Dietmar Wachter
Inspektor Matteo ermittelt Sein letzter Fall
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Dietmar Wachter
Inspektor Matteo ermittelt Sein letzter Fall
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Alle Rechte vorbehalten © 2017 Berenkamp www.berenkamp-verlag.at ISBN 978-3-85093-368-1
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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„Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort, dort treffen wir einander.“ Dschalal ad-Din Muhammad Rumi Persischer Mystiker
Gruselkabinett Nach über drei Jahrzehnten Polizeidienst hatte sich auch der alte Tiroler Kriminalinspektor Matteo Steininger das Prädikat „abgebrüht“ verdient, und es gab wohl nur wenig Spektakuläres, Sonderbares oder Trauriges, was ihm in seiner Karriere bisher noch nicht untergekommen wäre. Er hatte mit Erhängten, Geräderten, Erstochenen, Vergifteten, Erschossenen und Verwesten zu tun, ein wahres Gruselkabinett an morbiden Erinnerungen schlummerte tief in seiner Seele. Doch als er sich an einem schwülen Sommertag des Jahres 2013 ins kühle Kellerarchiv zurückzog, um ein wenig auszuruhen und die leeren Akkus aufzuladen, stach ihm eine vergilbte Zeitung ins Auge, die in einer kaputten Schublade lag, die windschief in einem noch desolateren Schrank steckte. Er blätterte die Tageszeitung durch und las, dass der pazifische Inselstaat Tuvalu in die Vereinten Nationen aufgenommen und ein Korrespondent aus Tadschikistan in seiner Wohnung mit einer Axt erschlagen worden war. Auch erfuhr er, dass in Argentinien Wrackteile eines seit 1947 verschwundenen Flugzeugs gefunden worden waren. Matteo blickte auf das Erscheinungsdatum und konnte nur September 2000 entziffern; Mäuse und Ratten hatten ganze Arbeit geleistet. Steininger verzog sich auf das Klosett und blätterte weiter. Zwischen einem Felssturz in Schwaz, einem Kochrezept für Tiroler Knödel, dem –5–
Tageshoroskop und dem Almabtrieb im hintersten Ötztal fiel dem alten Haudegen ein schockierender Artikel auf, der in einer winzig kleinen Spalte unter Internationale Meldungen zu lesen war. Ein Straßenmusikant aus dem Osten habe auf deutschen Jahrmärkten seine kleine Tochter Männern überlassen und je nach Dauer des Vergnügens kräftig abkassiert. Steininger empfand beim Abrollen des Klosettpapiers tiefste Verachtung für den Kerl. „Ich scheiß’ auf solch‘ kaputte Typen“, schimpfte Matteo vor sich hin, als er sich den Hintern putzte. Er warf die Tageszeitung ins Altpapier und befasste sich wieder mit dem einzigen Fall, der derzeit auf seinem Schreibtisch lag – ein leidiger Akt, dem die nötige Reife fehlte und der daher noch immer auf seine Erledigung wartete. Ein belgischer Tourist hatte sich nicht nur vom Geläut der Landsteiner Kirchenglocken gestört gefühlt, sondern auch vom Gockel des benachbarten Bauern, der ihn täglich frühmorgens aus den Federn gekräht hatte. Kurzerhand hatte der Belgier eine Hacke zur Hand genommen und versucht, dem Hahn die Rübe abzuschlagen. Der hatte sich heftig gewehrt und war dem Urlauber mit seinem Schnabel und den scharfen Zehen ins Gesicht gefahren. An dieser Stelle war der Bauer Karl Hofmeister ins Spiel gekommen, der gerade die Kühe gemolken und seinen Kostgänger jämmerlich schreien gehört hatte! Er war zum Hühnerstall geeilt, wo das ländliche Spektakel seine Fortsetzung gefunden und in eine handfeste Rauferei mit dem renitenten Urlaubsgast gemündet hatte. Summa summarum: In aller Herrgottsfrüh ein Riesenauflauf in der Landsteiner Pampa, Rettung und Notarzt waren zum Stadtrand geeilt, um die Wunden des Belgiers zu versorgen. Steininger blieb nichts anderes übrig, als gegen seinen Freund Karl zu ermitteln. Der Akt langweilte ihn zutiefst, und er warf ihn in die Schublade, als ihn die Kopfhaut zu –6–
jucken begann. Als er später unter den Händen seiner Leibfriseuse Trude Reisenhofer saß und sich den Haarboden mit feinsten Kräutershampoons massieren ließ, diskutierte er mit ihr über das schlimme Verbrechen an dem hilflosen Mädchen, über das er heute gelesen hatte. Die kinderlose Trude ging mit diesem Thema allerdings recht locker um und sah solche Ferkeleien allgegenwärtig. „Matteo, schlag die Zeitungen auf und sag mir, was in unserer verrückten Welt noch normal sein soll?“, philosophierte sie und erwähnte eine Gruppe von Männern und Frauen, die in Frankreich ein psychisch labiles Mädchen als Sklavin gefangen gehalten und sexuell schwer misshandelt hatten. Oder eine Schülerin in Philadelphia, die ihre Mutter vergiftet hatte, weil ihr von dieser das Handy abgenommen worden war. Oder einen jungen Herrn aus Bolivien, der mit dem abgetrennten Kopf seiner Mutter spazieren gegangen war. Trude schien sehr belesen zu sein, und Matteo legte mit der Geschichte des jungen Chinesen das Trumpfass nach; dieser hatte seine Eltern ermordet, deren Leichen zerstückelt, gesalzt, gekocht und seinen Freunden mit Reis und Sojasauce serviert hatte. Das Herz hatte er in der Kühltruhe aufbewahrt, das würde er wohl demnächst mit Zwiebeln, Majoran und Lorbeerblättern auftischen? „Weniger Theater machte ein junger Österreicher, der seinen Freund erschoss und gemeinsam mit seinem Großvater die Leiche verscharrte“, warf die rothaarige Apothekersgattin Reinhilde von Hornauer ein, die neben Steininger unter der Haube saß. „Matteo, du kannst jede Zeitung aufschlagen, die hier herumliegt. Überall die gleichen Schreckensmeldungen. In Bayern verschwindet am helllichten Tag ein fünfjähriges Mädchen spurlos von einem Spielplatz, in Oberösterreich fesselt eine Prostituierte ihren Freier an einen Heizkörper und fackelt –7–
die Wohnung ab, in Italien hält ein Mann eine junge Frau monatelang in seiner Wohnung gefangen und missbraucht sie, und in Südafrika vergewaltigen und töten zwei junge Männer eine fast neunzigjährige Nonne!“, legte Reinhilde noch ein paar üble Geschichten aus dem Tagesgeschehen nach. „Du hast völlig recht, von diesen schrecklichen Dingen und Sexualdelikten liest man schon fast jeden Tag!“, warf die Gemeindesekretärin Erika Schaumburger ein, die Dame mit der weißen Leber, die gerade an der Kasse für die Maniküre bezahlte. Trude stutzte Steininger noch den Ohrenbart und erzählte von abscheulichen Übergriffen in Internaten und Erziehungsheimen, und Matteo war sich nicht mehr ganz sicher, ob er dem Straßenmusiker im friedlichen Salon der Trude Reisenhofer nicht an Ort und Stelle den Kragen umgedreht hätte, wäre er bei der Tür hereinspaziert. Nur gut, dass Matteo zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass er in den letzten zwei Jahren seiner Polizeikarriere noch tief in diesen Fall hineingezogen werden würde. Viel tiefer, als ihm lieb sein sollte. Der Fisch zappelt Ein zartes Mädchen mit rabenschwarzen Haaren liegt im Sommer 2001 regungslos am Strand eines kleinen Badeorts am Gardasee. Beine und Unterleib treiben im seichten Wasser, die dünnen, feinen Arme umklammern verkrampft den glitschigen Holzpflock eines Bootsstegs. Möwen und Enten zanken um Brot, das ihnen zwei voll tätowierte junge Damen brockenweise ins Wasser werfen. Passanten stehen ratlos herum, braun gebrannte Frauen mit Badetüchern unter dem Arm, Kinder mit Schwimmreifen und Väter, Opas und Omas, –8–
vollbepackt mit Zeitschriften, Kühltaschen und Sonnenschirmen. „Ist sie tot?“, fragt ein dicker, älterer Kerl mit Glatze und protzigen Goldketten am Hals, der auf einer Bank sitzt, an der Rolle seiner Angelrute dreht und gemächlich den Köder einholt. „Nein, eher nicht! Sehen Sie nicht, das Mädchen atmet noch und bewegt ab und zu seine kleinen Finger. Sicher ein Zigeunerkind, ein Sprössling dieser lästigen Landfahrer aus dem Osten, die bei uns hausieren und ihren Müll auf unseren Campingplätzen zurücklassen. Stinkende Roma, die unsere Gäste belästigen, sie bestehlen und mitunter ausrauben! Lass sie liegen, die Göre, die findet schon wieder zu ihrer Sippe, wenn sie ausgenüchtert ist“, lästert die dicke Alte mit dem adretten Sonnenhut, bevor sie an ihrer Eistüte weiterknabbert. Sie gehen einfach weiter. Der Angler freut sich über einen Cavedano, der im Kescher zappelt, und summt vergnügt eine Arie aus Verdis Don Carlo. Niemand beachtet das Mädchen und sieht die blauen Flecken auf seinem zierlichen Körper. Keinem fallen die frischen Wunden im Gesicht und das Blut auf seinem bunten Kleid auf. Später kriecht es durch den feinen Sand hinauf zur Seepromenade, rappelt sich auf und schleppt sich an einer Steinmauer entlang zu einem großen Eisentor, das zu einer Villa führt. Ein Hund kläfft im Nachbarsgarten, und sein Kopf hämmert wie verrückt. Verschwommen nimmt es im üppig bewachsenen Garten Zitronen- und Olivenbäume wahr, Oleander, Zypressen und Agaven. Es verkriecht sich wie eine waidwunde Kreatur zwischen Hecken, Mandelbäumen und duftenden Rosenstöcken. Das Mädchen legt sich auf den warmen, weichen Boden und ballt seine Fäuste. Es verzerrt sein Gesicht, sein Körper zuckt und spielt verrückt. Überall schmerzt es. Nur den Unterleib spürt es nicht mehr. Irgendwann fällt es in leichten Schlaf und –9–
träumt vom Schutzengel und von den liebenswerten Menschen in seiner Heimat Rumänien. Es sieht Onkel Florin mit dem markanten Schnurrbart, Frack und Zylinder, der in der Manege versucht, zwei niedlichen Schimpansen in Matrosenanzügen das Schreiben beizubringen. Dann die Wagen der Fahrenden mit der bunten Welt der Schausteller, Dompteure, Messerwerfer, Kunstreiter und Zauberer. Der bizarre Kosmos des Außergewöhnlichen mit all seinen Schlangenmenschen, Frauen mit Schwanenhälsen und Männern, die vor dem staunenden Publikum eine Glühbirne im Mund zum Leuchten bringen. Zuletzt sieht es einen Clown, der neben Onkel Florin im Zirkuszelt steht und ihm freundlich zuwinkt. Der Vorhang fällt, die Scheinwerfer gehen aus, und es wird dunkel. Finsternis. Der Stärkere gewinnt Ich bin Dori und fünf Jahre alt. Meine Freunde nennen mich Do, weil das einfacher ist. Manche sagen auch Dorne oder Dobermann zu mir. Je nachdem, wie ich gerade aufgelegt bin. Meistens bin ich recht nett, manchmal aber auch grantig oder kratzig, und mitunter kann ich auch ziemlich bissig sein. Je nachdem. Ich bin zwar noch klein, beiße mit meinen Zähnchen aber auch gern zu, wenn es bedrohlich für mich wird. In unserer kleinen Karpatenstadt verbringen wir Kinder den ganzen Tag auf der Straße und spielen mit allen möglichen Utensilien, denn Kinderkram gibt es bei uns keinen. Deshalb erfinden wir jeden Tag neue Spiele, meistens auf der steinigen Straße, im tiefen Morast oder auf dem feuchten Erdboden. Meistens spielen wir mit Seilen, Holzstücken, Brettern, Ziegeln, Steinen und allem, was wir sonst noch finden. Natürlich wird auch viel gerauft und gezankt, und dabei sind wir nicht gerade zimperlich. Keiner von uns ist zart besaitet, wir lernen – 10 –
von klein auf, uns zu behaupten und durchzusetzen. „Der Stärkere gewinnt“, sagt mein Papa Gabor immer. Meine drei Brüder und vier Schwestern sind älter als ich, und dabei ist unsere Mama Mala noch sehr jung. Ihre Kinder hat sie in Schuppen oder Scheunen zur Welt gebracht. Dabei ist sie immer ganz alleine. Als Unterlage genügt ihr ein alter Teppich oder ein Bündel alter Fetzen. Meinen Bruder Stevo hat sie im Wald hinter einem Gebüsch geboren, und Catalin ist im Keller eines Rohbaus zur Welt gekommen. Meine Mama hat eine gute Natur und ist meistens schon am Tag nach der Geburt wieder auf den Beinen. Papa gönnt ihr keine Ruhe und will, dass sie ihrer gewohnten Arbeit nachgeht. Mit acht Kindern wird sie in unserem Dorf sehr respektiert, das letzte Wort hat aber immer unser Vater Gabor. Mama wäscht ihm die Füße, und auf der Straße läuft sie immer ein paar Schritte hinter ihm. Meine Eltern sind sich kaum vertraut, sind nie zärtlich zueinander, küssen einander nie und pflegen einen eher groben Umgang. Mama erträgt seine Prügel mit Demut und empfindet jeden Schlag als Zeichen seiner tiefen Zuneigung. Manchmal gehen meine großen Brüder dazwischen, wenn er gar zu heftig wütet und sie mit nassen Windeln schlägt. Einmal hat er Mama der Untreue bezichtigt, sie hätte es mit unserem Nachbarn Istvan getrieben. Alle lachten darüber, denn Istvan ist ein Invalide mit nur einem Bein, der den ganzen Tag säuft und auf der Matratze herumlungert. Papa prügelte sie trotzdem, und Onkel Aleksandar schnitt ihr zur Strafe die pechschwarzen Haare vom Kopf. Das war im Sommer 1994. Einen solchen Tag vergisst man nicht. Ich war damals fünf Jahre alt. Mama kann weder lesen noch schreiben, und ihr fehlt jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Sie besitzt keine Uhr und orientiert sich am Schlagen der Turmuhr. Unsere Geburtsdaten weiß sie nicht genau, nur das Jahr. Ungefähr. – 11 –
Immer noch besser als meine Tante Ceija, die nie sagen kann, wie viele Kinder sie überhaupt geboren hat. Jedenfalls kenne ich die Frauen unserer trostlosen Siedlung nur stillend, mit einem Kind am Arm und einigen am Rockzipfel. Sie gehören zu unserem Straßenbild wie der milchig trübe Fluss, in dem wir unsere Kleider waschen. Rübe ab Papa ist nur selten daheim. Er ist unser Boss und mein ganz persönlicher König. Wir sehen ihn fast nie, denn er ist Landfahrer. Oft ist er mit unseren Verwandten unterwegs, und ich habe keine Ahnung, wie viele es davon eigentlich gibt. Siebzig? Zweihundert? Auch Mama hat keine Ahnung, wie viele das sein könnten. Manchmal kommen einige von ihnen zu Besuch, bringen Spanferkel, Wein, Schnaps und lebende Hühner. Catalin hackt ihnen die Rübe ab, und Mama rupft die Federn. Dann gibt es ein Fest, bei dem sich alle die Bäuche vollschlagen. Wir Kinder haben es recht gut. Anstatt uns mit Büchern zu langweilen oder uns gar rechnen oder schreiben beizubringen, lauschen wir den Erzählungen unserer Ahnen. Unsere Familiengeschichten haben lange Tradition, und die Märchen und Heldensagen werden stets in unserer bildhaften Sprache erzählt. Nur für uns, für unseren Clan, für meine Sippe. Und keine der vielen Legenden wirst du je in einem Geschichtenbuch finden! Oft gehen wir Mädchen zusammen mit unseren Müttern in die größeren Städte, um zu betteln oder wahrzusagen. Die Frauen bringen uns Tricks bei, wie man sich demütig und untertänig gibt, um barmherzigen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. „Wenig, aber das oft, macht auch eine Menge“, sagt Papa Gabor immer. – 12 –
Noch bin ich klein, und ich habe viele Freiheiten, weil ich die Jüngste in der Familie bin. Meine älteren Schwestern müssen schon ordentlich anpacken und Mama im Haushalt helfen, die kleinen Geschwister versorgen, einkaufen und kochen. Das Leben in unserer halb verfallenen Hütte an der staubigen Landstraße am Rand der Stadt ist beschwerlich. Zwischen uns und den wohlhabenden Bewohnern haben sie vor Jahren eine hohe Betonmauer errichtet, die unser Elend im Zaum hält. Unsere baufällige Rumpelkammer besteht aus Holzlatten, Kartons, Planen und Lehm. Auf das Dach hat Papa Bleche genagelt, die uns halbwegs vor Regen und Schnee schützen. Wenn es durchtropft, stellt Mama einfach einen Kübel unter. Mit unseren nächsten Nachbarn teilen wir einen einzigen Wasserhahn. Strom oder Gas sind bei uns unbekannt. Auch Toiletten gibt es keine, und wir verrichten die Notdurft im Freien. Die gewaschenen Kleider hängen wir in der kalten Jahreszeit in unsere schimmelige Hütte. Röcke und Blusen werden nie ganz trocken, und wir müssen oft feuchte Wäsche anziehen. Dadurch werden wir krank, bekommen Husten und Erkältungen, was wir dank unserer robusten Natur aber immer recht gut überstehen. Wir Mädchen schlafen zu dritt auf einer feuchten und muffigen Matratze, weil eine von uns ständig ins Bett macht. „Ein Heiliger schläft nicht in weichen Betten“, sagt mein Papa immer. Vor unserem windschiefen Häuschen steht eine Sommerliege mit zerrissenem Leinenstoff, auf der Papa oft seinen Rausch ausschläft. Auf der Erde liegen schmutzige Decken, leere Schnapsflaschen, löchrige Kochtöpfe, rostige Tierfallen und ein demolierter Kohleofen. Katzen streunen herum, manchmal stöbern abgemagerte, räudige Hunde im Schlamm nach Fleischresten oder Hühnerknochen.
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Roter Stern Belgrad Seit letzter Woche ist es besonders lustig. Mein Opa Janos hat den vielen Kindern unserer Siedlung aus alten Elektrokabeln eine Schaukel gebastelt, auf der wir uns wie Tarzan über den Boden schwingen. Wer auslässt, schneidet sich die Hände auf. Das ist eine amüsante Sache, und wer mit blutigen Tatzen nach Hause läuft, hat verloren. Dadurch werden wir zu richtigen Überlebenskünstlern. Mittendrin spielt mein Bruder Catalin Fußball. Natürlich barfuß, denn wir besitzen keine Schuhe. Er ist sehr mager, und auf seinen dürren Knochen trägt er ein Leibchen von Roter Stern Belgrad, das ihm Papa auf seiner letzten Fahrt organisiert hat. Er ist sehr stolz darauf. Unsere Erwachsenen halten nichts von Sport und bewegen sich alle recht gemächlich und langsam. Ein Besucher mag den Eindruck gewinnen, dass deren Leben in Zeitlupe abläuft. Manchen Familien geht es noch schlechter als uns. Onkel Gitano lebt mit seiner Sippe unter der Autobahnbrücke, und zwei seiner fünf Kinder haben ihren ersten Geburtstag nicht erlebt. Er rühmt sich, ein direkter Nachfahre mittelalterlicher Vagabunden zu sein, die sich einst dem Sterndeuten, Handlesen und Wahrsagen verschrieben hatten. In unserem Dorf gibt es keine Schule, und Papa duldet nicht, wenn er mich mit Papier und Buntstiften am Tisch sitzen sieht. Ich male und zeichne nämlich gern. Manchmal nehme ich mir rote Ziegelbrocken mit nach Hause und zeichne auf Sperrholzplatten. Papa will das nicht und erwartet von uns, dass wir dort anzupacken, wo wir gebraucht werden. Für Bildung hat er rein gar nichts übrig, und er ist stolz, als Zigeuner geboren zu sein. „Der Wolf stirbt in der Haut, in der er geboren wurde“, heißt es. Meinem ältesten Bruder Stevo bringt Papa das Kup– 14 –
fer- und Kesselschmieden bei, und Papa ist ein weit-um geachteter Meister seines Fachs. Er ist ein Künstler aus dem einfachen Volk, der hauptsächlich für die arme Bevölkerung arbeitet und nie die Gelegenheit gehabt hat, Herrenhäuser, Kirchen oder gar Paläste mit seinen Kunsthandwerken auszustatten. Mit primitiven Mitteln zaubert er aus Kupfer kleine Weihwasserkessel, verzinnt Vasen und Eimer und flickt alte Töpfe. Auch mit Zigeunergold weiß er gut umzugehen und fertigt Messingpfannen, die in unserer Region sehr begehrt sind. Oft zieht er von Dorf zu Dorf, breitet auf den Dorfplätzen seine Werkzeuge aus und flickt alles, was die Bewohner anschleppen – darunter Küchengeräte, Rollstühle und Beinprothesen! Auf den Jahrmärkten verkauft er mit seinen Söhnen Waren aller Art und bringt ab und zu ein bisschen Geld nach Hause. Oder einen Sack Kartoffel oder Kohl. Vater schärft meinen Brüdern immer wieder ein, sich ja nichts gefallen zu lassen. Als meinem Bruder Stevo unter der Nase der erste schwarze Flaum zu sprießen begann, schenkte ihm Papa einen handgeschmiedeten Säbel, um damit jedem Angreifer tüchtig auf den Schädel zu klopfen, wenn es nötig sein sollte. „Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende“, sagt Papa Gabor immer. Heute habe ich auf der Müllhalde eine alte Schultasche mit einem Malbuch und Resten von Ölkreiden gefunden. Ich habe sie mit nach Hause genommen und die ersten Buchstaben meines Namens auf den Karton einer Bananenschachtel zu malen versucht. Ich bin ganz stolz darauf! Papa ist betrunken heimgekommen, hat Mama geschlagen und mich angeschrien, dass mir angst und bange geworden ist. Er hat mir das Buch auf den Kopf geschlagen und es in den Ofen geworfen. Er kann weder lesen noch schreiben. Rechnen kann Papa nur mit den Fingern, aber er kommt gut zurecht damit. Die Freiheit betrachtet er als sein höchstes Gut. Ständig ist – 15 –
er mit seinem Karren auf Achse, oft von Eseln oder Pferden gezogen, und mitunter muss er sogar selber die Zugriemen schultern. Papa ist ein geschickter Pferdehändler mit einem angeborenen Gespür. Wenn er ein wenig Geld übrig hat, kauft er vor der Reise als Kesselflicker ein halbwegs passables Ross und zieht mit ihm los. Bei seiner letzten Station verkauft er den manipulierten Hengst, nachdem er ihm die Mähne oder das Fell gefärbt hat, um das tatsächliche Alter des Gauls zu kaschieren. Schadstellen an den Hufen verschließt er mit Materialien aus der Natur, das Gebiss bürstet er eifrig mit Schnaps und feinem Sand – die wenigen Wochen mit dem Tier genügen, um das Ross durch Dressur oder Schmerzreize lebhafter wirken zu lassen, als es in Wahrheit ist. Unter den geschickten Händen des Rosstäuschers hat sich mancher alte Gaul zu einem passablen Pferd gewandelt! Leider versäuft Vater den Ertrag meistens in den Schenken, und für uns bleibt selten etwas übrig. Manchmal wird er von seinen zerlumpten Kindern begleitet, die nie genau wissen, ob sie an diesem Tag etwas zu essen bekommen werden. „Dem geht es schlecht, der arm ist. Noch schlechter geht es aber dem, der allein ist”, sagt Papa Gabor immer. Das muntert uns manchmal wieder auf, wenn wir uns abends mit leeren Mägen in die dreckigen, feuchten Decken legen, um wenigstens ein bisschen Wärme zu fühlen. Ganz eng liegen wir, Körper an Körper. An diesem Abend spreche ich zum ersten Mal mit meinem Schutzengel, der wie eine leuchtende Prinzessin an meiner Seite sitzt und mich zärtlich ansieht. Ich frage ihn, warum wir so arm sind, kaum zu essen haben und in tiefster Armut dahinvegetieren. Und warum das so sein muss. Weil er mir keine Antwort gibt, danke ich ihm für meine vielen Freunde, mit denen ich den ganzen Tag spielen darf. Und natürlich für meine Großeltern, unseren Papa, den König, meine – 16 –
Mama und mein Kaninchen Klara, das in den nächsten Tagen wohl verspeist werden wird, wenn wir nichts Essbares auftreiben. Wir führen kein romantisches Leben, und wovon wir leben, bleibt uns oft selbst ein Geheimnis. Manchmal von harten Brotresten, rohem Gemüse und nur recht selten von Fisch oder Fleisch. Manch Essbares finden wir im Wald oder in fremden Hühnerställen. Wenn wir krank werden, haben wir Pech, denn Arzneien können wir uns keine leisten. Wir pflegen unsere Kranken selber und wissen von klein auf von den Wirkungen der heilenden Kräuter. Manchmal helfen sie uns. Wenn nicht, sterben unsere Leute. Seit der Eiserne Vorhang gefallen ist, kutschiert Papa oft monatelang durch Europa – nicht mehr mit seinen geliebten Pferden, die hat er endgültig abgehalftert, er fährt nun einen alten, rostigen Kastenwagen. Die Kennzeichen hat er auf einem Autofriedhof gefunden, Vetter Jozsef hat ihm in der Slowakei einen Führerschein organisiert. Nach seinen langen Reisen durch Europa ist er oft glücklich, wie rasant sich die Familien in unserer Nachbarschaft vermehrt haben. Und bei seiner Heimkehr wird oft tagelang gefeiert. In unseren wackligen Wänden fordert der König unseren Respekt ein, den er sich mitunter auch durch stürmische Gewaltausbrüche verschafft. Dann ist er meistens angetrunken und randaliert in der Hütte derart laut, dass unsere Nachbarn Nachschau halten. Manchmal opfert sich Mama und versucht ihn zu beruhigen. Dann bekommt sie seine kräftigen Hände zu spüren. Am nächsten Tag ist Papa dann oft traurig, er kann sich an nichts mehr erinnern und schämt sich. Seinen Kummer ertränkt er in Alkohol. Langsam werde ich größer und kann schon recht gut denken. Allmählich wird mir klar, dass wir ein in alle Richtungen verstreutes Volk sind, eine Landplage für die ehrenwerten Sesshaften, für die Reichen und Mächtigen! Ruhelose No– 17 –
maden und unruhige Geschöpfe, denen das Wort Heimweh fremd ist und die über Jahrhunderte gelernt haben, sich in allen möglichen Situationen zurechtzufinden. An und für sich eine gute Voraussetzung für meine große Reise nach Deutschland, zu der ich mit meinem Vater im kalten Frühling des Jahres 1998 aufbrechen werde. Ich bin etwa neun Jahre alt. Meine Eltern streiten nun fast jeden Tag, und der letzte Funken Harmonie scheint verloren gegangen zu sein. Papa traktiert uns ununterbrochen, gegen seine Gemeinheiten und wachsende Brutalität wissen wir uns keinen Rat mehr. Ich habe Angst, wenn die Eltern streiten und sich prügeln. Und wenn es dann mucksmäuschenstill wird, hoffe ich, dass keiner der beiden tot ist. In solchen Momenten bete ich immer zu meinem Schutzengel. Papa beschließt wieder zu verschwinden. Er will wieder auf Wanderschaft gehen und möchte mich diesmal mitnehmen. Mich, die kleine Dori. Es ist das erste Mal, dass ich von meiner Familie in eine unbekannte Welt geschickt werde. Sie werfen mich aus dem warmen Nest, ich müsse flügge werden. Mama lässt mich einfach ziehen, sie vergießt keine Träne, und ich tröste mich damit, dass sie vermutlich nur Papa loswerden will. Mit mir als kleiner Zugabe. Der Abschied von daheim fällt mir schwer, und ich unterdrücke meine Tränen, als ich in Papas Wagen steige und unser Dorf über eine matschige Straße Richtung Norden verlasse. Damals konnte ich nicht ahnen, dass ich nie mehr in meine Heimat zurückkehren würde. Molotowcocktails „Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt“, meint Papa, und die ersten Tage verlaufen recht abenteuerlich. Wir fahren auf schmalen Landstraßen durch Ungarn und – 18 –
halten uns nirgends allzu lange auf. Vater erzählt, dass es dort in den Dörfern eine mysteriöse Mordserie an Roma gegeben habe, die noch immer ungeklärt sei. Die Mörder suchen für ihre Anschläge Elendsviertel aus, bewerfen die desolaten Hütten mit Molotowcocktails und schießen auf die flüchtenden Roma. Papa wirkt ängstlich. Wir meiden die Slums der Roma und fahren ziemlich flott durch die Slowakei und weiter nach Polen. Zum ersten Mal sehe ich in den Großstädten richtige Hochhäuser. Ich möchte dort oben nach den Wolken greifen, mit meinem Schutzengel auf eine Wolke steigen und die große weite Welt von oben sehen. In den ersten Wochen leide ich ein wenig unter Heimweh, sodass ich meinen Tränen manchmal freien Lauf lasse. „Heimweh ist der Schmerz der Sesshaften, und der legt sich irgendwann. Du bist ja noch klein und schwach“, meint mein Papa. Ganz bestimmt. Er will aus mir ein starkes Mädchen machen! Das wenige Geld, das wir zum Leben brauchen, betteln wir in den Einkaufsstraßen zusammen, und meistens habe ich abends mehr Münzen im Kaffeebecher als mein Vater. Wenn der Tag nicht allzu viel einbringt, stehle ich in den Kauftempeln Bonbons, Zigaretten und Schnaps. Die Supermärkte sind voll von wunderbaren und süßen Dingen, die ich zuvor noch nie gesehen habe. Während Papa die Verkäufer ablenkt oder Schmiere steht, packe ich die Waren ein und verschwinde. Meine Nachbarin Madalina hat mir vor unserer Abreise einen Mantel mit eingenähten Innentaschen geschneidert, in denen ich Schokolade und Lebensmittel verstecke. Das Innenfutter hat sie derart geschickt aufgetrennt, dass ich darin allerhand köstliche Dinge verschwinden lassen kann. Heute habe ich auch Buntstifte und Ölkreiden gestohlen, die ich Papa nicht zeige. Abends sitzen wir dann in unserem Kastenwagen, Papa trinkt Schnaps, bis er irgendwann ein– 19 –
schläft, und ich verdrücke die vielen Leckerbissen, bis mir der Bauch wehtut. Dann nehme ich die Malfarben zur Hand und zeichne alles, was mir in den Sinn kommt. Erst spät in der Nacht werfe ich die bunten Blätter in unser Lagerfeuer, blase in die Glut und achte, dass sie restlos verbrennen. Wehe, wenn Papa meine Zeichnungen entdeckt! *** In den nächsten Monaten gaukeln wir kreuz und quer durch die Lande. Papa hat mit argen Problemen zu kämpfen. Er gilt als staatenlos und hat außer einer vergilbten Geburtsurkunde nichts in der Tasche. Amtlich gesehen gibt es mich gar nicht. Ich bin einfach nur die Tochter von Gabor. Nicht alle Polizisten glauben uns und meinen, dass manche herumziehende Sippen Kinder stehlen. Sie erzählen uns von einem Fall aus Portugal, wo in einem Lager unter den vielen Zigeunerkindern plötzlich ein strohblonder Bub mit heller Haut entdeckt wurde, der seinen Eltern nicht ähnelte und nie und nimmer ein Rom sein konnte. Dadurch haben wir ständig Scherereien mit Polizisten, denen Papa ebenso wie allen anderen staatlichen Einrichtungen misstraut. Als stolzer Rom akzeptiert er nur das eigene Schiedsgericht, das die Probleme innerhalb der Clans regelt. Und so gerät jede Kontrolle zu einem Lotteriespiel, ob Papa weiterfahren darf oder wieder einmal eine Nacht im Gefängnis verbringen muss; wenn er sich nämlich nicht ordentlich aufführt und auf der Inspektion randaliert, wird er meistens eingesperrt, und ich mache mich still und heimlich aus dem Staub. Dann liege ich oft nächtelang mutterseelenallein im Kastenwagen. Ich bin auf mich allein gestellt und muss mich irgendwie durchschlagen. Es ist oft kalt, und ich habe furchtbare Angst. Und von den paar Münzen, die ich untertags erbettle, kann ich mir bestenfalls – 20 –
ein paar Scheiben Toastbrot kaufen, die ich nachts in winzig kleinen Bissen kaue. Manchmal habe ich überhaupt nichts zu essen, schleiche nachts zu den Müllcontainern hinter den Einkaufsmärkten und wühle nach abgelaufenen Lebensmitteln, aus denen ich mir karge Mahlzeiten bereite. Oft gibt es Menüs aus Essiggurken, Pudding und Buttermilch, manchmal kommen Kekse, Pfefferoni und Salami dazu. Papa empfindet die kurzen Haftstrafen wegen kleinerer Delikte nie als Schande, sondern als Ehrenstrafe, die er mit erhobenem Haupt antritt. Nie findet er Worte des Erbarmens für seine beklauten oder betrogenen Opfer, deren grenzenlose Dummheit er geschickt ausnützt und sie dadurch bestraft. Ein einziges Mal werde ich von der Polizei beim Klauen geschnappt und muss in einer Zelle übernachten. In der Nebenzelle liegt Papa und schnarcht, dass das ganze Wachzimmer wackelt. Seit langem übernachte ich wieder einmal in einem sauberen Bett, kann mich morgens waschen und bekomme eine warme Mahlzeit. Die Polizisten sind nett zu mir, einer schenkt mir bei der Entlassung eine kleine Stofftasche mit Lebensmitteln und wünscht mir eine gute Reise. Er ist trotz seiner Uniform ein angenehmer Kerl. Papa traut ihm nicht! Kamerad Kerber Der Landsteiner Gärtnermeister Jakob Höglinger schnitt zeitig am Morgen hoch droben am Schwarzsee Palmkätzchen für die bevorstehende Prozession von den Ästen, als er am Ufer ein lebloses Bündel Mensch entdeckte. Flugs griff er zum Handy und verständigte seinen Freund Matteo Steininger. Der Inspektor stand kaum zehn Minuten später mit Frau Inspektorin Claudia Bodner am Seeufer und zog den Leichnam aus dem Wasser. Sie wussten sofort, dass es sich um Martin – 21 –
Kerber handelte, der seit zwei Tagen vermisst war. Er hatte nach der Ausrückung der Schützenkompanie im Wirtshaus ordentlich gezecht und lautstark mit ein paar Roma gefeilscht, die im Nebenraum Bestecke und Kochtöpfe verkauft hatten. Zuletzt hatte er den unbekannten Männern einiges abgekauft, die Ware aber in der Gaststube zurückgelassen. Gegen Mitternacht war er schwer betrunken in den Gastgarten gewankt, um seine Blase zu erleichtern. Seither hatte ihn niemand mehr gesehen, und Claudia schien es rätselhaft, wie Martin wohl hier herauf zum Schwarzsee gekommen war. Zudem beschäftigte sie der Umstand, dass Martin im seichten Gewässer lag, das kaum einen halben Meter tief war. Sein Schützenhut hing einige Meter entfernt auf einem Himbeerstrauch, und seine Trachtenschuhe waren verschwunden. Matteo sicherte den Tatort und freute sich, als am späten Vormittag Frau Dr. Rita Haidinger von der Gerichtsmedizin Innsbruck mit ihrem Helfer Klaus Vogler eintraf, der beim Ausladen der Gerätschaften wie immer eine Arie pfiff. Heute zur Abwechslung aus Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Oper Pique Dame. Rita stellte formell den Tod des Schützenkameraden fest und erzählte Matteo amüsiert von einem Missgeschick in Dortmund, wo eine neunzigjährige Dame von einem Arzt für tot erklärt worden war und während der Verabschiedung in den ehrwürdigen Räumen des Bestatters vor aller Augen plötzlich wieder zum Leben erwachte. Nun ja, bei Martin konnte das wohl kaum mehr passieren, denn der war offensichtlich mausetot. Rita fasste sich äußerst kurz, vermutete einen Ertrinkungstod und ließ den Leichnam in die Gerichtsmedizin überführen, wo er genauer untersucht werden sollte. Matteos Jugendfreundin Rita verabschiedete sich mit einem knappen Gruß, warf ihre Ledertasche in das Auto und war dahin.
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Erdäpfel im Wald Wir sind ziemlich planlos unterwegs, und die Zeit spielt für uns überhaupt keine Rolle. Irgendwann im Sommer merken wir an den Ortstafeln, dass wir mit unserem rostigen Vehikel in Deutschland angekommen sind. In den ersten Wochen leben wir in einem Wald in der Nähe von Köln. An den vielen Verbotsschildern merken wir, dass wir in einem Naturschutzgebiet gestrandet sind. Mitten in Europa ist alles sehr klar und streng geregelt, beschildert und geordnet. Das kenne ich aus meiner Heimat nicht. Aber wir haben in diesem Waldstück mitten in Heide und Moor wenigstens unsere selige Ruhe. Papa versteckt unser Auto zwischen hohen, stacheligen Sträuchern und deckt es mit Reisig zu. Wir spannen eine Plane zwischen vier große Bäume und richten uns ein einfaches Lager mit einer Feuerstelle her. Ich sammle trockenes Holz, dann suche ich eine Quelle und hole zwei Kanister Wasser. Abends sammelt Papa Kräuter und macht mit Zunder und Stroh Feuer. Den Feuerstein trägt er immer in einem Lederbeutel um den Hals. Dann macht er uns einen heißen Tee, zu essen haben wir leider nichts. Wie viele Leckerbissen wohl heute wieder in den Containern hinter den Einkaufszentren verderben? Dann rollen wir uns in wollige Lumpen und legen uns zur Nachtruhe. Ich decke mich mit meinem Mantel zu. „Eine Kartoffel im Wald schmeckt besser als das Fleisch im Gefängnis“, meint Papa glückselig, als er mir eine gute Nacht wünscht. Ein frommer Wunsch, wir haben nicht einmal die! Wir Roma lieben das freie, ziellose Herumreisen und vor allem die Geselligkeit. Allein von Ort zu Ort wandern zu müssen, geplagt von Heimweh und Verlassenheit, wäre für die fröhlichen, aufgeschlossenen Wesen unserer Sippe eine Strafe, die sie nur schwer ertragen könnten. Irgendwie ist mein Papa anders, er – 23 –
ist aus einem anderen Holz geschnitzt. Ihm fehlt das ausgeprägte Gefühl für die Sippe, und er fühlt sich eher als Einzelgänger und einsamer Wolf. Von ihm lerne ich im Heute zu leben, und um das Morgen scheren wir uns beide nicht. Wir leben sorglos dahin, sind mit wenig zufrieden und verlieren auch in der größten Trostlosigkeit nie unseren Humor. Untertags verlassen wir unser Waldlager, wenn Papa Durst bekommt und mein Magen zu knurren beginnt. „Wenn die Füße nicht gehen, wird der Mund nicht essen“, meint Papa immer. Er trägt immer eine Kapuzenjacke, eine Pudelmütze, Turnschuhe und einen Rucksack, in den er eine Wolldecke und dicke Handschuhe steckt. „Man kann nie wissen, wohin es einen auf der Flucht verschlägt“, lehrt er mich wieder einen Paragrafen unseres Volks, der in keinem Lehrbuch steht. Wir schleichen durch den Wald zu einem abgelegenen Bauernhof, setzen uns hinter ein Gebüsch und beobachten das idyllische, abgelegene Anwesen. Schon bald wissen wir, wie viele Leute dort wohnen, wer mit dem Traktor wegfährt und wie man in den Stall kommt. Papa flüstert mir seinen Plan ins Ohr, und ich gehe auf die alte Bäuerin zu, die auf einer Bank in der Sonne sitzt und strickt. Ich gestikuliere vor ihrer Nase herum, dass ich Hunger habe und Geld brauche, um mir Essen zu kaufen. Meine Muttersprache nützt mir hier sehr wenig. Im selben Moment schleicht Papa durch eine Seitentür ins Haus und durchwühlt die Schubladen und Kästen nach verwertbaren Dingen. Wenn Gefahr droht oder Papa wieder das Haus verlässt und in sicherer Entfernung auf mich wartet, pfeift er wie eine Lerche. Papa nennt ihn den Romapfiff, den er in seiner Heimat als Bub gelernt hat. Er kann fast jede Vogelstimme nachahmen, sogar Gimpel, Wiedehopfe, Stockenten, Haussperlinge und Wachteln. Er kommt nie leer aus einem Haus und schleppt meistens einen Strumpf, gefüllt mit Uhren, Schmuck und – 24 –
Münzen. Auch etwas Bargeld ist diesmal dabei, und Papa kauft in einem kleinen Laden die notwendigsten Dinge, die wir brauchen. Ich sammle inzwischen Beeren und richte ein köstliches Fruchtjoghurt für uns beide. Vater überlässt mir die gesunden Speisen, er trinkt lieber Schnaps. *** Zeugen waren droben am entlegenen Schwarzsee eher schwer zu finden, und doch wagte Inspektor Steininger eine Wanderung zum Monte Paranoia, wo mehrere aufgelassene Bauernhöfe standen, die seit Jahren von recht seltsamen Zeitgenossen bevölkert wurden. Matteo hoffte, dass wenigstens einer der Esoteriker in der fraglichen Nacht am See meditiert und dabei die eine oder andere Beobachtung zum bedenklichen Absaufen des Schützenkameraden gemacht haben könnte. Das Ergebnis der Befragungen der Freigeister fiel allerdings mehr als dürftig aus, und keiner der veganen Spinner wollte darüber Auskunft geben, was am See tatsächlich geschehen war. Ihr Guru blockte sämtliche Fragen kategorisch ab und versicherte dem Inspektor, dass sich seine Gefolgschaft auf einer nichtirdischen Ebene bewege; auch seine Jünger beachteten Steininger kaum. Sie tanzten am helllichten Nachmittag in schneeweißen Kleidern auf der Wiese im Kreis, lächelten sanft und summten seltsame Melodien. Eine nackte Frau mit Hängebusen schlug den Gong; ein junger Mann, auf dessen Schulter ein Wellensittich saß, zupfte auf einer Ukulele herum. Und inmitten des Kraftorts jonglierte eine barfüßige junge Dame mit Hagebutten. Matteo verließ den geistigen Ort und bestaunte die vielen Kunstobjekte und Tonfiguren, die mitten im Wald zwischen den hohen Nadelbäumen standen. Eine bewegte sich – sie war aus Fleisch und Blut. Die kleine Meza mit ihrer dunklen, – 25 –
wallenden Haarpracht. Eine durchgeknallte Philosophin aus Venezuela, die einst in Landstein am Inn gestrandet war. *** Heute muss ich erstmals Feuer machen, und mitten im abendlichen Vogelgezwitscher murkse ich mit Papas Stein herum. Ich muss es üben, bis ich es kann! Da kennt er keine Gnade und beobachtet mich wie ein Adler. Streng und mit scharfem Blick. Er ist schon ziemlich betrunken, als endlich die erste Flamme auflodert und das Feuer knistert. Er zwinkert mir zu und schläft selig ein. Ich bin stolz auf mich, hänge den kleinen Feuerkessel über die Glut und wärme eine Dose mit Gulasch, die ich mit meinem Taschenmesser aufzwänge. Papa schnarcht wie ein Brummbär. Es ist sehr schön in der Natur! Oft ernähren wir uns von gebratenen Igeln, die zu Papas Leibspeise zählen. In kargen Zeiten ist das oft die einzige nahrhafte Speise, die wir zwischen die Zähne bekommen. Papa lockt die Tiere mit Katzenfutter an und tötet sie vor meinen Augen. Dann packt er den Igel in einen Lehmmantel und legt den Klumpen in ein Erdloch, das er mit Glut auffüllt und darüber Feuer macht. Nach einigen Stunden gräbt er den Igel aus, die Stacheln bleiben im Ton zurück und er verspeist das zarte Fleisch mit Wohlgenuss. Zum Dank opfert er dem Wald ein paar Kekse. Ich genieße die Zeit mit meinem König. Zur Geldbeschaffung wechseln wir manchmal die Rollen, und ich schleiche mich in die umliegenden Höfe ein. Ich durchstöbere sie von oben bis unten, und einmal ertappt mich ein grober Knecht, der mich mit einer Pferdepeitsche windelweich schlägt. Er sperrt mich im obersten Stock in ein Zimmer und ruft die Polizei. Ich klettere über die verwucherte Fassade hinunter, kann mich nicht mehr halten und stürze aus großer Höhe in – 26 –
den Kies. An diesem Abend ist Papa ganz durcheinander, trinkt mehr als sonst und erzählt mir in seinem Dusel vom Gesetz der Schwerkraft. Er schwafelt über einen gewissen Isaac Newton und einen Apfel, der immer senkrecht vom Baum fällt. Das ist mir an diesem Abend völlig egal, denn mich schmerzen meine Knie, die sich entzündet haben. Ich bekomme Fieber. Papa schüttet immer wieder Schnaps über meine blutigen Wunden. Ich schreie auf, verzerre mein Gesicht und erdulde den Schmerz. Papas Rosskur hilft, und nach wenigen Tagen bin ich wieder gesund. So halten wir zwei uns ganz gut über Wasser, und Papa kann ab und zu sogar ein wenig Geld nach Hause schicken, wenn er ganze Beutel voll Schmuck erbeutet und bei seinen Landsleuten zu Geld gemacht hat. Viel bekommt er nie dafür, aber immerhin. Die Halsabschneider wollen ja alle etwas verdienen. Trude Schlesinger Bald ist Schluss mit lustig. Eines Morgens fahren wir mit dem Zug in eine Großstadt, und Papa drückt mir einen Zettel mit dem Hinweis in die Hand, dass ich taubstumm sei. Wir hoffen auf großzügige Spender. Wer möchte sich schon lumpen lassen, wenn ein armes, behindertes Mädchen an die Tür klopft! Fromme Kinder und kleine Tiere machen sich in solchen Dingen immer gut – bei einem Bauernhof finde ich ein kleines, mageres Katzenbaby, das ich in einem Körbchen auf meine Betteltour mitnehme. Da sind die Leute gleich viel spendenfreudiger, und tatsächlich gelingt es mir ab und zu, in die Garderobe vorzudringen und Geldbörsen zu klauen. Das geht allerdings ordentlich daneben, als ich an der Wohnungstür einer gewissen Trude Schlesinger läute. Die ist außerordentlich höflich zu mir und bittet mich sogar in ihren Sa– 27 –
lon, wo bunte Vasen herumstehen und riesige Ölbilder an der Wand hängen. Dann sperrt die alte Schachtel die Wohnungstür zu, und ich sitze hilflos in der Falle. Sie erklärt mir, dass sie Leiterin der Fürsorge sei und nun die Polizei rufen werde. Im neunten Stock ist eine Flucht unmöglich. Bald kommen zwei Polizisten, die mich auf die Wachstube bringen. Endlich darf ich in einem richtigen Streifenwagen sitzen! Ich werfe zwei Goldringe unter den Fahrersitz, die ich Frau Schlesinger aus einer Schatulle geklaut habe, während sie die Bullen rief. Eine freundliche Frau, die angeblich aus der transsilvanischen Stadt Petroșani stammt, übersetzt meine Aussage und beginnt vor den verblüfften Polizisten zu heulen, als ich ihr meine Lügenmärchen auftische. Die Dame ist nah am Wasser gebaut! Sie nimmt mich mit zu sich nach Hause, kocht mir ein üppiges Nachtmahl und bringt mich am nächsten Morgen zu einer kirchlichen Hilfsorganisation, die mich in einem Kinderheim einquartiert. Mein kleines Kätzchen darf ich mitnehmen. Dort bin ich mit Kindern aus aller Welt zusammen, einem bunten Haufen von jungen Menschen. In meinem Zimmer schlafen Mädchen aus Pakistan, Afrika und der Mongolei, und wir haben viel Spaß miteinander, obwohl wir uns kaum verständigen können. Ein Junge aus Afghanistan nimmt mir am nächsten Tag auf der Spielwiese mein Kätzchen weg und dreht dem armen Geschöpf zur Belustigung seiner Freunde den Kragen um. Dann wirft er den Kadaver im hohen Bogen in den kleinen Bach, der sich vor dem Kinderheim vorbeischlängelt. Er lacht. Ich bin traurig und schwöre Rache, die mir leider nicht mehr gegönnt ist. In dieser Nacht schimpfe ich mit meinem Schutzengel. Ich liege weinend im Bett, und der spitze Schrei des Kätzchens geht mir immer wieder durch Mark und Bein. Ich sehe das spöttische Gesicht des grausamen Bengels, der das arme Katzenbaby umgebracht hat, ohne mit der Wimper zu zucken. – 28 –
Am nächsten Tag taucht Frau Schlesinger auf und fragt erbost nach ihren Ringen. Ich lächle sie an und stelle mich dumm. Sie erklärt mir, dass man meinen Vater sturzbetrunken am Bahnhof gefunden habe. Die Alte packt mich ruppig am Arm, schiebt mich auf den Rücksitz ihres Autos und bringt mich zu einem großen, heruntergekommenen Mietsblock. Die grauen Fassaden mit ihren bunten Graffiti bieten ein tristes Bild, der kleine Innenhof ist mit Sträuchern verwachsen, und dazwischen liegen rostige Fahrräder, alte Staubsauger, schimmelige Sofas und Kinderwägen. Im schmalen Hausgang lagern Autoreifen und demolierte Fernsehapparate. Die Postkästen sind fast alle aufgebrochen, und es stinkt widerlich. Im obersten Stock drückt Frau Schlesinger die Tür auf, Schloss ist keines mehr vorhanden. Papa liegt beschwipst auf einer Matratze, zwei Weinkisten dienen als Stühle und auf einem Biertisch steht eine Bananenschachtel mit Lebensmitteln. Frau Schlesinger verabschiedet sich von uns und wünscht alles Gute. In diesem tristen Bau erwartet uns schon bald ein heftiger Gegenwind, ein alter, grauhaariger Nachbar aus dem vierten Stock mit dicker Brille und Hut spricht offen aus, was sich hier vermutlich viele denken. Die stinkenden Zigeuner klauen, gruppieren sich in kriminellen Banden und wollen mit den Einheimischen nichts zu tun haben. Ab mit ihnen! Zurück in den Osten! Ganz unrecht hat er ja nicht. Wir haben ja nicht einmal eine Waschmaschine, und unsere Kleider riechen tatsächlich sehr unangenehm. Papa entdeckt auf einem Schrottplatz eine kaputte Waschmaschine samt ein paar alten Schläuchen und Klemmen. Er ist sehr geschickt und kann fast alles reparieren, was ihm in die Finger kommt. Als er das Gerät in Betrieb nimmt, gibt es einen Knall, und der Hausgang steht voller Rauch. Wir husten, keuchen und reißen die desolaten Fenster auf. – 29 –
Am Gardasee wird ein Promi aus Landstein in Tirol ermordet, und wenig später liegt dessen bester Freund mausetot unter seinem Oldtimer, der vom Wagenheber gekippt ist. Zwei mysteriöse Todesfälle, die zum einen Commissario Luca Ventura von der Quästur Padua beschäftigen, zum anderen die ehrenwerte Majorin Romana Hausberger vom Bundeskriminalamt Wien, nachdem die Landsteiner Polizei kläglich versagt hat. Beide Mordfälle beginnen nach Jahren erfolgloser Ermittlungen bereits im Archiv zu verstauben, da erwacht Inspektor Matteo Steininger wie aus einem tiefen Traum und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise, die ihn durch weite Teile Europas führt. Er ist auf der Suche nach einem Mädchen aus Rumänien, das bezüglich der Morde möglicherweise einiges zu erzählen hat. Dietmar Wachter, 1962 in Zams im Tiroler Oberinntal geboren; verheiratet, zwei Töchter; nach Pflichtschulbesuch und Berufsausbildung Besuch und Abschluss der damaligen Gendarmerieschule am Wiesenhof in Absam; Dienst an verschiedenen Gendarmerieposten (heute Polizeiinspektionen), seit 1990 in Landeck; dort seither vorwiegend Dienst in der Kriminalgruppe; Hobbys: schwimmen, Berg gehen, Schwammerl suchen, fischen, Rad fahren, lesen.
ISBN: 978-3-85093-368-1
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