#180-181: Der Imperativ der Identität

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Herausgegeben von der Distel Vereinigung Nr. 180/1812025

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Lob der Identitätspolitik

Identitätspolitik gefährdet die Demokratie. Das ist die zentrale Botschaft der unzähligen Bücher, die in der letzten Zeit gegen Identitätspolitik publiziert wurden. Ich argumentiere für die gegenteilige These: Identitätspolitik ist notwendig für die kontinuierliche Verbesserung unserer Demokratie. Identitätspolitik ist die politische Praxis marginalisierter Gruppen, die sich in Bezug auf eine kollektive Identität gegen ihre Benachteiligung durch Strukturen, Kulturen und Normen der Mehrheitsgesellschaft wehren. Es geht hier also um die politische Kritik von Ausschlüssen, Diskriminierungen und Ungleichbehandlungen. Identitätspolitik orientiert sich damit am demokratischen Versprechen von Freiheit und Gleichhalt für alle. Der normative Hintergrund von Diskriminierungskritik ist dieser Universalismus der gleichen Freiheit, und zwar sowohl begrifflich als auch empirisch. Es geht also um die Konkretisierung von den universalistischen Normen, die eigentlich das Fundament unserer Gesellschaftsordnung sind, aber nicht verwirklicht sind. Wichtig ist dabei das Wissen: Die starke These einer Notwendigkeit von Identitätspolitik hängt damit zusammen, dass Diskriminierungen aus der Perspektive

der Benachteiligten besser beschrieben und kritisiert werden können, als aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft.

Ein Beispiel: Vergewaltigung in der Ehe war in Deutschland bis 1997 legal, weil es das in der patriarchalen Vorstellungswelt gar nicht gab. Es ist wesentlich das Ergebnis des feministischen Kampfes gegen diese falsche Vorstellung, der den Weg für den politischen Fortschritt geebnet hat. Es war nötig, dass die Frauen gemeinsam ihren Standpunkt dazu entwickelt und artikuliert haben und in den politischen Prozess eingebracht haben. Die damals männlich dominierte Debatte wäre von selbst kaum auf die Idee gekommen, dass hier überhaupt ein Problem liegt.

Kurz: Identitätspolitik versorgt den demokratischen Prozess also mit einem Wissen, das ihm sonst verborgen bliebe; sie korrigiert blinde Flecken. Deshalb brauchen wir sie, deshalb ist sie notwendig, um zu konkretisieren, was Freiheit und Gleichheit überhaupt praktisch bedeuten und um sie tatsächlich zu verwirklichen.

Konstruktivismus statt Essentialismus Wie genau funktioniert Identitätspolitik? Oft wird ihr

Armin Pfahl-Traughber kommentiert den neu erwachten Antisemitismus der Identitätslinken.

Über die Veränderung im Umgang mit der LGBTQ+ Community in Georgien berichtet Makuna Berkatsashvili

„Warum müssen wir wer sein?“ fragt sich Ilja Steffelbauer in seiner Analyse der Identitätspolitik.

Fe Simeoni lotet das Genderspektrum der künstlichen Intelligenz aus. Mit NonbAlnary bespielt er auch die Fotostrecke.

Hartmut Rosa erklärt seine Resonanztheorie und was die Suche nach Identität damit zu tun hat.

Über Schwäche als Offensive und Annäherung in der Kunst von Philipp Gufler referiert Niklas Koschel

Mirijam Obwexer fragt sich bin ich ich, beim Besuch der Performance The Act of Lemon Dada von Akemi Takeya

Thomas Ballhausen und Lorena Pircher auf der neuen Seite der SAAV– Südtiroler Autorinnen und Autoren Vereinigung

GALERIE

untiteled, der Künstler ohne Name, hält eine Rede anlässlich der Trauerfeier zum Abschied an seinen alten Namen.

Karsten Schubert

Der Imperativ der Identität

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern“. Diese Kritik von Marx an Feuerbach ist wohl eines der bekanntesten Bonmots der jüngeren Philosophiegeschichte. Heute hat es jedoch den Anschein, als müsste man dieses Verdikt erstmal wieder auf den Kopf stellen und sagen: „Es kommt darauf an, die Welt zu verstehen, bevor wir sie verändern.“ Welche Welt? Da ist neben der analogen Realität noch die digitale Welt der Social Media –und es ist leicht, sich in den Algorithmen dieses global verzweigten virtuellen Rhizoms zu verirren. Wir sind seine kommunikativen Knotenpunkte und generieren Resonanz, die einen mehr, die anderen weniger; grelle Farben und laute Botschaften überwiegen; vor allem aber gibt es in dieser Realität keine festgelegten oder vorbestimmten Identitäten mehr. Die tragenden Säulen einer kulturellen Identität – wie Sprache, Schriften, Traditionen, Bräuche, Berufe, Familie und Gemeinschaft, Religiosität –erodieren zunehmend, klassische Hierarchien und strikte Ordnungen wie das Patriarchat verschwinden, flackern aber weiter als eine Art marodierender Chauvinismus.

Neue, unversöhnliche Ideologien entstehen und bekämpfen sich. Die politischen Extrempositionen und aktionistischen Bewegungen ziehen sich auf das zurück, was sie am besten können: Sie berufen sich auf die kollektive Identität. Linke und rechte Identitätspolitik buhlen dabei in den Social Media um Zustimmung. Die Töne sind schrill, viele Standpunkte schienen gestern noch grotesk. Wir haben in dieser Doppelausgabe verschiedenste Positionen versammelt. Den Schwerpunkt haben wir dabei auf eine Auseinandersetzung mit der konstruktivistischen Identitätspolitik gelegt. Die Autor*innen analysieren Konzepte wie „kulturelle Aneignung“, „Critical Race Theory“ oder „Universalismus und Partikularismus“; sie beleuchten aber auch kritisch den identitätslinken Antisemitismus, Einschränkungen der Meinungsfreiheit und Kollektivschuldzuweisungen; aber auch die Trendwende einiger Länder hin zur Einschränkung emanzipatorischer Anliegen. Zentral für Kulturelemente war dabei die Frage: Welche dieser Forderungen driften in ein totalitäres Weltbild ab, und was ist es hingegen wert, weiterhin diskutiert zu werden?

Haimo Perkmann

HERAUSGEBER Distel-Vereinigung

ERSCHEINUNGSORT Bozen

PRÄSIDENT Johannes Andresen

VORSTAND Peter Paul Brugger, Martin Hanni, Bernhard Nussbaumer, Reinhold Perkmann, Roger Pycha

KOORDINATION Hannes Egger, Haimo Perkmann

VERANSTALTUNGEN

PRESSERECHTLICH

VERANTWORTLICH Karl Gudauner

FINANZGEBARUNG Christof Brandt

SEKRETARIAT Hannes Egger

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DRUCK Fotolito Varesco, Auer

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vorgeworfen, essentialisierend zu verfahren und deshalb spalterisch zu sein. Identitätspolitik funktioniere demnach darüber, Identitäten auf eine bestimmte Essenz – ein Wesen, einen Kern – festzuschreiben. Tatsächlich ist Identitätspolitik nicht festschreibend und lähmend, sondern sie schafft Neues, indem sie Identitäten konstruiert und transformiert. Identitätspolitik schafft damit auch neue Erkenntnismöglichkeiten zu einem besseren Verständnis von Diskriminierung, das sie dann in demokratische Institutionen einspeisen kann. Es lassen sich drei Elemente identitätspolitischer Praxis unterscheiden: Subjektivierung, Artikulation und Repräsentation. Der Begriff der Subjektivierung geht auf Michel Foucault zurück, der damit die soziale Konstitution, also die Verfasstheit und Herstellung, von Identität durch gesellschaftliche Macht beschreibt. Ein Beispiel dafür ist Heteronormativität: Die Vorstellung, dass es zwei biologische Geschlechter gibt, mit denen ein festes Set von sozialen Rollenerwartungen zusammenhängt, zu denen auch gegengeschlechtliches Begehren zählt. An alle Menschen wird diese Erwartung herangetragen, mehr oder weniger repressiv. Menschen können von dieser dominanten Subjektivierung innerlich gefangen sein und leiden, weil sie nicht dazu passen. Aber Normen sind nicht in Stein gemeißelt; alternative Arten der Subjektivierung sind möglich. Identitätspolitik ist ein gesellschaftliches Labor für neue Subjektivierungen, die es erlauben, das Korsett der dominanten Normen zu sprengen. Sie ist derjenige gesellschaftliche Ort, an dem kritische Subjektivierungen eine Distanznahme und Veränderung von dominanten Normen ermöglichen und zur Konstruktion von neuen Identitätsformen führen. Und sie ist der Ort, wo mit diesen Formen experimentiert wird und die mit ihnen einhergehenden Folgeprobleme diskutiert werden. Ein Beispiel für kritische Subjektivierung durch Identitätspolitik ist die Praxis des consciousness raising im Feminismus der 60er und 70er Jahre – also der gemeinsamen Bewusstwerdung über die spezifische Position der Frau in der patriarchalen Gesellschaft. Die Methode beruht auf dem Erfahrungsaustausch unter Frauen und dient dazu, zusammen aktiv an der politischen Identität als Frau zu arbeiten, sie mithin (neu) zu konstruieren. Consciousness raising reagiert auf die Problematik des Wissens, analog zum Marxismus und der Idee eines fehlenden Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse: Obwohl das Leben als Frau ein feministisches Bewusstsein grundsätzlich ermöglicht, ist das Problem, dass viele Frauen angepasst an die patriarchale Ideologie leben. Genau hier setzt consciousness raising ein und realisiert das im Leben als Frau vorhandene Potential der gemeinsamen Konstruktion einer politischen Identität als Frau.

Identitätspolitik als Subjektivierung zu beschreiben heißt auch: Identitätspolitik ist selbst eine Macht, die auf Subjekte wirkt und sie formt. Damit gibt es auch ein gewisses Essentialismuspotential, also die Möglichkeit von Unterwerfung unter starre Normen. Doch dieses Essentialismuspotential ist kein grundsätzliches Essentialismusproblem, wie von den Identitätspolitik-Kritiker*innen behauptet wird. Es lässt sich daraus also keine Position gegen Identitätspolitik ableiten. Denn ohne identitätspolitische Subjektivierungen wäre die Entstehung von kritischer Subjektivität grundsätzlich erschwert, was zu einer Erlahmung der demokratischen Auseinandersetzung führen würde. Essentialistische Festschreibungen sind ja gerade der modus operandi von hegemonialen Subjektivierungen, die durch Identitätspolitik aufgebrochen werden können. Und im Gegensatz zu dominanten Subjektivierungen ist die Kritik von sozialen Normen ein fester Bestandteil identitätspolitischer Subjektivierung – entsprechend kann man auch empirisch beobachten, dass identitätspolitische Gruppen ihre eigenen Normen und eventuelle Verhärtungen kontinuierlich kritisch diskutieren. Artikulation wird die Erarbeitung einer gemeinsamen Identität genannt, durch Debatten zum eigenen Selbstverständnis und zur politische Positionsbildung. Hierbei wird auch der Bezug zum Universellen hergestellt, denn die Anklage von Diskriminierung wird artikuliert durch

die universellen Werten der Gleichheit und Freiheit. Bei Repräsentation geht es um die Darstellung der Identität und das organisierte Wirken in die Mehrheitsgesellschaft. Auch Repräsentation ist notwendig umstritten, denn sie ist selbst Teil der Identitätskonstruktion. Erst durch ihre Repräsentation können Identitäten als ein Zusammenhang begriffen werden und somit entstehen. Identitäspolitik funktioniert also nicht über das Festschreiben von schon Bestehendem, sondern über die permanente Transformation und Neukonstruktion von Identität. Identitätspolitiken orientieren sich dabei an den universalistischen Werten der Gleichheit und Freiheit und speisen Konkretisierungen dieser Werte in den politischen Diskurs ein. Ohne Identitätspolitik gäbe es diesen Beitrag nicht, der öffentliche Diskurs und die gesellschaftlichen und politischen Institutionen wären nicht in der Lage, adäquat auf Diskriminierung zu reagieren und die Gesellschaft deshalb noch stärker von

Das heißt: Wir können nicht zum klassischen Universalismus zurück. Im Gegenteil, ein gewisser Partikularismus ist notwendig, um das Versprechen des Universalismus zu konkretisieren und besser einzulösen. Der Weg zum Allgemeinen führt über das Besondere. Es geht mir um einen Universalismus von Unten oder von den Rändern.

Der Hintergrund dieser Position ist die zeitgenössische Epistemologie, insbesondere Standpunkttheorien, die untersucht haben, wie Wissen erzeugt wird. Menschliches Wissen – auch wenn wir uns noch so sehr um Objektivität bemühen – ist immer auch von den sozialen Positionen geprägt, von denen aus es artikuliert wird. Wer eine Reise nach Rom plant, würde Freunde aus Rom nach lokalen Tips fragen und nicht Freunde aus Hamburg.

Ein produktiver Umgang mit dieser Situiertheit bedeutet, den sozialen Standpunkt zu reflektieren und mit-

ten bleibt, was vernünftig ist. Dass das Modell plausibel ist, wird besonders deutlich durch den Blick zurück: Vor 200 Jahren war aus der Perspektive der universellen Vernunft Sklaverei selbstverständlich, vor 30 Jahren waren Schwule nach dieser universellen Vernunft der Abschaum der Gesellschaft, und Frauen haben ihre Standpunkte auch erst nach und nach einspeisen können – die Kritiker der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe konnten sich auf die damals allgemeinen Vernunftmaßstäbe (Schutz der Privatsphäre in der Familie) berufen. Letztlich geht es darum, auf diese vergangenen Emanzipationskämpfe zu blicken und eine gewisse epistemische Bescheidenheit für seine eigene soziale Position im hier und jetzt daraus abzuleiten. Eine Offenheit dazu, dass man persönlich, aber auch wir als Gesamtgesellschaft, noch viel von Identitätspolitiken lernen können und sollten.

gemeinschaftszersetzender Ungleichheit durchzogen. Dies ist der Grund, warum Identitätspolitik notwendig für die kontinuierliche weitere Demokratisierung der Demokratie ist.

Universalismus oder Fundamentalismus? Mein Argument ist nicht nur beschreibend, sondern auch normativ: Es ist wünschenswert, wenn sowohl politische Institutionen als auch der öffentliche Diskurs identitätspolitischen Positionen zuhört, mit anderen Worten, sie privilegiert. Und hier lauert die Gefahr einer maximalistischen Interpretation solcher epistemischen Privilegierung, sogenannter „positionaler Fundamentalismus“, also nur noch zählt, wer etwas sagt, und nicht mehr, was überhaupt gesagt wird. Hierin liegt die oft vorgebrachte Befürchtung, dass Identitätspolitik die Vernunft aushebele.

In der Anti-Identitätspolitik-Literatur wird deshalb eine Rückkehr zu einer universalistischen Position stark gemacht, um dem potentiellen identitätspolitischen Fundamentalismus und Relativismus etwas entgegenzusetzen. Doch ein klassischer Universalismus funktioniert nicht, denn er ist selbst eigentlich partikularistisch – ein falscher Universalismus. Und dadurch, dass er sich auch noch als Universalismus verkauft und damit besonders hohe Wahrheitsansprüche stellt, wird er fundamentalistisch und vollführt den Diskursabbruch, den er anderen vorwirft, selbst. Dieses Problem lässt sich gut an Susan Neimans Pamphlet für den Universalismus, „Links ist nicht woke“, sehen. Sie bezeichnet sich als Universalistin und adelt damit ihre ganz eigenen, idiosynkratischen politischen Bewertungen, während sie die „Woken“ als Anti-Universalisten brandmarkt und es deshalb auch nicht für nötig hält, sich genauer mit ihren Argumenten zu befassen.

berücksichtigen, unterschiedliche Standpunkte in einen Dialog bringen und dadurch ihre jeweiligen Blindstellen korrigieren. Und Unwissen in Bezug auf Diskriminierung, das vor allem die Mehrheitsperspektive prägt, sollte durch eine besondere Beachtung der Standpunkte von Betroffenen korrigiert werden.

Warum folgt aus dieser Position kein Fundamentalismus? Erstens sind Standpunkte das Resultat von gemeinsamer Arbeit, von gemeinsamen Austausch und Kommunikation, keine individuelle Setzung. Das wurde schon beim Beispiel des feministische consciousness raising deutlich. Zweitens geht es nicht nur um intersubjektiv geteilte Erfahrungen, sondern sie werden gleichsam durch kritische Wissenschaften objektiviert. Identitätspolitische Standpunkte stellen insofern ein objektives, von allen verstehbares Wissen über Diskriminierung bereit – sie sind ein Kommunikationsangebot, kein Kommunikationsabbruch.

Doch die Wirkmächtigkeit vernünftiger Argumente ist wegen der begrenzten Perspektive der Mehrheitsgesellschaft oft begrenzt. Deshalb können Machtmittel nötig sein, um der Vernunft auf die Sprünge zu helfen, wie Proteste oder das berüchtigte Canceln. Aber auch das ist kein Relativismus, denn nur solche identitätspolitischen Positionen können langfristig Unterstützung durch einige Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft finden, wenn sie verünftig sind. Es geht also bei

Identitätspolitik durchaus um eine Kombination aus Macht und Vernunft – doch das ist eben keine Absage an die Vernunft, sondern der politische Prozess ihrer Konkretisierung auch gegen die ihr immanenten Blockaden.

Identitätspolitische Demokratisierung ist so notwendigerweise ein dynamisches Modell. Es muss kontinuierliche Demokratisierung sein, weil immer umstrit-

Identitätspolitik und die liberale Demokratie Zum Ethos der liberalen Gesellschaft gehört der Schutz und die Gleichberechtigung von Minderheiten, die Identitätspolitik einfordert und konkretisiert. Vor dem Hintergrund des zunehmenden Rechtsruck und autoritären Antiliberalismus ist wichtig festzuhalten: Identitätspolitik und unsere liberale und offene Gesellschaft sind zwei Seiten einer Medaille. Sie gehören konzeptionell und auch historisch zusammen. Doch dass die Rechtsextemen jetzt bei Wahlen so erfolgreich sind, liegt auch daran, dass die Anti-Identitätspolitik in der Mitte der Gesellschaft Verbreitung fand. Auch dadurch wurden diskriminierende Positionen salonfähig und der Widerstand gegen rechts geschwächt. Umso wichtiger ist es heute, dass Identitätspolitik auch von der Breite der Gesellschaft offensiv gelobt wird – und zwar auch zur Verteidigung der liberalen Demokratie.

Karsten Schubert
Lob der Identitätspolitik
C.H.Beck Verlag, 2024
Dall-E 18 March 2024 Feminine man from South Tyrol
Dall-E 16 February 2024 Masculine woman from South Tyrol
Stable Diffusion 28 February 2024 Demiwoman from South Tyrol

Antisemitismus als Resultat des Identitätsdenkens?

Fallbeispiel Georgien

Im Zuge der Pro-Palästina-Proteste wird ein altes, fast ad acta gelegtes Thema wieder aktuell: der linksgerichtete Antisemitismus. Vorübergehend verstummt, ist diese politische Übereinstimmung zwischen radikalen linken und islamistischen Gruppen nun wieder sehr präsent. Große Teile der identitätspolitischen Bewegung, die sich ansonsten dem Schutz von Minderheitenrechten verschrieben hat, scheint an diesem Punkt aber auch erstaunlich gut mit dem rechtsnationalen Spektrum zu harmonieren. Ist diese identitätspolitische Linke einfach nur geschichtsvergessen? Dazu haben wir den Politikwissenschaftler, Soziologen und Extremismus-Experten Armin Pfahl-Traughber, Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung sowie Lehrbeauftragter an der Universität Bonn, um einen Kommentar gebeten.

Anmerkungen zum Desinteresse an einer bestimmten Minderheit von Armin Pfahl-Traughber

Antisemitismus: für Identitätslinke kein Thema

Die identitätspolitische Linke setzt sich für diskriminierte Minderheiten ein – darunter Diversität, Muslime oder People of Color (PoC). Doch es fällt auf, dass eine bestimmte Minderheit unter den vielen anderen fehlt: die Juden. Warum richtet sich der Einsatz nicht auch gegen Antisemitismus, wo jüdische Menschen doch nach wie vor Bedrohungen ausgesetzt sind? Man muss gar nicht erst auf Anschläge wie in Halle hinweisen, auch im Alltag kommt es immer wieder zu antisemitischen Herabwürdigungen und Erniedrigungen. Es wird aber auch mit Gürteln auf Körper eingeschlagen. Es bleibt nicht bei verbalen Angriffen – mitunter wird mit Gürteln zugeschlagen oder Kippas von den Köpfen gerissen. Solche Attacken gehen häufig mit abwertenden Bemerkungen und Rufen wie „Jude“ einher. Warum also ist Antisemitismus für die Identitätslinke kein relevantes Thema?

Dafür gibt es wohl unterschiedliche Gründe. Bei den letztgenannten Fällen waren die Täter oft arabischstämmige Muslime – also im Grunde selbst Angehörige

einer diskriminierten Minderheit. Indessen machen diese Beispiele deutlich: Angehörige einer benachteiligten Gruppe können selbst diskriminierend gegenüber Angehörigen einer anderen Gruppe handeln. Diese Erkenntnis passt jedoch nicht in das identitätspolitische Weltbild, das von einer Dominanzkultur der „Weißen“ ausgeht. Aus dieser Denkperspektive kann es auch keinen Rassismus von Schwarzen gegen Weiße geben.

Doch wie steht es um die Angriffe auf Juden in den genannten Fällen? Die erwähnten Juden waren ebenfalls „weiß“. Gehörten sie damit ebenfalls einer Dominanzkultur an? Wie würde man diese Dominanzkultur benennen? Oder waren die Angriffe nur eine überzogene Form der sogenannten „Israelkritik“? Gehörten die betroffenen Juden aber überhaupt zu diesem Kollektiv? Waren sie gar individueller Bestandteil eines „zionistischen Kollektivs“?

Man könnte derartige Gedankengänge weiterverfolgen, um die Absurdität mancher identitätslinken Denkmuster zu verdeutlichen. Bereits hier zeigt sich aber: Es geht nicht grundsätzlich um die Bekämpfung von Diskriminierung und die Unterstützung von Minderheiten. Empirische Studien in europäischen Ländern haben gezeigt, dass antisemitische Einstellungen unter Musli-

men überdurchschnittlich stark verbreitet sind – sie sind zwei- bis dreimal höher als unter befragten Christen. Doch warum ist das in der Identitätslinken kein Thema?

Eine mögliche Antwort lautet: Die Einsicht in diese Fakten stört das vereinfachte Weltbild, das sich nicht an universellen Menschenrechten orientiert, sondern auf der Idee von diskriminierten Gruppenidentitäten basiert. Ansonsten würde man Benachteiligungen und Angriffe nicht nur durch Individuen der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch durch Individuen anderer Minderheitsgesellschaften kritisieren. Doppelstandards stehen in jedem Fall nicht für die Glaubwürdigkeit politischer Akteure.

An einem sonnigen Mittwochnachmittag traf ich mich mit meiner Freundin und Transgender-Aktivistin Nata vor ihrem Haus in Tiflis. Sie wirkte nervös, hielt einen Taser in der Hand und führte mich vorsichtig zu ihrer Wohnung. Dort erzählte sie, dass sie und ihre Freundin Nutsa kurz zuvor von jungen Männern verfolgt und bedroht worden waren. Trotz mehrfacher Anrufe bei der Polizei blieb Hilfe aus. „Das ist unsere tägliche Realität“, sagte Nata resigniert. „Ich habe Angst, mein Haus zu verlassen.“ Das Leben für LGBTQ+-Personen in Georgien ist schwieriger geworden und viele wollen das Land verlassen, insbesondere nach der Verabschiedung neuer Anti-LGBTQ+-Gesetze durch die regierende Partei „Georgischer Traum“, die das verbieten, was sie als „LGBTQ-Propaganda“ bezeichnen. Die Abwanderung der LGBTQ+-Community Georgiens hat bereits eingesetzt. Umfragen zeigen darüber hinaus, dass über 80 % der Georgier gegenüber LGBTQ+-Themen negativ eingestellt sind. Laut UN-Daten gibt die Mehrheit der georgischen Männer an, sich mit queeren Personen unwohl zu fühlen, 83% würden sich schämen, wenn sie ein LGBTQ+-Kind hätten. Darüber hinaus würde die Mehrheit Freundschaften mit queeren Menschen vermeiden und sich dagegen aussprechen, dass sie in Berufen wie Lehramt arbeiten. Die Anti-LGBTQ+Rhetorik der Regierung und der fehlende Schutz verstärken diese Situation. Die Gewalt hat vor allem bei Veranstaltungen wie dem Pride zugenommen, der seit seinem ersten Marsch ins Visier konservativer Gruppen geraten ist. Wie mir Ani Tavadze, Vertreterin von Tbilisi Pride, mitteilte, wurden diese gewalttätigen Gruppen nie zur Rechenschaft gezogen, sondern haben Verbündete in der Regierung gefunden. Während der Pride 2023 hatte Tbilisi Pride mit dem Innenministerium zusammengearbeitet, das nicht nur die Sicherheit der Pride-Teilnehmer, sondern auch die der anwesenden internationalen Partner, darunter Vertreter westlicher Botschaften und Diplomaten, gewährleistete. Am 8. Juli gelang es extremistischen Gruppen dennoch, sich trotz Polizeipräsenz einzuschleichen und anzugreifen. Aufnahmen von der Veranstaltung zeigen deutlich, wie diese Gruppen Gewalt ausüben, während die Polizei nichts unternimmt. Später behauptete ein Sprecher des Innenministeriums, sie seien nicht in der Lage gewesen, das Gebiet zu schützen. Die Partei „Georgischer Traum“, die seit 12 Jahren in Georgien regiert, wird als populistische Partei kritisiert, der es an einer klaren und konsistenten Ausrichtung mangelt. Anfangs positionierte sie sich als pro-europäisch, doch im Laufe der Zeit hat sie sich gewandelt. Einer dieser Wendepunkte war 2023, als der damalige Premierminister Irakli Garibaschwili in Budapest auf der Veranstaltung Conservative Political Action Conference (CPAC) eine umstrittene homophobe Rede hielt. In seiner Rede lobte Garibaschwili Orbán als den aktuell „einzigen respektablen Führer“ in Europa. Dieser Moment schien den endgültigen Wandel in der Außen-

politik des Georgischen Traums zu markieren, weg von seiner pro-europäischen Rhetorik hin zu einer euroskeptischen, autoritär geprägten Haltung.

Die neuen Gesetze Im selben Jahr sollte ein „Auslandsagenten“-Gesetz erlassen werden, welches Organisationen, die mehr als 20 % der Gelder aus dem Ausland erhalten, dazu verpflichtet, sich als „Auslandsagenten“ zu registrieren. Dies folgt der restriktiven Gesetzgebung Russlands, die darauf abzielt, abweichende Meinungen zu unterdrücken. Der Vorschlag löste große Proteste aus, da viele Georgier*innen ihn als Angriff auf die Zivilgesellschaft und die Pressefreiheit betrachteten, der an den autoritären Kurs Russlands erinnert. Der öffentliche Aufschrei zwang die Regierung im März 2023, den Gesetzentwurf zurückzuziehen, doch kurz darauf wurde er erneut eingebracht und verabschiedet, gefolgt von der Verabschiedung des Gesetzes gegen LGBTQ+ im Oktober. Im Februar 2024 brachte die Regierung ein Gesetz ein, das gleichgeschlechtliche Ehen, Adoptionen durch LGBTQ+-Paare, Geschlechtsumwandlungen, die Darstellung von LGBTQ+-Beziehungen in den Medien und die Aufnahme solcher Inhalte in Bildungsprogramme verbietet. Die Kombination dieser Gesetze bedeutet nicht nur eine Bedrohung für queere Personen in Georgien, sondern auch für die Organisationen, die sie schützen sollen.

Artikel 8 des „Familienwerte“-Gesetzes verbietet den Bildungseinrichtungen – von Vorschulen bis hin zu Universitäten –, Informationen über eine vom biologischen Geschlecht abweichende Geschlechtsidentität, gleichgeschlechtliche Beziehungen oder bestimmte sexuelle Orientierungen zu verbreiten oder zu unterstützen.

Diese Einschränkungen gelten sowohl für den Lehrplan als auch für das Handeln des Personals innerhalb dieser Einrichtungen.

Keti Shavgulidze, Kunsthistorikerin, Professorin und Beraterin für Cisperi – Georgiens erstes Buch über queere Kunstgeschichte – warnt vor den verheerenden Auswirkungen des Gesetzes auf die Bildung. „Wie kann ich einen Kurs unterrichten, der queere Kunst verbietet – ein zensierter Lehrplan, der zeitgenössische Kunst ausschließt, die sich mit Liebe, Schmerz, Existenzialismus und Eros auseinandersetzt?“, fragt sie. „Wie unterscheidet sich das von der sowjetischen Zensur?

Dieses Gesetz schränkt nicht nur den Zugang zu Bildung ein, sondern auch die Meinungsfreiheit.“

Nach den Wahlen im Oktober 2024 Viele Aktivisten der progressiven Gemeinschaft Georgiens, die im Frühjahr und Sommer gegen diese Gesetze protestiert haben, glaubten wirklich, dass die Parlamentswahlen im Oktober eine Veränderung bringen würden. Sie hofften auf ein Koalitionsparlament mit einer starken Opposition, um diese Gesetze in Frage zu stellen und aufzuheben.

Aber die Wahlen haben gezeigt, wie weit entfernt einige „aufgeweckte“ Ideale von großen Teilen der Bevölkerung sind. Das International Republican Institute und das National Democratic Institute berichteten, dass es während der Wahlen zu „systematischer“ Einschüchterung und Belästigung von Wähler*innen innerhalb und außerhalb von Wahllokalen kam.

Die Beobachtungen der Internationalen Gesellschaft für faire Wahlen und Demokratie (ISFED) waren noch deutlicher: „Am Wahltag dokumentierte ISFED schwerwiegende Verstöße wie das Füllen von Wahlzetteln, Mehrfachwahl, ein beispielloses Ausmaß an Wählerbestechung, den Ausschluss von Beobachter*innen aus Wahllokalen sowie Fälle von Wählermobilisierung außerhalb von Wahllokalen, Erhebung ihrer persönlichen Daten und Kontrolle ihrer Wahlabsichten.“ Die Partei „Georgischer Traum“ machte das „Nein zum Krieg“ zum Schwerpunkt ihrer Kampagne und sprach damit die tiefe Angst vor Konflikten in einer Gesellschaft an, die Krieg aus erster Hand erlebt hat. Diese Botschaft sprach viele Georgier*innen an, die sich um Sicherheit, wirtschaftliche Stabilität und das Risiko eines weiteren Krieges mit Russland sorgten. Der russisch-georgische Krieg von 2008, in dem Russland kurzzeitig in Georgien einmarschierte und die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien anerkannte, ist vielen noch in frischer Erinnerung und hat eine bleibende Narbe in der nationalen Psyche hinterlassen. Mit Bildern aus der vom Krieg zerrütteten Ukraine warnte die Partei die Wähler, dass die Unterstützung der Opposition nur dazu führen würde, Georgien in einen weiteren Krieg hineinzuziehen. Die einfache Friedensbotschaft wirkte auf viele tröstlicher und relevanter als der Fokus der Opposition auf Reformen oder eine Annäherung an den Westen. Die Opposition hatte unterschätzt, wie sehr die Georgier Frieden und Stabilität schätzen, da sie sich lebhaft an vergangene Kriege erinnern und sich weiterhin Sorgen um die territoriale Integrität und die nationale Sicherheit machen. Es gibt noch einen weiteren Faktor: Viele Menschen betrachten das Konzept der Wokeness als etwas Fremdes, das oft im Widerspruch zu den georgischen kulturellen Werten steht. Die georgische Gesellschaft hat ein starkes Fundament in traditionellen Überzeugungen, die vom orthodoxen Christentum geprägt sind und sich auf die Familie und die nationale Identität konzentrieren. Dies macht es schwierig, dass Ideen wie Geschlechterfluidität, LGBTQ+-Akzeptanz und andere woke -Prinzipien breite Unterstützung finden. Während es in Städten wie Tiflis dank Aktivist*innen, Künstler*innen und Clubs lebendige queere Räume gibt, stößt die öffentliche Bekundung von Queerness außerhalb oft auf Feindseligkeit. Nichtsdestotrotz wird die georgische queere Gemeinschaft nicht verschwinden, sondern sich weiterentwickeln.

Armin Pfahl-Traughber
Makuna Berkasashvili
Artbreeder 29 February 2024 Nonbinary person

Warum müssen

unbedingt wer sein?

Linke und rechte Identitätspolitiken vor den Kulissen einer Apokalypse

Wurden Sie „gecancelt”? Wissen Sie nicht mehr, in welches Klo Sie müssen, wenn Sie müssen, und wen Sie dort eventuell antreffen? Hatten Sie zuletzt in Latein im Gymnasium mit Pronomen zu tun und sind sich über die genaue Funktion dieser Wortart und warum Sie sie jetzt angeben müssen im Unklaren? Oder sind Sie einfach nur, wie der Showmaster Thomas Gottschalk, ein „alter, weißer Mann”, der nicht mehr weiß, was er noch sagen darf? Falls das so ist, oder Sie das nur so empfinden (das reicht nämlich auch, wie wir sehen werden), sind Sie wahrscheinlich ein Opfer von „Identitätspolitik”. Aber grämen Sie sich nicht Opfer zu sein. Wie die Soziologen Bradley Campbell und Gordon Manning schon 2014 in ihrem Artikel Microaggression and Moral Cultures festgestellt haben, ist dies das wertvollste soziale Kapital in unserer „Opferkultur” culture of victimhood ). Deswegen, so das Argument der beiden Sozialwissenschaftler, ist die Betonung des eigenen Opferstatus zu einem Wettbewerb geworden, der mit ebenso großer Verbissenheit geführt wurde, wie in früheren „Ehrkulturen” cultures of honor ) der Kampf um Ehre oder in „Rechtskulturen” cultures of rights) der um Menschen- und Bürgerrechte. Aus der Nachschau folgender Zeitalter mag es gleichermaßen absurd erscheinen, wegen der Verwendung der falschen Pronomen gecancelt zu werden, wie wegen der Verwendung des falschen Adelsprädikats im Morgengrauen vor den Stadttoren auf dreißig Schritt mit Pistolen aufeinander zu schießen. Innerhalb des kulturellen Systems der jeweiligen Zeit und Epoche ist das aber nicht nur vernünftig, sondern unausweichlich. Das war jetzt übrigens „Kulturrelativismus”, falls sie diesen Begriff in diesem Zusammenhang auch schon mal gehört haben: Der – wissenschaftliche – Ansatz, die Praktiken einer Kultur in erster Linie aufgrund ihrer Logik und Funktionsweise innerhalb des sozialen Systems dieser Kultur – und nicht der eigenen – zu beurteilen; und nicht, wie Ihnen vielleicht suggeriert wurde, ein „kultur-

marxistischer” Trick, zur Umwertung aller Werte zu einem “anything goes”. Stattdessen wollten uns die – übrigens großteils aus der kulturellen Melange der alten Habsburgermonarchie in die USA emigrierten – Begründer dieser Denkrichtung wie Franz Boas und Robert Harry Lowie (geboren als Robert Heinrich Löwe in Wien) ein Instrument in die Hand geben, um den durch Kolonialismus und Imperialismus devastierten Kulturen Amerikas gerecht zu werden und – wie es Boas Schülerin Ruth Benedict so treffend formulierte – „über den Umweg” der fremdartigen Logik anderer Kulturen die Willkür und Paradoxien der eigenen besser zu verstehen. Es war, wie Charles King in seinem Buch Gods of the Upper Air: How a Circle of Renegade Anthropologists Reinvented Race, Sex, and Gender in the Twentieth Century ein weiterer großer Wurf im Sinne des Projektes der Aufklärung, um nun eben die Begrenztheit der eigenen kulturell geprägten Denkweisen zu überwinden. Während Sigmund Freud zeitgleich in der alten Heimat das „Unbehagen in der Kultur” diagnostizierte, stellten diese Denker die Frage, wie „essentiell” jene Kategorien – u.a. Geschlecht, Familie, Verwandtschaft, sexuelle Orientierung – denn nun wirklich waren, die bei vielen Menschen so viel Unbehagen auslösten und zu allerlei neurotischen Verkrampfungen der Seele führten. Der ethnographische Befund zeigte nämlich, dass diese Kategorien bei unterschiedlichen Kulturen recht unterschiedlich ausgeprägt sein konnten. Alles, was bis dahin als sichere, eindeutige und untrennbare Elemente von Identitäten (Männer sind so, Frauen so, Deutsche sind so und Chinesen anders) als „essentiell” galt, entlarvten diese Forscher als kulturell geschaffene Ensembles von Eigenschaften, Artefakten gleich nach den Bedürfnissen unterschiedlicher Gesellschaften zusammengefügt: „konstruiert” also. Das verbirgt sich hinter dem Begriff „kultureller Konstruktivismus“, den Sie vielleicht auch schon mal gehört haben. Dementgegen stehen dann „essentialistische”

Positionen, die sich gerne eines kruden Positivismus befleißigen, der selbst schwer reduktionistischen Naturwissenschaftlern die erkenntnistheoretischen Schweißperlen auf die Stirne treibt – außer man ist evolutionärer Psychologe und befasst sich hauptamtlich mit der Frage, warum Männer mutmaßlich auf große Brüste stehen. Was Essentialisten absichtlich missverstehen ist, dass die Superkraft unserer Spezies, die Fähigkeit der „kulturellen Anpassung”, es uns ermöglicht, trotz und über die Begrenztheiten unserer physischen und biologischen Kreatürlichkeit kulturelle Adaptionen zu entwickeln, die scheinbar in einem krassen Gegensatz zu unseren „natürlichen” Voraussetzungen stehen. Der Kulturrelativismus kann in die Reihe der Beleidigungen der Moderne eingereiht werden, die von Kopernikus über Darwin, Marx, Nietzsche und Freud (die Liste lässt sich beliebig erweitern) schrittweise alles in Frage gestellt – relativiert – haben, was vorher als fix und unerschütterlich galt. Unter diesen Anschlägen wankt unsere Kultur noch heute – oder gerade heute – wenn man bedenkt, dass die meisten davon in dem nach Kriterien der kulturellen Evolution kurzen Zeitraum von vier, fünf Generationen über uns hereingebrochen sind. Deswegen, und nicht, weil sie an sich so skandalös sind, erschüttern die einander überschneidenden und verstärkenden Schockwellen uns gerade jetzt so sehr, noch dazu, während die äußeren Grenzen unserer globalisierten Gesellschaft uns zunehmend deutlicher vor Augen geführt werden.

Paradoxerweise bespielt die Klaviatur der „Opferkultur” mittlerweile niemand besser als eben die, welche ihre ererbten Privilegien und aktuellen Gaunereien durch diesen Opfergestus verteidigen. Hört man sich die politische Rhetorik der Rechten von Victor Orbán bis Donald Trump an, trieft diese von Verletztheit, Bedrohtheit und dem verzweifelten Ruf nach Selbstbehauptung, wie Jessie Barton Hronešová und Daniel Kreiss jüngst

in einer einsichtsvollen Analyse gezeigt haben: „Hijacked victimhood“ also „gekaperter Opferstatus” nennen sie das, wenn in Wahlkampfreden gesellschaftlich dominante Gruppen als gefährdete, unterdrückte oder schutzbedürftige Opfer von meist effektiv marginalisierten Gruppen dargestellt werden. Westliche Rechte müssen es bei weinerlichen Reden belassen. Nicht jeder zu kurz gekommene Staatsmann kann gleich aus Angst vor fiktiven Nazis ein Nachbarland überfallen. Die Logik des Opfergestus ist aber dieselbe und rechtfertigt, in der Endkonsequenz, die präventive Vernichtung des selbst beschworenen Feindes. Die „Herrenrasse“ (oder jede beliebige andere, für bedroht erklärte und dann meist essentialistisch gerechtfertigte Institution: Herrenwitze, Heterosexualität, Tradwives, die bürgerliche Kernfamilie etc.) war schon immer ein zartes Pflänzchen. Darin liegt eine der Paradoxien rechter Rhetorik, die sich mit dem vorgespiegelten Sozialdarwinismus – will heißen, dem „Überleben des Stärkeren” – schlecht vereinbaren lässt. Sie offenbart sich aktuell vielleicht am deutlichsten in den diversen sektiererischen Internetforen diverser „Männerrechtsbewegungen”, deren kollektiver Avatar in der bleistiftdünnen Gestalt und oft tränenschwer gebrochenen Stimme des kanadischen Psychologen Jordan Peterson eben so wenig der Essenz des „harten Mannes” entspricht, wie ein Großteil ihrer Incel-Klientel, welche sich gleich von der größten aller möglichen Minderheiten –dem weiblichen Geschlecht – bedroht fühlen, die immerhin mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmacht. Wenn man diese Jammergestalten versammelt sieht, möchte man sich den Worten ihres Propheten anschließen: „Man up, guys! Get your life in order!“ Es wäre jetzt schön, wenn es auf der Gegenseite anders aussähe. Dort tummelt sich indes ein toxisches Gemisch aus moralischem Vigilantentum und vikarischen Vertretungsanmaßungen von tatsächlichen Opfergruppen durch Angehörige der privilegierten Ober-

schicht des globalen Nordens. Jüngst konnte man auf amerikanischen Ivy League College Campus – mithin die privilegiertesten Orte des Planeten – angesichts des Gemetzels im Nahen Osten die Selbstzerfleischung dessen, was mal „die Linke“ war, in einem beispiellosen Wettkampf beobachten. In der stellvertretenden Performanz des arrogierten Opferstatus versuchten sich Sympathisanten der einen wie der anderen Seite gegenseitig zu übertreffen und führten sich angesichts dessen selbst ad absurdum: Während die pro-palästinischen College Kids an der Columbia University Essenslieferdienste als „humanitäre Hilfe” verlangten, brachen jüdische Studierende an der UCLA angesichts eines Protestes der Gegenseite in Tränen aus und demonstrierten ihre Überidentifikation mit den tatsächlichen Opfern der Gewalt der Hamas in Israel, indem sie unter Tränen, an einen College-Cop geklammert, stammelten: „They want to kill us!

Auf beiden Seiten des politischen Spektrums handelt es sich bei „IdentitätsPOLITIK“ um Kampfformen unterschiedlicher Fraktionen der Gegenelite in der gegenwärtigen Phase des Finanzmarkt-Kapitalismus, wie der Historiker Peter Turchin in seinem Buch End Times: Elites, Counter-Elites and the Path of Political Disintegration überzeugend argumentiert hat. Turchin zeigt, dass die kontrahierende Elite der globalisierten Welt, in der sich der verfügbare Reichtum immer mehr konzentriert, zahlreiche Anwärter auf den Elitenstatus produziert, aber nicht absorbieren kann. Deswegen findet der „Kulturkampf” am heftigsten an Universitäten und in den neuen Medien statt, wo diese gescheiterten Eliteaspiranten produziert werden und sich am leichtesten produzieren können. Dies fällt dort auf fruchtbaren Boden, wo durch die Instrumentalisierung von Identitäten wirklich Elitepositionen besetzt werden können: z.B. an Unis für die linke, intellektuelle Gegenelite und in populistischen Parteien für die rechtskonservative, politische Gegenelite. Ob man eine Professur

für Queer Studies anstrebt oder auf einen glorifizieren Blockwartposten unter dem „Volkskanzler“ setzt, hat mehr mit Herkunft, politischer Sozialisierung und pragmatischer Chancenabwägung zu tun, als damit, dass tatsächlich ein epochaler Kampf um die kulturelle Zukunft der westlichen Zivilisation geführt würde. Dieser entscheidet sich inzwischen – unter weit weniger Getöse –, indem die Klimakipp-Punkte wie die Dominosteine fallen. Biodiversitätsverlust, Bodenverlust, Ressourcenverknappung, demographischer Kollaps und die Verpestung der Umwelt mit Ewigkeits-Chemikalien beschneiden die Grundlagen jeder zukünftigen Zivilisation drastisch.

Die amerikanische Philosophin Nancy Fraser hat in ihrem Buch Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt überzeugend dargelegt, dass viele der berechtigten Kämpfe, die unter dem Übertitel von Identitätspolitik geführt wurden – der Kampf um die Rechte von Frauen, Indigenen und Minderheiten – untrennbare Bestandteile desselben Widerstandes gegen die destruktiven Tendenzen unseres sozioökonomischen Systems sind, wie der Kampf gegen Umweltzerstörung und (neo)-koloniale Ausbeutung. Das ist jetzt auch nicht so neu; hat doch Friedrich Engels schon in Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats auf den Zusammenhang zwischen der Ausbeutung und Unterdrückung der Frau, des kolonisierten Fremden und der Natur hingewiesen. Es ist daher auch nicht weiter verwunderlich, wenn die Nebelwerfer der „Lügenpresse“ und der „Systemparteien“ suggerieren wollen, dass dem nicht so ist und wir uns zwischen Geschlechtergerechtigkeit und einer vernünftigen Migrationspolitik, oder zwischen Energiewende und stabilen Familien entscheiden müssen. Sie werden von beiden Seiten weder das eine noch das andere bekommen, weil sie, wie Nancy Fraser argumentiert, nur alles oder nichts bekommen können.

Midjourney 2 April 2024 Genderqueer woman
Midjourney 2 April 2024 Nonbinary person from South Tyrol
Midjourney 2 April 2024 Gender-neutral person from South Tyrol
Midjourney 2 April 2024 Masculine man
Midjourney 2 April 2024 Demiman from South Tyrol Runway 29 February 2024 Feminine man South Tyrol

The Nonbinary Lens: Employing the Gender Spectrum for a Cyberfeminist Critique of Data and AI

Technology and gender are not separate domains. According to feminist technoconstructivism, they shape each other in a feedback loop of mediation and regulation. This means that 1) the way we think about gender guides how we design our algorithms and 2) the way technology presents gender, such as in online subscription forms, influences the way we live our gender. This mutual relation implies that social gender biases, gender-based power structures, and heteronormativity, which is the systematic exclusion or devaluation of the queer experience, may also occur in the technological infrastructure.

Queer data and residual categories

Since the embedding of gender identities into technology happens through how we datafy them into categories, queer data denounces any claim of neutrality and objectivity of data. Indeed, one of the bigger problems is that, in any system of identity categories, there will always be elements that are impossible to neatly categorise. Due to their mixed nature, these residual elements are usually othered, dismissed, or miscategorized – therefore excluded. Residuality has tremendous consequences since, as data feminism preaches, in our data society only what is properly counted, quantified, categorised, and datafied actually exists.

Queer data calls for the design of more inclusive and anticategorical data structures to formalise gender identities. Indeed, we cannot fixate a nonbinary person’s identity into a single category since their multiplicitous and fluid nuances cannot be captured by only one label. Also, adding categories to the “woman/man” binary is a palliative since any categorisation generates residuality.

“Nonbinary” cannot be a third additional category: nonbinarity is a lens that both normalises queer genders and queers the conforming ones in just one frame.

The gender spectrum

To be clear with terminology, sex and gender are two mutually influencing but different concepts: the first indicates physical attributes, and the second relates to behavioural and psychological aspects. According to the gender pluralist theory, gender is a social construct built performatively as a layering of meanings associated with femininity or masculinity. Still, this theory also acknowledges the lived experience of many queer people who perceive gender as an authentic identity. Due to its semantic and performative nature, gender identity is not unitary and stable but moves around a semiotic structure: the gender spectrum. This spectrum is a continuous plane of meanings, on top of which dominant societies imposed the two Abrahamic

categories of “women” and “men” — and nonbinary people are those who live in between the cracks of such categories.

Querying the Quantification of the Queer QQQ are two data-driven visualisations of the gender spectrum that try to provide an answer to the queer data challenge. Their design started with the analysis of psychometric tools for capturing gender identity and images of gender spectra found in the queer web. Then, a collaborative approach valued the contribution of gender-diverse people according to feminist practices. Indeed, the pursued data structure emerged from the design of the two visualisations — the Gender Diamond and Flower — through which people could debate their views.

QQQ is a critical design artefact that operates a queer action. Inspired by the work of Sandra Bem, the visualisations subvert a status quo of fixed opposite categories, transforming them into coexisting gender scales that generate a new plane of mixed possibilities. In other words, QQQ shifts the formalisation of gender identity from a nominal variable — whose modalities are incompatible categories — to the combination of two or three ordinal variables — gender scales whose modalities are selected placeholders on a continuum of increasing femininity, masculinity, and other gender factors. As a result, QQQ creates a system where nonbinary genders are an inherent part of the system, cohesively united with the traditional ideals. The squares in the two visualisations, whose matching labels are now being adjusted according to a study involving more than 450 people, are not categories referring to incompatible monolithic ontologies, which any nominal variable assumes, but selected points of a unitary nuanced ontology.

NonbAInary

Following feminist technoconstructivism, feminist critique of AI denounces that gender-based discrimination is embedded into AI models. In the case of text-toimage technologies such as Stable Diffusion or Dall-E, gender biases may happen in the form of sexualised women, stereotyped professions, or women that smile more than men. However, the majority of the studies still rely on the gender binary due to the lack of an established system for analysing nonbinary genders. As a result, these genders end up being both dismissed from academic research and discriminated by AI models, which, as an example, make heteronormative recommendations and facial recognitions, as they are absent from the training datasets.

NonbAInary is a new project showing that it is possib-

At the intersection of computer science and queer identity theory, NonbAlnary is an analysis of text-to-image Al models that overcomes categorical thinking in bias detection, expanding the discussion beyond the comparison between women and men to include nonbinary genders. NonbAlnary is investigates how text-toimage Al models depict nonbinary gender presentations. Indeed, these models might produce problematic or stereotypical depictions as nonbinary genders escape normative datafication processes, thus missing from training datasets. A set of Al-generated images was created prompting the labels of QQQ to Dall-E, Stable Diffusion, Runway, Midjourney, and Artbreeder.

le to conduct systematic quantitative research on nonbinary identities. Investigating how text-to-image AI models depict their stereotypes of various gender labels, this project uses the QQQ visualisations as a basis for the whole study, as each label is mapped and quantified through gender scales. Indeed, after systematically gathering AI-generated gender portraits, participatory methods will be used to detect gender biases along the spectrum. Indeed, the study will ask people to locate the AI-generated images on the QQQ visualisation, thus checking if the label used as the original prompt matches the perceived gender. Indeed, it is already clear that Dall-E has difficulties in depicting nonbinary genders such as “masculine women” (who are extremely masculine), “gender-blending people” (who have glitches on their faces) or “genderqueer people” (who get dehumanised). The point is that queer genders are not necessarily a mess: they only need a more sophisticated – nonbinary, perhaps – lens.

Fragen an Hartmut Rosa

Der Soziologe und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa geht in seiner Theorie der sozialen Beschleunigung und Resonanz der Frage nach, wie in einer sich zunehmend schneller entwickelnden modernen Gesellschaft die Zeit wahrgenommen wird. Beschleunigung und Verfügbarmachung sind dominante Prinzipien der modernen Welt. Haimo Perkmann befragt den Autor der Resonanztheorie, ob diese soziale Entwicklung der Selbstentfremdung nicht auch tiefgreifende Auswirkungen auf unser Identitätsverständnis hat.

KULTURELEMENTE Können Sie unseren Lesern und Leserinnen in wenigen Worten erklären, was ihre Theorie im Kern besagt?

HARTMUT ROSA Als Soziologe analysiere ich gesellschaftliche Entwicklungen. Dabei habe ich beobachtet, dass moderne Gesellschaften seit rund 250 Jahren zunehmend versuchen, Kontrolle über die Welt zu gewinnen, sie verfügbar zu machen, Dinge in Reichweite zu bringen, sozusagen die Weltreichweite zu vergrößern, etwa in Bezug auf das Sichtbare mit Teleskopen, Mikroskopen usw., auf das Erreichbare, mit Transportmitteln, Raketen, Satelliten usw., auf das Kontrollierbare in materieller, wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht. All dies gilt es dann nutzbar zu machen. Es sind also vier Schritte, mit denen wir uns die Welt verfügbar machen wollen: 1. sichtbar machen 2. erreichbar und zugänglich machen, 3. unter Kontrolle bringen, 4. nutzbar machen. Allerdings erzeugen wir da zugleich monströse Unverfügbarkeiten, Situationen, in denen wir am Ende nichts mehr unter Kontrolle haben. Das gilt für unkontrollierbare politische Entwicklungen ebenso wie für den Alltag. Was uns heute fehlt, ist eine andere Form der Weltbeziehung, die ich Resonanzbeziehung nenne, wo es nicht um Kontrolle und Beherrschen geht, sondern darum, mit der Welt in Beziehung zu treten, zuzuhören und zu antworten. Ich glaube, dass uns das heute nicht gelingt, weil wir unter entfremdeten Bedingungen leben.

Bei Entfremdung, Weltbeziehung oder Verfügbarmachung lese ich Marx und Hegel heraus?

Das Entfremdungskonzept hat natürlich Max formuliert, er schreibt fast wörtlich, dass hier eine Störung der Weltbeziehung zugrunde liegt. Er sagt, wir werden entfremdet vom Arbeitsprodukt und -prozess, dadurch auch von der Natur, vom Anderen, unserem Nächsten und am Ende von uns selbst. Am Ende steht die Selbstentfremdung. Ich würde hinzufügen, dass es nicht nur an den Produktionsmitteln liegt, sondern an der modernen Lebensführung generell. Und unter Marx liegt sozusagen Hegel, er geht ihm voraus; aber auch JeanJacques Rousseau, wenn er den Zivilisationsprozess beschreibt. Auch hier führt die Entwicklung des Fortschritts zu einer Selbstentfremdung.

Wir stehen vor einem unerklärlichen Paradox: Durch das Internet, Smartphone usw. müssten wir eigentlich Zeit gewonnen haben, doch irgendwie haben wir weniger Zeit als vorher. Wo haben wir diese Zeit liegen lassen?

Das war die Grundfrage, von der ausgehend ich meine Soziologie der Weltbeziehung entwickelt habe: Wenn die Moderne daran baut, Zeit zu sparen, nicht nur im Transport, sondern auch in der Kommunikation und Produktion von Gütern, Dienstleistungen und so weiter, wo bleibt dann die Zeit?

Was man mit einem historischen und auch kulturvergleichenden Blick feststellen kann, ist: Je schneller eine Gesellschaft wird, desto weniger Zeit hat sie. Dies betrifft vor allem gewisse soziale Schichten.

Das Grundproblem hier ist, dass moderne Gesellschaften sich nur dynamisch zu stabilisieren vermögen. Das heißt, sie müssen wachsen, beschleunigen, steigern, optimieren… aber nicht, um irgendwo hinzukommen, sondern bereits nur, um dort zu bleiben, wo sie sind. Steigern, um das Bestehende zu erhalten. Um unseren „Lebensstandard“ aufrecht zu erhalten, müssen wir also jedes Jahr etwas mehr produzieren, konsumieren und verteilen. Diese „dynamische Stabilisierung“ führt dann aber auch dazu, dass wir für jedes einzelne Ding weniger Zeit in der Herstellung haben. Da spielt natürlich die Kapitalbewegung, wie Marx sie beschreibt, eine große Rolle. Um der Beschleunigung gerecht zu werden, haben wir nun das „Multitasking“ erfunden. Aber dadurch, dass wir heute alles gleichzeitig tun können, verlieren wir das, was wir Muse nennen; kaum haben wir eine halbe Stunde Pause, versuchen wir die Zeit nutzen, um irgendwas anderes zu tun oder fertig zu stellen. Die Menschen geraten unter Druck. In Südkorea gibt es beispielsweise das Phänomen, dass junge Menschen absichtlich Verbrechen begehen, um ins Gefängnis zu kommen, denn nur dort haben sie endlich Ruhe von allem. Im Gefängnis fühlen Sie sich frei – auch von Verpflichtungen.

Stable Diffusion 31 March 2024 Nonbinary person
Runway 29 February 2024 Gender-blending person from South Tyrol

In unserer Zeit der Verfügbarkeit und individuellen Gestaltungsmöglichkeiten verschwimmt die eigene Identität. Vielleicht könnte man ganz auf Zuschreibungen verzichten. Das Gegenteil ist aber der Fall, wir sehen zunehmende kollektive Identitäts- und Gruppenbildungen. Auf der einen Seite eine konstruierte, auf der anderen Seite eine essentielle Identitätsannahme. Kann es sein, dass die heutige Identitätspanik etwas mit dem Verlust von Resonanz zu tun hat?

Das entspricht eigentlich der Definition von Faschismus, wie ihn Mussolini in seiner Autobiographie beschreibt: ein Volk, ein Wille, eine Stimme.

Wir stehen vor dem nächsten Paradox: Freiheit und Unfreiheit. Vielleicht sogar Identitätsverlust durch Freiheit. Man könnte dem Trugschluss verfallen, von der guten alten Zeit zu sprechen. Dagegen verwehren Sie sich. Dennoch lässt sich feststellen, dass Menschen, die etwa noch im Rhythmus der Jahreszeiten leben und alte Bräuche pflegen, ein gewisses Selbstverständnis zu haben scheinen.

Klar, man hat das Gefühl, diese Kinder sind ganz anders geerdet. Ich habe vor Jahren mit Florian Opitz einen Film gemacht, er heißt Speed – auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Dort haben wir Leute mit verschiedenen Berufen vorgestellt und nach Beschleunigung und Entschleunigung gefragt. Da kam auch eine Schweizer Bauernfamilie vor, das waren die einzigen, die irgendwie nicht gehetzt waren und frei schienen, obwohl sie eigentlich nie in Urlaub fahren konnten wegen der Viehhaltung. Die hatten kein lockeres Leben, mussten sehr früh aufstehen und bestimmten auch nicht selbst über ihre Zeit. Ihre Weltreichweite war sehr klein, da sie ihre Heimat nie verließen. Trotzdem hatten sie das Gefühl von Freiheit.

Das heißt aber nicht, dass es früher besser war, denn wir müssen bedenken, dass die Resonanzmöglichkeiten früher aus anderen Gründen massiv eingeschränkt waren, z.B. durch Repression, die verhinderte, dass viele Menschen, vor allem auch Frauen und Minderheiten, überhaupt eine eigene Stimme entwickeln konnten.

Mir scheint, wir versuchen heute als Gesellschaft, all das aus der Vergangenheit mitzunehmen, was uns eine Ruhepause verschafft. Kaminfeuer, Rituale, Entschleunigung,...

Unser Problem heute ist weniger die Repression von außen als vielmehr die Selbstentfremdung. Die Resonanz ist heute wie damals nicht einfach verfügbar, sonst könnte man Resonanz ja einfach kaufen, man könnte sich einfach optimieren. Aber so funktioniert das nicht. Es ist eher so, dass einen plötzlich etwas anspricht, berührt, widerfährt. Und genau in dieser Antwort fühle ich mich lebendig verbunden. Das heißt, ich kann eine Resonanzbeziehung nicht einfach herstellen. Wir versuchen das natürlich immer wieder und schieben das alles in eine Oase, Wellnessoasen, Entschleunigung, Achtsamkeit... Wir erwarten uns dann, dass sich im Ruheraum nach der Sauna die Resonanz einstellt und wundern uns, wenn nichts geschieht. Wir wollen uns Resonanz kaufen. Ein Beispiel: Es gibt heute Kreuzfahrten mit Polarlichtgarantie, oder Löwensafari mit Löwengarantie. Wir können aber die Resonanz nicht kaufen, wir können lediglich die Bereitschaft dafür schaffen. Unter bestimmten Bedingungen wird Resonanz sehr unwahrscheinlich, z.B. in Angst- oder StressSituationen oder wenn wir es eilig haben, etwa auf dem Weg zum Flughafen. Das Problem ist, dass wir heute praktisch immer auf dem Weg zum Flughafen sind.

Ich habe mich selbst lange mit der Identitätsfrage beschäftigt. Mein erstes Buch ist Identität und kulturelle Praxis Wie Sie schon sagen, in der vormodernen Zeit war die Identität eigentlich mit der Geburt festgelegt. Der Sohn eines Schreiners wurde Schreiner usw., es gab auch nur sehr eingeschränkt Aufstiegsmöglichkeiten. Hier habe ich Identität durch den Blick nach und von außen gefunden, die Welt hat mir gesagt, was ich bin – und der Platz in der Welt wurde an die nächste Generation weitergegeben. Die Moderne lebt nun von der Idee, dass ich mir meinen eigenen Platz suche. Ich kann alles werden.

Man kann sagen, in diesem Versuch der Festigung der eigenen Identität durch Abgrenzung vom anderen gibt es eben keine Resonanz, nur ein Echo, Einstimmigkeit. Resonanz ist die Transformation der Identität durch die Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden, wir lernen und wandeln uns in dieser Begegnung. Es gibt eine Brücke zum Anderen, und diese Brücke hat den Preis, dass ich mich beim Überqueren verwandle, und der andere auch; deshalb bestehe ich darauf, so etwas wie eine eigene Stimme zu haben.

Darüberhinaus braucht Identität eine temporale Resonanz, d.h. man antwortet in dem, was man ist, auf die Vergangenheit und entwirft sich dadurch in die Zukunft hin. Wir sind in Resonanz mit der Geschichte, hier finden wir Verbindungen und Antworten für die Zukunft.

Oft gilt jedoch, dass ich mich dann selbst festlege: Sobald ich einen Weg gefunden habe, also eine Karriere verfolge, schlage ich eine Laufbahn ein, an der ich dran bleibe. Auch privat, z.B. in der Ehe: Ich entscheide heute selbst, wen ich heirate, aber dann versuche ich dran zu bleiben und z.B eine Familie zu gründen.

Legen wir aber heute unsere Identität selbst fest oder erschaffen wir sie immerzu neu?

Hier kommt wieder meine Theorie ins Spiel. Unsere Spätmoderne ist so schnell und dynamisch geworden, dass eine Identität selten über ein ganzes Leben hinweg hält. Weder privat noch beruflich. Heute gilt das sogar für das Geschlecht, jemand kann heute sagen: Ich lebe halt jetzt mal als Mann; oder als Frau. Letztlich habe ich den Identitätsbegriff aufgegeben, weil er genau zu diesen beiden von Ihnen genannten Problemen führt. Entweder versuche ich, meine Identität festzuschreiben oder ich diffundiere sie und sage, ich habe keine... Beide Extreme führen aber in eine problematische Richtung. Im ersten Fall hat alles, was nicht so ist wie ich, keinen Platz, bis ich am Ende nur noch eine Stimme höre. Ich nenne das eine Echo-Beziehung; denn es wäre ja wichtig, dass man eine andere Stimme hört und nicht seine eigene, die mit der Stimme der eigenen Gruppe verschmelzt.

Im Moment sind wir allerdings dabei, Zukunft und Vergangenheit zu verlieren: Wir haben keine tragende Zukunftskonzeption, und nehmen auch die Vergangenheit nur noch als faschistisch, rassistisch, imperialistisch, kolonialistisch, sexistisch, homophob oder transphob wahr. Zentral ist in der Begegnung mit dem Anderen aber die Lebendigkeit, nicht der unversöhnliche Widerstreit oder die Diffusion, wie auch die identitätspolitische Linke denkt.

Was könnten man diesen starren Haltungen entgegensetzen?

Sagen wir so, die eigene Identität ändert sich sehr wohl im Laufe der Zeit, aber nicht erratisch und auch nicht ständig, sondern in einem Prozess, der mit der Vergangenheit in Verbindung steht. Man sieht den heutigen Verlust einer tragfähigen Konzeption darin, dass wir einerseits eine massive Ausbeutung der Natur, eine extreme Verdinglichung haben – Massentierhaltung, Fracking und so weiter –, während wir auf der anderen Seite das Gegenteil suchen, die unberührbare Natur oder das eigene Haustier, immer mit einem Resonanzversprechen. Ein gutes Beispiel für Resonanz wäre im Gegensatz dazu ein Biobauer, der mit der Natur in Beziehung steht und sie trotzdem nützt, nicht musealisiert.

Generell sollten wir im gesellschaftlichen Zusammenleben den Fokus der Aufmerksamkeit verschieben und unsere Haltung zu den Dingen und zum Leben ändern, weg vom reinen Konsum und hin zu einer Beziehung zur Welt.

HANNES EGGER Wie darf ich dich in diesem Gespräch nennen?

GESPRÄCHSPARTNER Gesprächspartner? Oder „du“ oder so ähnlich?

Du arbeitest künstlerisch ganz dezidiert zu deinem Namen bzw. zu deiner Identität. Wie kam das?

Ich war schon immer sehr fasziniert von diesem Phänomen, dass wir uns gegenseitig konstruieren, indem wir uns gegenseitig ansprechen und symbolisch belegen/kodieren. Allein durch Worte und Sprache bilden wir Identität, Gesellschaft, Gemeinsamkeit, Individualität und Zusammengehörigkeit. Ausgehend von solchen Beobachtungen, Überlegungen und der Faszination daran, habe ich angefangen, Worte zu sammeln, mit denen ich konkret benannt worden bin.

Und nicht, weil ich egomanisch wäre, oder weil ich mich gekränkt fühle, wenn ich irgendwie unpassend angesprochen werde, mir geht es tatsächlich um etwas Grundsätzliches und um zu verstehen, was mit mir passiert, wenn mich jemand mit „Papa“ benennt, oder mit „Versicherungsnehmer“, oder „Untermieter“, „Gesprächspartner“, „Autofahrer“, „Verkehrsteilnehmer“, „Süßer“, „Arschloch“ usw… All diese Worte tun etwas mit uns und wir verhalten uns zu ihnen. Wir haben immer ein Verhältnis zu diesen Bezeichnungen und sie schreiben sich in unser Gedächtnis, in unser Verhalten, in unser Denken über die Welt und über uns selbst, über unsere Gemeinschaft, unser Wirken in Gemeinschaften usw., ein.

Wie verleihst du dieser Recherche künstlerisch Ausdruck?

Zunächst habe ich angefangen, diese Worte zu sammeln, später habe ich begonnen sie mir selber wieder zuzuschreiben, mir sie mit Farbe und Nadeln in die Haut zu stechen. Und irgendwann kam ich zur Überlegung, dass wenn ich so viele Worte habe, und die wir alle haben, die ich exemplarisch mit mir an meinem Körper vorführe/aufführe, - warum braucht es dann diese eine und erste Benennung überhaupt? Dieser erste Verwaltungsakt am Menschen, diese erste Zuschreibung, diese erste Kategorisierung, diese erste hoffnungsvolle Ab-

Ein Gespräch mit dem Künstler, der im Rahmen des Projekts untitled (untitled) seit Ende 2020 seinen Namen ablegt.

kürzung der Eltern? - Warum braucht es diesen Namen?

Um genau das herauszufinden habe ich begonnen, Gesetzestexte zu lesen und von Amt zu Amt zu ziehen.

Ich habe Termine gemacht, habe mich beraten lassen und habe dann ganz offiziell am Standesamt beantragt, meinen Namen abzulegen.

Herausgefunden habe ich schlussendlich, dass es in Deutschland möglich ist den Namen zu ändern, aber nicht ihn offiziell abzulegen. Zwar ist es nicht verboten keinen Namen zu haben, gleichzeitig gibt es aber Gesetze, die dringend einen bürgerlichen Namen voraussetzen.

Ich habe einen Hebel gesucht, um dieses System zu unterlaufen, um den Behörden nicht nachzulaufen und sie zu bewegen, mit mir in Dialog zu treten. Denn sie wollen ja etwas von mir: dass ich einen Ausweis trage!, dass ich mich in ihre Verwaltungsstrukturen einpasse mit diesen Namen und Nummern! Und in diesem Verhältnis habe ich mir überlegt, dass ich aus meinem Personalausweis den Namen ausschneide und eben eine Lücke installiere. Der Ausweis wird dadurch als Dokument ungültig und in ein künstlerisches Objekt überführt.

Trägst du gerade keinen Ausweis bei dir oder diesen mit der Lücke?

Ich trage den Originalausweis nicht bei mir, aber ich trage eine Kopie von dem Kunstwerk und den Stückchen, die ich ausgeschnitten habe, bei mir. Und das zeige ich auch vor, sobald ich dazu aufgefordert werde. Das Original ist als Kunstwerk gerahmt und befindet sich in meinem Büro.

Mir scheint es, als es ob dir um das Gespräch, den Austausch ginge…

Ja genau. Neulich hatte ich eine ganz tolle Situation. Ich rief in einer Werkstatt an, um das Auto zur Reparatur zu bringen. Wir hatten alles in fünf Minuten besprochen und dann wollte die Person an der anderen Seite der Leitung meinen Namen aufnehmen. Ich habe ihr erklärt warum das nicht geht. Zuerst war sie von meiner Aussage gar nicht begeistert, aber dann haben wir eine halbe Stunde lang über Kunst gesprochen und über Zuschreibungen und über dies und das. Das passiert mir öfters. Hinter jeder Einrichtung und hinter jedem offiziellen Vorgang stehen Menschen die etwas wollen, in ihrer Rolle etwas bewirken können und oftmals bereit sind mitzudenken.

Einige haben daran auch großen Spaß! Allerdings habe ich auch nicht immer die Kraft, die Arbeit konsequent durchzuziehen, z.B. wenn ich bei der Post anstehe und hinter mir gefühlt 200 Leute stehen und die Augen hochrollen, wenn sie merken, dass es kompliziert und langwierig wird. In diesen Momenten denke ich manchmal „Das wäre jetzt schön, nicht auch noch diese Diskussion führen zu müssen“, oder wenn die Bank mir das Konto sperrt und ich versuche im Urlaub mit den Kindern am Flughafen einen Mietwagen abzuholen,... Wie dokumentierst du deine künstlerische Arbeit bzw. machst sie sichtbar?

Es gibt einzelne wenige Elemente, die sehr gut sichtbar sind: zum Beispiel der Personalausweis mit den Löchern, oder das blanke Messingschild an meiner Wohnungstür. Alle Briefe, die ich an Behörden versende, drucke ich doppelt aus und archiviere sie zusammen mit den Briefe die ich zurückerhalte in einem Ordner. Jeder Antwortbrief ist ein Kunstobjekt und die antwortenden Institutionen dann Teilnehmende der Aktion. Der Großteil dieser Arbeit ist aber nicht sichtbar oder dokumentiert. Es gibt manchmal versteckte aber erhellende poetische Wendungen wenn z.B. der Vermieter in einem Brief schreibt: „Es handelt sich hierbei um einen wichtigen Verwaltungsvorgang und ich bin nicht gewillt an Ihrem Kunstprojekt mitzuwirken!“ Dann lässt sich der Satz mit wenigen Veränderungen in die entsprechend andere Perspektive und eine angemessene Antwort überführen: „Es handelt sich hierbei um ein wichtiges Kunstprojekt und ich bin nicht gewillt an Ihrem Verwaltungsvorgang mitzuwirken!“

Geht es dir in deiner Arbeit um dich selbst?

Nein, denn wir funktionieren nur in Gemeinschaft, nicht nur zwischen Menschen, sondern zwischen allen möglichen Lebewesen, Umständen, Situationen, Dingen und Erscheinungen, die wir gar nicht alle direkt wahrnehmen und die wir auch überhaupt nicht wirklich alle greifen und benennen können. Es geht um ein respektvolles, gemeinschaftliches und balancierendes In-derWelt-sein und darum nicht alles festlegen, bestimmen und benennen zu müssen.

Midjourney 2 April 2024 Agender person from South Tyrol
Midjourney 2 April 2024 Feminine man from South Tyrol

Schwäche als Offensive und Annäherung — zu Aspekten der Identität in den Arbeiten von Philipp Gufler

Identität bezeichnet einen komplexen Prozess, in dem zwei Dinge unterschiedlicher Einheit, doch einheitlich kongruent werden: Vorstellung und Realität, Empfindung und Wirklichkeit, das Selbst und das Andere. In größtmöglicher Annäherung verhandelt sich dabei sowohl das, was ist, als auch das, was nicht ist. Identität kann immer positiv als auch ex negativo begründet werden und neigt damit rein strukturell zum Ein- als auch Ausschluss. Die Einzelausstellung Confessing Weakness (13. Juli –31. August 2024) in der Salzburger Landesgalerie Kunst im Traklhaus versammelte zentrale Arbeiten des Künstlers Philipp Gufler. In seiner künstlerisch-forschenden Beschäftigung mit Leerstellen und irrtümlichen Festschreibungen der Geschichtsschreibung behandelt Gufler ästhetische, historische und politische Diskurse der Diversifikation. Jenseits von einfachen Identitätsund Rollenzuschreibungen forcieren seine Arbeiten eine sorgsame Auseinandersetzung mit den soziokulturellen Mechanismen und historischen sowie politischen Ereignissen, die hinter nonkonformistischer Sexualität und Geschlechtlichkeit stehen. In der eingehenden Beschäftigung mit selbstorganisierten Archiven, wie beispielsweise dem Forum Queeres Archiv München (FQAM) sowie der eigenen, leibhaftigen Körperlichkeit deckt Gufler abweichende Erzählungen und Perspektiven auf. Im Zentrum der Schau in Salzburg standen zudem konkret identitätspolitische Fragen. Identitätspolitik ist ursprünglich eine Form politischen, gesellschaftlichen Handelns, das die Bedürfnisse marginalisierter Gruppen benennt und bestrebt ihre gesellschaftlichen Interessen und Ansprüche zu stärken. Historisch erstmals verwendet wurde der Begriff 1977 vom Combahee River Collective, einem Zusammenschluss lesbischer Schwarzer Frauen. Lange Zeit einem linken Lager zugeordnet, gibt es auch zahlreiche nationalistische und vermehrt extrem rechte Beispiele, die sich identitätspolitischer Strategien bedienen. Betrachtet man beispielsweise die heute überdurchschnittlich häufige Benennung von Genderthemen in konservativen, rechtspopulistischen Kreisen, fällt auf, dass Fragen von Sexualität und Geschlecht vermehrt zu einem Kampfbegriff des Ausschlusses mutieren. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien wie beispielsweise die Alternative für Deutschland (AfD)

lehnen Genderdiskurse zwar vehement ab, bedienen diese aber nahezu obsessiv in ihrer Rhetorik. Dabei dient das Themenfeld als Chiffre, durch die Parteien ihre konservativen und sogar reaktionären gesellschaftspolitischen Vorstellungen vermarkten.1 Betrat man den ersten von drei Ausstellungsräumen von Confessing Weakness stieß man zunächst auf eine fast 16 Meter lange Textilarbeit Vergänglichkeitswahn die um eine zentrale, mit Plakaten beklebte Litfaßsäule herumführte. Philipp Gufler aktualisierte auf diesen das Covermotiv der Nationalen Arbeitsgruppe Repression gegen Schwule kurz NARGS. Die von 1977 bis 1981 überregional agierende Gruppe eignete sich ihrerseits das Motiv des Rosa Winkels an und erinnerte damit an die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus. Der Rosa Winkel diente der Kennzeichnung von geouteten Häftlingen in den Konzentrationslagern. Seitdem wurde er von verschiedenen queeren Bewegungen als positives Erkennungszeichen und politisches Symbol verwendet. Gufler verknüpft diese historische Bedeutung mit aktuellen Debatten um geschlechtergerechte Sprache und Trans-Identitäten. Im ersten Motiv setzt er sich mit der AfD-Bundessprecherin Alice Weidel auseinander, die im Sommerinterview der ARD 2023 gesagt hat: „Ich bin nicht queer, sondern ich bin mit einer Frau verheiratet, die ich seit 20 Jahren kenne.“ Im zweiten Motiv bearbeitet er ein Foto vom als Marilyn Monroe (selbst)verkleideten bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der ein sogenanntes „Genderverbot“ in Schulen und Behörden Bayerns eingeführt hat. Der Genderdiskurs, das wurde in diesem und vor allem auch im letzten Raum der Ausstellung deutlich, dient rechtspopulistischen Parteien als Möglichkeit, breite gesellschaftliche Diskussionen und Debatten strategisch zu besetzen. Diskurse von Sexualität und Geschlecht bilden in ihrer Feindbildkonstruktion den Startpunkt für Anknüpfungspunkte an Familienpolitik und Nationalismus. Die Idee normativer, vermeintlich ‚natürlicher‘ oder ‚normaler‘ Geschlechtlichkeit ist zentral in allen Facetten extremer Rechten und ideologisch nah an das Konstrukt der extrem rechts definierten, sogenannten „Volksgemeinschaft“ gebunden.

In reaktionär völkischem Sinne nehmen die streng dichotomen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit spezielle Rollen in einem komplementär ver-

standenen Sozialgefüge ein, das Einheiten wie Geschlecht nur in eindeutig entworfener Zweideutigkeit benötigt. Eine Auflösung streng binärer Sexualität und Geschlechtsvorstellungen hingegen löst auch die beschworene Vorstellung von Familie und Volk auf. Die Videoarbeit The Begining of Identification, and its End (2024) im letzten Raum der Ausstellung, zeigte eine Synthese aus persönlicher Performance und Archivarbeit, die sich mit Themen von gleichgeschlechtlicher Intimität, Sichtbarkeit und Verletzlichkeit auseinandersetzt. Durch mediale Bilder rechtspopulistischer Politiker*innen sowie archivarische Filmaufnahmen, versetzt Gufler die Zuschauenden in eine intensive Begegnung im Ringen um kollektive und individuelle Identitätsmechanismen. Die polemischen, rechtspopulistischen Äußerungen homophober Politiker*innen, die sich problemlos um nationalistische sowie xenophobe Phrasen erweitern ließen, vervollständigen das komplexe Bild des Künstlers über den Anfang und das Ende von Identifikation. Der Verweis auf persönliche und öffentliche Intimität sowie selbstbestimmte und erzwungene Sichtbarkeit vermittelt von der identitätsstiftenden Aussicht potenzieller Befreiungsmomente durch das Eingeständnis von Verwundbarkeit. Gufler bekundet dabei, dass körper- und sexualpolitische Emanzipation als zentraler Bestandteil weiterer, freiheitlich demokratischer Kämpfe angesehen werden muss. Über die einfache Benennung von Diskursen hinaus entwickelt der Künstler eine nahbare, emotionale Ebene, die aus dem Verbund um ein persönlich körperliches Moment Brücken zu den Betrachtenden schlägt. Im Zentrum steht die Erkenntnis, dass Identifikation aktuell eher exklusiv als inklusiv verwendet wird und die liberale Maxime einer einschließenden, befürwortenden Minderheitenpolitik wohl lange abgelöst worden ist.

1 Martin, Evelyn (2024): Gender als Chiffre. Die Bedeutung von Genderthemen für die politische Agenda der Alternative für Deutschland (AfD), Freiburg i. Br. 2 Lang, Juliane (2015). Familie und Vaterland in der Krise. Der extrem rechte Diskurs um Gender. In: Sabine Hark und Paula-Irene Villa (Hrsg.innen), Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld: transcript Verlag. S. 167-181.

Wer bin ich? Bin ich wirklich ich? Kann ich darauf vertrauen, der Mensch zu sein, für den ich mich halte? Für den mich andere halten? Was macht mich aus? Wer kann ich werden?

Identitäten zu definieren ist vor allem in der heutigen Gesellschaft eine der größten Herausforderungen –auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht so scheint. Erwartungen, Versprechen, Verbindungen. Erwartungen an uns selbst, an andere, und erneut an uns selbst aufgrund der anderen.

Akemi Takeyas Stück The Act of Lemon Dada, aufgeführt im Rahmen des Festivals Transart 2024 in der Fondazione Antonio dalle Nogare ließ viel Raum für Interpretation: Die Zitrone als zentrales Motive das Akemi Takeya immer wieder aufgreift, diente als Brücke. Mit The Act of Lemon Dada überträgt sie den Dadaismus ins Heute: eine Begegnung mit der Gegenwart, eine Suche nach verschiedenen Utopien und Konfrontationen von Körpern und dann am Ende doch einfach nur eine Zitrone. Tragödie und Komödie, Unsinn und Sinn.

In ihrer Auseinandersetzung mit dem Dadaismus paraphrasiert Takeya in ihrem Stück zahlreiche Themen, angefangen bei LEMONISM x AKTIONISMUS, über

JAPONISMUS, MINIMALISMUS, SYMBOLISMUS bis hin zum DADAISMUS – und erschafft eine eigene und unverwechselbare Welt der Interpretationsfreiheit.

Akemi Takeya hat mich persönlich mit ihrer Performance auf eine Art und Weise berührt, wie es bisher kaum ein Kunstwerk geschafft hat. Sie hat mich auf einer wirklich tiefen Ebene angesprochen, welche eine unerwartete Klarheit in mir geweckt hat, gar eine Realisierung. Und obwohl die Performance auf den ersten Blick „nur“ um Zitronen zu gehen schien, waren es vor allem die Masken, die das Stück für mich so tiefgründig machten.

Im Laufe der Performance setzte die Künstlerin immer wieder verschiedene Masken auf – Masken, deren Charaktere sie nachstellte und verkörperte. Doch diese Masken waren mehr als bloße Verkleidungen. Sie wurden zu Symbolen und zu Botschaften: „Ich kann alles sein. Ich habe viele Gesichter. Und ich werde im Laufe meines Lebens noch viele dieser Masken tragen – ablegen – und wieder tragen.”

Doch warum fällt es uns dennoch so schwer, diese Möglichkeiten der Veränderungen anzunehmen? Warum zögern wir, neue Masken aufzusetzen, in neue Welten einzutauchen? Warum halten wir so krampfhaft an Altem fest?

Es ist die Angst. Die Angst vor dem Neuen, die Angst vor dem Unbekannten. Unsere Verhaltensmuster, Denkweisen, mentalen Strukturen. Sie sind ein Netz, das uns fest hält und aus dem es schwer ist, auszubrechen. Doch was wäre, wenn wir es gar nicht als Verlust betrachten könnten, sondern Chancen erkennen? Wenn wir die Transformation annehmen, neue Masken auszuprobieren und so neue Gesichter in unser Leben zu ziehen?

Akemi Takeyas Werk zeigt uns, dass Veränderung keine Bedrohung ist, sondern viel mehr ein natürlicher Teil unseres Seins. Masken zu tragen und sie dann wieder abzulegen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Ausdruck von Stärke und Lebendigkeit.

The Act of Lemon Dada war für mich eine Einladung: eine Einladung, Identität neu zu denken, Transformation zu begrüßen und das Leben in all seinen Facetten zu erkennen – mit Zitronen, Masken und allem, was dazwischenliegt.

Niklas Koschel
Mirijam Obwexer

Von der Tarantel gestochen –Über den Mythos der hysterischen Frau

SOPHIE LAZARI

Ritus Ressurrectionis

FOTO Andrea Macchia

JUDITH WALDMANN In den letzten Jahren hast Du Dich intensiv mit dem Phänomen des Tarantismus auseinandergesetzt. Wie bist Du auf die Thematik gestoßen?

SOPHIE LAZARI Das Thema Tarantismus hat mich immer schon interessiert, da mein Vater aus Apulien (Galatina) kommt und der Mythos genau da entstand – die Recherche dazu war also eine Reise zurück zu meinen Wurzeln. Für meinen Bachelor wollte ich mich einem Thema widmen, dass mir persönlich am Herzen liegt und das ich mit einer Reise verbinden konnte. Der Tarantismus beschreibt einen Mythos, der davon spricht, dass hauptsächlich weibliche Personen von einer Tarantel gebissen wurden, der in ihnen hysterische Reaktionen auslöste. Die tarantate (von der Tarantel Gebissenen) begaben sich in eine Art Trance in dem sie ein Ritual durchführten bei dem sie, von rhythmischen Trommelschlägen begleitet, stunden- wenn nicht tagelang tanzten. Sie glaubten, das Gift verließe somit ihren Körper und erhofften sich dadurch die Genesung. Manche der tarantate wurden den Erzählungen nach tatsächlich erlöst. An den Tagen des Hl. Petrus und Paulus (28. und 29. Juni) führten sie das Ritual öffentlich aus. Sie wurden auf Kutschen nach Galatina gebracht, und tranken dort das Wasser aus dem Brunnen des Hl. Paulus in der Kapelle, da man glaubte, das Wasser habe heilende Kräfte. Dann tanzten sie wie wild vor Publikum. Der Biss der Tarantel wurde zu einem Symbol kollektiven (weiblichen) Leidens: Heute ist klar, dass es nicht die Tarantel war, die in diesen Frauen diese hysterischen Symptome auslöste, sondern eher eine patriarchale Machtstruktur, die den Frauen jegliche Freiheiten entzog. Noch dazu kommt die Armut und das stundenlange Arbeiten auf den Tabakfeldern unter Extrembedingungen. Man sagt, dass viele der Frauen dort sexuell missbraucht wurden. Die wichtigste Dokumentation und Recherche zum Thema kennen wir von Ernesto de Martino, der mit seinem Film La terra del rimorso um 1950 das Phänomen filmte. Was mich besonders an diesem Thema interessiert, ist die Unterdrückung der Frau und ihres Körpers innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft, und die Freiheit, die sie erlangt, indem sie als „verrückt“ abgestempelt wird sowie der therapeutische Heilungsaspekt durch Tanz, Musik und Trance. Meines Erachtens sind alternative Heilmethoden heute noch von Bedeutung, und ich finde es äußerst wichtig, diese Themen in meiner Praxis als Künstlerin wie auch als Frau aufzuarbeiten.

Du hast Dich dem Thema aus einer feministischen Perspektive gewidmet. Welche weiblichen Zuschreibungen oder welche Vorurteile gegenüber Frauen zeigen sich in dieser Mythenbildung?

Eigentlich hat der Tarantismus nichts mit Hysterie zu tun – ich habe in meiner Recherche jedoch beide Phänomene analysiert und verglichen und kam auf interessante Erkenntnisse. Das Wort „Hysterie“ kommt von Hystera, das so viel wie Uterus auf Altgriechisch bedeutet. Man glaubte, dass der Uterus in den Kopf hinauf gewandert sei – Frauen, die als hysterisch diagnostiziert wurden, steckte man Geweihe und andere spitze Gegenstände in die Geschlechtsorgane, um den Uterus wieder an seinen ursprünglichen Platz zu locken. Genauso wie die Hysterie ist der Tarantismus ein Mythos, eine Erfindung des Patriarchats, die Frauen zu Objekten reduzierte. Zu Objekten, die wie ein ungezähmtes Tier auf Grund ihrer Wollust und Ungezogenheit (im Gegensatz zum Mann, der als gebildet und wohlerzogen galt) hysterisch wurden. Dabei hatten diese Frauen einfach keine Freiheit. Sie waren dazu angehalten, zu gehorchen, komplett unterwürfig zu sein und eine Reihe an Kindern zu erziehen. Klar war, dass der einzige Weg in die Freiheit der Wahnsinn war: Als Verrückte musste man keine Regeln mehr befolgen. Ebenso herrschte die Annahme, dass Frauen faule und wollüstige Wesen seien, deren ungezügeltes Verhalten eine Ablenkung und Gefahr für den gebildeten Mann darstellten. Meiner Meinung nach ist das eine Ausrede des Patriarchats, um sexuellen Missbrauch und Dominanz gegenüber dem weiblichen Geschlecht problemlos ausüben zu können.

Im Gegensatz zu „herkömmlichen“ Behandlungsmethoden der Hysterie (das Einsperren in eine Anstalt und die brutalen körperlichen Eingriffe, die vor allem durch Jean Martin Charcot Anfang 1900 in seinen Studien an Frauen vorgenommen wurden), finde ich die Heilungsmethoden im Tarantismus eher beeindruckend. Die tarantata wurde akzeptiert, sie wurde nicht unbedingt versteckt, sondern war integraler Bestandteil einer Gesellschaft und man glaubte an ihre Genesung. Genauso hat die Kirche dazu beigetragen, alte Mythen und Traditionen zu konservieren und erlaubte die Durchführung eines eigentlich heidnischen Brauches. Tanz und Musik waren nicht nur eine Form der Unterhaltung bei den Bauern am Feld, sondern galten auch als die einzige Methode, um Menschen von Tarantismus zu heilen.

Aus Deiner Auseinandersetzung mit dem Tarantismus ist ein vielseitiger Werkkomplex entstanden, der das Thema künstlerisch aufarbeitet und vermittelt. Wie bist Du hier vorgegangen?

Es war ein Prozess. Das Buch war Grundlage und Ausgangspunkt, von dem aus ich dem Thema auch in anderen Medien Raum gab. Die Expansion meiner Arbeit sah vor, eine immersive Installation mit Textil und Sound zu bauen. Die kreisrunde Struktur der Installation hat eine symbolische Bedeutung und greift die Form des Ouroboros auf, die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Das traditionelle Tambourin, das ich bemalt habe und ebenso Teil der Installation ist, greift dieselbe Form auf. Der Kreis ist deshalb von Bedeutung, da nicht nur beim traditionellen Pizzica-Tanz die Kreisform (Ronda) beibehalten wird, in der die Tänzer*innen sich bewegen, sondern auch bei der Ausführung des Rituals waren die tarantate einer Schar Menschen ausgesetzt, die sich kreisförmig um sie herum versammelten. Vier Textilbanner, auf denen Spinnen und Schlangen zu sehen sind, geben der Struktur Bewegung. Ich habe Textil gewählt, da es ebenso eine besondere Bedeutung in der Ausführung des Rituals hat: Die hysterischen Frauen wurden auf ein weißes Bettlaken gelegt, auf dem sie tanzten, schwitzten und herumrollten. Bei der Auswahl der Motive auf den Textilbannern beschränkte ich mich hauptsächlich auf die Symbolik der Spinnen und Schlangen: beides Tiere, die im Tarantismus eine besondere Rolle einnehmen. Die Schlange versetzt dich so wie die Tarantel in eine Art Trance. Die Schlange ist ebenso ein Symbol für die Lebensenergie (Kundalini) und die Transformation, während die Spinne für die Mutter steht, die Individualität, die Kreativität und die Erweiterung des kollektiven Bewusstseins (das Spinnennetz).

Der Sound, den man beim Betreten der Arbeit hört, soll den heilenden Aspekt durch Tanz und Musik hervorheben. Die Idee war es, eine Arbeit zu kreieren, die möglichst interaktiv ist. Ich möchte die Besucher*innen teilhaben lassen und den Rahmen schaffen, ein Kunstwerk mit allen Sinnen zu erleben. Meine Arbeit ist so aufgebaut, dass Menschen sie betreten, um sie herumlaufen und sie wieder verlassen können. Dabei ist die Musik im Hintergrund und man kann selbst entscheiden, ob man sich tiefer mit dem Thema auseinandersetzen möchte oder nur kurz einen Blick hinein wagt.

SAAVanne

Die Rubrik der Südtiroler Autorinnen- und Autorenvereinigung

Herzlich willkommen in der SAAVanne. Kein immergrüner Regenwald, dessen Luftfeuchtigkeit Ihnen den Atem raubt. Keine Wüste, deren sengende Hitze Sie um den Verstand bringt. Lassen Sie den Blick in aller Ruhe schweifen – wenn Sie ganz genau hinschauen, können Sie sehen, was für feine Gräser, Sträucher und Bäume da wachsen…

Unter elektrischen Monden: Kontext, Zyklus, Übertragung / Sotto lune elettriche: Contesto, ciclo, trasferimento.

I knew should be writing a straightforward story, or even a poem, but didn’t.

I should get back to the words, thought, plain words.

Anne Carson: Snow

Der vorliegende Text ist eine Zusammenarbeit des Poeten und Philosophen Thomas Ballhausen und der Lyrikerin und Übersetzerin Lorena Pircher: Ausgehend von Ballhausens Zyklus Unter elektrischen Monden entspannt sich ein Dialog über die Gegenwärtigkeit von Gedichten, die gesellschaftlichen Kontexte literarischen Arbeitens und die Möglichkeiten bzw. Limits literarischer Übersetzung. In der Auseinandersetzung mit diesen zwölf Gedichten, die ihre Titelworte ganz vorsätzlich aus Wilhelm Müllers „Die Winterreise“ (1824) ableiten, geht es den beiden Autor:innen um die Auseinandersetzung mit einem zeitgemäßen lyrischen Ausdruck und, auch angesichts fortschreitender Automatisierung in Fragen der Übersetzung, um die menschliche Komponente im Prozess der Übertragung.

Dieses dialogisch gestaltete Projekt widmet sich dem Themenfeld der Gegenwartslyrik und setzt im sprachübergreifenden Arbeiten auf eine Vorstellung des „Versioning“ anstelle der „Übersetzung“, auf lyrisches Übertragen, das Vielstimmigkeit, Referenz und Interferenz bejaht. Dies steht nicht zuletzt in Zusammenhang mit Ballhausens literarischem Schaffen, in dem er sich mit der als beschädigt empfundenen Gegenwart, die von Digitalität, Entfremdung und Konflikten gekennzeichnet ist, auseinandersetzt. Seine lyrischen Texte stehen dabei einer Poetik des Punks nahe, in ihnen verbindet Ballhausen, was im ersten Moment inkongruent und unzusammenhängend scheint, verhandelt das Persönliche und Intime vor den großen Zusammenhängen unserer vereinbarten Wirklichkeit. Das Phantastische ist dabei eine der zentralen Folien seiner Gedichte, das vermeintlich Unwirkliche ist unhinterfragter Teil seiner literarischen Texte.

II. Auszüge aus dem Gedichtzyklus / ciclo: Unter elektrischen Monden

Fremd nach Winter, reise

Schild

Heraldik der Verfolgungsjagd: ein heulendes Gestern auf den Fersen, vor mir die ersehnte Fremde

kühler

mein inneres Grönland, geteilt wie alle Gefühle, keines sollte uns fremd sein bloß das Mitleid

Spur wer besuchte dich in meiner Abwesenheit

Zigarettenstummel und zerwühlte Wäsche werden beinahe Schreibanlass, zurückgenommen

tiefer

bin wenig mehr denn ein wanderndes Bild, flimmernd wer hofft noch auf Strafe let’s pretend it’s not us tonight als gäbe es noch Einsatz

Wind was alles weggeworfen wurde, täglich trägst mich ab Löffel für Löffel, ein halbes Jahrzehnt lässt mich vergessen und vergraben der Schmerz soll bloß aufhören ist das nicht genug

Zahlen verheerend

Dein Rücken als Wunderblock

Einschreibungen auf meinen Armen, Mahnungen you’ll come apart, and you’ll go black im mechanischen Räderwerk der Zeiten die Ausweitung der blinden Flecken schiebe es auf mein schlechtes Auge, rot verdunkelt

Atem wir sind Opfer von Launen und Autobomben effizient und effektvoll wie Sätze, pointierte Lanzen Du hättest mich töten sollen als Du Gelegenheit dazu hattest jetzt ist es schwieriger geradezu: thermisch das sind die Narben der Väter auf unseren Körpern

II. Übertragung / trasferimento: Sotto lune elettriche

Straniero dopo l'inverno, viaggio

Scudo

Araldica della caccia: un ululante ieri alle calcagna, davanti a me l’agognato ignoto

freddo, assai il mio interiore Groenlandia, diviso come tutti sentimenti, nessuno dovrebbe esserci estraneo soltanto alla compassione

Traccia chi ti ha visitato in mia assenza sigarette fumate e biancheria disfatta diventano ispirazione, quasi, per scrivere, ritirando più profondo sono poco più di un'immagine vagante, tremolante chi spera ancora nella punizione let’s pretend it’s not us tonight come se ci fosse ancora una giocata

Vento

ciò che è stato buttato via, quotidianamente mi consuma cucchiaio dopo cucchiaio, un mezzo decennio mi fa dimenticare e seppellire il dolore deve solo smettere non è abbastanza

Cifre devastante

la tua schiena come una lavagna magica incisioni sulle mie braccia, ammonimenti you’ll come apart, and you’ll go black nell'ingranaggio meccanico dei tempi l'espansione dei punti ciechi do la colpa al mio occhio malato, arrossato oscuro

Respiro

siamo vittime di capricci e autobombe efficienti ed efficaci come frasi, lance appuntite avresti dovuto uccidermi quando ne hai avuto l'occasione adesso è più difficile addirittura: termico

queste sono le cicatrici dei padri sui nostri corpi

Judith Waldmann im Interview mit Sophie Lazari
I. Kontext
Thomas Ballhausen & Lorena Pircher

Internationale Autorinnen: Zeit für mehr Vielfalt im Bücherregal

Warum finden sich in unseren Bücherregalen häufiger Werke männlicher Autoren als Werke von Frauen? Die Antwort liegt oft in den verfestigten Strukturen: Der Literaturkanon ist historisch männlich geprägt und Verlage sowie Medien investieren mehr ins Marketing für die Werke männlicher Autoren. Studien belegen diese Beobachtungen. Solche Faktoren beeinflussen unbewusst unsere Lesegewohnheiten – nicht nur in Europa. Entdecken Sie die literarische Vielfalt von Autorinnen neu mit diesen drei Autorinnen aus dem Libanon, aus Chile und aus Japan.

In Das Unsichtbare Band erzählt die libanesische Autorin Haneen Al-Saygeh die bewegende Geschichte von Amal, die in einer von strengen patriarchalen Strukturen geprägten drusischen Gemeinde aufwächst und mit 16 verheiratet wird. Der Roman zeichnet ein eindringliches Bild von Amals Emanzipation. Die klare Sprache der Autorin fängt sowohl den Alltag und die Erwartungen anderer als auch die Hoffnung der Protagonistin ein. Al-Saygeh bringt uns Lesenden die Herausforderungen des Lebens in einer traditionsgebundenen Gesellschaft nahe – ohne zu verurteilen. Amals Werdegang zeigt die innere Stärke einer Frau, die um ihr Recht auf Freiheit und Bildung kämpft. Die autobiografischen Elemente verleihen dem Roman zusätzliche Authentizität und Tiefe. Das Unsichtbare Band ist ein eindrucksvolles Plädoyer für die Kraft des weiblichen Widerstands und befasst sich mit existenziellen Fragestellungen. Auch in Mein Name ist Estela werden Lesende zum Nachdenken über soziale Gerechtigkeit und Emanzipation angeregt: Die chilenische Autorin Alia Trabucco Zerán gibt poetisch-sensibel Einblick in die Welt von Hausangestellten. Die Protagonistin Estela, Dienstmädchen in einer wohlhabenden Familie in der Hauptstadt Chiles, erzählt uns ihre Geschichte. Aus der

Isolation heraus sucht sie den Zuspruch der Lesenden. Die Stärke des Buches liegt in der Intimität, mit der Trabucco Zerán Estelas Gedanken und Gefühle wiedergibt. Die Autorin verleiht Estela eine ausdrucksstarke, aber zugleich leise Stimme. Sie wählt eine präzise Sprache, die die Gegensätze in Estelas Alltag einfängt – ein Alltag zwischen der Kontrolle der Arbeitgebenden und Estelas eigenen Träumen. Die Autorin spielt meisterhaft mit den Nuancen des Lebens zwischen Nähe und Distanz, Abhängigkeit und Unabhängigkeit – ein Buch mit globaler Relevanz!

Ein weiteres Buch mit grundsätzlichen menschlichen Anliegen kommt aus Japan: Die Erfolgsautorin Riku Ondas erzählt in Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen kunstvoll über Erinnerung, Verlust und die Flüchtigkeit der Liebe. Der Roman erzählt die Geschichte von Chihiro und Chiaki, die sich ein letztes Mal in ihrer gemeinsamen Wohnung treffen, um Abschied von einander zu nehmen. Die beiden verbindet eine enge, ambivalente Beziehung, und ihr Treffen ist durchzogen von ungelösten Fragen – und der Erinnerung an einen mysteriösen Unfall in den Bergen, bei dem ihr Bergführer ums Leben kam.

Die Leser*innen erleben die Handlung abwechselnd aus den Perspektiven beider Figuren und werden durch Erinnerungsfragmente und Andeutungen geführt, die ständig neue Fragen aufwerfen. In kurzen, poetischen Kapiteln entwirft Onda ein Spiel aus Enthüllung und Verschleierung, das zu eigenen Interpretationen herausfordert. Ondas fließende Sprache und ihre Fähigkeit, Spannung durch subtile Andeutungen aufzubauen, machen diesen Roman zu einem typischen japanischen Leseerlebnis – poetisch, rätselhaft und feinfühlig.

Literatur

Haneen Al-Sayegh

Das unsichtbare Band

336 Seiten. DTV Verlag, München, 2024.

Alia Trabucco Zerán

Mein Name ist Estela

240 Seiten. Hanser Verlag, Berlin, 2024.

Riku Onda

Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen

240 Seiten. Atrium Verlag, Berlin, 2023.

Diese drei Werke zeigen, wie facettenreich und eindringlich internationale Autorinnen soziale, wirtschaftliche und alltägliche Dynamiken literarisch aufgreifen. Wer sich also auf eine literarische Reise jenseits der gewohnten Autoren einlassen möchte, findet in diesen Büchern inspirierende Perspektiven. Gleichzeitig eröffnen die Romane neue Sichtweisen auf universelle menschliche Erfahrungen.

Autor*innen

Thomas Ballhausen Autor, Wissenschaftler/Universitäts-Lektor Salzburg/Wien

Makuna Berkatsashvili Freelance Journalist, Booker bei Left Bank, Tbilisi, Georgien

Hannes Egger Künstler, Autor, Dozent UniBZ, Lana

Niklas Koschel Kunsthistoriker, Freier Autor und Kurator, Salzburg

Sophie Lazari Performance Artist, Illustratorin, Visual Artist, Tattoo Artist Kaltern/Berlin

Mirijam Obwexer Grafikdesignerin und Kulturarbeiterin, Bozen

Haimo Perkmann Kulturpublizist, Übersetzer, Meran

Lorena Pircher Übersetzerin/Dolmetscherin, Lyrikerin, Wien

Armin Pfahl-Traughber Professor an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Lehrbeauftragter, an der Universität Bonn, Bonn

Hartmut Rosa Soziologieprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs Erfurt, Jena

Karsten Schubert Associate Fellow am Arbeitsbereich Politische Theorie der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin

Fe Simeoni

Informationsdesigner und Doktorand an der Freien Universität Bozen und Eurac Research, Castelfranco Veneto/Bozen

Ilja Steffelbauer Autor, Vortragender und Kulturkritiker an der Universität für Weiterbildung Krems, Krems an der Donau untiteled Künstler, Berlin/Köln/Athen

Judith Waldmann Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst Museum Schloss Moyland, Kevelaer

Lydia Zimmer Literaturvermittlerin und Literaturexpertin, Basel

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