Programmheft 10. Symphoniekonzert

Page 1

berner symphonieorchester

DANIEL SCHNYDER OTHMAR SCHOECK

10. SYMPHONIEKONZERT


WIR FÖRDERN MUSIK ! Werden Sie Mitglied im Verein Freunde des Berner Symphonieorchesters und gehören auch Sie zum exklusiven Kreis von kulturverbundenen Persönlichkeiten und Unternehmen, die durch Beiträge an das BSO das kulturelle Leben in Stadt und Kanton Bern unterstützen! WIR BERATEN SIE GERN! Freunde des Berner Symphonieorchesters c/o Konzert Theater Bern | Claudia Zürcher-Künzi | Nägeligasse 4 | 3011 Bern Tel 031 329 51 19 | claudia.zuercher@konzerttheaterbern.ch


DANIEL SCHNYDER

OTHMAR SCHOECK

10. SYMPHONIEKONZERT (BLAUES ABO – «MUSICA SACRA») ARNOLD SCHÖNBERG Kammersymphonie Nr. 2 DANIEL SCHNYDER Konzert für Saxophon, Bassposaune und Orchester OTHMAR SCHOECK Violinkonzert JACQUES IBERT Suite symphonique «Paris»

und ten adt merci! Für die langjährige Unterstützung unserer Konzerte bedanken wir uns bei der Burgergemeinde Bern. Dem Kanton Bern, der Stadt Bern, der Regionalkonferenz Bern Mittelland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft danken wir für die Subventionen.


DANIEL SCHNYDER OTHMAR SCHOECK ARNOLD SCHÖNBERG 1874–1951 Kammersymphonie Nr. 2 op. 38 (1906–08, 1911, 1916, 1939) (20') I.

Adagio

II.

Con fuoco

DANIEL SCHNYDER *1961 Concerto for Saxophone, Bass Trombone and Orchestra (2010) (25') (CH-Erstaufführung) I.

Lied vom Wasser

II.

Luftlieder

III.

Mondnacht

IV.

Tanz der Sterne

PAUSE

OTHMAR SCHOECK 1886–1957 Violinkonzert («Quasi una fantasia») B-Dur op. 21 (1910–12) (33') I.

Allegretto

II.

Grave, non troppo lento

III.

Allegro con spirito

4


JACQUES IBERT 1890–1962 Suite symphonique «Paris» (1930) (14') I.

Le Métro (Moderato assai)

II.

Les Faubourgs (Moderato)

III.

La Mosquée de Paris (Moderato)

IV.

Restaurant au Bois de Boulogne (Tempo di Valse)

V.

Le Paquebot «Ile-de-France» (Moderato)

VI.

Parade Foraine (Tempo giusto)

MARIO VENZAGO DIRIGENT DANIEL SCHNYDER SAXOPHON DAVID TAYLOR BASSPOSAUNE ALEXIS VINCENT VIOLINE BERNER SYMPHONIEORCHESTER DIMITER IVANOV KONZERTMEISTER KONZERTE Do, 08. Mrz 2018, 19:30 Fr, 09. Mrz 2018, 19:30 Sa, 10. Mrz 2018, 19:30 französische kirche KONZERTEINFÜHRUNG MIT DR. DORIS LANZ Do, 08. März 2018, 18:30 Fr, 09. März 2018, 18:30 Sa, 10. März 2018, 18:30 le cap, predigergasse 3, saal niklaus manuel

5


MARIO VENZAGO CHEFDIRIGENT BERNER SYMPHONIEORCHESTER

Mario Venzago ist Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des Berner Symphonieorchesters und Artist in Association bei der finnischen Tapiola Sinfonietta. Mario Venzago leitete als Chefdirigent bzw. Generalmusikdirektor das Musikkollegium Winterthur, das Orchester und das Theater der Stadt Heidelberg, die Deutsche Kammerphilharmonie Frankfurt (heute Bremen), die Grazer Oper und das Grazer Philharmonische Orchester, das Sinfonieorchester Basel, das Baskische Nationalorchester San Sebastián, Göteborgs Symfoniker und das Indianapolis Symphony Orchestra. Von 2000 bis 2003 war er als


Nachfolger von Pinchas Zukerman und David Zinman Künstlerischer Leiter des Baltimore Music Summer Fest. Von 2010 bis 2014 war er Principal Conductor der Royal Northern Sinfonia. Mario Venzago dirigierte u.a. die Berliner Philharmoniker, das Gewandhausorchester Leipzig, die Orchester von Philadelphia und Boston, das London Philharmonic Orchestra, das Orchestre Philharmonique de Radio France, die Filarmonica della Scala und das NHK Symphony Orchestra. Er ist regelmässiger Gast international renommierter Symphonieorchester (u.a. Finnish Radio Symphony Orchestra, Danish National Symphony Orchestra, Göteborgs Symfoniker und Nederlands Philharmonisch Orkest) sowie namhafter Kammerorchester wie der Tapiola Sinfonietta und des Orchestre de Chambre de Lausanne. Mario Venzago konzertierte mit den berühmtesten Solisten der Welt, darunter Martha Argerich, Gidon Kremer, Lang Lang, Radu Lupu, Anne-Sophie Mutter, Christian Tetzlaff, Jean-Yves Thibaudet, Maxim Vengerov, Thomas Zehetmair, Krystian Zimerman und Frank Peter Zimmermann. Mehrere seiner CDs wurden mit internationalen Preisen wie dem Grand Prix du Disque, dem Diapason d’or und dem Prix Edison ausgezeichnet. Die Einspielungen der Opern Venus und Penthesilea sowie die Aufnahme aller Chorwerke von Othmar Schoeck mit dem MDR Chor und Sinfonieorchester fanden grosse internationale Anerkennung und erhielten höchste Auszeichnungen, so auch sein erster Kinofilm, «Mein Bruder der Dirigent» von Alberto Venzago, der europaweit in den Kinos lief und auf DVD erschien. Im Frühjahr 2015 wurde das gemeinsame Projekt «Der andere Bruckner» von Mario Venzago und dem Label CPO mit der Gesamtaufnahme aller zehn Bruckner-Symphonien abgeschlossen. Die von der internationalen Kritik hoch gelobten Einzelveröffentlichungen ebenso wie die gesamte CD-Box und ein Dokumentarfilm sind bei CPO (www.jpc.de) erhältlich.

7


DANIEL SCHNYDER SAXOPHON

Der 1961 in Zürich geborene Daniel Schnyder gehört zu den aktivsten und meistgespielten Schweizer Komponisten seiner Generation. Seit 1992 lebt Schnyder, Komponist und zugleich Saxophonist und Flötist, in New York City. Schnyders Werk ist eine Musik der Integration und widerspiegelt die urbane Realität unserer multikulturellen Gesellschaft. Sein umfangreicher Werkkatalog enthält denn auch Kompositionen fast aller Musikgattungen. So finden sich in seiner Werkliste Oratorien, Opern, Symphonien, viel Kammermusik, Big-Band-Musik,


Blasorchesterkompositionen, Konzerte, Jazzkompositionen, Filmmusik, multimediale Werke, ethnische Kompositionen, Etüden und Wettbewerbsstücke, Volksmusik, Avantgarde und experimentelle Musik sowie alle Kombinationen der vorgängigen Gattungsbegriffe. Schnyder beschäftigt sich zu gleichen Teilen mit Jazz, klassischer und aussereuropäischer Musik. Sein Personalstil nimmt Einflüsse der Neuen Musik ebenso auf wie Stilmittel und Techniken der alten Musik, der ethnischen Musik und der jazzverwandten Stile. Da er all diese Musikarten selber spielt und mit Koriphäen der jeweiligen Musikbereiche eng zusammenarbeitet, gelingt es ihm, die babylonische Polyphonie der heutigen Musik in sein Werk zu integrieren. Dabei bleibt seine Handschrift, sein Personalstil immer klar erkennbar. Schnyder ist daher kaum zu «schubladisieren». Als Jazzmusiker spielte Schnyder unter anderem mit Paquito D’Rivera, Lee Konitz, Ray Anderson, Ronnie Burrage, Marvin «Smitty» Smith, Michael Mossman, Jim Pugh, Vladislav Sendecki, der ndr Big Band, der hr Big Band, dem Duke Ellington Orchestra, der Chicago Jazz Philharmonie, Kenny Drew jr., Abdullah Ibrahim, Lew Soloff, Michael Formanek, Franco Ambrosetti, Victor Lewis, Hubert Laws und Georg Gruntz. Diese Zusammenarbeiten sind auf vielen cds dokumentiert. Seine jüngsten cds verbinden Jazz und Klassik und heissen art of the duo mit David Taylor und Haendel in Harlem, zusammen mit dem Jazz-Geiger Mark Feldman und Stefan Schulz, dem Bassposaunisten der Berliner Philharmoniker. Daniel Schnyder gibt auch vielerorts Masterclasses. An der Bruckner Universität in Linz und an der Musikhochschule in Stuttgart ist er regelmässig als Gastdozent eingeladen.

9


DAVID TAYLOR BASSPOSAUNE

Nachdem David Taylor an der Julliard School of Music seine Studien abgeschlossen hatte, begann er seine Karriere als Musiker unter anderem als Mitglied des Leopold Stowkowski's American Symphony Orchestra und Auftritten mit den New York Philharmonic unter Pierre Boulez. Gleichzeitig war er Mitglied der Thad Jones Mel Lewis Jazz Band und wirkte bei Aufnahmen mit Gruppen von Duke Ellington bis zu den Rolling Stones mit. Zahlreiche Aufnahmen dokumentieren sein reiches musikalisches Schaffen.


David Taylor tritt an Rezitalen und Konzerten rund um die Welt auf: vom Lincoln Center in ny bis zum Wiener Musikverein oder zur Suntory Hall in Japan. Zusätzlich zu seinen Eigenkompositionen war er auch in Dutzende von Auftragskompositionen für Bass-Posaune involviert und arbeitete eng mit Komponisten wie Alan Hovhaness, Charles Wuorinen, George Perle, Frederic Rzewski, Lucia Dlugoszchewski, Eric Ewazen, Dave Liebman und Daniel Schnyder zusammen, Zusammen mit Yo Yo Ma, Itzhak Perlman oder Wynton Marsalis spielte er Kammermusik, u.a. in der Lincoln Center Chamber Music Society, dem Mostly Mozart Festival Orchestra, dem Orpheus und dem St. Luke’s Chamber Orchestra. Während seiner ganzen Karriere musizierte oder machte er Aufnahmen mit grossen Musikern der Jazz- und Popmusik, wie Barbara Streisand, Miles Davis, Quincy Jones, Frank Sinatra und Aretha Franklin. In fünf aufeinanderfolgenden Jahren gewann David Taylor den National Academy of Recording Arts and Sciences Most Valuable Player Award, zudem wurde er mit dem naras Most Valuable Player Virtuoso Award ausgezeichnet, eine Ehre, die zuvor noch keinem Bassposaunisten zuteilgeworden war. Er spielte ausserdem mit den Bands von Gil Evans, Jaco Pastorius, Charles Mingus, jj Johnson, Joe Henderson, George Russell, Michelle Camillo, Bob Mintzer, Dave Matthews, Dave Grusin, Randy Brecker und dem Words Trio (Daniel Schnyder, David Taylor, Kenny Drew Jr.) und war an zahlreichen Produktionen beteiligt, die einen grammy Award bekamen. David ist auch Mitglied des Manhattan Brass Quintet. Er unterrichtet an der Manhattan School of Music und am Mannes College und spielt exklusiv auf Bassposaunen von Edwards mit Mundstücken von Griego / Taylor.

11


ALEXIS VINCENT VIOLINE


Alexis Vincent ist seit 2004 erster Konzertmeister des Berner Symphonieorchesters. Sein Studium am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique bei Prof. Michèle Auclair absolvierte er mit dem Premier Prix, weitere Studien bei der Oistrach-Schülerin Prof. Rosa Fain, Musikhochschule Düsseldorf, schloss er mit Auszeichnung ab. Seine Ausbildung als Kammermusiker erhielt er u.a. durch das Amadeus-Quartett und das Borodin-Quartett. Neben zehn Jahren als erster Konzertmeister des Sinfonieorchesters Aachen arbeitete er als Gastkonzertmeister bei dem Orchestre Philharmonique de Radio France, dem Gürzenich Orchester Köln, dem Beethoven Orchester Bonn, den Bochumer Symphonikern, dem ndr Hannover, dem Limburgs Symfonie Orkest Maastricht, den Wuppertaler und den Düsseldorfer Symphonikern. In der Schweiz arbeitet er ausserdem als Konzertmeister mit dem Zürcher Kammerorchester, der Camerata Bern, dem Basler Kammerorchester, dem Sinfonieorchester Basel, dem Luzerner Sinfonieorchester, dem Argovia Philharmonic und dem Orchestre de la Suisse romande zusammen. Als Dozent für Violine unterrichtete er von 1992 bis 2004 an der Musikhochschule Köln, Abteilung Aachen. Alexis Vincent spielt leidenschaftlich gerne Kammermusik und engagiert sich intensiv sowohl für zeitgenössische Musik als auch für historische Aufführungspraxis. Über seine Tätigkeit als Konzertmeister und Kammermusiker hinaus erwarb sich Alexis Vincent mit einem Repertoire von Vivaldi bis Unsuk Chin einen Ruf als brillanter Solist. Alexis Vincent wurde in Paris, Frankreich geboren. Er spielt auf einer Violine von Giovanni Battista Guadagnini – einer grosszügigen Leihgabe der Freunde des Berner Symphonieorchesters.

13


« ICH STREBE VOLLSTÄN BEFREIUNG ALLEN FOR » Arnold Schönberg


BE AN: ÄNDIGE NG VON ORMEN.


ARNOLD SCHÖNBERG * 13. September 1874 in Wien † 13. Juli 1951 in Los Angeles


KAMMERSYMPHONIE NR. 2 OP. 38 ENTSTEHUNG

1906–08, 1911, 1916, 1939 URAUFFÜHRUNG

15. Dezember 1940, New York, Carnegie Hall, Orchester der «Friends of New Music», Dirigent: Fritz Stiedry SPIELDAUER

ca. 20 Minuten

Die angenehmen klimatischen Verhältnisse am oberbayerischen Tegernsee mussten Arnold Schönbergs Schaffenskraft im Sommer 1906 ausserordentlich gut bekommen sein. «Ich bin eben daran», schrieb er am 15. Juli aus seinem Ferienort Rottach-Egern an Gustav Mahler nach Wien, «meine Kammersymphonie [Nr. 1, op. 9] fertig zu machen.» Zehn Tage später war die Partitur abgeschlossen, und bereits am 1. August öffnete Schönberg sein Skizzenheft erneut, um ein zweites Werk derselben Gattung zu skizzieren. Anders als die Vorgängerin, die aus nur einem Satz besteht, wurde die Kammersymphonie Nr. 2 mehrsätzig konzipiert. Die kleinformatige Besetzung von Opus 9 (15 Solo-Instrumente) jedoch erweiterte Schönberg um lediglich drei Instrumente. Den Kopfsatz scheint er zügig notiert zu haben, im Jahr 1908 aber brach er die Arbeit mitten im zweiten Satz ab. Erst rund 30 Jahre später erhielt das Werk im US-amerikanischen Exil, wohin Schönberg 1933 vor den Nazis geflüchtet war, seine heute bekannte Gestalt.

17


Warum war die Komposition einst nicht weiter gediehen, weshalb wurde sie Jahrzehnte später doch noch fertiggestellt? Während ein äusserer Anlass (siehe weiter unten) die angefangene Partitur 1939 aus der Schublade befreien sollte, machte Schönberg für den früheren Abbruch der Arbeit rückblickend künstlerische (und letztlich geschichtsphilosophische) Überlegungen geltend. Hierbei spielte die Kammersymphonie Nr. 1 op. 9 eine gewichtige Rolle. «Ich glaubte, daß ich jetzt [mit op. 9] meinen eigenen persönlichen Kompositionsstil gefunden hätte, und erwartete, daß alle Probleme, die zuvor einen jungen Komponisten beunruhigt hatten, gelöst wären.» Besagte Probleme bzw. die Frage «Wie weiter?» hatten sich zumal aufgrund des Vermächtnisses von Richard Wagner ergeben, der die traditionelle Dur-Moll-Harmonik bis an ihre Grenzen getrieben hatte. «Ich glaub[t]e», so Schönberg weiter, «Wege gefunden zu haben, Themen und Melodien zu bilden […], die verständlich, charakteristisch, originell und expressiv waren trotz der erweiterten Harmonik, die wir von Wagner geerbt hatten.» (Aus: Wie man einsam wird, Vortrag vom 11. Oktober 1937 in Denver). Allein, «es war ein ebenso schöner Traum wie enttäuschender Fehler» – einer, dem, so bleibt zu schliessen, auch die angefangene Kammersymphonie Nr. 2 noch aufgesessen war. Worin genau aber hatte er bestanden, dieser «Fehler»? In der Überforderung des mehrheitlich traditionell gestimmten Wiener Konzertpublikums durch die zwar noch tonal gedachte, durchaus «verständlich» intendierte, für damalige Ohren aber doch höchst avancierte Tonsprache von Opus 9? Die vernichtende, nachgerade unflätige Kritik der Wiener Presse hatte Schönberg zwar zugesetzt, doch ortete er besagten Fehler nicht in einer zu geringen Rücksichtnahme auf das durchschnittlich begabte Ohr. Im Gegenteil: Der Irrtum hatte im zwischenzeitlichen Glauben bestanden, die Entwicklungslinie der deutschen Musik, in deren Dienst sich Schönberg sah, hätte

18


mit der Tonsprache von Opus 9 bereits ihren Zielpunkt erreicht. Tatsächlich aber, so glaubte er alsbald zu erkennen, drängte die Evolution weiter, nämlich hin zu einer vollständigen Liquidation herkömmlicher Tonalität – oder, wie sich Schönberg ausdrückte: zu uneingeschränkter «Emanzipation der Dissonanz«. Damit jedoch war die im Ansatz noch tonal entworfene Kammersymphonie Nr. 2 nicht mehr vereinbar. Stattdessen schrieb Schönberg 1907/08 mit seinem Streichquartett Nr. 2 op. 10 ein Werk, welches im letzten Satz mit konventioneller Harmonik gänzlich bricht. Die Pressereaktionen waren erneut katastrophal, doch fand Schönberg in seinen Schülern (darunter insbesondere Alban Berg und Anton Webern) treue Verbündete. Auf diese Weise formierte sich ein Kreis Gleichgesinnter – er wurde später mit dem Etikett ‹Zweite Wiener Schule› versehen –, der dem Lehrer auch folgte, als dieser nach 1920 seine ersten zwölftönigen Werke vorlegte. Erst im amerikanischen Exil kehrte Schönberg wieder vermehrt zu tonaler Harmonik zurück. In diesem Kontext kam die folgende Anfrage seines alten, ebenfalls in die USA emigrierten Kollegen Fritz Stiedry vom 25. März 1939 gerade recht: «Die ‹New Friends of Music› in New York engagierten mich im Vorjahr als Dirigent eines neuzugründenden, von mir auszuwählenden kleinen Orchesters. […] Im nächsten Jahr soll, ausser klassischer Musik, […] auch contemporary music gemacht werden.» Da Schönberg «unbezweifelt an der Spitze dieser Musik» stehe, wolle er, Stiedry, ihn «in jedem Falle» ins Programm aufnehmen. (Die hier zitierten Briefe können übrigens allesamt auf der Website des Wiener ‹Arnold Schönberg Center› eingesehen werden). Nach einigem Hin und Her einigte man sich darauf, dass Schönberg die Kammersymphonie Nr. 2 für 600 Dollar fertigstellen und der Besetzung des Orchesters der «New Friends of Music» anpassen würde. Letzteres hiess im Klartext: Das einst für das Werk vorgesehene Instrumentarium (neun Holzblasinstrumente –

19


darunter eine Bassklarinette und ein Kontrafagott –, zwei Hörner, sieben Streichinstrumente) musste einem kleinen Orchester klassischen Zuschnitts (je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten und Fagotte; je zwei Hörner und Trompeten; Pauken; 28 Streicher) weichen. Verständlicherweise zeigte sich Schönberg darob nicht sonderlich erfreut, war doch seine ursprüngliche Klangvorstellung unter den neuen Bedingungen nicht mehr zu realisieren. Immerhin aber setzte er die Verwendung eines Englischhorns und im Gegenzug den Verzicht auf die Pauken durch – genauer: Er stellte Stiedry Ende September 1939 vor vollendete Tatsachen. Bereits anderthalb Monate zuvor hatte er über den Fortgang der Arbeit berichtet: «Der erste Satz ist fertig. […] Ich bin von dem Satz sehr befriedigt. Er ist übrigens», diese Ansicht teilen wir nicht unbedingt, «leicht zu spielen; sehr leicht.» Nun arbeite er am zweiten Satz. «Wenn es mir gelingt, ihn fertig zu bringen, wird er sehr effektvoll sein: ein sehr lebhaftes Allegro. Ob ich einen dritten schreibe […] ist noch nicht sicher.» Am Ende liess es Schönberg bei zwei Sätzen bewenden: einem Adagio in es-Moll und einem Con fuoco in G-Dur, dessen letzte Partiturseiten Tonart und Motivik des ersten Satzes wieder aufnehmen. Allein, das Stichwort ‹Tonart› verlangt eine Präzisierung: Es-Moll und G-Dur werden zwar vorgezeichnet und hörbar exponiert, bald aber mittels Chromatik verschleiert und in entferntere Gefilde fortgetragen. Dadurch eröffnet sich allerdings eine reiche, höchst faszinierende Welt harmonischer Bezüge, eine Welt, die Schönberg auf formaler Ebene mit Mitteln gestaltet, welche er sich einst durch das intensive Studium zumal Brahms’scher Partituren angeeignet hatte. Obwohl das Ergebnis komplex ist, bleibt die Musik dank einer glasklar strukturierenden Instrumentierung zu jedem Zeitpunkt durchhörbar.

20


« KUNST IST NICHT FÜR DEN ALLTAG DA, SONDERN NUR FÜR FESTTAGE. »

Arnold Schönberg

21


DANIEL SCHNYDER *1961 in Zürich


CONCERTO FOR SAXOPHONE, BASS TROMBONE AND ORCHESTRA ENTSTEHUNG

2010 URAUFFÜHRUNG

17. September 2010, Toblach, Haydn Orchester von Bozen und Trient, Saxophon: Daniel Schnyder, Bassposaune: David Taylor, Dirigent: Gustav Kuhn SPIELDAUER

ca. 25 Minuten

Während dieser Text entsteht, tobt draussen die Berner Fasnacht. Und von Stunde zu Stunde wächst die Sehnsucht nach diesem Abend, nach dieser knappen halben Stunde Orchestermusik von Daniel Schnyder, in der ein tiefklingendes Blechblasinstrument zeigen darf, was es wirklich kann. Freilich aber bedarf es nicht erst eines Höllenlärms in der Gasse und schier endloser Basslinien aus Grundton und Quinte, um Schnyders Kompositionen schätzen zu lernen. Sie faszinieren seit Jahren durch eine bewusste Überschreitung von Spartengrenzen, durch eine einzigartige Synthese, eine gegenseitige Durchdringung von Elementen der Klassik (‹neuer› wie ‹alter›), des Jazz und ethnischer Musik aus allen Himmelsrichtungen. Sein Werk sei, resümiert denn auch die online zugängliche Biographie des seit 1992 in New York City

23


lebenden Zürchers, der sich zunächst zum klassischen Flötisten und später zum Jazz-Saxophonisten hatte ausbilden lassen, «eine Musik der Integration» und widerspiegle «die urbane Realität unserer multikulturellen Gesellschaft.» Das Zusammengehen der Kulturen, das Moment interkultureller Kommunikation spricht auf übergeordneter Ebene auch aus dem Konzert für Saxophon und Bassposaune. Hörbar wird dies insbesondere in zahlreichen, auf verschiedene Kulturräume verweisenden Rhythmen und Tonleitern (z.B. der Blues-Scale oder der in der jüdischen Klezmer-Musik verwendeten Halbton-ganzton-Skala), die Schnyder virtuos kombiniert. Vordergründig jedoch hat die Musik die elementare Natur, konkret Wasser, Luft und – zu Mond und Planeten geformte – Erde im Fokus. Das hat nicht zuletzt mit der Entstehungsgeschichte des Doppelkonzertes zu tun: Geschrieben wurde es für das Mahler-Fest in Toblach (Südtirol), wo es 2010 zusammen mit dem 1908 ebendort komponierten Lied von der Erde von Gustav Mahler zur Aufführung gelangte. «Sonne, Sterne, Mond, Wasser und Luft: die Elemente, die die Landschaft hier in Toblach auszeichnen und prägen, sind in diesem Konzert musikalisch versteckt», heisst es in einer Werkeinführung des Komponisten. «Weit wie das Universum» – und hier gelangen wir von der vielgestaltigen Natur zur kulturellen Vielfalt – «sind denn auch die musikalischen Bausteine und Einflüsse, die in dieser Musik aufleuchten. Natürlich sind hier, in Anlehnung an Mahler, auch fernöstliche Elemente spürbar.» Mahler hatte das Lied von der Erde auf deutsche Nachdichtungen chinesischer Lyrik geschrieben und das Fernöstliche musikalisch unter anderem mithilfe von Pentatonik evoziert. Eine erste Mahler-Assoziation weckt Daniel Schnyder jedoch bereits mit dem Titel des Kopfsatzes: Lied vom Wasser. Dominiert wird der Satz durch einen Groove, der im Jazz als Afro-Waltz be-

24


kannt ist, als 6/8-Takt notiert wird, seine Charakteristik jedoch dadurch gewinnt, dass diese Taktart sowohl zwei- als auch dreigeteilt gehört werden kann. Was aber hat der Afro-Waltz mit Wasser zu tun, was hat es mit den Zahlen zwei und drei auf sich? Wir ahnen es, wollen es aber noch vom Komponisten wissen und mailen nach New York. Das Ergebnis: Beide Zahlen sind im Wasser zugegen: Es existiert in drei Aggregatszuständen, sein Molekül besteht aus drei Atomen (H2O) bzw. zwei Elementen (Wasserstoff und Sauerstoff ). Zwischenzeitlich kippt die Musik in ein swingendes 4er-Metrum; die Partitur notiert kurz zuvor «Im Tropfenkabinett», ein paar Seiten weiter «Wogen, Wellen, Brecher, Donner». Der Waltz kehrt zurück, wird aber bald erneut ausgehebelt. Es geht, so die Anmerkung in den Noten, «durch Schnee und Eis», die Musik kommt zum Stillstand, gefriert fast buchstäblich. Plötzlich aber bricht eine Lawine los, die gut vernehmbar ins Tal donnert. Endlich aber beginnt wieder alles zu fliessen («Pantha rhei»). Ebenso Ausführliches liesse sich über die folgenden drei Sätze berichten. Um dieses Programmheft jedoch nicht unverschämt anschwellen zu lassen, sei hier nur das Wichtigste notiert. Die Details wird die mündliche Konzerteinführung nachreichen. Der zweite Satz, Luftlieder, entwickelt sich zunächst über die (hörend gut verfolgbaren) Abschnitte «Stille vor dem Sturm», «Geschwind wie der Wind» sowie «Sturmböen» und schliesst mit einem kleinen Abstecher in die griechische Mythologie: Der Aulos-Spieler Marsyas fordert Apoll zum musikalischen Wettkampf, legt sich mächtig ins Zeug, verliert jedoch, weil er, anders als Apoll auf seiner Kithara, nicht vielstimmig spielen kann. In der Folge wird er zur Bestrafung geschunden – Daniel Schnyder notiert lakonisch: «A reason not to play a wind instrument …». Aus Marsyas’ Blut entspringt ein Fluss, der nach ihm benannt wird. Marsyas steht also auch für Wasser. Entsprechend lässt Schnyder die wüste Geschichte mit

25


einer Wiederaufnahme des 6/8-Taktes (vgl. den ersten Satz) durch das Saxophon beginnen. Seinem engagierten Spiel antwortet das Solo-Violoncello mit lediglich drei gezupften Akkorden. Die reichen eigentlich zum Sieg, doch die Bassposaune eilt Marsays in letzter Minute zu Hilfe, indem sie ein paar ‹Multiphonics› (Mehrfachklänge) intoniert. Nützen tut’s allerdings nichts: «Marsyas anima eflat» («Marsyas haucht die Seele aus»), steht am Ende über den Noten. Während sich der dritte Satz, Mondnacht, dem «romantischsten Gestirn» (Daniel Schnyder) widmet und sich en passant vor dem Mann im Mond und dem Mondkalb verbeugt, beschreibt das Finale einen Tanz der Sterne. «Mit Sternen», so Schnyder in der erwähnten Programmnotiz, «meine ich natürlich im alten Sinne auch die Planeten. Alle drehen sie sich in verschiedenen Umlaufbahnen im Kreis. Dieses Bild des Kreisens ist in der Musik durch die Überlagerung verschieden langer Perioden eingefangen.» Konkret: Die Celli heben mit einer kreisenden Melodie an, die sich nach jeweils 35 Vierteln wörtlich wiederholt. Dazu erklingt in der Flöte, Oboe und den ersten Violinen eine pentatonische Weise (erinnert sei an Mahlers Lied von der Erde), die sich in Phrasen zu jeweils 10 Vierteln fortbewegt. Im weiteren Verlauf wird dieses Modell modifiziert, durchbrochen und durch zusätzliche Schichten ergänzt. Auf diese Weise entsteht ein faszinierender musikalischer Kosmos, aus dem nebst der Pentatonik auch Klezmer-Klänge und ein kubanischer ChaCha zu vernehmen sind.

26


« DER TON DES CROSS-OVER WUNDERS DANIEL SCHNYDER VERFÜHRTE IN EIN PARADIES DER FANTASIE. » Rhein-Neckar-Zeitung

27


OTHMAR SCHOECK * 01. September 1886 in Brunnen † 08. März 1957 in Zürich


VIOLINKONZERT («QUASI UNA FANTASIA») B-DUR OP. 21 ENTSTEHUNG

Herbst 1910 bis Sommer 1911, Überarbeitung 1912 URAUFFÜHRUNG

Nur erster Satz: 21. Mai 1911, Vevey, Orchester des Konzertvereins München, Violine: Willem de Boer, Dirigent: Othmar Schoeck. Ganzes Werk, Fassung für Violine und Klavier: 28. Februar 1912, Berlin, Violine: de Boer, Klavier: Schoeck; Fassung für Violine und Orchester: 19. März 1912, Bern, Orchester der Bernischen Musikgesellschaft, Violine: de Boer, Dirigent: Fritz Brun WIDMUNG

Stefi Jung-Geyer SPIELDAUER

ca. 33 Minuten Die Jahre um 1910 sind als Zeitraum des radikalen Umbruchs in der europäischen Literatur, bildenden Kunst und Musik in die Annalen eingegangen: Die dramatische Dichtung beispielsweise löste die geschlossene Handlungsdramaturgie auf, in der Malerei präsentierte Kasimir Malewitsch 1915 mit der ersten Version seines Schwarzen Quadrats ein äusserst wirkmächtiges Exempel gegenstandsloser Kunst, in der Musik setzte die Zweite Wiener Schule um Arnold Schönberg (siehe oben) die formbildende Funktion traditioneller Tonalität ausser Kraft. So zutreffend die Diagnose eines tiefgreifenden, für die weitere Entwicklung der

29


Künste bahnbrechenden Wandels ist, so sehr fällt oftmals unter den Tisch, dass er keineswegs flächendeckend erfolgt war. Für die Musik im deutschsprachigen Raum heisst das: Neben dem Schönberg-Kreis gab es zahllose Tonsetzer, die in mehr oder weniger konventioneller Weise weiterkomponierten. Das hatte mit persönlichen ästhetischen Prinzipien ebenso zu tun wie mit dem Alter gerade jüngerer Komponisten, die ihre ureigene Sprache erst noch finden mussten. Für Othmar Schoeck, der 1886 in Brunnen das Licht der Welt erblickt hatte, mochte beides ausschlaggebend gewesen sein, als er von Herbst 1910 bis Sommer 1911 sein einziges Violinkonzert schrieb, das tonsprachlich unter dem Strich noch ganz dem 19. Jahrhundert angehört. Mit pointiert avancierten Klängen, kulminierend im Einakter Penthesilea (nach Kleist; komponiert 1923–25, revidiert 1927), experimentierte er – bedauerlicherweise nur zwischenzeitlich – erst in den 1920er-Jahren. Das Violinkonzert ist das chronologisch erste Instrumentalkonzert in Schoecks Werkkatalog, der übers Ganze gesehen von Vokal- und Bühnenmusik dominiert wird. 1947 folgte das Konzert für Violoncello op. 61, 1951 jenes für Horn op. 65. Zwei Konzerte für Schoecks eigenes Instrument, das Klavier, blieben sonderbarerweise Fragment. Zwar war das Violinkonzert ohne Auftrag entstanden, nicht aber ohne Anlass – und dieser wiederum hatte einen Namen: Stefi Geyer (1888–1956). Schoeck hatte die gefeierte ungarische Geigerin bereits zweimal gehört und sich flugs in sie verguckt (ungefähr zeitgleich mit Béla Bartók), bevor er sie 1908 in Zürich persönlich kennenlernte. Was sich aus dieser Begegnung entspann, war eine ziemlich einseitige Liebschaft, die durch Geyers Verlobung mit dem Wiener Rechtsanwalt Erwin Jung bald beendet wurde, aus der aber immerhin drei, allesamt der Verehrten gewidmete Kompositionen Schoecks hervorgegangen sind: Das Albumblatt für Violine und Klavier (1908), die Vi-

30


olinsonate op. 16 (1908/09) – und schliesslich das Violinkonzert op. 21. Hatte Geyer das Albumblatt noch persönlich (und mit dem Komponisten am Klavier) aus der Taufe gehoben, so stand sie für die beiden andern Werke nicht mehr zur Verfügung. Der Geiger Willem de Boer, damals Konzertmeister des Tonhalle-Orchesters Zürich, war es dann, der das Violinkonzert am 19. März 1912 zusammen mit dem Orchester der Bernischen Musikgesellschaft (dem heutigen bso) unter der Leitung von Fritz Brun uraufführte. (Vorausgegangen waren, ebenfalls mit de Boer, 1911 eine Teilaufführung am Tonkünstlerfest in Vevey sowie im Februar 1912 die Erstaufführung der Fassung für Violine und Klavier in Berlin). Während sich die Berner Presse grosso modo begeistert über das neue Werk äusserte, seine «geigenmäßige» Faktur und das «edle Melos» lobte, das «nirgends in Gefühlsduselei» übergehe, zeitigte eine Leipziger Aufführung im September 1918 einigermassen harsche Kritik. «Der Wille zur großen Form», schrieb der bekannte Beethoven-Biograph Paul Bekker in der Frankfurter Zeitung, «ruht bei ihm [Schoeck] mehr auf intellektueller Absicht, als auf innerlich treibender, füllfähiger Kraft, das musikalische Talent, das aus Einzelzügen spricht, hat nicht Tragfähigkeit genug, um das Ganze zusammenzuhalten und als impetuose Einheit begreiflich zu machen.» Frei übersetzt: Bekker vermisste die formale Stringenz, die zwingende motivisch-thematische Entwicklung, den grossen Bogen. All dies aufzulockern aber mochte just in Schoecks Intention gelegen haben. Dies jedenfalls legt der Untertitel des Violinkonzerts nahe: Quasi una fantasia, fast wie eine Fantasie, die sich Formkonventionen nicht zu unterwerfen braucht. Und in solchem Sinne liest sich die Partitur. So ist die sogenannte Sonatensatzform dem ersten Satz zwar noch unterlegt, ebenso das Sonatenrondo dem letzten. Doch Schoeck handhabt diese Modelle in höchst freier Weise, was dem Werk indes keineswegs abträglich ist, ihm vielmehr seinen besonderen Reiz verleiht.

31


JACQUES IBERT * 15. August 1890 in Paris †05. Februar 1962 in Paris

32


SUITE SYMPHONIQUE «PARIS» ENTSTEHUNG

1930/32 URAUFFÜHRUNG

Als Teil der Bühnenmusik zu Jules Romains’ Komödie Donogoo: 25. Oktober 1930, Paris, Théâtre Pigalle, Dirigent: Eugène Bigot; als Orchestersuite: 29. Oktober 1932, Paris, Orchestre Pasdeloup, Dirigent: Rhené-Baton (René-Emmanuel Baton) SPIELDAUER

ca. 14 Minuten Paris, ungefähr im Jahr 1919. Der ehemalige Architekt Monsieur Lamendin steht, heimgesucht von einer Nervenkrise, auf dem Pont de la Moselle im 19. Arrondissement und betrachtet das grünliche Wasser. Sein alter Kumpel Bénin trifft ihn dort und schickt ihn zu Doktor Miguel Rufisque, dem Erfinder der biometrischen Psychotherapie. Rufisque untersucht Lamendin mit seinen ultra-modernen Methoden, und am Ende spuckt eine Apparatur einen Zettel aus, der folgende Therapie vorschreibt: «Warten Sie um 17.15 Uhr vor der Moschee und sprechen Sie dort den ersten Passanten an, der sich die Nase putzt. Verpflichten Sie ihn, über Ihre Person und Ihr Leben zu verfügen.» Der Zufall wählt den Geographen Yves Le Trouhadec aus. Dessen grösster Wunsch ist es, in sechs Monaten ans renommierte Institut de France gewählt zu werden. Allerdings gibt es da ein kleines Problem: In einem Forschungsbericht hat der Professor unlängst eine Stadt in Brasilien namens Donogoo-Tonka beschrieben, die gar nicht existiert. Doch Lamendin, immerhin Architekt, schlägt vor, die Stadt in einem halben Jahr zu errichten. Das gelingt dank einer grossangelegten, filmisch unterstützten Werbe-

33


kampagne, der zahlreiche Investoren auf den Leim gehen. Lamendin wird Gouverneur der Retortenstadt und Le Trouhadec Mitglied des Institut de France. In Donogoo-Tonka wird feierlich ein «Denkmal des wissenschaftlichen Irrtums» errichtet. Jules Romains’ Erzählung Donogoo Tonka ou Les miracles de la science, die hier in knappen Strichen nachgezeichnet wurde, war erstmals 1920 im Druck erschienen. Ein Jahrzehnt später arbeitete Romains seine beissende Satire, welche wissenschaftliche Erkenntnis ebenso aufs Korn nimmt wie die verführerische Kraft moderner Werbung und Medien, in ein Bühnenstück namens Donogoo um, welches seine Premiere am 25. Oktober 1930 im Théâtre Pigalle (eröffnet 1929) erlebte. Die Schauspielmusik steuerte Jacques Ibert bei, der zu den wichtigsten, vielseitigsten und produktivsten französischen Komponisten der Zwischenkriegszeit zählte, heute jedoch nur noch mit wenigen Werken (z.B. dem Flötenkonzert von 1932/33) im Konzertrepertoire vertreten ist. Die symphonische Suite Paris, gesetzt für einfaches Holz (ohne Fagott, aber mit Altsaxophon), Trompete, Posaune, Klavier, Celesta, Harmonium, bunt bestücktes Schlagwerk und Streicher, stellte Ibert 1932 mehrheitlich aus Teilen der Bühnenmusik zu Donogoo zusammen. Während er dort insbesondere auch die in Brasilien spielenden Szenen in Töne gekleidet hatte, sollte die Suite ausschliesslich «les différents ‹visages› du Paris actuel» ausdrücken. Die bereits sprechenden Titel der sechs Sätze ergänzte Ibert im Erstdruck der Partitur mit kurzen Inhaltsangaben – und schloss mit der Bemerkung: «Ce texte peut être reproduit sur les programmes des concerts.» Diesem Angebot wollen wir locker folgen. Das erste Bild spielt in der Métro: Die Menge rennt zum Bahnsteig; die Uhr (Klavier und Röhrenglocke) schlägt acht, vorbereitet durch vier Viertelstundenschläge (Trompete); das Signal zur Abfahrt erklingt; der Zug setzt sich in Bewegung. Ab hier klingt die kur-

34


ze Szene wie eine kleinformatige Hommage Iberts an seinen Freund Arthur Honegger und dessen «Mouvement symphonique» Pacific 231 (1923), das für etliche kompositorische Verneigungen vor dem «Maschinenzeitalter» wegweisend war. – Bild II: Faubourgs. «Die Strasse erwacht», notiert Ibert und illustriert den Vorgang mittels freundlicher, fanfarenartiger Weckrufe. Bald aber folgt die unerbittliche Hektik des Tages in der Vorstadt, aus der zwischendurch eine einsam klagende Violine und die Klänge einer Drehorgel (imitiert durch Flöte, Oboe, Klarinette und Harmonium) ans Ohr dringen. – Bild III: La Mosquée de Paris. «Gegenüber dem zoologischen Garten erhebt sich die Moschee. […] Man vernimmt arabischen Gesang, begleitet von einer tiefen Trommel.» Ibert unterlegt diesen Satz mit einem nicht ganz einfach zu spielenden 11⁄8Takt, den er allerdings – vermutlich zwecks besserer Lesbarkeit – etwas anders notiert (⅜, sodann zweimal 2⁄4). Darüber singt die Oboe, scheinbar improvisatorisch, in ‹arabisierendem› Modus. – Bild IV: Restaurant au Bois de Boulogne. «Tanzbar-Atmosphäre. Aufdringlicher Luxus der Nachkriegszeit. Auf der erhellten Terrasse umschlungene Paare im Tanz.» Sie bewegen sich zu einem sich mondän gebenden Walzer, in dem auch das Altsaxophon seinen Auftritt hat, müssen jedoch zwischenzeitlich in ein 4⁄4-Metrum wechseln, welches ein klein wenig lateinamerikanische Atmosphäre evoziert. – Bild V: Le Paquebot ‹Île-de-France›. «Rue Aubert, vor dem Sitz der Transatlantischen Schifffahrtsgesellschaft. Ein junges Paar betrachtet träumerisch die Reklame der ‹Île-de-France›. Sie symbolisiert die Fahrt in die Ferne, das Entrinnen in eine vielleicht bessere Welt. Plötzlich» – und hier setzt die Musik illustrierend ein – «ist ihnen, als käme Leben in den Dampfer.» Das Signal zum Ablegen (Klavier, Posaune und Klarinette) leitet die tagträumerische Szene ein. Grell sticht dagegen das letzte Bild, Parade Foraine, ab, welches das bunte Jahrmarkttreiben in Neuilly oder auf dem Montmartre einfängt. Doris Lanz

35


DAS BERNER SYMPHONIEORCHESTER CHEFDIRIGENT: MARIO VENZAGO 1. VIOLINE

Cornelia Hauser-Ruckli

Alexis Vincent (1. Konzertmeister)

Regula Hunger

N. N. (1. Konzertmeister)

Romain Hürzeler

Isabelle Magnenat (2. Konzertmeisterin)

Georg Jacobi

Fióna-Aileen Kraege (2. Konzertmeisterin)

Filipe Johnson

N. N. (2. Konzertmeisterin)

Wen Lu-Hu

Anara Baimukhambetova

Julien Mathieu

Sandrine Canova

Ingrid Schmanke

Daniele D’Andria

Fedyuk Nazar **

Jeanne de Ricaud

Sergey Chesnokov**

Aina Hickel

Ekaterina Kanareva **

Anna Holliger

Károly Artúr Papp **

Alexandru Ianos Zoia Kuianova Stefan Meier Mariam Nahapetyan Michael Rubeli Christian Scheurlen György Zerkula N. N.

VIOLA Yutaka Mitsunaga (Solo) Julia Malkova (Solo) Thomas Korks (stv. Solo) Yang Lu (stv. Solo) Olivier Bertholet Johannes von Bülow Emanuel Bütler

2. VIOLINE

Christoph Enderle

Anouk Theurillat (Solo)

Friedemann Jähnig

Theresa Bokány (Solo)

Christa Jardine

Wei-Zhong Lu (stv. Solo)

Bettina Kurz

Francis Roux (stv. Solo)

Ulrike Lachner

Teodora Dimitrova

Dominik Klauser *

Katia Giubbilei Alvarez

Paula Romero Rodrigo *

36


VIOLONCELLO

OBOE

Constantin Negoita (Solo)

Adam Halicki (Solo)

Alexander Kaganovsky (Solo)

Doris Mende (Solo)

Peter Hauser (stv. Solo)

Stilian Guerov (stv. Solo, Englischhorn)

Valeriu Verstiuc (stv. Solo)

Catherine Kämper (Englischhorn Solo)

Andreas Graf

Michele Batani *

Pavlina Iorova Christina Keller-Blaser Eva Lüthi Árpád Szabó Eva Wyss-Simmen Saniya Durkeyeva * Alessandro Sica *

KLARINETTE Walter Stauffer (Solo) Bernhard Röthlisberger (Solo, Bassklarinette) Calogero Presti (Solo, Es-Klarinette) Gábor Horváth (Es-Klarinette)

KONTRABASS

Nils Kohler (Bassklarinette)

Gabriel Duffau (Solo)

Anna Gagane *

Magor Szász (Solo) N. N. (stv. Solo) Matteo Burci Manuel Kuhn Cordula Mundhenk Mátyás Vinczi Luca Rovero *

FAGOTT Monika Schindler (Solo) Heidrun Wirth-Metzler (Solo) Daniel Casal Mota (Solo) Norihito Nishinomura (stv. Solo, Kontrafagott) N. N. (Kontrafagott)

FLÖTE

Miguel Ángel Pérez-Diego *

Christian Studler (Solo) Kurt Andreas Finger (Solo) Sakura Kindynis (stv. Solo, Piccolo) Cornelia Zehnder (Piccolo) Anna Zimmermann (Piccolo) Chikara Sugano * Johanna Schwarzl *

HORN Olivier Alvarez (Solo) Olivier Darbellay (Solo) Christian Holenstein (Solo) Sebastian Schindler (stv. Solo) Denis Dafflon Daniel Lienhard Matteo Ravarelli Peter Szlávik Alejandro Cela Camba *

37


TROMPETE

ORCHESTERTECHNIK

Jean-Jacques Schmid (Solo)

Elisabeth Niederhäuser

Milko Raspanti (Solo)

Matteo Pellerino

Olivier Anthony Theurillat (stv. Solo)

Marcello Pragasa Rasan

Renato Martins Longo

Kaspar Helbling

Simon Pellaux * KONZERT- UND OPERNDIREKTOR POSAUNE

Xavier Zuber

Stanley Clark (Solo, Altposaune) Wassil Christov (Solo, Altposaune) Vicente Climent Calatayud (Solo, Altposaune) Justin Clark (Bassposaune)

ASSISTENTIN DES KONZERT- UND OPERNDIREKTORS Lisa Katharina Holzberg

Benjamin Jacob Green (Bassposaune) Arno Tri Pramudia *

ORCHESTERMANAGER / STELLVERTRETENDER KONZERTDIREKTOR

TUBA

Axel Wieck

Daniel Schädeli Gaudard (Solo) Sophia Nidecker *

KONZERTDRAMATURGIE / KÜNSTLERISCHES BETRIEBSBÜRO BSO

HARFE

Barbara Honegger

Line Gaudard (Solo) Cornelia Lootsmann (Solo)

PRODUKTIONSLEITUNG KONZERT

Joanna Thalmann *

Judith Schlosser

PAUKE / SCHLAGZEUG

BIBLIOTHEK

Franz Rüfli (Solopauke)

Dorothea Krimm

Mihaela Despa (Solopauke) Peter Fleischlin (stv. Solopauke) Michael Meinen Sylvain Andrey *

* Praktikanten | ** Praktikanten 1. und 2. Violine

38


NACHWEISE IMPRESSUM Liebe Konzertbesucher, liebe Konzertbesucherinnen, bitte achten Sie darauf, dass Ihr Mobiltelefon während des Konzertes ausgeschaltet bleibt. Bild- und Tonaufnahmen sind nicht gestattet. Besten Dank für Ihr Verständnis. Preise: Einzelheft: chf 5,– im Vorverkauf und an der Abendkasse

TEXTNACHWEISE Die Texte wurden exklusiv für dieses Programmheft geschrieben.

BILDNACHWEISE Inserat Freunde des Berner Symphonieorchesters, © Alberto Venzago | Mario Venzago, © Alberto Venzago | Daniel Schnyder & David Taylor, zVg | Alexis Vincent, zVg | Arnold Schönberg, 1910, Blaues Selbstportrait | Daniel Schnyder (Komponist), 2017, zVg | Othmar Schoeck, 1907 als Student, mit freundlicher Genehmigung der Othmar Schoeck-Gesellschaft | Jacques Ibert, unbenannte Photographie, public domain

KONZERT THEATER BERN intendant Stephan Märki konzert- und operndirektor Xavier Zuber chefdirigent & künstlerischer leiter berner symphonieorchester Mario Venzago spielzeit 2017.2018 redaktion Barbara Honegger konzept & gestaltung formdusche, Berlin layout Murielle Bender, Konzert Theater Bern druck Haller + Jenzer AG, 3400 Burgdorf

redaktionsschluss 02. März 2018 Änderungen vorbehalten.

39


César Franck 1822 – 1890 Les Sept dernières Paroles du Christ en Croix Giacomo Puccini 1858 – 1924

Messa di Gloria

ocb Oratorienchor Bern Berner Symphonieorchester BSO Vorverkauf www.ticketino.ch Telefon 0900 441 441 Filialen der Schweizerischen Post mit Ticketverkauf BLS Reisezentrum Gen Genfergasse 11, Bern OLMO Tickets Zeughausgasse 14, Bern

Malin Hartelius, Sopran Carlo Jung-Heyk Cho, Tenor Martin Snell, Bass Olga Pavlu, Leitung Französische Kirche Bern Ostersonntag, 1. April 2018, 17.00 Ostermontag, 2. April 2018, 17.00


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.