Bibliothek alle Bücher umfasse, war der erste Eindruck ein überwältigendes Glücksgefühl. Alle Menschen wussten sich Herren über einen unversehrten und geheimen Schatz. Es gab kein persönliches, kein Weltproblem, dessen beredte Lösung nicht existierte: in irgendeinem Sechseck. Das Universum war gerechtfertigt, das Universum bemächtigte sich mit einem Schlag der schrankenlosen Dimensionen der Hoffnung. In dieser Zeit war viel die Rede von «Rechtfertigungen»: apologetische und prophetische Bücher rechtfertigten für immer die Taten jedes Menschen auf Erden, hüteten wundersame Arcana für seine Zukunft. Tausende, die es nach Rechtfertigung gelüstete, verliessen ihr trautes Heimatsechseck und jagten
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die Treppen empor, von dem eitlen Vorsatz getrieben, Rechtfertigung zu finden. Die Rechtfertigungen existieren: ich habe zwei gesehen, die sich auf künftige Personen, auf womöglich nicht bloss imaginäre Personen beziehen, aber die Sucher bedachten nicht, dass die Chance, dass ein Mensch die seine oder eine schnöde Spielart der seinen findet, gleich Null ist. Auch erhoffte man sich Aufschluss über die Grundgeheimnisse der Menschheit: den Ursprung der Bibliothek und der Zeit. Wahrscheinlich lassen sich diese gewichtigen Mysterien in Worten erläutern; wenn die Sprache der Philosophen nicht ausreicht, mag die Bibliothek die unerhörte Sprache, die dazu erforderlich ist, hervorgebracht haben, sowie die Wörterbücher und Grammatiken dieser Sprache. Schon vier Jahrhunderte lang durchstöbern die Menschen vergeblich die Sechsecke …
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Milva Stark, Ensemble ardent
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«ES GIBT KEINE RÄTSEL!» Lenin in Die Formel
David Berger
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NACHWEISE IMPRESSUM TEXTNACHWEISE Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, Göttingen, 2001. Rüdiger Vaas, Vom Gottesteilchen zur Weltformel. Urknall, Higgs, Antimaterie und die rätselhafte Schattenwelt, Stuttgart, 2013.
BILDNACHWEISE probenfotos Philipp Zinniker
KONZERT THEATER BERN intendant Stephan Märki schauspieldirektor Cihan Inan konzert- und operndirektor Xavier Zuber künstlerische leitung koop Sophie-Thérèse Krempl spielzeit 2017.2018 inhalt & redaktion Fadrina Arpagaus konzept & gestaltung formdusche, Berlin layout Murielle Bender, Konzert Theater Bern druck Haller + Jenzer AG, 3400 Burgdorf
redaktionsschluss 23. Februar 2018 | Änderungen vorbehalten.
Preise: Einzelheft: chf 5,– im Vorverkauf und an der Abendkasse
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Händels Me ssias reloaded
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