Susanne Loewit
TIROLER SAGEN Bis in alle Gegenwart
INHALT Vorweg
7
Die Sennin und der Teufel
8
Der Teufelstänzer
16
Der Schrei des Kuckucks
28
Maultasch Rusilena
Der silberne Löffel Gebirgsidylle
Geiz
Die Buttererhofhexe
Die Pfarrköchin
Der Jaudenstein
Die Wilde Jägerin
Die Wilden Fräulein am Ferner Die Wilde Sennerspitze Der Nixenteich
Die Frau von Hochgalsaun Jutta von Braunsberg
22 32 36 40 46 50 54 62 66 70 78 84 92 96
Die Edelfrau von Sprechenstein
102
Die unverwischbaren Flecken von Schloss Bruck
112
Die Dame von Hauenstein
Das Schloss Greifenstein
106
118
Die Entdeckung der Falkensteiner Silbererze
122
Abbildungsverzeichnis
126
Quellen
127
Anmerkungen
Zu den Bildern
Autorin & Malerin
126 127 128
VORWEG Es ist spannend, wenn eine Germanistin und Malerin die Inhalte überlieferter Sagen aus Nord-, Ost- und Südtirol neu aufbereitet und in die heutige Zeit übersetzt. Die Auswahl der in diesem Band neu erzählten Texte greift Orte, Ereignisse, Personen und Lebensgeschichten auf, die sich in ähnlicher Weise immer wieder abgespielt haben. Große Themen wie Liebe, Eifersucht, Schuld, Versöhnung, Verrat, Bestrafung und Tod nehmen zentralen Raum ein. Die ganze Aufmerksamkeit der Autorin gilt den Charakteren und psychologischen Zusammenhängen – der Vielzahl menschlicher Verhaltensweisen und Erfahrungen, denen sie in Text und Bild nachspürt. In den großformatigen Illustrationen werden Modelle aus dem persönlichen Umfeld der Künstlerin zu Hauptdarstellern der einzelnen Sagen. Sie verleihen den Sagenfiguren faszinierende Lebendigkeit und ein zeitgenössisches Gesicht. Gleichzeitig verweisen sie auf die unaufhörliche Wiederkehr grundlegender menschlicher Erfahrungen „bis in alle Gegenwart“.
5
DIE UND SENNIN DER TEUFEL Aus Kössen, Nordtirol
Hoch über Kössen liegt die Eggeralm mit herrlichem Ausblick zum Zahmen Kaiser. Auf dieser Alm im östlichsten Teil des Tiroler Unterlands wurde stets ausgelassen getanzt und gefeiert. Eine junge Sennerin tat einst dort oben ihre Arbeit. Sie war überaus hübsch mit langem, dunklem Haar, dem intensiven Blick ihrer kastanienbraunen Augen und den vollen, roten Lippen ihres leicht geöffneten Mundes. Alles an ihr strahlte Sinnlichkeit und Lebensfreude aus. Sie war bei den Sennern der umliegenden Almen nicht nur ihrer Schönheit wegen begehrt, sondern auch aufgrund der Leidenschaftlichkeit ihres Temperaments, mit der sie sich der Musik und dem Tanz hingab. Keiner versäumte eine sich bietende Gelegenheit, um mit der Sennerin zu tanzen. So war die Alm zu einem Treffpunkt für alle geworden, die Musik und Tanz liebten und mit der Sennerin und anderen jungen Mädchen zusammen sein wollten.
Wenn der Sommer kam, begann das Herz der Sennerin höherzuschlagen. Sie konnte es kaum erwarten, bis der Zeitpunkt da war, an dem sie mit den Tieren auf die Alm zog. Dort blieb sie den ganzen Sommer lang und fühlte sich eins mit der Natur und dem ihr anvertrauten Almvieh. Sie liebte den Duft der Bergmähder und den weiten Blick ins Tal. Dieses Leben war genau richtig für sie, denn sie war ein Mädchen, das sich nicht gern bevormunden ließ. Als Sennerin besaß sie mehr Freiheiten als die Bauernmagd und verfügte über eine gewisse Eigenständigkeit. Sie war nicht unmittelbar dem Willen ihres Dienstgebers unterworfen. So liebte sie ihre Arbeit, auch wenn diese nie enden wollte. Mit natürlichem Selbstverständnis verrichtete sie die täglich anstehenden Aufgaben: Sie molk die Kühe, schöpfte den Rahm ab und verarbeitete die Milch zu köstlicher Butter und würzigem Käse. Da sie sich aus freien Stücken für dieses Leben entschieden
7
hatte, klagte sie auch nicht, wenn ihre Hände von der Arbeit gerötet und aufgeraut waren. Auf der Alm war sie mit sich und ihren Gedanken oft allein. Obwohl sie gelernt hatte, mit der Einsamkeit umzugehen, fiel ihr die Abgeschiedenheit nicht immer leicht, und an manchen Tagen legte sich ein dunkler Schatten auf ihr Gemüt. Sie war seltsam berührt davon, denn tief im Herzen spürte sie eine brennende Gier nach Leben. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass ihr etwas Wesentliches fehlte, um dauerhaft glücklich zu sein. Eine unerwartete Sehnsucht nach Leichtigkeit und Ausgelassenheit quälte sie: Wann konnte die Sennerin schon ihrem Temperament ungezügelt freien Lauf lassen? Allzu
8
selten bot sich dazu Gelegenheit. Nur dann ging es heiß her, wenn die Senner der Umgebung mit ihren Mädchen zur Eggeralm kamen, um bis spät in die Nacht aufzuspielen und zu tanzen. Dann erfüllte der Klang von Ziehorgel und Zither die Almstube, und der Boden bebte unter den Tritten und Sprüngen der Tanzwütigen. Diese Abende waren ganz nach dem Geschmack der jungen Sennerin, die Musik und Tanz mehr als alles andere liebte und keinen Tanz ausließ. Die temperamentvolle junge Frau aus dem Kaiserwinkl tanzte für ihr Leben gern – sie hatte die Musik im Blut. Dabei glühten ihre Wangen, und sie spürte ihr freudig pochendes Herz. In diesen Momenten
9
schien sie die Welt um sich und die Härten des Lebens zu vergessen. Dann war sie ganz sie selbst, wenn auch nur für kurze Zeit. Wieder war eines Abends das Tanzen angesagt. Seit Tagen fieberte die Sennerin dem Ereignis entgegen – es würde eine willkommene Abwechslung sein und zu kostbar, um darauf zu verzichten. Noch aber wollte keine Stimmung aufkommen, denn nur eine Freundin war da, um der Sennerin Gesellschaft zu leisten. Voller Ungeduld warteten die beiden auf die Ankunft der Tänzer und Musikanten. „Wann kommen sie, wie lange lassen sie uns warten?“, seufzte die Sennerin mit sehnsüchtigem Blick nach draußen. Es sah düster und regnerisch aus, dunkle Wolken hingen am Himmel. Das lange Warten fiel den Mädchen schwer, ihre Anspannung wuchs. Je mehr die Freundin versuchte, die Sennerin abzulenken oder aufzumuntern, desto deutlicher empfand diese die Leere und Langeweile ihres jungen Lebens, denn sie hatte nur noch das Tanzen im Sinn. Auch war es in der Almstube mittlerweile ungemütlich geworden. Der Wetterwind pfiff durch die Ritzen des Gebälks, die Holzläden schlugen krachend gegen das Fenster. Ein Gewitter war im Anzug. Daher würde gewiss keiner mehr den beschwerlichen Aufstieg wagen! Der Gesichtsausdruck der jungen Sennerin verdüsterte sich. Schließlich konnte sie mit ih-
10
ren Gefühlen nicht länger hintanhalten, und trotzig brach es aus ihr hervor: „Ich will tanzen, tanzen will ich – mir ist jeder recht, selbst wenn es der Teufel wäre!“ Diese Worte machten die Freundin schaudern. Sogar die Sennerin erschrak angesichts ihrer unverfrorenen Äußerung. Erschüttert ergriff die Freundin das Wort: „Was hast du da gesagt? Weh dir“, herrschte sie die junge Sennerin an. „Weißt du denn nicht, dass du damit den Leibhaftigen herbeigerufen hast?“ Und etwas gemäßigter fuhr sie fort: „Du Ärmste, das wirst du büßen müssen! Solcher Frevel bleibt nicht ungestraft!“ Wie gern hätte die Sennerin ihre Worte zurückgenommen! Was war über sie gekommen? Wie hatte sie es nur wagen können, den Teufel zu rufen! Große Angst erfasste sie, damit schlimmes Unheil heraufbeschworen zu haben. Bedrückt machten sich die Mädchen auf ein Zeichen der Vergeltung gefasst. Sie schwiegen und horchten in die Stille hinein, aber da war nichts, das sie weiter beunruhigt hätte. Nichts als große Stille ringsum! Auch hatte sich das drohende Gewitter mittlerweile verzogen. Stattdessen tat sich ein wunderbares Naturschauspiel vor ihnen auf – ein Wetterleuchten tauchte die nächtliche Landschaft für kurze Augenblicke in taghelles Licht. Als sich darauf am Himmel die Sterne zeigten, begannen die Mädchen wieder Mut zu schöpfen,
und ihre Angst legte sich. Ein fernes Jodeln ertönte über der Alm: „Hörst du das?“, fragte die Sennerin überrascht, denn es schien ihr verheißungsvoll – hatte sie doch längst die Hoffnung aufgegeben, dass noch einer kommen würde. „Wie schön das klingt! Das muss wohl ein flotter Bursche sein, wenn einer so jodelt wie der!“, meinte sie und sah ihrer Freundin erwartungsvoll in die Augen. Als das Jodeln immer deutlicher zu vernehmen war, begann sich die Stimmung der Sennerin vollends aufzuhellen. Schließlich näherten sich Schritte der Almtür, und ein stattlicher Mann in schmucker Jägertracht betrat die Stube. Sein einnehmendes Äußeres und die Selbstsicherheit seines Auftretens verfehlten ihre Wirkung nicht. Unverhohlen und neugierig musterten die Mädchen den Fremden, dem sie zuvor noch nie begegnet waren, der aber die Sennerin vom ersten Augenblick an in seinen Bann zog. Wer konnte schon diesem verwegenen Lächeln, den funkelnden Augen und einladenden Gesten widerstehen? Eine beinahe magische Anziehung ging von ihm aus – es mochte wohl am seltsam diabolischen Glanz in seinen Augen liegen! Die Sennerin versuchte zwar, sich ihrer Gefühle zu erwehren, doch sie spürte, dass sie machtlos war. Sollte sie ihn nun ziehen lassen, nachdem sie so lange auf ihn gewartet hatte? Ihr Warten durfte nicht vergeblich gewesen sein! Nichts
würde sie zurückhalten können! Daher beschloss sie, dem Unbekannten auf den Tanzboden zu folgen! Der Fremde fasste sie an den Schultern und zog sie an sich. Ihrem Gesicht ganz nah, konnte sie seinen Atem spüren. Körper an Körper geschmiegt, tanzte er mit ihr zu der fröhlichen Tanzmusik, die in der Stube erklang. Woher sie kam, kümmerte die Sennerin weiter nicht, denn sie wiegte sich in den Armen des Unbekannten, der mit ihr den Raum durchschritt und sie triumphierend in die Höhe hob. Der Tanz hatte langsam begonnen, zunehmend aber erhöhte sich das Tempo, steigerte sich fortlaufend und wurde immer rasanter, bis der Tänzer das Mädchen schließlich in immer schnellerem Wechsel mit sich riss und zu den atemberaubenden Rhythmen über die Tanzfläche wirbelte. Die Musik war wild und unbändig geworden, und die Sennerin bekam es zunehmend mit der Angst zu tun. Spürte der Fremde nicht ihr rasendes Herz, ihre Atemnot – hatte er denn kein Erbarmen? Verzweifelt versuchte sie, sich aus den Armen des Jägers zu befreien. Dieser aber hielt sie fest mit eisernem Griff. Aus der Stubenecke dröhnte in ohrenbetäubender Lautstärke die Musik, sodass es nahezu körperlich schmerzte. Dort lehnte der Tod mit einem knöchernen Bogen in der Hand, mit dem er über die Saiten seiner Geige strich.
11
12
Die Sennerin zitterte vor Todesangst: „So hilf mir doch, ich sterbe!“, rief sie der Freundin zu. „Hol einen Priester, schnell!“ Bisher hatte die Freundin bloß tatenlos zugesehen, nun aber lief sie schleunigst los, um Rettung zu holen. Nur ein Geistlicher wäre imstande, die Unglückliche aus der tödlichen Umklammerung zu lösen! Doch als die Freundin mit dem Priester endlich zurückkehrte, hatte die arme Sennerin bereits ihren letzten Atemzug getan. Gerade noch Inbegriff blühenden Lebens, war nun alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen, die Haut bleich und fahl geworden. Schwer sank ihr Körper zu Boden – ohne ein letztes hoffnungsvolles Lebenszeichen. Keiner vermochte ihr das Leben zurückzugeben, niemand konnte die Unglückliche retten. Es war beklemmend still geworden in der Stube, die Musik längst verstummt. Der Fremde und sein Begleiter, der Tod, waren unauffällig verschwunden. Nur noch der Priester und die Freundin des Mädchens standen bei der Toten. Erschüttert musste der Priester sich eingestehen, dass seine Predigten umsonst gewesen waren. Zwar hatte er die Jugend vor dem Tanzen und anderen sinnlichen Vergnügungen gewarnt, nun aber war es zu spät für die Sennerin der Eggeralm. Noch immer bewegt ihr Schicksal die Herzen der Menschen in Kössen, und niemand kann verstehen, weshalb die heißblütige Sennerin ihre Tanzleidenschaft mit dem Leben bezahlen musste.
13
Wenn sich die Malerin und Germanistin Susanne Loewit alten Sagen aus Nord-, Ost- und Südtirol annähert und sie bildlich in die heutige Zeitt versetzt, wird es spannend. Die Auswahl in diesem Band führt die zeitlose Gültigkeit der überlieferten Texte vor Augen, in denen große Themen wie Liebe, Eifersucht, Schuld, Versöhnung, Verrat, Bestrafung und Tod zentralen Raum einnehmen. Den von alten Rollenbildern und schicksalhaften Konstellationen geprägten Geschichten gilt die Aufmerksamkeit der Autorin. Sie stellt die Inhalte in einen Kontext zur Gegenwart, spürt in Text und Bild den Charakteren und psychologischen Zusammenhängen nach und erzielt damit eine faszinierende Lebendigkeit. Für die Illustrationen wählte die Künstlerin Modelle aus ihrem persönlichen Umfeld. Deren Persönlichkeit, die behutsam gewählten Bildausschnitte und der Fokus auf Haltung, Mimik und Gestik verdichten die Aussage.
Susanne Loewit, 1959 in Reith/Alpbach geboren, wuchs in Landeck auf und studierte nach der Matura Germanistik und Musik an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Neben ihrer künstlerischen Arbeit unterrichtete sie bis 2012 an mehreren Allgemeinbildenden Höheren Schulen. Susanne Loewit rückt als Autorin und Illustratorin des vorliegenden Sagenprojekts die unendliche Gegenwärtigkeit und inhaltliche Essenz der tradierten Geschichten textlich und bildlich in greifbare Nähe.
ISBN: 978-3-85093-372-8
www.berenkamp-verlag.at w w w.kraftplatzl.com