schauspiel – –
FREIGÄNGER ANNA PAPST
1
FREIGÄNGER Anna Papst | Uraufführung
regie Anna Papst konzept Anna Papst, Mats Staub bühne Annatina Huwiler kostüme Jasmine Lüthold video Elvira Isenring licht Rolf Lehmann dramaturgie Fadrina Arpagaus regieassistenz & abendspielleitung Myrtha Bonderer walter künzler, felix lehmann, ruedi szabo Jeanne Devos joel weber, sybille zschokke, sämi szabo, irmela koch Florentine Krafft adrian berger, elmar habermeyer, beni szabo Grazia Pergoletti stimme Gabriel Schneider
technischer direktor Reinhard zur Heiden leiter bühnenbetrieb Claude Ruch leiter werkstätten Andreas Wieczorek leiterin kostüm & maske Franziska Ambühl produktionsleiterin bühnenbild Konstantina Dacheva produktionsleiterin kostüm Sarah Stock Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers von Konzert Theater Bern hergestellt. co-leitung malsaal Susanna Hunziker, Lisa Minder leiter schreinerei Markus Blaser leiter schlosserei Marc Bergundthal leiter dekoration Daniel Mumenthaler leiterin maske Carmen Maria Fahrner gewandmeisterinnen Mariette Moser, Irene Odermatt, Gabriela Specogna leiter requisite Thomas Aufschläger leiter beleuchtung Bernhard Bieri leiter audio-video Bruno Benedetti Leiter Vidmar Marc Brügger
2
PREMIERE 24. Januar 2019, Vidmar 2
Partner Maske
AUFFÜHRUNGSDAUER 1 h 30 min, ohne Pause
Die Autorin dankt allen GesprächspartnerInnen, den Direktionen der jva Witzwil und jva Lenzburg sowie Heike Dürscheid.
Dr. Hauschka
IMPRESSUM AUFFÜHRUNGSRECHTE Die Aufführungsrechte liegen bei der Autorin. BILD- UND TEXTNACHWEISE
Probenfotos vom 22. Januar 2019: Christian Kleiner Ausgang Barcelona ist ein Originalbeitrag für dieses Heft. 52 Stunden Halbfreiheit ist der Ausschnitt eines Gesprächsprotokolls von Anna Papst. KONZERT THEATER BERN vorsitzender der geschäftsleitung a.i. Anton Stocker schauspieldirektor Cihan Inan spielzeit 2018.2019 inhalt und redaktion Fadrina Arpagaus konzept und gestaltung formdusche, Berlin layout Murielle Bender, Konzert Theater Bern druck Haller + Jenzer AG, 3400 Burgdorf Redaktionsschluss: 14. Januar 2019 | Änderungen vorbehalten..
3
AUSGANG BARCELONA Zum Stück
Im offenen Vollzug von Witzwil gibt es keine roten Linien für die Insassen, die verbotene Zonen deklarieren. Bloss rote Streifen auf den Arbeiterhosen, die ihren Status als Gefangene markieren. Sichtbar im «Drinnen», der Sichtbarkeit entzogen im «Draussen»: ein Leben im Negativ. Für Freigänger, ihre neue «Reportage fürs Theater», hat die Autorin und Regisseurin Anna Papst drei Jahre lang recherchiert und rund dreissig Gefangene, ihre Angehörigen sowie Justizvollzugsbetreuer*innen, Strafrechtsexpert*innen und Gefängnisdirektoren zu Gesprächen getroffen. Entstanden ist ein Panorama des Sitzens und Strafens in der Schweiz. Die interviewten Gefangenen befinden sich in unterschiedlichen Stadien ihrer Gefangenschaft: Manche sind zum ersten Mal inhaftiert, andere lebenslänglich verwahrt. Einige machen gerade ihre ersten Schritte in Freiheit, andere haben den Weg der Resozialisierung derart konsequent beschritten, dass sie nun andere auf dieser Strecke begleiten. Und einer ist ausgebüchst: Anstatt seine Haft anzutreten, ist er nach Barcelona verschwunden. Die Währung einer «Reportage fürs Theater» sind erzählte Biografien. Alle Texte von Freigänger sind Originalprotokolle der Gespräche, die die Autorin für ihr Stück gekürzt, neu montiert und so verdichtet hat. Eine Reportage macht sichtbar, was nicht öffentlich ist oder öffentlich versprachlicht wird, sie folgt subjektiven Blicken auf die Wirklichkeit, sie wertet nicht. Anna Papst hat ausschliesslich männliche Strafgefangene getroffen und sich gleichzeitig dafür entschieden, die Sätze ihrer Gesprächspartner von weiblichen Schauspielerinnen sprechen zu lassen. Jeanne Devos, Florentine Krafft und Grazia Pergoletti imitieren ihre realen Vorbilder nicht, sondern benutzen bestimmte Gesten, Körperhaltungen und Erzählweisen, um das Gesagte zu unterstützen. Wir sehen darum keine Theaterfiguren auf der Bühne, sondern Spielerinnen, die anderen, den Unsichtbaren, ihre Körper leihen. Ihre Geschichten werden dadurch nicht verfremdet, ihre Stimmen nicht verfälscht. Die Gefangenen bekommen einfach eine Stellvertreterin, die sie im Draussen sicht- und hörbar macht und sie so aus ihrem Ausserhalb ins Drinnen, in die Mitte der Gesellschaft, zurückholt. Trotzdem bleibt ihre Abwesenheit ganz klar markiert: eben darum, weil sie nicht selber vor uns stehen und für sich sprechen können. Es sind nicht in erster Linie «psychisch kranke» Menschen, von denen Freigänger berichtet, sondern Männer mit einer Arbeit und einem Alltag, mit Familien, Frau-
4
en und Freunden. Es sind Geschichten von Überschätzung und Überforderung, vom Scheitern am eigenen Wollen und Wünschen. Die Gespräche kreisen um ihre Strafe oder ihre Schuld, manche bloss um den Fernseher im Aufenthaltsraum. Etwas ist aber immer Thema: die Vorstellung von einem Leben in Freiheit. Was bedeutet es, frei zu sein, und wer ist freier: diejenigen, die sich innerhalb der legalen Strukturen einer Gesellschaft maximal entfalten können, weil sie ihnen Rückhalt bieten, oder die, die diese Leitplanken immer wieder in vollem Bewusstsein überschreiten? Was Freiheit bedeutet, ist persönlich und intim. Sie kann darin liegen, sich am Berner Hauptbahnhof vom Sog einer Menschenmenge mitreissen zu lassen oder an einem sonnigen Morgen am Ufer eines Sees ganz still zu werden. Sie kann aber auch meinen, sich selbst Gefühls- und Erfahrungswelten auszusetzen, die andere Mitmenschen niemals beschreiten möchten. Wie auch immer wir diese Frage für uns beantworten: Freiheit liegt in der Möglichkeit, nach den eigenen Massstäben zu entscheiden, zu handeln und zu leben. Für diese Freiheit nehmen die Männer, von denen dieser Abend erzählt, immer wieder die eigene Unfreiheit in Kauf. Manchmal, weil sie nicht anders können, manchmal, weil sie es so wollen. Freigänger zeigt Menschen, die ihre Entscheidungen anders treffen, als es die juristischen und moralischen Leitlinien unseres Zusammenlebens vorgeben; Linien, die nichts anderes sind als ein kollektiver Konsens und damit zwar gesellschaftlich verhandelt, aber selten verhandelbar. Jedes Leben lebt von Grenzüberschreitungen, auch das unsere. Aber es ist etwas anderes, wenn uns die Grenzüberschreitungen anderer plötzlich mitbetreffen. In Freigänger werden wir konfrontiert mit Verbrechen, die wir im besten Fall empathisch verstehen, im schlimmsten Fall zutiefst verachten und verurteilen, weil sie unsere Vorstellungen von Menschlichkeit und Gerechtigkeit verletzen. Doch mit einer Meinung kommen wir nicht davon, denn die Inszenierung zementiert keinen Status quo: Die Insassen werden eines Tages wieder frei sein. Müssen sie das? Wollen wir das? Hier werden Grenzen beschritten, überschritten, neu gezogen, wenn wir gefragt werden, ob wir neben dem Ex-Posträuber oder dem therapierten Vergewaltiger wohnen wollen. Die gedankliche Überschreitung der roten Linie der eigenen Akzeptanz und die Überwindung der Ablehnung könnte etwas sein, was diese Inszenierung anbietet – mit dem Ziel, eine Gesellschaft emotional vorstellbar zu machen, in der auch diejenigen Platz haben, von denen man sich eigentlich wünscht, dass sie für immer draussen bleiben. Das zu denken ist schwierig. Es zu fühlen fast nicht möglich. Aber dennoch: Es ist machbar. Fadrina Arpagaus
5
52 STUNDEN HALBFREIHEIT Protokoll eines Gesprächs von Anna Papst mit Roger Sieber*, JVA Witzwil
Es ist extrem belastend, eine Partnerin zu haben, wenn man hier drin ist. Ehrlich gesagt denke ich oft, es wäre besser für uns beide, wenn wir uns nicht kennen würden und nicht in diese Situation geraten wären. Richtig zusammen sein, in Freiheit, kann man nur alle sieben Wochen für ein Wochenende. Es ist jedes Mal dasselbe: Der Hafturlaub dauert 52 Stunden. Der Freitagabend ist davon geprägt, dass man sich einander annähert. Man muss sich in gewisser Weise neu kennenlernen. Die Zeit in Haft verändert mich ja. Nicht unbedingt im positiven Sinne. Das Soziale, das ich mir ursprünglich einmal angeeignet hatte, geht hier drinnen zwangsläufig verloren. Meine Partnerin merkt das natürlich, besonders in den ersten Stunden, die ich mit ihr draussen verbringe. Sie weist mich auch darauf hin: Das kenne ich gar nicht von dir! Ich bin auch mehr zum Einzelgänger geworden, seit ich hier bin. Meine Partnerin kann das nicht verstehen: Du hast viele Leute hier drin, warum unterhältst du dich nicht mit denen? Eigentlich stimmt das schon. Aber ich habe gemerkt, dass ich mit 98 Prozent der Leute, die mit mir hier drin sitzen, kein Gespräch führen oder überhaupt etwas zu tun haben will. Weil ich einfach gewisse Sachen von ihnen weiss und sehe, wie sie sich artikulieren und verhalten, und das nicht das ist, was ich kenne und gelernt habe. Somit grenze ich mich konsequent ab. Ich habe mir auch einen Arbeitsplatz gewünscht, an dem ich alleine bin, denn ich rege mich schnell auf, wenn nicht richtig gearbeitet wird. Man hat mir den Pferdestall vorgeschlagen. Ich bin verantwortlich für die alten Pferde, sechzehn aufwärts, die nirgends mehr hingehen. Wenn ich mit anderen Gefangenen verkehren muss, mache ich das. Aber ich reduziere es aufs Minimum. Darum bin ich es auch nicht mehr gewohnt, mich mit jemandem länger zu unterhalten. Wenn ich Urlaub habe, bin ich jedes Mal wieder überrascht, wie viel meine Partnerin reden will. Ich kann dann nicht sagen, es ist mir zuviel. Ich sage: Ich gehe eine rauchen. Dann fängt die nächste Diskussion an: Warum rauchst du wieder? Es dauert eine Weile, bis ich mein «Drinnen-Ich» abgelegt habe und wieder mein «Draussen-Ich» bin. Am Samstag ist es jeweils richtig schön. Man kann machen, was man geplant hat und man fühlt sich wieder so wie … wie bevor das alles passiert ist. Der Sonntag ist ein Riesenstress. Am Sonntagmorgen, wenn ich aufwache, weiss ich: Ach. In ein paar Stunden muss ich schon wieder zurück. Ich gerate in einen Zeitstress, meine Partnerin auch, und dann artet es in Streitereien aus. Dann ist der Hafturlaub auch schon wieder vorbei.
6
«ES IST EINE CHANCE, ZU BEGREIFEN, DASS WIR HIER KEINE MENSCHEN MACHEN. WIR SIND KEINE INDUSTRIE FÜR GUTE BÜRGER.» Sybille Zschokke*, 35, Mitarbeiterin Justizvolllzug, JVA Witzwil
Jeanne Devos, Florentine Krafft, Grazia Pergoletti
7
« ICH MÖCHTE SCHAUEN, DASS ICH, WENN ICH RAUSKOMME, MEINE FREIHEIT BEHALTEN KANN. ICH VERSUCHE ES. HM. KANN NICHT SAGEN, ICH … ES IST HUNDERTPROZENTIG, ABER … ICH VERSUCHE ES. JA. » Walter Künzler*, 53, JVA Witzwil
* Alle Namen geändert
8