Programmheft Verdingbub

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schauspiel

VERDINGBUB PLINIO BACHMANN & BARBARA SOMMER


Nico Delpy

NÄHER DRAN.

FÖRDERN UND GENIESSEN MIT EINER MITGLIEDSCHAFT DER FREUNDE DES STADTTHEATERS BERN.

www.freunde-stadttheaterbern.ch


VERDINGBUB PLINIO BACHMANN & BARBARA SOMMER

PREMIERE 13. Oktober 2017, Stadttheater

DAUER DER VORSTELLUNG ca. 2 h, eine Pause


BESETZUNG regie Sabine Boss bühne & kostüme Hugo Gretler, Marialena Lapata video Valentin Huber musik Nermin Tulic dramaturgie Fadrina Arpagaus Lichtgestaltung Bernhard Bieri regieassistenz Jonas Junker regiehospitanz Darius Gervinskas bühnenbildassistenz Kim Zumstein kostümassistenz Clara Sollberger soufflage Gabriele Suremann inspizienz Denis Puzanov

technischer direktor Reinhard zur Heiden leiter bühnenbetrieb Claude Ruch leiter werkstätten Andreas Wieczorek leiterin kostüm und maske Franziska

Ambühl produktionsleiterin bühnenbild Konstantina Dacheva produktionsleiterin kostüm Maya Däster Bühnenmeister Paolo Rütti schnürmeister: Jürg Streit, Roger Grandi Tontechnik Peter Teszas, Marcel Schneider Videotechnik Jonas Mettler Requisite Gabriela Hess dekoration Thomas Wittwer Maske Martina Jans, Rainer Wolf Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers von Konzert Theater Bern hergestellt. co-leitung malsaal Susanna Hunziker, Lisa Minder leiter schreinerei Markus Blaser leiter schlosserei Marc Bergundthal leiter dekoration Daniel Mumenthaler leiterin maske Carmen Maria Fahrner gewandmeisterinnen Mariette Moser, Gabriela Specogna leiter requisite Thomas Aufschläger leiter beleuchtung Jürgen Nase leiter audio und video Bruno Benedetti

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max Nico Delpy berteli Miriam Strübel bösiger Andreas Matti bösigerin Grazia Pergoletti jakob Jonathan Loosli esther sigrist Irina Wrona gemeindepräsident Jürg Wisbach musiker Nermin Tulic

merci!

Partner Maske Aesop & Dr. Hauschka Markus Schürpf, Paul Senn-Archiv, Bern

unter dem Patronat der

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«ES ISCH FR EIF

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RÜECHER HAUT FACH E SO GSI!»

Miriam Strübel, Andreas Matti, Grazia Pergoletti, Jonathan Loosli

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BUEB! MEITSCHI! VON DER DRINGLICHKEIT DER DINGE Es gab eine Zeit, in der die Schweiz ein Entwicklungsland war, etwas, was wir heute ziemlich weit weg, auf jeden Fall aber woanders verorten. Das historische Sandwich von Erstem und Zweitem Weltkrieg mit zwei grossen Wirtschaftskrisen in der Mitte war auch für die Schweiz ein harter ökonomischer Brocken. Weite Teile der Landbevölkerung führten Mitte des 20. Jahrhunderts noch ein karges Leben ohne Elektrizität, fliessend Wasser, ausreichend Wohnraum und Zugang zu Bildung und Lebenschancen. Existentielle Armut der Herkunftsfamilie ist einer der Gründe für die Unterbringung von Schweizer Kindern gegen Kost und Logis bei Pflegeeltern und auf Bauernhöfen, aber nicht der einzige. «Fremdplatzierung» betraf bis in die 1960er-Jahre Waisen- und Scheidungskinder, Kinder aus unehelichen Beziehungen oder von Fahrenden. Kinder wurden weggegeben, wenn ihr Überleben nicht mehr gesichert werden konnte, oder den Eltern weggenommen, wenn die zuständigen Behörden den Eindruck bekamen, dass für ihr Wohl nicht ausreichend gesorgt würde. Man war froh, wenn einer weniger am Tisch sass, oder entschied nach Willkür, wenn man eine Unregelmässigkeit im bürgerlichen Vater-Mutter-Kind-Schema vermutete. Was als intakte Familie zu gelten hatte, beschlossen Herrenrunden von Beamten, Armeninspektoren und Pfarrern – Menschen, die für ein protestantisches Leistungsethos einstanden und harte Arbeit als Frühkinderförderung begriffen; Menschen, die es alleinstehenden Müttern nicht zugestanden, ein Kind gross zu ziehen; Menschen, denen ein noch nicht existierendes Sozialwesen, die mangelnde Professionalisierung und persönliche Verstrickungen es schwer machten,

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ihrer Aufsichtspflicht nachzukommen. Den Kindern selbst fehlte die Sprache des Aufbegehrens, und nachgefragt wurde nicht. Das Kapitel «Verdingung» ist in der Schweiz noch nicht abgeschlossen. Es ist aber bis heute mit einer grossen Sprachlosigkeit behaftet. 2013 hat sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga offiziell im Namen der Regierung bei den ehemaligen Verdingkindern entschuldigt und Entschädigungszahlungen in Aussicht gestellt. Trotzdem melden sich bis heute nur wenige bei den zuständigen Ämtern, um das Geld in Anspruch zu nehmen. Grossflächig begonnen hat die kritische Aufarbeitung erst spät. Ende 2003 trug das «Magazin» des Zürcher Tages-Anzeigers das Thema über Monate in die breite Öffentlichkeit. Zur gleichen Zeit stiess ein Schweizer Forschungsteam ein Nationalfonds-Projekt an und traf zwischen 2005 und 2008 über 270 ehemalige Verding- und Heimkinder zu Gesprächen. Die erzählten Lebensgeschichten sind oft lückenhaft, aber sie ähneln sich. Sie zeugen vom Versuch, Vergangenes zu erinnern und erstmalig in Worte zu fassen, was von Scham, Verdrängung und Vergessen über Jahre verstellt wurde. Es sind Zeugnisse der gesellschaftlichen Isolation und emotionalen Verwahrlosung, von Schlägen und sexuellen Übergriffen, Unterernährung und mangelnder Hygiene, Angst und Einsamkeit. Plinio Bachmann hat für das Filmdrehbuch von Der Verdingbub, das der Theaterfassung zu Grunde liegt, die Lebensbedingungen von Verdingkindern genau recherchiert: das Wohnen im Stall. Der verhinderte Schulunterricht. Das Eintauschen der Schuhe gegen Länderböde, blosse Holzbretter mit Riemen. Das madige Fleisch. Die Ersatzzärtlichkeiten von Tieren. Es sind diese Details,

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«EINE JUNGE, EINE GANZ JUNGE SCHWESTER HAT UNS, WENN WIR EINZELN IM ZIMMER WAREN, IN DEN BETTCHEN, AM SCHWÄNZCHEN GESAUGT. UND WIR MUSSTEN IHR UNTER DEN DING FASSEN. AM SONNTAG KAM JEWEILS DER PFARRER MIT DEM FAHRRAD, UM DIE MESSE ZU LESEN. ER HAT SICH IM ZIMMER DER SCHWESTERN UMGEZOGEN UND WIR SIND SCHAUEN GEGANGEN, WENN DIE NONNEN UND DER PFARRER NACKT IM ZIMMER WAREN. MEHR SAGE ICH NICHT.» Anonym, *1927, Luzern

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die die Kinder auf dem Weg zur Verdinglichung begleiten, und in ihrer Häufung machen sie ihr Leben aus. Berteli und Max sind Stellvertreter für tausende von Schweizer Verdingkindern, und vielleicht ist es nur ein Zufall, dass ihre Namen mit denselben Buchstaben beginnen wie die anonymen Rufnamen ihrer realen Vorbilder: Bueb, Meitschi. Sie stehen für alle, die nicht in den Statistiken auftauchen, und sie tragen die gesammelten Merkmale derer, die ihre Kindheit in ähnlicher Weise zugebracht haben. Der Hof der Bösigers ist keine gefühlsarme Welt. Im Gegenteil, die Emotionen gehen tief – und hoch. Jede der Figuren hat ihre eigene Zärtlichkeit, und jede ihre eigene Gewalt. Oft liegt beides so nah beieinander, als würde man eine Münze umdrehen. Die Inszenierung ist voller solcher Kippmomente, in denen etwas möglich wäre: eine Hand auf der Schulter, ein teilnehmender Blick, ein Zeichen des Zuhörens würde alles ändern. Doch im Gerangel der Gefühle kämpfen die Figuren um eine Sprache, die ihnen so wenig vor Augen liegt wie die wenigen Kartoffeln auf dem Feld. Für das Graben im Acker der Emotionen ist keine Zeit, es fehlen das Werkzeug und das Handwerk. Niemand hat ein Interesse an der Synchronisation der Sehnsüchte, obwohl es grundlegende Bedürfnisse sind, um die mit Händen und Füssen gekämpft wird: Zuneigung, Anerkennung und Auswege aus der Armut. In der Unfähigkeit, die eigenen Gefühle mit Worten und Gesten zu bergen, werden die Kinder zu Projektionsflächen für das Ungelebte der Erwachsenen. Die Brutalität der Geschichte liegt nicht nur in körperstarken Akten der Gewalt, sondern auch in der Radikalität, in denen den Bösigers der Zugang zu einer eigenen Sprache verwehrt bleibt. Max ist der Einzige, der seinen Zugang zum Glück bis zum Schluss verteidigt. Darin ist er die modernste aller Figuren. Er deutet den Weg an, den unsere Gesellschaft später einschlagen wird: Die in-

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tuitive Verteidigung des Rechts auf Selbstbestimmung, Freiheit und gelebte Emotionalität. Weil Max noch ein Kind ist, das seinem innersten Impuls folgt, wiegt sein Handeln umso stärker. Max’ Argentinien, das Land, wo Silber aus dem Boden wächst, liegt heute wieder in der Schweiz. Die Armutsverhältnisse haben sich innerhalb eines halben Jahrhunderts geopolitisch verlagert, aber sie sind nicht verschwunden. Die Verschleissquote des Rohstoffs Mensch ist wie bei Turnschuhen, Jeans und Handys noch immer hoch. Wir stellen fest, dass Migranten im Alltag unserer Gesellschaft sichtbar werden, doch ihre Arbeitskraft bleibt oft im Dunkeln. Nicht bloss, weil sie schwarz oder nachts arbeiten, sondern weil wir ihre Dienstleistungen nur selten bewusst wahrnehmen: Wenn wir bei einer Überstunde die Putzfrau im Büro antreffen, wenn uns der Lieferservice die Pizza bringt, wenn wir beim Besuch bei unseren alternden Eltern einer Bulgarin begegnen, die jetzt in unserem ehemaligen Kinderzimmer wohnt und im Dreimonatsrhythmus in ihre Heimat pendelt. Nicht immer muss man dabei plakativ von «Menschenhandel» sprechen. Es sind neue Systemzwänge des globalisierten Spätkapitalismus, die dem Grossteil der Menschheit nur bestimmte Formen von Arbeit zur Verfügung stellen. Doch Aufstiegschancen und Anerkennung bleiben ihnen – wie den Verdingkindern – verwehrt. Die Frage nach einem menschenwürdigen Leben stellt sich noch immer. Aber «Früher war es halt einfach so» gilt nicht mehr. Weil wir der Sprache heute anders mächtig sind. Und weil wir es vermögen, den Verschränkungen von Politik, Ökonomie und persönlichen Motiven auf den Grund zu gehen und unsere Sehnsüchte wertzuschätzen und zu verhandeln. Die Umkehrung vom Ding zum Mensch ist also zu schaffen. Fadrina Arpagaus

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«ICH ERINNERE MICH, DASS WIR FURCHTBAREN HUNGER HATTEN. DER METZGER HATTE EINEN STIERKOPF, DEN KOCHTEN WIR ETWA VIER MONATE LANG AUS. DAS WAR ALLES, WAS WIR BEKAMEN. WIR HABEN DIE ERDHÄUFCHEN GEFRESSEN, DIE DIE WÜRMER AUS DEM BODEN STOSSEN, UM DEN HUNGER NICHT ZU SPÜREN. DAS DUMME WAR BLOSS, DASS DORT WURMEIER DRIN WAREN, DIE WIR DANN IM MAGEN HATTEN.» Werner Bieri, *1942, Bern

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«ICH BIN EINFACH NIE JEMAND GEWESEN.» Emil Weber, *1934, Bern

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Nico Delpy, Irina Wrona

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WÜRDE ALS SELBSTÄNDIGKEIT. WÜRDE ALS BEGEGNUNG. Peter Bieri Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Wir wollen selbst entscheiden können, was wir tun und lassen. Wir möchten nicht von der Macht und dem Willen anderer abhängig sein. Wir möchten unabhängig und selbständig sein. All diese Worte beschreiben ein elementares Bedürfnis – eines, das wir aus unserem Leben nicht wegdenken können. Es mag Zeiten geben, in denen dieses Bedürfnis durchkreuzt wird, und diese Zeiten können lang sein. Doch das Bedürfnis bleibt. Es ist der innere Kompass unseres Lebens. Viele Erfahrungen, die ein Mensch mit seiner Würde macht, entspringen diesem Bedürfnis. Situationen der Unselbständigkeit, der Abhängigkeit und der Ohnmacht sind Situationen, in denen wir das Gefühl haben, dass unsere Würde verloren geht. Dann tun wir alles, um die Abhängigkeit und Ohnmacht zu überwinden und die verlorene Selbständigkeit zurückzugewinnen. Denn wir sind sicher: Darin liegt die Würde begründet. Doch so einfach und klar die Worte auch klingen, mit denen wir diese Selbständigkeit erläutern und beschwören: Die Erfahrung, um die es geht, ist alles andere als einfach und klar. Wir sind nicht allein und können nicht alles allein machen. Wir hängen auf vielfältige Weise von anderen ab und sie von uns. Was davon schafft natürliche menschliche Beziehungen, ohne die wir nicht sein möchten? Und was davon erleben wir als Abhängigkeit, die unsere Würde bedroht? Um dieser Frage gewachsen zu sein, brauchen wir eine begriffliche Geschichte, die uns in Erinnerung bringt, was für Wesen wir

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sind, welche Art von Selbständigkeit wir anstreben und warum sie so wichtig für uns ist. Es muss eine Geschichte darüber sein, was es bedeutet, ein Subjekt zu sein. Welche Fähigkeiten führen dazu, dass wir uns als Subjekte erleben – im Unterschied zu Objekten, Gegenständen, Dingen oder blossen Körpern? Wir können die Motive unseres Tuns zur Sprache bringen. Wir können Worte für unser Erleben finden und sagen, aus welchen Gedanken, Wünschen und Gefühlen heraus wir handeln. Auf diese Weise können wir uns in unserem Tun verständlich machen, sowohl für die anderen als auch für uns selbst. Wir können Geschichten über unsere Motive erzählen, von einzelnen Handlungen oder längeren Abschnitten unseres Tuns. Ein Subjekt, könnte man sagen, ist ein Zentrum erzählerischer Schwerkraft: Wir sind diejenigen, von denen unsere Motivgeschichten handeln. Es sind Geschichten darüber, wo wir herkommen, wie wir wurden, was wir sind, und was wir vorhaben. Die Würde eines Menschen liegt nicht nur darin begründet, dass er selbst über sein Leben bestimmen kann und in diesem Sinne selbständig ist. Sie liegt auch in der Art seiner Beziehungen zu anderen Menschen begründet: darin, wie er ihnen begegnet, und darin, wie sie ihm begegnen. Jeder Mensch ist ein Zentrum des Erlebens. Diese intuitive Annahme prägt jede Begegnung mit einem Subjekt und unterscheidet sie von jeder Begegnung mit einem blossen Ding.

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Wenn sich zwei Menschen mit ihren Motivgeschichten vertraut machen, ist es, wie wenn sie sich miteinander verschränkten: Sie bekommen eine Bedeutung füreinander, und die Begegnung wirkt auf beide zurück. Dabei verschränken sie sich in ihrem Erleben auf vielfältige Weise. Wir denken über die Gedanken der anderen nach und darüber, was sie über unsere eigenen Gedanken denken mögen. Das schafft, könnte man sagen, eine gedankliche Intimität zwischen uns. Auch in unseren Gefühlen und Wünschen können wir uns verschränken: Wir haben Angst vor der Angst des anderen, in der die Angst vor unserer eigenen Angst mitschwingt. Unsere Begierde wird durch die Begierde des anderen angefacht, die unserer eigenen Begierde gilt. Und wir können wünschen, der andere möge Wünsche haben, die unseren eigenen Wünschen gelten. Je mehr sich unser Erleben auf diese Weise mit dem fremden Erleben verschränkt, desto grösser ist die seelische Intimität zwischen uns. Diese Intimität ist der Stoff, aus dem Begegnungen zwischen Subjekten gemacht sind. Wenn wir jemandem begegnen, so geschieht es oft, dass wir im Tun und Erleben spontan auf ihn antworten: Was er tut und erlebt, macht einen Unterschied, das Treffen ist eine Episode, die uns mitnimmt und verändert. Die Begegnung bekommt dadurch eine erhöhte Temperatur. Wenn wir erleben, dass man uns so antwortet, werden wir auf diese Antwort reagieren. Das, was wir dabei an innerer Veränderung erleben, spielen wir zurück, und das wiederum wird den anderen verändern. In diesem Sinne sind wir nun verwickelt in das Leben des anderen. Es entsteht eine Hitze der Wechselseitigkeit. Es handelt sich um eine engagierte Begegnung. Eine engagierte Begegnung bedeutet eine Erfahrung der Nähe: Es lässt einen nicht kalt, was der andere tut und lässt. Immer geht es darum, dass ich den anderen in seinem Erleben und Tun ernst nehme.

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Nico Delpy

Peter Bieri, geboren 1944 in Bern, ist Philosoph und Romancier. Er lehrte als Professor für Philosophie in Bielefeld, Magdeburg und an der Freien Universität Berlin. Unter dem Pseudonym Pascal Mercier verfasste er den Erfolgsroman «Nachtzug nach Lissabon».

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«DIE HÄTTEN JA NICHTS GE DIE LEUTE VON DER GEMEIN GENAU WUSSTEN, WAS DA Josef Anderhalden, *1932, Obwalden

Miriam Strübel, Nico Delpy, Jonathan Loosli, Irina Wrona

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EMACHT, NDE. OBWOHL DIE GEHT.»

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DIE RÜCKKEHR DER DIENER Christoph Bartmann Wer bitte «hält sich» heute noch Personal, genauer Hauspersonal, abgesehen von den Superreichen und ihrem postmodernen Gesinde, den privaten Köchen und Gärtnern, persönlichen Trainern und Assistenten? Wir, die Mittelschicht, jedenfalls nicht und wenn doch, dann nicht aus Standesdünkel und Bequemlichkeit, sondern aus viel dringlicheren Gründen. Das häusliche Dienertum, so wollen wir gern glauben, gehört einer vergangenen Weltepoche an, von der uns vielleicht noch unsere Grosseltern erzählen konnten, aber unsere Eltern schon nicht mehr. Während wir die Frage nach unseren eigenen Serviceverhältnissen gern ausblenden, freuen wir uns an populären Fernsehserien, die uns die alte Diener- und Herrenwelt als formvollendetes Idyll vor Augen führen. Solche Serien bedienen unsere Sehnsucht nach stilvoller Häuslichkeit, noch mehr aber spiegeln sie einen aktuellen gesellschaftlichen Befund. Die Diener sind wieder da, nicht mehr als Butler oder Kammerzofe, sondern in ganz neuer Gestalt. Die Rede ist von Putzfrauen, Kindermädchen und Altenpflegerinnen ebenso wie von Lieferanten aller Art. Globalisierung und Digitalisierung haben diesem neuen Dienstleistungsmarkt in den letzten Jahren enormen Auftrieb gegeben. Kaum ein häusliches Bedürfnis (oder was man dafür hält), das nicht von bezahlten Dienstleistern befriedigt werden kann, und zwar umgehend und umstandslos. Diese Dienstleister sind jetzt unser Personal. Eine ganze Weile wohnen wir nun schon auf Manhattans Upper West Side, in einem Apartmenthaus am Broadway, das Komfort oder sogar Luxus verspricht, wie tausende andere Häuser in dieser Stadt auch. Unser Haus ist eines jener typischen Wohnho-

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tels, das manche Leute als Lebensoption rundherum ablehnen. Ihnen widerstrebt diese Variante des betreuten Wohnens, das gewährleistet wird von einer vielköpfigen Besatzung aus Portiers, Rezeptionisten, Hausmeistern und sonstigen helfenden Händen. Rund um die Uhr werden hier die Mieter freundlich überwacht. Vielerlei Wünsche werden einem erfüllt, es wird einem ungefragt die Tür aufgehalten, Koffer und Pakete werden bei Bedarf in die Wohnung getragen. Zum Standard gehören meist auch ein Kinderspielraum, ein Gym, ein Swimmingpool, vielleicht auch noch ein Zen-Meditationsraum, eine Squashhalle oder eine Bibliothek – Dinge, nach denen man nicht unbedingt verlangt hat, die aber das Leben unter Umständen angenehmer machen. Dieses weit verbreitete New Yorker Komfortwohnen verträgt sich nur schlecht mit deutschen Vorstellungen von Autonomie und Selbermachen. Man wird hier dauernd an die Hand genommen und freundlich bevormundet, und man lässt es sich gefallen, weil ja das Leben draussen angeblich schon hart genug ist. Am frühen Morgen versammeln sich im Eingangsbereich schon die häuslichen Helferinnen, die Kinder- und Zugehfrauen, Reinigungs- und Pflegekräfte, um dann bald mit der Arbeit anzufangen. Es sind keine Dienstmädchen in einem traditionellen Sinn, sondern häusliche Servicekräfte eines neuen Typs. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen am Eingang, dauernd bringen Kuriere und Boten Lieferungen ins Haus, Amazon-Pakete, Wäsche aus der Reinigung, Plastiktaschen mit bestelltem Essen und Kartons mit Lebensmitteln. Die weiblichen Servicekräfte arbeiten meistens im Haus, die Männer bringen die Sachen ins Haus. In der grossen Mehrzahl handelt es sich bei diesen Arbeitskräften um Latinos aus Mexiko und Zentralamerika, die hier leben, oft ohne Dokumente, oder die auf schwer nachvollziehbare Weise zwischen New York und ihren Herkunftsländern zirkulieren.

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Anfangs fanden wir die Vielfalt des hiesigen Serviceangebots irritierend, ja beinahe obszön. Es fühlt sich nicht gut an, wenn einem permanent von Serviceleuten, zudem mit Migrationshintergrund, geholfen und assistiert wird, und das bei Verrichtungen, die man gut auch selbst erledigen könnte. Wir würden uns lieber mehr selbst helfen. Wir sind auch kulturell ungeübt darin, laufend käufliche Dienste in Anspruch zu nehmen. Als Kinder hat man uns beigebracht, möglichst alles abzuwehren, was auch nur von ferne als «verwöhnt» gelten könnte. Es dauerte eine Weile, bis wir solche Dienstleistungskulturen verstehen lernten. «Teil der Familie», diese aus feudalen Zeiten in die Gegenwart übergeleitete Problematik, lohnt einen genaueren Blick. Dienerinnen und Diener waren einst Teil der erweiterten Herrschaftsfamilie, mit der Konsequenz, dass ihnen die Gründung einer eigenen Familie verwehrt war oder sie diese zumindest konstant vernachlässigten. «Part of the family», die Formulierung wird jetzt gern am Online-Stellenmarkt benutzt und soll eine besondere, fast angehörigenhafte Intimität zwischen Familie und rekrutiertem Personal andeuten. Die Folgen und Nebenwirkungen dieser Familiarität sind für die in fremden Häusern lebenden Dienstleisterinnen vielfach ganz ähnlich wie in feudalen Zeiten. «Live-in»-Haushälterin ist ein Beruf, von dem nur Zyniker sagen würden, er liesse sich doch bestens mit dem Familienleben vereinbaren. Trotzdem rücken Arbeitgeber wie Arbeitnehmer gerne das Familiäre und Emotionale in die Mitte des Erwartungs- und Kompetenzprofils. Etwa in der Art: «Unsere Nanny wird natürlich gut bezahlt, aber eigentlich mag sie unsere Kinder so gerne, dass der Job für sie zur Leidenschaft geworden ist.» Wo erst nur ein Job ist, sollen Leidenschaft und wahre Gefühle wachsen, Käuflichkeit und Passion einander ergänzen.

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Stellen wir uns einen Moment gegen alle Empirie vor, es handle sich um einen angesehenen, gut bezahlten, diplomierten Lehrberuf, abgesichert durch Tarifverträge und getragen vom Konsens, dass die häusliche Pflege von Kindern und alten Menschen zu den gesellschaftlich wichtigsten Arbeiten überhaupt gehört. Wenn es in Sozial- und Pflegeberufen zwischen Institutionen und Privathaushalten sanfte Übergänge gäbe, zudem verbunden mit Aufstiegsmöglichkeiten, wenn neben einer angemessenen Bezahlung Sozialleistungen im Sinne der Work-Life-Balance verpflichtend wären, und so fort, wäre dann Nanny oder häusliche Altenpflegerin ein Traumberuf, zumindest auf Zeit? Die Servicewelt steht und fällt mit Arbeitskräften, denen, nach oben wie nach unten, Alternativen fehlen. Sie sind, wo sie sind, mangels besserer Alternativen, weder unglücklich noch undankbar, noch wirklich freiwillig. Als «Helden des Marktes», der Flexibilität und Effizienz, verkörpern sie eine dominante Sozialfigur der Gegenwart. Die Rückkehr der Hausangestellten und -arbeiter im Zuge der neoliberalen Wende seit den 80er Jahren, die Zunahme solcher Beschäftigungsverhältnisse in Ländern rund um den Erdball bei weiterer Verschärfung der sozialen Ungleichheit, der Anstieg der Nachfrage nach Altenpflegerinnen oder Kinderfrauen in ambitionierten Doppelverdienerhaushalten überall in der entwickelten Welt: Alle dies Phänomene sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der einfachen, personengebundenen sozialen Dienstleistung in der uns bekannten Form schon wieder ein baldiges Ende bevorsteht. Eine erfinderische digitale Ökonomie will uns alles, was in ihren Augen keine kreative Qualitätszeit ist, vom Halse halten, indem sie es an neuartige Heinzelmännchen delegiert. Häusliche Dienstleistungen werden zunehmend auf digita-

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«DANN SAGTE ICH: ICH KANN NICHT MEHR. ES GEHT NICHT MEHR. DER BAUER ANTWORTETE DARAUF: ICH KANN DIR SCHON GAS GEBEN, DAMIT DU AUFHOLST. UND DANN STIESS ER MIR DIE MISTGABEL IN DEN HINTERN.» Ernst Fluri, *1946, Bern

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len Plattformen gemakelt. «Plattform» ist das Wort der Stunde, so wie vor einiger Zeit noch «Netzwerk». Was Uber für die Welt der Chauffeurdienste vorgemacht hat, lässt sich zwanglos auf alle anderen Lebensbereiche ausdehnen. Ich brauche dringend, gerne noch heute, oder besser in einer Stunde: ein Bett im Hotel oder anderswo, eine Person, die meinen Hund ausführt, jemanden, der schnell noch mein Hemd bügelt oder spätabends meine Waschmaschine repariert. Ich brauche es, weil etwas kaputt oder zu erledigen ist, weil ich nicht warten kann und weil ich bestimmt nicht wie früher im Branchenbuch nachschlage, in den Gelben Seiten, und bei tendenziell unwilligen Dienstleistern herumtelefoniere, sofern sie überhaupt gerade da sind. Man will immerfort und jederzeit und von überall her auf Dienstleistungen zugreifen können, und dabei helfen Services on demand. Aber wie schön ist es, auf Abruf als Putzmann oder Reparaturfrau bereitzustehen? Für eine wachsende Zahl von Arbeitnehmern bedeutet das entweder den Abschied von rechtlich und tariflich definierten Formen der Beschäftigung oder die schwindende Aussicht, in solchen Verhältnissen je anzukommen, in beiden Fällen den Eintritt in ein legal noch nicht vermessenes Terrain, in dem der Markt auf neue Weise die Arbeitsbedingungen diktiert. Mit den neuen Plattformen sind die Hausangestellten und -arbeiter im 21. Jahrhundert angekommen. Dies ist die historische Stunde, in der das eigene Smartphone ohne weiteren Anbahnungsaufwand nahezu jede Arbeit mit einer Wischbewegung in Auftrag geben kann. Man muss das nicht mögen, aber es wird vermutlich nicht wieder verschwinden. Und was machen wir denn nur mit der ganzen gewonnenen Zeit, ausser dass wir auf irgendeiner App nach weiteren Möglichkeiten suchen, uns entlasten zu lassen? Christoph Bartmann ist Publizist und Direktor des Goethe-Instituts Warschau.

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Miriam StrĂźbel, Jonathan Loosli


«AN DEN WEG, WIE ICH DORTHIN KAM, HABE ICH KEINE ERINNERUNGEN MEHR. ICH WAR EINFACH EINES TAGES AN EINEM ANDEREN ORT. UND DORT WAR ICH ABER AUCH NICHT LANGE. ICH GLAUBE, IN DER DRITTEN KLASSE HOLTE MICH DORT EINE FRAU AB UND GING MIT MIR WOANDERS HIN. ICH WEISS NUR NOCH, DASS ICH DEN GANZEN WEG WEINTE.» Alice Alder-Walliser, *1913, Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Zürich



«ICH TRÄUMTE, DASS ICH ROLLSCHUHE HÄTTE UND DANN HÄTTE ES EINE RIESIGE GETEERTE STRASSE UND ICH WÜRDE DARAUF NACH HAUSE FAHREN.» Elisabeth Götz, *1949, Thurgau

Andreas Matti

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NACHWEISE IMPRESSUM AUFFÜHRUNGSRECHTE Bachmann Sommer GmbH

TEXTNACHWEISE Christoph Bartmann, Die Rückkehr der Diener, München, 2016. Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, München, 2013. Marco Leuenberger und Loretta Seglias (Hg.), Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen, Zürich, 2008.

BILDNACHWEISE S. 11: Paul Senn, Verdingbuben in einer Anstalt des Kantons Solothurn, um 1935 S. 14: Paul Senn, Das Mittagessen in der Bergschule. Adelboden, 1940 S. 28: Paul Senn, Der Schlaf im Wirtshaus, 1935 S. 33: Paul Senn, Getreideernte im Emmental. Wattenwil, 1934 Credits: Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Kunstmuseum Bern, Depositum Gottfried Keller-Stiftung. © Gottfried Keller-Stiftung, Bern. Probenfotos: Christian Kleiner

KONZERT THEATER BERN intendant Stephan Märki schauspieldirektor Cihan Inan spielzeit 2017.2018 inhalt & redaktion Fadrina Arpagaus konzept & gestaltung formdusche, Berlin layout Murielle Bender, Konzert Theater Bern druck Haller + Jenzer AG, 3400 Burgdorf

redaktionsschluss 29. September 2017 | Änderungen vorbehalten.

Preise: Einzelheft: chf 5,– im Vorverkauf und an der Abendkasse

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Spitalgasse 14 · Bern · 031 311 23 67 · zigerli-iff.ch


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