Programmheft Titus Andronicus

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schauspiel

TITUS ANDRONICUS WILLIAM SHAKESPEARE

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TITUS ANDRONICUS WILLIAM SHAKESPEARE Deutsch von Frank Günther mit Passagen aus Heiner Müllers Anatomie Titus Fall of Rome

PREMIERE 22. Februar 2019, Vidmar 1

DAUER DER VORSTELLUNG 1 h 55 min, keine Pause


BESETZUNG regie Mizgin Bilmen bühne Cleo Niemeyer kostüme Alexander Djurkov Hotter musik Friederike Bernhardt licht Hanspeter Liechti dramaturgie Michael Gmaj regieassistenz & abendspielleitung Sophia Aurich bühnenbildassistenz Kim Zumstein bühnenbildhospitanz Ellen Luginbühl kostümassistenz Jasmine Lüthold kostümhospitanz Anne-Sophie Gawriloff soufflage Sabine Bremer, Gabriele Suremann inspizienz Hasan Koru

technischer direktor Reinhard zur Heiden leiter bühnenbetrieb Claude Ruch leiter werkstätten Andreas Wieczorek leiterin kostüm & maske Franziska

Ambühl produktionsleiterin bühnenbild Konstantina Dacheva produktionsleiterin kostüm Sarah Stock Bühnenmeister Jean-Claude Bögli tontechnik Carlos Aguilar videotechnik Jonas Mettler requisite Gabriela Hess maske Anja Wiegmann, Martina Jans Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers von Konzert Theater Bern hergestellt. co-leitung malsaal Susanna Hunziker, Lisa Minder leiter schreinerei Markus Blaser leiter schlosserei Marc Bergundthal leiter dekoration Daniel Mumenthaler leiterin maske Carmen Maria Fahrner gewandmeisterinnen Mariette Moser, Irene Odermatt, Gabriela Specogna leiter requisite Thomas Aufschläger leiter beleuchtung Bernhard Bieri leiter audio & video Bruno Benedetti leiter vidmar Marc Brügger

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titus andronicus Chantal Le Moign tamora Irina Wrona saturninus Stéphane Maeder bassianus Andreas Gaida marcus andronicus Jürg Wisbach lavinia Milva Stark aaron Alexander Maria Schmidt lucius Luka Dimic demetrius David Berger chiron David Brückner* kind Thamara Stampbach alias Muud / Vivian van Vliet / Enya Rohrbach Statisterie Konzert Theater Bern * hkb-Schauspielstudio

merci

an Tanja Mikhail und die New Dance Academy für ihre Unterstützung Partner Maske

Dr. Hauschka

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ROM IST ÜBERALL Zum Stück Shakespeare schuf mit Titus Andronicus auf den ersten Blick vor allem eine barocke Darstellung von Brutalität und eine Parabel darauf, wohin Machtmissbrauch und Unmenschlichkeit führen, wenn ein politisches System ausser Kraft gesetzt wird. Doch in der Einfachheit seiner Setzung ist weit mehr verborgen. Der bekannte polnische Theatertheoretiker Jan Kott schreibt zu Shakespeares frühem Werk, dass ihm die beschriebenen Grausamkeiten bei der Lektüre kindisch, ja sogar lächerlich erschienen sind, doch als er das Stück auf einer Bühne sah, sei er erschüttert gewesen. Woran lag das? Titus Andronicus ist seiner Meinung nach bereits Shakespeare-Theater, aber noch kein vollendeter Shakespeare-Text. Es ist deswegen reizvoll und besonders, das Stück aufzuführen, weil man in seiner rohen Gestalt die Keime aller Shake-speare'schen Tragödien erkennen kann. So kündet Titus von den Qualen, die König Lear durchwandern wird. Wäre Lucius nicht ins Lager der Goten, sondern an die Universität zu Wittenberg verbannt worden, wäre er wohl als Hamlet zurückgekehrt. Tamora, die Königin der Goten, steht Lady Macbeth sehr nahe, nur das Bewusstsein für das Verbrechen fehlt ihr. Jan Kott schreibt: «Mehr als zwei Jahrhunderte hat man Titus Andronicus als barbarisches und unvollkommenes Stück betrachtet. Die Klassiker nannten es ein gotisches Stück. Titus Andronicus konnte ihnen nicht gefallen. Aber das Stück hat dem Publikum Shakespeares gefallen. Es gehörte zu den meistgespielten.» Der elisabethanische Autor verstand es meisterhaft, Leidenschaften ein inneres Bewusstsein zu verleihen. Er stammte selbst aus einer unfreien, von einer absolutistischen Monarchie geführten

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Gesellschaft und zeichnete zeitlebens nach, wie Gemeinschaften sich auflösen. Gesegnet mit einer präzisen Kenntnis des menschlichen Charakters und einer rhetorischen Begabung, um die ihn jeder Demagoge beneidet hätte, beschrieb er immer wieder die Art von Mensch, die in unruhigen Zeiten aufsteigt, an die niedersten Instinkte appelliert und aus den tiefsten Ängsten der Zeitgenossen schöpft. Shakespeare erzählt Geschichten für die Massen, weil er geschickt Macht seziert und deren grausame Systematik bis heute einfach und eindringlich jedem Zuschauer erfahrbar macht. Er war ein Sprachrohr seines Publikums und sagte das, was vom gewöhnlichen Bürger nicht gesagt werden durfte. Der Historiker Stephen Greenblatt berichtet: «Es gelang ihm, jemanden auf der Bühne vor 2000 Zuschauern – darunter auch Regierungsspitzeln – ausrufen zu lassen: ‹Dem Hund im Amt gehorcht man.› Die Reichen kommen mit dem davon, wofür die Armen brutal bestraft werden. Wer so etwas im Wirtshaus sagte, musste damit rechnen verhaftet zu werden. Doch in der Öffentlichkeit einer Bühne erklangen diese Worte immer wieder. Warum war das möglich? Weil die Person, die sie sprach, Lear in seinem Wahnsinn war.» Schauplatz der Handlung von Titus Andronicus ist das antike Rom. Es ist das Zentrum politischer Macht und des Reichtums jener Zeit. Als Shakespeare das Stück 1592 vollendete, war sein Rom London. Hier erlebte er die Dekadenz und Völlerei und ebenso wie die Gewalt und Armut einer Metropole am eigenen Leib. Heute ist Rom überall und in jeder Weltstadt zu finden. In Regisseurin Mizgin Bilmens Inszenierung und Cleo Niemeyers Bühnenbild besteht dieses Rom nur noch aus drei Buchstaben. Es ist ein Name und damit nur noch ein Zeichen für das dekadente System, das die Stadt im Stück verkörpert. Der Text wird zur Bühne und das gesprochene Wort zur Welt, im besten Sinne und in der Tradition des elisabethanischen Theaters.

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Statisterie Konzert Theater Bern, Luka Dimic, Irina Wrona

« IM STAUB DER SIEGER KRIECHEN DIE BESIEGTEN »

Anatomie Titus Fall of Rome, Heiner Müller

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Der berühmte ostdeutsche Autor und Regisseur Heiner Müller hat die Besonderheit von Shakespeares Text erkannt und in den 80er-Jahren eine eigene Bearbeitung des Stoffes erstellt. Nicht nur umschiffte er mit seinen neu geschriebenen Texten die dramaturgischen Schwächen des frühen Shakespeare, er erlaubte es dem Publikum durch die Kommentare im Stück, ein ungeschminktes Bild ihrer eigenen Realität zu erkennen. Für Müller ist Rom auch überall, jedoch 1982 vor allem im reichen, privilegierten Westen zu erkennen. Titus Andronicus wird durch Müllers Lesart zu einem Drama über den Kampf zwischen Erster und Dritter Welt, zu einer Sezierung des entfesselten Kapitalismus und einer Etüde darüber, wo die Schattenseiten eines solchen Systems in seinem Endstadium liegen. Es geht nicht um einen Kampf von Individuen, sondern um einen der Ideologien. Müller ist klar: Irgendwann werden die reichen Städte des Westens untergehen. Einerseits liegt das an der Immobilität und Unflexibilität gegenüber neuen Bewegungen, wie zum Beispiel neuen Völkerwanderungen, andererseits an der Ratlosigkeit gegenüber den eigenen Abgehängten, die immer lauter nach Gerechtigkeit schreien. Rom geht am eigenen Übergewicht unter und nicht aufgrund einer Invasion oder fremden Einflüssen. Die grösste Bedrohung Roms ist bei Müller das höchste kapitalistische Gebot: Vergrössere deinen Reichtum und erobere so viel Macht wie möglich. Das ist die einzige Möglichkeit, den eigenen Fortbestand zu sichern. Doch hier lauert ein gefährlicher Widerspruch im eigenen Handeln. Wenn Rom sich stärkt und Mauern baut, schwächt es sich zugleich auch selbst. Je mehr Reichtum und Menschen importiert werden, desto grösser ist die Gefahr, dass sich auch potenziell feindliche Menschen in Rom ansiedeln. Neue Regeln des Zusammenlebens werden definiert, neue Sicherheitsmassnahmen etabliert – jeder büsst an Freiheit ein

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und jeder ist durch das Versprechen, so den eigenen Reichtum bewahren zu können, dazu bereit, sich diesem Diktat zu unterwerfen. Wohlgemerkt auch dann, wenn jenes nur dazu dient, die Reichsten der Reichen zu schützen – man hängt nun mal am gleichen Tropf. Doch irgendwann erheben sich die Abgehängten. Mizgin Bilmens Inszenierung verwendet nun Müllers Kommentar um seine Lesart ins Heute zu übertragen. 2019 unterscheiden wir nicht mehr eindeutig zwischen Erster und Dritter Welt. Warum auch? Die grösste Bedrohung sind wir uns selbst geworden. Und so erzählt die Berner Fassung des Titus Andronicus etwas über den politischen und sozialen Zustand unseres heutigen Europas.

DAS KOMPLETTE PROGRAMMHEFT IST FÜR CHF 3,– AM VORSTELLUNGSABEND ODER AN DER BILLETTKASSE ERHÄLTLICH.

Verteilt über den ganzen Kontinent entstehen derzeit verschiedenste Bewegungen: In Paris demonstrieren die «Gelbwesten» gegen einen neoliberalen Präsidenten, in Chemnitz und Dresden gehen «besorgte Bürger» auf die Strasse, um gegen eine «Messermigration» zu protestieren. In England hat ein grosser Teil der Bevölkerung für den Austritt aus der EU gestimmt. In Polen regiert eine Partei, die unter dem Beifall der Bürger, die sie gewählt haben, das juristische System und damit die Demokratie aushöhlt. Dabei formiert sich überall die Unzufriedenheit jenseits von klarer linker oder rechter Gesinnung. Was die Menschen eint, ist der Eindruck, dass sie von ihren Eliten über Jahre hinweg ausgebeutet wurden. Unsere westliche Hemisphäre, die jahrzehntelang nach dem Zweiten Weltkrieg relativ ruhig und ohne grössere Veränderungen vor sich hinleben und Reichtum akkumulieren konnte, brodelt. Dabei nutzen landauf landab vor allem zahlreiche populistische Parteien die aufgestaute Wut und versammeln die Unzufriedenen unter sich. Titus Andronicus ist ein Stück unserer Zeit, denn es erzählt von diesem Endstadium einer Demokratie. Nach Müllers und Shakespeares Meinung gibt es kein Entkommen aus diesem Kreislauf. Für die Regisseurin Mizgin Bilmen sind die Go-

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