#178: Traditionen im Wandel

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Re-Setting Culture. Vom Gebrauch und den Brüchen bei Bräuchen

Elsbeth Wallnöfer

Der Bräuche gibt es viele allüberall.

Wenn wir über Bräuche reden, berührt das unseren Gefühlshaushalt.

Wir denken an die in unserem Umfeld „gelebten“ und „tradierten“ Bräuche. Wir denken an jahreszyklisch auftretende, kollektiv stattfindende Ereignisse wie Fronleichnam, Herz-Jesu-Sonntag, an Scheibenschlogn, an den Traminer Egetmann. Allerlei pittoreske Bilder davon schaffen es, idealtypische Idyllen in unserm Kopf hervorzurufen. Oft werden diese Ereignisse, die mittlerweile fester Bestandteil der Tourismuswerbung geworden sind, selbstgewiss von einer „Geschichte“, einem Narrativ, begleitet. Wie selbst erforscht, scheint jeder ein Experte oder eine Expertin in Sachen Bräuchen zu sein. Dabei verhält es sich meist so, dass wir oftmals die eigene Er-

fahrung ins Treffen führen, oder (wissenschaftshistorisch unkritische) Geschichten übernehmen, weil es der Rede vom „Sinn der Tradition“ entspricht.

Wer auch immer die Brauchgeschichte in Umlauf gebracht hat, sobald sie uns gefällt – und das heißt nichts anderes, als dass sie unseren Empfindungen entspricht oder sich mit unseren Erfahrungen deckt –, akzeptieren wir sie. Wie eine unveränderliche Tatsache, wie eine eigene erlebte oder gar selbst recherchierte Geschichte.

Bräuche sind dennoch nichts mehr als eine menschliche Entäußerung, eine anthropologische Konstante innerhalb der Entwicklung der Menschheit generell. Sie sind Phänomene, die im Charakter banales Verhalten

Die Dynamik zwischen Wahrung und Veränderung von Tradition: ein Fallbeispiel von Simon Terzer

Die musikalischen Traditionen des italienischen Judentums bespricht Mauro Sperandio mit Piergabriele Mancuso Was hält Bräuche am Leben und wann sind sie tot? Roland Angerer im Gespräch.

Mit der Frage, ob Jodeln zur hessischen Tradition gehöre, beginnt Markus Prieth seine Überlegungen zum Brauchtum.

Von Ritualen und religiösem Brauchtum in der Bronze- und Eisenzeit berichtet Hubert Steiner

Ermanno Cristini fragt, ob die 60. Biennale von Venedig künstlerisch dem inhaltlichen Anspruch genügt?

SAVANNEN: ein Textausschnitt aus dem Theatertext Blutbrot von Miriam Unterthiner

Lydia Zimmer präsentiert Kurzgeschichten, die tiefe Einsichten und starke Emotionen vermitteln.

FOTOSTRECKE

Flyle war bei der Performance von Bianca Lugmayr und Alex Kranabetter dabei.

GALERIE

Mit the lost opening zeigt Ivo Corrà einige besondere Momente der Eröffnungen der Biennale di Venezia

Traditionen im Wandel

Sitten, Bräuche und Rituale sind die Pfeiler der Tradition. Wir finden sie in allen Lebensbereichen.

Sitten sind ungeschriebene Gesetze, Bräuche dagegen Inszenierungen der Sitten; für gewöhnlich voller Metaphern und Allegorien. Rituale besetzen Leerstellen, sie sind Stellvertreter. So wird etwa Übersinnliches, aber auch Überkommenes gern durch Rituale dargestellt, oder auch ersetzt. Krieg zum Beispiel findet im postheroischen Zeitalter seinen Ausdruck und Ersatz im Mannschaftssport.

Dessen Sprachgebrauch ist daher voll von Kriegsmetaphern: Kämpferisch und körperbetont geht es in das Getümmel, in die Schlacht, Meter für Meter wird bis zur letzten Sekunde gekämpft, flankiert, gedeckt, abgewehrt, gestürmt, aus dem Hinterhalt geschossen, ein Pyrrhussieg errungen. Sind Bräuche also kollektive Gewohnheiten? Ungeschriebene Gepflogenheiten? Ausdruck gelebter Tradition? „Wo es keine lebendige Tradition gibt –befindet Nietzsche – gibt es auch keine Sittlichkeit, weil es dann nichts gibt, nach dem man sich richten könnte.” Der Gehorsam gegenüber den Sitten hat bei Nietzsche allerdings einen Sinn und Zweck an sich, denn „jede Sitte ist besser als keine Sitte”. Zugleich sind Sitten und Traditionen oft irrational und willkürlich, „phantastische Causalitäten“. Doch wir alle wachen darüber mit Argusaugen. Die gesellschaftliche Ächtung beginnt bereits bei kleinsten Abweichungen. Der Rasen wird am Samstagvormittag gemäht, Knödel werden nicht mit dem Messer geteilt usw. Zuweilen wurde und wird die Einhaltung der Sitten unter Androhung der entsetzlichsten Strafen durchgesetzt.

Dieses Heft ist auf Anregung und in Zusammenarbeit mit dem Kulturfestival LanaLive entstanden, das vom 24. Mai bis 02. Juni 2024, sowie einem Workshop im Juli, unter dem Titel ReThinking.Traditions nach der Bedeutung und Entwicklung von Traditionen in einer Zeit und Gesellschaft des ständigen Wandels gefragt hat.

Hannes Egger / Haimo Perkmann

HERAUSGEBER Distel-Vereinigung

ERSCHEINUNGSORT Bozen

PRÄSIDENT Johannes Andresen

VORSTAND Peter Paul Brugger, Martin Hanni, Bernhard Nussbaumer, Reinhold Perkmann, Roger Pycha

KOORDINATION Hannes Egger, Haimo Perkmann

VERANSTALTUNGEN

PRESSERECHTLICH

VERANTWORTLICH Karl Gudauner

FINANZGEBARUNG Christof Brandt

SEKRETARIAT Hannes Egger

– 39100 Bozen, Silbergasse 15

Tel +39 0471 977 468

Fax +39 0471 940 718 info@kulturelemente.org www.kulturelemente.org

GRAFIK & SATZ Barbara Pixner

DRUCK Fotolito Varesco, Auer

LEKTORAT Olivia Zambiasi

BEZUGSPREISE Inland Euro 3,50, Ausland Euro 4,00

ABONNEMENT Inland Euro 22,00, Ausland Euro 29,00

BANKVERBINDUNGEN Südtiroler Landessparkasse Bozen

IBAN IT30 F060 4511 6010 0000 1521 300 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur

Die kulturelemente sind eingetragen beim Landesgericht Bozen

unter der Nr. 1/81. Alle Rechte sind bei den Autorinnen und Autoren. Nachdruck, auch auszugsweise, ist nur mit Genehmigung der Redaktion und Angabe der Bezugsquelle erlaubt.

des Alltagslebens widerspiegeln. Sie sind menschlicher Ausdruck von allerlei inneren Zuständen, von Launen und mannigfacher (magischer, romantischer, rationaler, irrationaler, sexueller) Begehren, dominant instinktgeleiteter élan vital.1

Dementsprechend können a Gaudi, eine obrigkeitliche Verordnung, eine spontane Laune, oder Zorn auf bestehende moralische Regeln Grund der Entstehung von Bräuchen sein.

Wenn also besagtem folgend Bräuche nicht ohne den Menschen existieren, dann sollten wir akzeptieren, dass erstens alle acht Milliarden Menschen per se Bräuche haben, und davon alle charakterlichen und mentalen Seiten menschlichen Verhaltens beherbergen. Da jeder/jede/jedes von uns irgendwann mit einem oder mehreren Bräuchen in Berührung kam oder kommt, lässt sich von ihnen sagen, dass Bräuche im Sinne von philosophisch Seiendem „sind“, diese unweigerlich Teil der Organisationsstruktur (wie unromantisch) von Gesellschaft darstellen.

Weswegen sie ohne politische Geschichte nicht vollständig erklärt und erzählt werden sollten. Die Rede vom Brauchtum als romantisches Lob auf die Tradition hat dies bisher verhindert.

Alex

Die Künstlerin Bianca Lugmayr setzt sich in ihrem Werk intensiv mit Sprache, Materialität und Abstraktion auseinander. Ihre Handschrift ist die schnelle, frei genähte Linie, die für Befreiung von Perfektionismus, rohe Schönheit und den Wert des Fehlers steht. In ihren grafischen Textarbeiten verstärkt der Akt der Herstellung selbst, die Wucht der Nadel der Nähmaschine, die den Stoff perforiert, die Kraft der repetitiv geschriebenen Worte. Als Gemeinsamkeit bleibt die Linie und der textile Raster als bildnerisches Mittel. Eine Erweiterung ihres Oeuvres ist die auditive und visuelle Performance mit Klängen der Nähmaschine und Trompete, die sie zusammen mit dem Musiker und Komponisten Alex Kranabetter erarbeitet hat. Dieser lässt dafür die Grenzen des konventionellen Trompetenspiels hinter sich und kreiert Musik zwischen freier Improvisation und elektroakustischer Klangkunst.

Die Performance zeigten sie im Rahmen des Kulturaustausches zwischen Südtirol und Vorarlberg ReThinking.Traditions am 31. Mai im Arbeitervereinshaus in Lana. Flyle hat die Performance fotographisch festgehalten.

Die Abwesenheit sexualisierter Aspekte, oftmals ist dies auch die hässliche Seite von Bräuchen, wie der Mangel an Dokumentation von Frauenbräuchen2 einmal mehr zeigt, wie einseitig die Brauchgeschichte ist.

Bis zur Etablierung des bürgerlichen Rechts (ius civile) waren es vor allem Bräuche, die der Gesellschaft durch Konvention ihre Strukturen gaben.

Sie sorgten für „Ordnung“ und bedurften durch ihre wiederkehrende Routine keiner Erklärung. Sie boten die Chance zur Abgrenzung – aber eben auch zur Ausgrenzung. Ihr existenziell anthropologischer Charakter eignet(e) sich daher hervorragend zur kulturpolitischen Argumentation.

Doch vorwiegend sind Bräuche gewohnheitsmäßige Praktiken, die an Regeln des Gemeinwesens gebunden sind. Weswegen sie unterschiedliche Zwecke erfüllen.

Die wohl bekannteste davon ist die vom deutsch-französischen Ethnologen Arnold van Genepp, treffend als rites des passages als Übergangsriten, formulierte Art.3 Dabei reden wir von Bräuchen, die Lebensübertrittsformen oder menschliche Übergangsstadien (Jugend-Erwachsenenalter, Zivilstandsübergänge, Militär, Tod) repräsentieren. Solche Übergangsriten wären im Westen Südtirols beispielsweise Schellenrennen und Klosen rund um den Nikolaustag, Firmung, die Musterungsfeiern oder der „Trunk“, das Totenmahl, nach einer Erdbestattung. Da sie derart dem Leben entspringen, ändern sie ihren Sinn (so wir es zulassen) mit den Lebensstilen. Verlust ist dabei auch nicht ausgeschlossen.

Zur Illustration einer solchen Metamorphose bemühen wir das Anbringen von Schlössern frisch verheirateter Paare an städtischen Brücken. Den Trend dieser Praxis begründete Federico Moccias Roman Ho voglia di te , doch ganz sicher ist Moccia von jenen Schlössern inspiriert worden, denen er an den Flussübergängen in Garnisonsstädten, dort, wo es Militärkasernen gab, begegnete. Denn als es noch eine Wehrpflicht gab, freuten sich die jungen Männer beim Abrüsten derart dem Drill in den Kasernen entkommen zu sein, dass sie an der nächstgelegenen Brücke ihr Schloss des Spinds ans Geländer hingen und den Schlüssel unwiederbringlich in den Fluss warfen. Sie vollzogen für sich einen symbolischen wie definitiven Schlussstrich unter ihre oft quälende Militärzeit. Frisch erlangte Freiheit war damit endgültig.

Die nunmehrige von Moccias Roman ausgelöste Praxis, verliebter oder verheirateter Paare zum Schwur ewiger Treue Schlösser an Brücken anzubringen, führte geradezu zu einer kontradiktorischen Metamorphose des ursprünglichen Brauchs. Damit verkehrt sich die gleichnishafte Bedeutung und Geste, Zeichen von Freiheit zu sein, geradezu ins Gegenteil.

Nun, da ist er, der neue Brauch und die einzigen, die sich darüber ärgern, sind die Städte und die Umweltschützer, die sich wegen des Rosts an Brücken und der Wasserverschmutzung durch die Schlüssel sorgen.

Zu den Übergangsriten gesellen sich noch andere Bräuche, z.B. die Heischebräuche, die einen sozialpolitischen Hintergrund haben. Vor der Erfindung der Demokratie und des Sozialstaates war das Gefälle zwischen jenen, die über Rechte und Reichtum verfügten und jenen, die wenig oder nichts besaßen ungleich größer als es heute ist. Bettler und bettelnde Kinder waren keine Seltenheit. Weswegen allgemeine Bettelverbote in Städten und Dörfern gängige Maßregelung waren. Besonders zu den heiligen Zeiten finden wir daher Bräuche von Kindern, die mit Heischen Gaben einsammeln konnten, ohne als bettelnd zu gelten. Im Zuge von Heischegängen bekam man meistens Naturalien (Lebensmittel) – zum Beispiel beim Schellenrennen am geheiligten Nikolaus- oder Dreikönigstag.

Ein Brauch ist etwas, das man braucht und gebraucht. Ein Brauch ist nur so gut, wie die Menschen sind, die ihn ausüben. Die Ursache von Bräuchen liegt nie im Brauch selbst, sondern immer im Menschen. Und weil das so ist, können Bräuche unterhaltsamer, belehrender, furchteinflößender, ausgelassener und nachdenklicher Gestalt sein. Zurzeit und immer öfter werden Bräuche zu politischen Argumenten, gar zur Waffe. Nämlich dann, wenn sie wie ein festgezurrtes Diktat, eine Entität, Eingang in den Kanon von Leitkultur finden.

Bei der Frage nach Sinn und Zweck von Bräuchen hilft es sich von den festgefahrenen Klischees freizumachen, freizuschaufeln und uns spielerisch zu nähern. Aber nur, weil wir es brauchen, ist es noch nicht Brauch zu nennen. Bräuche haben zwar was mit Gebrauch zu tun, sie dienen oft auch in diesem Sinne als Rechtfertigungsgrund, um sich gegen Veränderungen zu stemmen. „Jo, weils holt Brauch isch“ bekommt man dann zu hören.

Wenn wir an Brauch denken, denken wir für gewöhnlich nie an Abnutzung, wie wir es sonst bei Dingen tun, die über einen langen Zeitraum in Gebrauch sind. Ein Brauch scheint nicht am Alter und seinem Gebrauch zu leiden. Gegenteiliges ist der Fall, es macht ihn kostbarer.

Die deutsche Kultur kennt bis heute kaum kulturkritische, brauchkritische Ansätze. Aus dem angloamerikanischen Milieu sind uns zwei Namen bekannt, die in den 1980er-Jahren (Eric Hobsbawm und Trence Ranger, sowie auf Benedict Anderson) mit Invented Tradi-

tion einen kulturkritischen Blick auf Bräuche warfen. Ohne an dieser Stelle auf ihre Brauchanalysen genauer eingehen zu können, will doch erwähnt werden, dass sie einen „Mangel“ mitführten, indem sie mit „Pseudofolklore“ und „Fake Lore“ (letzteres von Richard M. Dorson in Umlauf gebracht) operierten. Dieser Mangel ist uns allen bekannt, bei uns nennen wir das „echt“ und „unecht“.

Die Einführung der Invention of Tradition also der erfundenen Tradition, wird inzwischen als rhetorische Floskel bemüht, doch führt sie uns nicht aus dem ontologischen „Dilemma.“ Nämlich, dass der Mensch zu allen Zeiten sowas wie Bräuche braucht und deswegen alle Bräuche „echt“, weil evident, sind.

Wer also die Welt in echt und unecht, in Pseudofolklore und echte Folklore, in echte Volksbräuche und unechte Folklorebräuche einzuteilen gewillt ist, begeht einen grundlegenden Fehler: Zu denken, Bräuche könnten per se losgelöst vom Leben, das sie hervorbringt, existieren und sie wären zeitlose Entitäten. Was gut gemeint war, bedeutete letztlich einen wissenschaftspolitischen Eingriff in die Brauchpraxis, denn sie wird damit zu einer identitätspolitischen Verhandlungsmasse ex cathedra. Im schlimmsten Fall zu einem Kulturdiktat. Und ja, die UNESCO und die deren wissenschaftlichen Beiräte meinen es nur gut.

Bräuche zeichnen sich einmal dafür aus, dass sie bei den Zuschauern, aber oft auch bei den Brauchausübern als magisches, kurioses, gar entrisches oder hübsch pittoreskes Spiel erscheinen. Von diesem Flair und Charme nährt sich die Tourismusindustrie und die Kulturpolitik, weswegen sie ein Interesse an magisch aufgeladenen Narrativen haben (müssen). Historischkritische, sozialpolitische Brauchforschung ist daher nur bedingt von Interesse. Der derzeitige Sinn von Bräuchen ist mehr denn je zweierlei: Durch ihren unübertroffenen binnenexotischen und folkloristischen Charme sind sie ideales Marketingklischee und Hilfsmittel der Tourismusbranche. Nebenbei das, was sie immer schon waren: „Auswurf“ realen Lebens innerhalb von Konventionen zu sein, Land-, Dorf- und Stadtgemeinschaften nach innen zu strukturieren und zusammenzuhalten.

In der gebotenen Kürze will hier noch auf Südtirols Brauchkultur eingegangen werden.

Südtirols Brauchkultur leidet an einem erkenntnisschiefen Narrativ. Da sie viele Erzählungen und Überlieferungen einer politischen Brauchforschung im Namen des SS-Ahnenerbes Heinrich Himmlers verdankt. Daher ist in Südtirol oft von heidnisch magischer Aufladung, von archaischen, wilden Traditionen und „uralten“ Herkünften die Rede.

Ein kluger und viel zu wenig beachteter bayerischer Volkskundler (Hans Moser)5 der Nachkriegszeit meinte mal, die Volkskunde – die über Jahrzehnte die Expertise zu Bräuchen erstellte und diese oft noch tut – würde Bräuche zu sehr „archaisieren“. Damit hatte der zu wenig beachtete Mann mit seiner wissenschaftskritischen Bemerkung recht.

Für Südtirol ist diese Unzulänglichkeit jedoch relevant, da ein wichtiger Teil von Südtirols Brauchnarrativen durch nationalsozialistische Feldforschungen überhaupt erst den faschistischen Assimilierungspraktiken entrissen werden konnte, allerdings um den Preis der katholischen Ursachen und Entstehungsgründe bei Südtiroler Bräuchen. Diese blieben durch tendenziösideologische Überlagerung germanophiler Phantastereien der Nazi-Forscher unbeachtet. Sie sind daher quellenkritisch und sozialpolitisch zu behandeln.6 Sprechen wir über Bräuche und von einem Re-Setting gilt es quellenkritisch und gesellschaftspolitisch vorzugehen, ad-hoc-Momente zuzulassen, sich freizuspielen von „althergebrachten“ Diktaten, weiters, feministische Blicke und wechselnde Geschlechterrollen einzunehmen (schließlich besetz(t)en in allen bisherigen Brauchrollen Männer auch Frauenrollen) Interventionen vorzunehmen und Bräuche den Dynamiken eines Spiels freier Kräfte auszusetzen, jedem Kulturdiktat skeptisch zu begegnen.

1 Im Sinne des Bergsonismus repräsentieren sie den Widerstreit, nein, die Paradoxie zwischen instinktiven Gefühlen und Intellekt.

2 Zu einer der ersten im europäischen Raum vollzogenen Studien zu Bräuchen von Frauen siehe: Shojaei Kawan, Christine: Ethnologie im Feminin? – Yvonne Verdier (1941-1989).

In: Wallnöfer, Elsbeth (Hrsg.): Maß nehmen Maß halten. Frauen im Fach Volkskunde. Wien/Köln/Weimar 2008. S.145-164.

3 Van Gennep, Arnold: Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt a.M./New York 1999, [3. erweiterte Aufl.]

4 Moccia, Federico: Ho voglia di te. Mailand 2006.

5 Moser, Hans: Gedanken zur heutigen Volkskunde: In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde. München 1954. S. 208-234.

6 Vgl.: Köstlin, Elsbeth: Das volkskundliche Foto: Südtirol 1940/41. Realität, Wirklichkeit Poesie. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Südtiroler Landesmuseum für Volkskunde (Hg.), Bozen 2001. Vgl. dazu die zahlreichen Studien von Gerald Steinacher.

Bianca Lugmayr und
Kranabetter Sewing Trumpet – Visual Audio Tracks

Zwischen Wahrung und Veränderung: Maria Geburt in Lana

Das bei der alten Wallfahrtskirche Maria-Hilf-(heute St.-Johann)-Kirche in Oberlana seit 1661 nachweisbare Maria-Geburts-Fest gehört noch zu den schönsten kirchlichen Feiertagen des Burggrafenamtes. Es beginnt am ersten Wochenende im September mit einer vorabendlichen Kräuterweihe. Sonntagfrüh hält die Bürgerkapelle den Weckruf ab, dann folgt das Hochamt in der Kapuzinerkirche, wo seit der josephinischen Zeit das verehrte Maria-Hilf-Bild seinen Platz hat. Höhepunkt ist die Prozession mit vier Evangelien. In der Gaulschlucht wird ein weltliches Fest abgehalten und am Nachmittag findet eine Marienandacht statt.

In vielen Elementen hat sich noch das TheatralischGegenreformatorische aus der Barockzeit erhalten: Böllern, Schmuck von Kirche und Prozessionsweg mit Girlanden, Fahnen und „Mandlen“ (kleine Stangen), alles mit Fichtentaxen umwunden, die Kindergruppe der „Schäferlen“ (Hirten) mit Erzengel, große Kirchenfahnen und zahlreiche „Ferggelen“ (Heiligenstatuten) sowie Fahnenschwingen.

Alles ist eingebettet in einen überlieferten katholischen und liturgischen Kanon: Messe und eucharistische Prozession (mit dem Allerheiligsten), an der sich möglichst viele Gruppen im Dorf beteiligen und ihre jeweiligen Zeichen mittragen. Dies sind seit Jahrhunderten die Konstanten. Ganz beiläufig oder aus bestimmten Notwendigkeiten heraus ergaben sich auch Variablen, die zur Veränderung beigetragen haben und hier beispielhaft vorgestellt werden. Das 18. Jahrhundert kannte noch singende Kinder auf den „Ferggelen“ und mit Bärenfellmützen ausgestattete Grenadiere in französischer Uniform. Im 19. Jahrhundert begleiteten Kinder als Lampenträger die „Ferggelen“ und stellten die Heiligen Johannes der Täufer, Isidor und Notburga dar. Gegen Ende des Jahrhunderts änderte sich diese Darstellung, als die „Schäferlen“ auf acht bis zehn Kinder anwuchsen und die anderen Figuren wegfielen.

Mit Mariensprüchen und -bildern, Blumen und Taxenkränzen gezierte Gebäude sind heute bis auf zwei oder drei keine mehr zu finden. Die Weganrainer*innen, Geschäftsinhaber*innen oder zugezogenen Mieter*innen haben keinen Bezug (mehr) zu einem kirchlichen Marienfest. Früher kümmerte sich eine Gruppe von Bauern aus dem Ortsteil um die intensive Vorbereitung und Durchführung der ganzen Feier, seit 2001 ist es ein vereinsmäßig organisiertes Komitee. Dieses besorgt vor allem den Taxenschmuck, dessen gänzliche Auflassung eine junge Komiteegeneration in den 1980erJahren verhinderte. Heute fehlen allerdings eingesteckte Blumen im Schmuck und die gerühmten meterhohen Triumphbögen aus Taxen und Moos. Politische Ereignisse wirkten sich ebenso auf die Prozession aus. Während des Ersten Weltkrieges fehlten die Männer zur Durchführung und Italien verbot bis 1958 die Tirolerfahnen. Unter dem Eindruck der Feuernacht und der Verhaftungen 1961 wurde die Prozession als einfacher Bittkreuzgang abgehalten, die Böllerei war genauso wie die Tirolerfahnen bis 1967 verboten. Das Fehlen der Carabinieri in Gala-Uniform ab den 1990er-Jahren als Begleitung für das Allerheiligste bedauerten einige Teilnehmer. Dafür erstarkte wieder das Tirolertum ab 2001, als die Schützen mit Gewehr und Säbel ausrückten und Ehrensalven abfeuerten. Das spektakuläre Böllern reduzierte sich im Laufe der Zeit ebenfalls. Bis in die 1950er-Jahre wurde schon um 3 Uhr früh geböllert (heute 7 Uhr). Die Gesetze in Kombination mit Anzeigen und Prozessen ab 1987 haben den überlieferten Schwarzpulver-Mörser-Modus mit Gaskanonen und zuletzt Feuerwerksraketen abgelöst. Manch einer wünscht sich nichts sehnlichster als die alte Böllerherrlichkeit zurück.

Der Volksfestcharakter mit Taschenspieler*innen, Bauchredner*innen, Wirtshausmusikant*innen und Besucher*innen vom Untervinschgau bis ins Überetsch, Grödner Krämern, Heiligenbild- und Früchteverkäufern

und Marktschreiern vom Nonsberg mit Käse ebbte gleich nach dem Ersten Weltkrieg ab. Auch die Teilnahme von zwei Musikkapellen, der heimischen und einer auswärtigen – nicht nur zur Verschönerung der Prozession, sondern vor allem für die Konzerte vor den Wirtshäusern – hörte damals auf. Durch den seit den 1970er-Jahren in der Gaulschlucht abgehaltene Festbetrieb (Organisator: Sportverein) war wieder ein angenehmer Mittelpunkt geschaffen worden. Damit verlagerte sich das Geschehen weg von den Gasthäusern. Lediglich das Fahnenschwingen an den Plätzen vor heute Großteils geschlossenen Kaffees und Gasthäusern, erinnert noch an die Orte der alten Festlichkeiten, an der interessanterweise nicht gerüttelt wird. Dabei wäre es doch Sinn und Zweck dieser Darbietung, sie vor zahlreichem Publikum abzuhalten, z.B. am Festplatz in der Gaulschlucht. Eine schleichende Entwicklung bahnte sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Rückgang an Teilnehmer*innen und Diensten an. Gottesdienste und Prozession ziehen immer weniger Gläubige an, auch die Zuseher, die bis in die 1970er-Jahre noch massenweise die Falschauerbrücke belagerten, gehören der Vergangenheit an. Mit dem Aussterben bzw. dem Rückgang der Geistlichen verschwanden zuerst die geschlossene Reihe des Kapuzinerkonventes, dann jene des Deutschordenskonventes aus dem Bild der Prozession. Letzterer wurde vor über 30 Jahren durch die Teilnahme der Familiaren des Deutschen Ordens (Laien) ersetzt. Starke Veränderungen erfuhren die zahlreichen Dienste. Aktuell ist es kaum mehr möglich genug Träger*innen für die bis zu 35 Kilogramm schweren, fünfflammigen Fahnen zu finden, weshalb nicht mehr alle neun mitgetragen werden. Ein Umstand, der aber nur den Insidern wirklich auffällt.

Als die Suche nach Träger*innen für mehrere „Ferggelen“ immer problematischer wurde, vertraute sie das

Komitee Ende der 1970er-Jahre Vereinen an, die die Leute aus ihren Reihen zusammensuchen, damit diese in Tracht erscheinen. Durch das Ausscheiden von Klosterfrauen aus dem Religionsunterricht, in dem Schüler*innen für das „Kinderferggele“ oder die Erstkommunionmädchen mit weißen Lilien für die Immaculata-Statue gesucht wurden, blieben die Kinder aus. Vor einigen Jahren gelang kurz die Wiederbelebung des „Kinderferggele“ (seit 1990 nicht mehr getragen). Allerdings war der Aufwand bei der Suche von gleich großen Buben im Mittelschulalter und der passenden Tracht zu groß, weshalb dies Statue wieder im Depot verschwand. Über die Erstkommunionvorbereitung konnten kürzlich wieder Mädchen begeistert werden. Nicht mehr von Handwerkern mitgetragen wird seit 1992 die Statue des hl. Josef; das Auftreiben von Trägern scheiterte bisher. Für die Villner Muttergottes konnte nach einer Pause – da die Träger aus der Gegend und der Vill zu alt wurden – die Bäuerinnen als Trägerinnen gewonnen werden (ohne Baldachin, um das Gewicht zu verringern).

Die Einteilung der Prozession – vor dem Allerheiligsten Männer und männliche Vereine, hinter dem Allerheiligsten Frauen – und innerhalb der Geschlechter nach Ständen und Alter gegliedert (Schüler*innen, Jugend, Erwachsene) wird durch den Wandel in der Gesellschaft nicht mehr gänzlich eingehalten. Die Schüler*innen gehen schon seit Jahrzehnten nicht mehr mit, nur die Banner für Mädchen und Buben samt Träger*innen in Tracht werden dank des Einsatzes von Privaten getragen. Der Schwund an Teilnehmer*innen brachte auch bei der Einreihung der Fahnen und „Ferggelen“ eine Veränderung. Waren sie vorher bis auf die Immaculata-Statue alle bei den Männern vor dem Allerheiligsten eingereiht, wurden ab 1980 zwei Fahnen und die hl. Familie bei den Frauen eingereiht. Maria Geburt ist heute ein abgespecktes Barocktheater, bei dem einige Lananer*innen ihre Tracht aus dem Kasten holen, mit viel Aufwand und ehrenamtlichen

Ein nicht zu vernachlässigendes Handicap für heutige, nicht mehr körperliche Arbeit leistende Generationen und die Auswirkungen der Arbeitssicherheit ist das Gewicht der Fahnen und Statuen. Die Herz-Jesu-Statue des Arbeitervereins, eine massive Grödner Arbeit der vorigen Jahrhundertwende, blieb einige Jahre stehen, weil sie mit einer Räderkonstruktion geschoben werden sollte, was das Komitee ablehnte. Grundsätzlich stellt sich hier die Frage, ob das Komitee auf die herkömmliche „Schultertragweise“ ohne Wagen besteht und damit in Kauf nimmt, dass „Ferggelen“ stehen bleibt bzw. die Träger gar nicht mehr zu finden sind oder doch technische Erleichterungen zulässt. Schlussendlich hat sich durchgesetzt, dass die Tragestangen mit farblich angepassten Pölstern versehen werden. Zu gewagt oder womöglich auch zu fremd war dem Komitee heuer eine Aktion im Rahmen des Kulturfestivals LanaLive, das unter dem Motto „Traditionen im Wandel“ stand. Der Künstler Josef Rainer hatte alle Besucher*innen der Gaudi-Bar in der Gaulschlucht zu einem Workshop für eine mögliche „Skulptur“ eingeladen. Jede/jeder malte sein Lieblingstier auf Holz, das Rainer um einen von ihm gestalteten, Tierheiligen Franziskus von Assisi gruppierte. Ein Mittragen bei der Prozession lehnte das Komitee allerdings ab, u.a. mit dem Argument, dass man keinen Präzedenzfall schaffen möchte und selbst zwei „Ferggelen“ habe, die im Depot stehen, weil sie nicht getragen werden. Längere Diskussionen gab es vor einigen Jahren, als der Musikverein, die „jüngere“ Musikkapelle in Lana, unbedingt mit der „älteren“ Bürgerkapelle teilnehmen wollte. Letztere sperrte sich im Verein mit einigen Komiteemitgliedern erfolgreich unter Aufbietung von Dekan und Bürgermeister gegen die Teilnahme. Eines der Argumente lautete, dass nur die Bürgerkapelle diesen Dienst bisher versah, was nicht exakt ist, denn bis vor dem Ersten Weltkrieg spielten zwei Kapellen.

Einsatz die Zierde vorbereitet wird und der katholische Glaube in Form einer eucharistischen Prozession samt Gottesdiensten nur mehr einer Hand voll Beteiligten etwas bietet, während sich andere mehr auf das Volksfest und die Zurschaustellung konzentrieren. Der Kreis der Lananer*innen, dem diese Tradition etwas bedeutet, wird immer kleiner, die Bewohner*innen, die die Straßensperre wegen der Prozession, das Böllern wegen der Haustiere und der Ruhestörung oder gar die „Veranstaltung“ aus antireligiösen Einstellungen ablehnen, werden mehr. Die Frage wird daher sein, in welchem Ausmaß und wie lange das kirchlich geprägte Fest samt Prozession noch aufrechterhalten werden kann. Wer reiht sich noch rosenkranzbetend (dem Lautsprecher nachbeten genügt heute) ein, wenn er nicht einem Verein zugehört? Wer trägt die schweren Figuren und Fahnen, übernimmt die verschiedenen Dienste und investiert eine Woche an Vorbereitungen? Kann eine Anpassung gemacht werden, ohne den Charakter der Feier zu verändern oder sie ihrer wesentlichen Teile zu berauben? Können wieder mehr Leute für Maria Geburt, nicht nur als Zuseher*innen, begeistert werden? Durch die Einbindung der Kinder, die Vermittlung von Inhalten und die Erklärung für Erwachsene kann eine größere Akzeptanz geschaffen werden. Aber wird dies ausreichen, um in einer sich wandelnden Gesellschaft mit stark schwindendem Bezug zum katholischen Glauben diese Tradition am Leben zu halten?

Simon Terzer

Bräuche, die sich nicht verändern dürfen, haben bereits Totenstarre

Ein Interview mit Roland Angerer

Was Brauchtum eigentlich ist und welchen kulturgeschichtlichen Zweck es erfüllt, diese Fragen stellen wir Roland Angerer.

Der Stilfser Pädagoge, Fußballtrainer, Gärtner und Kulturvermittler hatte um 1990 herum die Idee, in seinem kleinen Bergorf Stilfs den beinahe vergessenen Brauch Pfluagziachn wieder einzuführen, um so das Kulturleben des von Abwanderung betroffenen Gebietes wiederzubeleben.

KULTURELEMENTE Herr Angerer, in den lokalen Medien und im Tourismus wird oft von lebendigem Brauchtum oder gelebter Tradition gesprochen? Was ist damit gemeint?

ROLAND ANGERER Brauchtum spielt im dörflichen Leben immer eine zentrale Rolle, Bräuche werden öffentlich zelebriert und sind wesentliche kulturelle Ausdrucksformen, denn sie formen in gewissem Maße die Gemeinschaft seiner Menschen: sie sind Ausdruck der Gemeinschaft der Dorfbewohner. So gibt es in jedem Dorf eigene Bräuche, Umzüge, Prozessionen, Gepflogenheiten, aber auch überlieferte Sprüche, Rezepte und Eigenheiten, die es nur hier gibt. Gäbe es kein Brauchtum, so müsste man es erfinden. Sein Endzweck ist immer, dass Leute sich daheim fühlen.

Ein typischer Brauch in Ihrem Dorf ist das bunte Lärmritual Klosn im Dezember, aber auch das karnevaleske Pfluagziachn Sie haben es wiederbelebt.

Warum war Ihnen das ein Anliegen?

Das Pfluagziachn ist unter anderem ein Fruchtbarkeitsritual zum Winterausklang, dessen Ursprung im Dunkeln liegt. Es wurde aber nur mehr sporadisch aufgeführt, in der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre nur zweimal. Nach dem Krieg wurde vieles von dem alten Brauchtum vernachlässigt, nur mehr selten praktiziert oder ganz aufgegeben und vergessen. Die Idee, das Pfluagziachn wieder ins Leben zu rufen, kam mir ganz plötzlich, während einer Veranstaltung 1990, bei der alte Stilfser Berufe vorgeführt wurden. Es waren Berufe, die es nicht mehr gab. Das Ganze schien mir eine tote Kultur zu sein. Es war wie diese Tänze von Ureinwohnern, die nur noch für Touristen aufgeführt werden. Ich dachte mir, so kann Brauchtum nicht aussehen. Ich möchte etwas Lebendiges, Organisches sehen, das den Leuten auch etwas bedeutet und Spaß macht.

Einige dieser Bräuche waren längst vergessen und wurden erst nachträglich wiederbelebt. Gerade in der Nazi-Zeit wurden alte Rituale als Bräuche heidnischen Ursprungs glorifiziert.

Das stimmt, aber dass diese Bräuche, vor allem Fruchtbarkeitsrituale, schon immer praktiziert wurden und alte Wurzeln haben, liegt auf der Hand. Zum Beispiel das Scheibenschlagen. Die brennende Scheibe ist die Sonne, an welche Wünsche und Zaubersprüche gerichtet werden.

Als wir das Pfluagziachn wiederbeleben wollten, hatten wir den genauen Ablauf nur mehr ungefähr in Erinnerung. Das war eine kuriose Situation. Wir mussten zuerst die alten Leute befragen, wie es denn eigentlich damals zuging. Die Alten wussten es, wollten das Spektakel aber nicht mehr organisieren; und wir wollten es organisieren, wussten aber nicht mehr, wie es geht.

Am Ende hat die Wiederbelebung funktioniert. Die Leute haben mitgemacht, den Jungen macht es Spaß. So wird es seit 1998 regelmäßig alle zwei Jahre in Szene gesetzt. 2020 haben vier junge Burschen ein Komitee gegründet und die Organisation dieses Brauches übernommen.

Diese Bräuche haben recht komplexe, starre, teils antiquierte Regeln. Auch beim Pfluagziachn spielen z.B. Männer alle Frauenrollen. Frauen sind gar nicht involviert.

Meiner Ansicht nach kann und soll sich Brauchtum immer ändern. Es steht nirgends geschrieben, dass das so bleiben muss, dass Männer die Frauenrollen spielen. Aber es muss sich von innen heraus ändern, nicht von oben herab diktiert werden. Das passiert ja auch. Das Klosn zum Beispiel hat heute einen ganz anderen Verlauf als vor hundert Jahren. Oder beim Pfluagziachn wird heute zum Winteraustreiben keine „Hexe“, sondern der „Hennemann“ verbrannt. Frauen sind übrigens trotzdem involviert, weil das ganze Dorf aktiv beteiligt ist.

Bräuche ändern sich auch deshalb mit der Zeit, weil sich die Symbole mit der Zeit ändern. Wir haben ja heute ganz andere Ausdrucksformen – beispielsweise für die „Angst“ – als vor hundert oder dreihundert Jahren. Heute reagieren wir auf beängstigende Umstände – z.B. auf den Klimawandel – mit Protest oder Fatalismus oder Resignation. Noch schnell die Zeit genießen, bevor alles untergeht. Vor nicht allzu langer Zeit wären wir bei einer drohenden Katastrophe oder apokalyptischen Ängsten in die Kirche gegangen, um zu beten.

Sie sagen, das ganze Dorf ist beteiligt. Welchen Stellenwert hat dieser Brauch für das Dorfleben?

Der Punkt ist, dass das ganze Dorf das Publikum ist, das sich aber auch einmischt. Anders gesagt, die Dorfbewohner*innen sind nicht passiv als Zuschauer dabei, sie sind in das Freilichtspiel involviert. Sie haben sogar einen großen Anteil am Schauspiel. Kurz gesagt, dieser Brauch ist deshalb so lebendig, weil er für uns Einwohner*innen selbst aufgeführt wird und nicht für ein zahlendes Publikum. Es geht nicht darum, ein touristisches Schauspiel zu schaffen, sondern das Dorfleben selbst zu beleben. Das verstehe ich unter lebendigem Brauchtum, das ist, wenn wir so wollen, Teil der Tradition.

Haimo Perkmann

Rituale und religiöses Brauchtum in der Bronze- und Eisenzeit

Das Leben der Menschen in der Bronze- und Eisenzeit (2. und 1. Jahrtausend v. Chr.) war beherrscht von einem ausgeprägten Jenseitsglauben bzw. durch den Glauben an höhere Mächte, an Gottheiten. Es ist ein ureigenes menschliches Verhalten, mit den Gottheiten, den unsichtbaren Lenkern unseres Schicksals in Kontakt zu treten und diese durch gezieltes Agieren zu beeinflussen. Durch das Opfer findet eine direkte besondere Kommunikation mit den überirdischen Mächten statt. Der Verzicht auf Gaben, der Aufwand für ihre Darbringung bzw. ihre Zerstörung verpflichtete gemäß der damaligen Vorstellung die Gottheiten geradezu zur Gegengabe. Insbesondere in Angst- und Krisensituationen versuchte der Mensch stets durch freiwilligen Verzicht bzw. durch Versprechen, die Gottheiten gnädig zu stimmen. Anlass dazu konnten Krankheit, Risiko, Hungersnot, Seuche, Krieg usw. bilden.

Mit den religiösen Vorstellungen und dem Brauchtum waren Rituale verbunden, die über Jahrhunderte hindurch unverändert beibehalten wurden. Rituale waren für das Bestehen der Gemeinschaften von besonderer Bedeutung, sie gaben Struktur, Sicherheit und prägten zudem das gesellschaftliche und soziale Leben. Die Forschung nimmt an, dass die Gemeinschaften ohne ihre religiösen Vorstellungen, ohne den Glauben an Gottheiten gar nicht überlebensfähig gewesen wären.

Die Archäologie vermag nur sehr bruchstückhaft das religiöse Leben und die Vorstellungen der damaligen Zeit zu erfassen. Zum einen können nur die dinglichen Hinterlassenschaften bewertet und interpretiert werden und dies aus unserer heutigen Perspektive. Zum anderen fehlen eine schriftliche Überlieferung oder bildliche Darstellungen. Erst in der Eisenzeit (um 500 v. Chr.) treten erste Bildfriese auf Bronzegefäßen auf, die ausschnittweise Einblicke in das Geschehen komplexer religiöser Feiern geben.

Rituale und Brauchtum begleiteten die Menschen das gesamte Leben hindurch bis zum Tod. Durch archäologische Untersuchungen wissen wir, dass im Zuge der Errichtung eines Hauses manchmal ein sog. „Bauopfer“ dargebracht wurde, etwa in Form der Deponierung eines Gefäßes samt Inhalt (Getreide). Ebenso wurden in der Eisenzeit anlässlich der Auflassung eines Hauses im Bereich des Einganges im Rahmen eines Ritus Knochenspitzen mit Schriftzeichen deponiert.

Flüsse, Bäche, Seen und Moore übten für die Menschen der Bronze- und Eisenzeit eine besondere Faszination aus. Das Element Wasser bildete in der damaligen Vorstellung einen Zugang in eine andere Welt

bzw. bildete es die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. So nimmt es nicht Wunder, dass im Wasser immer wieder archäologische Objekte geborgen wurden, die einen besonderen materiellen und symbolischen Wert hatten und mit Absicht entäußert worden sind (Schwerter, Beile, Lanzenspitzen). Das Wasser war Symbol des Lebens, wie es Thales von Milet (624–um 546 v. Chr.) ausdrückte: „Das Prinzip aller Dinge ist das Wasser; aus Wasser ist alles und ins Wasser kehrt alles zurück“.

In der Bronzezeit bildete das Hochgebirge einen wichtigen Wirtschaftsraum und zwar zur Weidenutzung. Erstmals können Almhütten nachgewiesen werden, in denen vermutlich auch Käse und Butter hergestellt wurden. Die Jöcher und Pässe wurden intensiv begangen, zum einen im Rahmen der Weidenutzung, zum anderen auch zu Handelszwecken. An diesen Kommunikationsrouten barg man immer wieder einzelne Objekte aus Bronze, die vermutlich als Dank oder Bitte für eine gelungene Überquerung niedergelegt wurden. Der Fund eines Dolches oder eines Schwertes legt nahe, dass sie vom Anführer einer Siedlungsgemeinschaft geopfert wurden.

Während bei Deponierungen von Bronzegegenständen im Wasser oder an Übergängen im Hochgebirge die Intention der Menschen nicht in wünschenswerter Art und Weise erfasst werden kann, ist diese bei Heilquellen offensichtlich. So wurden die Schwefelquellen von Bad Bergfall/Olang und von Moritzing von Menschen in der Eisenzeit aufgesucht. Als Dank für erlangte Heilung opferte man in Moritzing über mehrere Jahrhunderte Fingerringe aus Bronze (8. bis 4. Jahrhundert v. Chr.), was eine besondere lokale Tradition zum Ausdruck bringt.

In der Bronzezeit wurden im alpinen Raum erstmals feste Heiligtümer errichtet, sog. Brandopferplätze. Für den heiligen Ort wählte man besondere Orte aus, etwa eine markante Bergkuppe, ein Seeufer oder eine Moorlandschaft. Brandopferplätze finden sich auch in exponierten Lagen nahe einer Siedlung.

In den Heiligtümern wurden am Altar im Rahmen einer Gemeinschaftsfeier landwirtschaftliche Produkte (Brot, Getreidebrei), Feldfrüchte (Ackerbohne, Saubohne, Erbse, Flachs bzw. Lein, Linse, Schlafmohn) und Sammelpflanzen (etwa Haselnuss, Himbeere, Brombeere, Erdbeere und Holunder) verbrannt. Hinzu kommt das Opfer von Haustieren (Schaf, Ziege, Rind), von denen nur ausgewählte Teile auf den Altar gelegt wurden, insbesondere Schädel und Füße.

Durch die Verbrennung wurden gemäß der damaligen Vorstellung die Opfer in eine andere Materie verwandelt und stiegen nunmehr zu höheren Sphären auf, wie es Homer in der berühmten Ilias schildert: „Und den Fettdampf trugen vom Boden die Winde zum Himmel“ (VIII,548–549).

Zum Geschehen an den Brandopferplätzen gehörten mit Sicherheit Tänze, Gesänge, Gebete, symbolische Handlungen u. ä. Überdies bildete das gemeinschaftliche Essen und Trinken einen wesentlichen Teil des Ritus.

Einen überaus seltenen Einblick in das Geschehen gewähren die Funde des Brandopferplatzes auf der Göge-Alm in Weißenbach/Ahrntal, der inmitten eines Moores angelegt war. Für den Vollzug des Kultes verwendete man speziell für diesen Zweck hergestellte Kellen aus Zirbenholz, die als Feuerpfannen dienten. Am Schluss der Zeremonie wurden diese stets an derselben Stelle im Moor versenkt. Bei einer archäologischen Ausgrabung kamen rund 150 Kellen, dazu angebrannte Äste und Kienspäne zum Vorschein, die aus der Zeit zwischen 900 und 600 v. Chr. stammen.

Anlass für die Opfer dürften Aussaat und Ernte gebildet haben, bei Brandopferplätzen im Hochgebirge vermutlich der jährliche Auf- und Abtrieb der Tierherde.

Mit der Verbreitung des Christentums endeten keineswegs ältere Vorstellungen und kultische Handlungen, im Gegenteil, sie erwiesen sich als besonders beharrlich und konnten nur mit Mühe eingedämmt werden. Viele Elemente wurden vom Christentum übernommen, überlagert, abgewandelt. Die Wurzeln unserer Religion reichen in die Bronze- und Eisenzeit zurück.

Religion und Glaube gehören zu den zentralen und gleichzeitig zeitlosen Bedürfnissen des Menschen und blieben dies unverändert bis in heutige Zeit, auch wenn sich Formen und Zugang im Laufe der Zeit änderten. „Es ist nur eine Religion, aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben“ (Immanuel Kant 1724–1804).

Hubert Steiner

Tanz die Lücke!

Das Hotelzimmer in einem Dachgeschoss irgendwo in Marburg ist so dunstig wie das Wetter draußen, das sich zwischen Dusche und Solarium offensichtlich nicht entscheiden kann. In diesem meteorologischen Zweifelzustand liege ich im Bett, entspanne, nach einem Tag Jodel-Workshop an der heimischen Sommerakademie, meine Stimme und stehe gedanklich vor dem einzigen 4.000er des Landes namens Tradition. Der Nacken ist schon ein wenig steif!

Ich habe die Teilnehmer*innen des Workshops gefragt, ob Jodeln zur hessischen Tradition gehöre und natürlich rauschte ein Schmunzeln und Lachen durch die Runde. “Das gehört doch in die Alpen oder nach Bayern”, so eine Teilnehmerin. Historisch gesehen stimmt diese Annahme (fast) und wenn wir Tradition als “natürliche” ununterbrochene Weitergabe von Handlungsmustern, Anschauungen etc. verstehen wollen, ist dem auch (fast) gar nichts zu entgegnen. Wenn Tradition jedoch eine Konstruktion ist, die den Anspruch auf ungebrochene Kontinuität erhebt, ist Tradition das, was wir unter diesem Anspruch formulieren. Sprich eine diskursive Interpretation im Gegensatz zur “natürlichen” 1 zu 1 Weitergabe von Jodlern zum Beispiel. Wandelbarkeit durch Interpretation ist somit immanenter Bestandteil des Begriffs. Also könnte Jodeln in Marburg provoziert durch diesen kleinen Workshop eine Kontinuität entwickeln worauf die Marburger Lebensgemeinschaft irgendwann den Anspruch erhebt, diese vielfältige Vokalform gehöre zur Stadt wie der Blech-Hahn am Rathaus, der zur vollen Stunde immer kräht und mit den Flügeln schlägt oder diese wunderbaren Pralinen mit dem schönen Namen Marburger Altstadtpflaster. Und wenn Tradition stets eine Interpretation ist, die den Anspruch auf etwas erhebt und weil alles auch immer irgendwoher kommt und (sorry für die vielen unds) weil es immer viele kleine Startfunken sind, die etwas in Bewegung bringen, ist Tradition auch ohne Innovation nicht denkbar. So, nun liege ich immer noch im Dunst des Feierabends und am Gedankenhorizont türmt sich dies alles als wahnwitziges Paradox auf. Tradition, dieses Bollwerk an Unverrückbarkeit, dieser konservative Kulturbeutel, ist dem gesellschaftlichen Diskurs ausgesetzt und soll ohne

Innovation undenkbar sein? Mein leuchtender Klappkasten bleibt stoisch und ich habe mich entschlossen, noch ein wenig in diesem Paradox zu verweilen, es mag das Zweifel-Wetter daran Schuld tragen.

Ich schließe die Augen und lade dich ein, es mit mir zu tun und sammle Bilder, welche ganz spontan im Kopfkino auftauchen, trägt der Film den Titel: Tradition. Hast du schon welche gesammelt? Vielleicht gibt es Überschneidungen: Es riecht nach Heu, Kühen, Berge und Wiesen kommen vor, trachtige Kleidung, die Welt ist ausschließlich hetero und katholisch, der Weihnachtsbaum darf nicht fehlen und Knödel mit und ohne Ziehharmonika in allen Fällen mit Gabel. So in etwa. Wenn ich kurz versuche, die Gegenwart zu überblicken, dann muss ich festhalten, dass all jene, die auch solche Bilder haben und alles was sie damit in Verbindung bringen auch als lebenswert und sinnvoll erachten, zumindest nicht alle Alpenbewohner*innen sein können. Wieder ein Teil von jenen will den Traditionsbegriff jedoch nicht als diskursiv, sondern als unantastbar verwenden und hier, wie überall wo der Diskurs ausgeschlossen ist, wird es höchst problematisch. Ich seufze tief in meine Matratze und die Gesichter so manch politischer Würdenträger getriggert durch diesen Gedanken verdunkeln mein Gemüt, während sich vor meinem Fenster jemand genüsslich darüber aufregt, dass sie mit ihrem Fahrrad von einem Auto angehupt wurde. Memo an mich selbst: In Marburg hupt wer auch immer Fahrradfahrer*innen nicht an. Für mich kann es, wenn dann nur Traditionen geben, die neugierig, freudig, oft nebeneinander, manchmal ineinander fließen (ist jetzt Helloween Tradition oder doch nicht?), oft taucht eine auf und manchmal auch eine unter. Alle erfüllen wichtige Aufgaben im Alltag der Menschen und gestalten diese plurale Gesellschaftsskulptur. Fantastisch, auch der Groll auf der Straße hat sich wieder verflüssigt.

Und wo fangen sie denn an? Das ist vielleicht ein bisschen so wie die Frage danach, wo all die Regenbogen entspringen. Wo fangen sie an all diese Traditionen, was hat alles dazu geführt? Je weiter man gräbt, desto größer werden Vermutungen und Lücken, desto höher

Tradition und Musik des italienischen Judentums

Ein Interview mit Piergabriele Mancuso

wird der Grad an Kreativität, an Lust auch die Geschichte zu beleuchten, aber auch im Handeln selbst. Es hat endlich begonnen zu regnen! Jetzt wird es für mich spannend. Ein Beispiel aus den Volkstänzen. Der Polsterltanz wurde vor ca. 100 Jahren vom “Ethnologen” Konrad Mautner aufgezeichnet und wird heute nicht mehr getanzt. Wir (eine Künstler*innengruppe um Simon Mayer im Rahmen eines Projektes der Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut) haben bei Tanzvereinen nachgefragt, sind mit unserer Recherche ins Altersheim, doch der Tanz war nicht mehr zu rekonstruieren. Eine Lücke. Juhuu! Ein Detail, an das sich jedoch einige erinnern konnten, war das "Busserl", das an einer Stelle dieses Tanzspiels gegeben wurde. So steht es auch in der Beschreibung Konrad Mautners. Dieses "Zwangs-Bussi", wo eine Person eine andere aussucht und diese dann nur wegen der Tanzspielregeln auch küssen darf, erschien uns als völlig aus der Zeit gefallen und somit ergab sich eine zweite Lücke. Wieder Juhuu!! Kurzerhand haben wir den Text des überlieferten Liedes abgeändert die Melodie belassen, und ein neues Tanzspiel erfunden, das natürlich mit einem Polster gespielt wird, niemand muss von irgendwem geküsst werden, niemand wird bloßgestellt und wer mag kann das Spiel im Tun erlernen. Dahinter steckt die Frage, ob die exakte Tanzanleitung von 1918 das zu tradierende Gut im Sinne einer 1 zu 1 Weitergabe ist oder die Lust ein Tanzspiel zu kreieren? Und wenn Tradition diskursiv und innovativ ist, dann kann sie auch situativ sein, denn was für das Archiv wichtig und richtig ist, muss noch lange nicht für den Dancefloor irgendeiner Feier gelten. Vielleicht ist Tradition weniger als Berg zu verstehen, sondern als die zauberhafte Wurzelwelt der Pilze und alle Handlungen als deren vergängliche Fruchtkörper. Leckere Pfifferlinge zuerst am Wegrand und dann im Reis, oder einfach nur in Butterschmalz heraus gebrutzelt, aber bitte beim Sammeln kein Loch in den Boden machen, damit wir das, was wir schützen wollen, am Leben erhalten. Ich habe tatsächlich Hunger und mache mich auf den Weg, mir eine Pizza zu jagen. Bevor ich aber meine Euros (hat Währung Tradition…. egal) hole, RIP Tradition, es war echt anstrengend mit dir, and happy welcome alles was war, ist und sein kann.

Überall auf der Welt hat das Judentum seine Umwelt mitgeprägt und wurde seinerseits wiederum von ihr beeinflusst. Diese gegenseitige Kontamination ist erstaunlich, angesichts der Feindseligkeit und Marginalisierung, der die Angehörigen der jüdischen Religion stets ausgesetzt waren. Italien ist da keine Ausnahme, vielmehr kommt hier noch das ausgeprägte regionale Wesen des Landes hinzu. Dies zeigt sich in den spezifisch regionalen, ja sogar lokal unterschiedlichen Ausprägungen dieser kulturellen Wechselwirkung. Wir haben Piergabriele Mancuso, Hebraist und Musikwissenschaftler sowie Leiter des Eugene Grant Jewish History Program des Medici Archive Project gebeten, uns von diesen fruchtbaren Verflechtungen des italienischen Judentums mit seiner Umwelt zu erzählen.

MAURO SPERANDIO Das katholische Italien weist in Bezug auf die religiösen Riten große Homogenität auf. Ist dies auch bei den jüdischen Gemeinden der Fall?

PIERGABRIELE MANCUSO Ganz und gar nicht, das jüdische Italien ist sowohl in ritueller als auch in musikalischer Hinsicht ein Komplex verschiedenster Mosaiksteine, die zusammen ein äußerst heterogenes Mosaik bilden. Italien ist ein Land des Transits und somit auch ein Treffpunkt der Kulturen. Für das europäische Judentum war es ein Ort des Zusammenkommens, ein „Zufluchtsland“– vor allem für all jene, die aus dem Norden oder Westen – allen voran Spanien und Portugal – kamen. Vor allem aber war Italien das Land, in dem das Judentum der Diaspora seine ersten Wurzeln fand. Jede dieser jüdischen Realitäten hat aber bereits spezifische soziokulturelle Traditionen mitgebracht. Nun begannen sie nicht nur, mit der Mehrheitsgesellschaft zu interagieren, sondern auch innerhalb derselben, wodurch, wie bereits erwähnt, eine Reihe von neuen, zusammengesetzten Traditionen entstand.

Ist die römisch-jüdische Gemeinde aus traditioneller Sicht eine Art Referenz?

Mit der nötigen Vorsicht können wir aus historiographischer Sicht die jüdische Gemeinde Roms und der umliegenden Gebiete als „Erste“ Gemeinde der Diaspora bezeichnen. Diese Gemeinde setzte sich – der historischen Überlieferung zufolge – vorwiegend aus jenen Sklaven zusammen, die mit Titus nach Rom kamen. Sie hat in ritueller und somit auch musikalischer Hinsicht eine ganze Reihe an Bräuchen und Sitten hervorgebracht, die sich sowohl von den sephardischen als

auch aschkenasischen Ritualen unterscheiden, deren Ursprung in den iberischen beziehungsweise nord- und osteuropäischen Gemeinden liegt. Sie stellen in Theorie vielmehr eine direkte Derivation jener Formen des jüdischen Kultes dar, die bereits vor der römischen Eroberung und der Diaspora existierten. Selbstverständlich muss man dabei die Phänomene der Interaktion, der Kontamination und des Dialogs mit der Mehrheitsgesellschaft, aber auch der unvermeidlichen Innovationsprozesse berücksichtigen.

Die italienisch-jüdische Musiktradition ist komplex, welche verbindenden Elemente lassen sich dennoch erkennen?

Schwer zu sagen. Interessanterweise haben die italienischen Juden heute, nach Jahrhunderten des Zusammenlebens, musikalisch viel mehr gemeinsam als in früheren Jahrhunderten, oft ohne es zu wissen. Betrachten wir einmal das Beispiel der rituellen Tradition, in hebräisch Minhagim genannt, zweier benachbarter Städte, Venedig und Padua. Erstere ist sephardisch, letztere italienisch – mit großem Einfluss der deutsch-aschkenasischen Tradition. Sie haben sie in Bezug auf das melodische Repertoire und auf Klangmerkmale, die verschiedene rituelle Momente definieren, dennoch haben sie vieles gemeinsam. Es ist nicht bekannt, wie und wann dies geschah; wahrscheinlich ist es auf Meister und Sänger zurückzuführen, die für verschiedene Gemeinden arbeiteten und die sich berechtigt fühlten, rituell-musikalische Lücken mit dem zu füllen, was sie am besten kannten. Vielleicht spielt aber auch die Mitwirkung von Gemeindemitgliedern an gemeinsamen Bildungsveranstaltungen eine Rolle. Aus einer spezifisch musikwissenschaftlichen Perspektive würde ich argumentieren, dass einige verbindende Elemente in der Verwendung und Interpretation der oben erwähnten te'amim, den Neumen der rituellen Lesung der Tora, gefunden werden können. Dabei handelt es sich um ein eher „technisches“ Moment des kollektiven Rituals, das an Experten delegiert wird und daher weniger anfällig für Veränderungen ist. Dies sind Hypothesen, die überprüft werden müssen und an denen weiter geforscht wird.

Wie erreichten aber diese jeweils verschiedenen Musiktraditionen das italienische Judentum?

Ich muss diese Perspektive einschränken, denn in der Geschichte des jüdischen Italiens existiert der Süden nur bis zur ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, einer Zeit, in der die Vertreibungsedikte aus Spanien von

1492 auch in dem unter spanischer Herrschaft stehenden Teil Italiens ihre tragische Umsetzung fanden. Im Jahr 1541 wurden die letzten Juden aus Neapel vertrieben, das vom spanischen Vizekönig regiert wurde. Dies beendete das jahrhundertealte jüdische Leben in Süditalien. Damals erlosch diese Tradition und die Erinnerung daran.

Um auf die Frage zurückzukommen: Der „europäische“ Norden und der „mediterrane“ Süden finden Eingang in das italienisch-jüdische Musikrepertoire als Ergebnis von natürlichen Phänomenen der Interaktion zwischen der jüdischen Minderheit und der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Es sind Mechanismen der Begegnung, die im Übrigen nicht nur die Musik, sondern die Gesamtheit der Kommunikationsformen betreffen. Man denke an die Sprache und die verschiedenen Hybridisierungen wie jüdisch-spanisch, ladino, jüdischdeutsch, jiddisch usw., die sich aus der Durchdringung des Hebräischen mit den lokalen Sprachen ergeben. Gibt es einen emblematischen Fall für diese Traditionen?

Es gibt viele Fälle, aber einen halte ich für besonders wichtig, vor allem im Hinblick auf die italienischen Riten deutsch-aschkenasischen Ursprungs. Es handelt sich um das Pessach-Ritual und insbesondere um das Verlesen der Haggada, einer Sammlung von Texten aus verschiedenen Epochen, die den Auszug der Juden aus Ägypten unter der Führung von Moses und ihren Einzug in das Land Israel zum Inhalt haben. Die Lieder, die nachts im Kreise der Familie vorgetragen werden, werden in der Regel zu viel „freieren“, raffinierteren Melodien gesungen. Erstens sind sie nicht an die strengen Regeln des kollektiven synagogalen Ritus gebunden und zweitens sollen diese Melodien die Freude über die wiedergewonnene Freiheit ausdrücken. Die Görzer Version dieses Ritus ist eine wunderbare Theorie der Melodien, denn sie besitzt einen klar neoklassischen, opernhaften Charakter und ist eine perfekte Verbindung der deutschen Musiktradition und der italienischen Belcanto Tradition. Die jüdische Gemeinde von Gorizia/Görz, die heute nicht mehr existiert, spielte in der Geschichte der italienischen Juden eine wichtige Rolle, da sie zwischen zwei Welten lag. Die Melodien, die in dieser Gemeinde gesungen wurden, blieben uns dank dem unvergessenen Rabbi Elia Richetti erhalten, da er sie vor rund zwanzig Jahren zum Nutzen künftiger Generationen aufzeichnete. Diese Materialien sind nun Teil des Online Thesaurus of Italian Jewish Music einer kostenlos zugänglichen Online-Plattform.

Die 60. Biennale von Venedig, Tradition oder Reaktion?

Wenn man den zentralen Pavillon der Biennale von Venedig, das Herzstück von Pedrosas Ausstellung Strangers Everywhere, betritt, hat man das Gefühl, eine Zeitmaschine zu betreten, die uns viele Jahre zurückversetzt. Es dominiert die Malerei, die nach den kanonischen Konventionen an den Wänden aufgereiht ist.

Natürlich gibt es auch einige Skulpturen, aber so, dass die disziplinären Grenzen strikt eingehalten werden. Da es sich nicht um eine historische Ausstellung über die Moderne handelt, da historische und zeitgenössische Werke nebeneinander stehen, könnte man meinen, es handele sich um eine traditionelle Ausstellung im üblichen und abgenutzten Sinne des Wortes. In Wirklichkeit dominiert eher ein Klima der “Rückkehr zur Ordnung” als ein Verweis auf die Tradition, der gleichzeitig die Phantasie, Offenheit und Risikobereitschaft der letzten Jahre auslöscht, die sich für eine tiefgreifende Veränderung der Sprache einsetzen.

Diese „Rückkehr zur Ordnung“ deckt sich jedoch nicht mit der erklärten Absicht des Kurators, eine „progressive“ Biennale zu schaffen, die der Vielfalt Raum gibt. Den Begriff des „Fremden“ dekliniert Pedrosa weit zurück, um die Marginalität von Identität, Geschlecht und/oder Geografie einzubeziehen. „Internationale Kunstausstellung der Biennale von Venedig (...) eine Feier des Fremden, des Fernen, der Außenseiter, der Queers und der Einheimischen. Wir hoffen, euch alle 2024 in Venedig begrüßen zu dürfen.“ Das Problem ist, dass es nicht ausreicht, Vielfalt zum Thema der Biennale zu erklären, um beispiellose Wege der Vielfalt vorzufinden, wie man es von der Kunst erwarten würde, insofern Kunstmachen per Definition „fremd“ ist. Was in Pedrosas Ausstellung fehlt, ist eben jenes Beben der Sprache, das die Biennale zu einem Experimentierlabor macht, um den Erschütterungen einer Epoche Gestalt zu geben. Strangers Everywhere bestätigt das inzwischen weit verbreitete Modell einer thematischen Ausstellung, bei welcher die Kurator*innen die Route anhand der Werke der Künstler*innen so konstruiert, als wäre sie die Worte seiner Rede. Dieses Modell hat sich so sehr bewährt, dass es auf ein Format reduziert wurde, das nicht in der Lage ist, Überraschungen zu bieten, wie es für eines der wichtigsten Kunstevents der Welt angemessen wäre. Und es ist ein Modell, dessen Wurzeln in gewisser Weise zu den großen Ausstellungen der 1970er, 1980er und 1990er Jahre zurückführen, aber die Kuratoren waren damals Harald Szeemann, Germano Celant, Achille Bonito Oliva usw., Protagonisten zwar, aber vor allem Persönlichkeiten, die sich dafür einsetzten, kritisches Denken mit dem Werk von Künstler*innen ins Spiel zu bringen, um Formen des Dialogs mit der Welt zu erproben.

In den letzten Jahren hat sich dagegen die Figur der Kurator*in als Vermittler*in marketingorientierter Produkte durchgesetzt; die Biennale von Pedrosa bewegt sich innerhalb dieser Parameter, deren Grenzen sich auf kultureller Ebene manifestieren.

Schon bei früheren Biennalen hatten wir es mit Themenausstellungen zu tun, die sich von Zeit zu Zeit „an die Gegenwart anpassten“, und zwar so sehr, dass sie jeden kritischen Wert und jede experimentelle Berufung verloren. Dies beruhte auf dem Irrglauben, dass das Engagement der Kunst in ihrem Gegenstand liegt und nicht in ihrer Fähigkeit, tellurische Bewegungen in der Sprache zu erzeugen. Auf der anderen Seite braucht die reife Kulturindustrie, die fest mit der Tourismusindustrie verflochten ist, an der das zeitgenössische Kunstsystem nun voll beteiligt ist, Produkte, die nicht verwirren, sondern den „gesunden Menschenverstand“ unterstützen und das Bedürfnis nach Unterhaltung nähren. Die Zahlen, die von der Biennale alljährlich in Bezug auf die Wertschätzung des Publikums vorgelegt werden, zeigen eine Logik der Fernsehbeteiligung. Pedrosas Biennale ist keine Ausnahme, und im Gegensatz zu den ostentativen anti-(kapitalistischen, -westlichen, etc.) Absichten ist sie eine der ketzerischsten Biennalen, und diejenige, die am meisten von der unkritischen Wiederaufnahme von Mainstream-Themen erdrückt wird, insbesondere von jener „politischen Korrektheit“, die Europa in rasender Geschwindigkeit aus den Vereinigten Staaten importiert.

Abgesehen von der Frage der geschlechtlichen Identität ist das allgemeine Thema, obwohl es in Mode ist, nicht neu, denn es hat im letzten Jahrhundert berühmte Vorläufer gehabt: Ausstellungen, die sich um das „Fremde“ drehten und die sich mit unterschiedlichen Ansätzen als Beispiele für eine kritische Aufklärung der Spannung zwischen dem Norden und dem Süden der Welt angeboten haben. Pedrosa scheint zu vergessen, was bereits geschehen ist, und schafft eine Art Fest der Ferne, bei dem Vergangenheit und Gegenwart, Nord und Süd, Ost und West, Genre und Gattungen durcheinandergeworfen werden, um jede Offensivität zu verlieren. Aber der Fremde ist der Andere, und die Beziehung zum Anderen ist immer eine Grenzbeziehung, in der das Selbst gerade in die Reibung der Vielfalt hineingezogen wird; je größer der Abstand der Vielfalt, desto fruchtbarer wird die Beziehung. Pedrosas Biennale ist reibungslos, denn in der Dimension der Unterhaltung, die der Kultur und dem Massentourismus eigen ist, gibt es keinen Platz für Reibungen, sehr zum Leidwesen der progressiven Ambitionen des Kurators.

Im Namen solcher Ambitionen baut Pedrosa auch den Dreh- und Angelpunkt seiner Ausstellung auf: die Überwindung einer eurozentrischen Vision des Modernismus. Doch die Moderne ist ein europäisches Phänomen, und ohne anderen Kulturen etwas wegnehmen zu wollen, hat ihre Ausbreitung in den Süden der Welt einen Nachhall erzeugt, der so lange bestehen bleibt, bis die Perspektive der Betrachtung geändert wird. Die venezianische Ausstellung führt dies schonungslos vor Augen, auch weil es gerade an einer neuen Betrachtungsperspektive fehlt, um die Vergangenheit in einem originellen Schlüssel zu lesen, vor allem aber, um in der Gegenwart die Formen neuer Epistemologien zu finden, sofern es sie gibt, die die These des Kurators unterstützen.

Dies fügt der Ausstellung im Arsenale nichts Positives hinzu, denn die Anordnung ist die einer Kunstmesse, eine Lösung, die die absolute Einzigartigkeit dieser architektonischen Räume zunichte macht und sie auf einen einfachen Container reduziert. Ethnizität dominiert die Stände, die in großen Mengen angeboten werden, wie es sich für ein touristisches Angebot gehört, das von der Maximierung des „Blickfangs“ genährt wird. Das Ethnische ist Teil der Kommerzialisierung des Andersseins, auf der die gesamte Tourismusund Kulturindustrie beruht. In diesem Schlüssel spielt es keine Rolle, dass Handwerk und Kunst aufeinandertreffen und aufeinanderprallen, dass sie sich überschneiden und sich voneinander entfernen, vor allem wenn es um nicht-westliche Kulturen geht; was zählt, ist, wie bei den ethnischen Restaurants in den Städten des Massentourismus, eine manierierte Multikulturalität attraktiv zu machen, die eher einem falschen Bewusstsein als einer echten Haltung entspricht. So verbirgt die Biennale von Pedrosa mehr oder weniger bewusst unter der progressiven Fassade eine konservative und reaktionäre Berufung, die vielleicht ein Spiegel der Gegenwart ist.

Vielleicht hat Slavoj Žižek Recht, wenn er behauptet, dass die ideale Form dieses globalen Kapitalismus der Multikulturalismus ist?

Blutrot Ausschnitt aus dem Theatertext

Den leichten Grasflaum unter deinen Füßen erdrückst du. Den Blumen vergeht das Blühen in deiner Anwesenheit.

Die Sträucher ducken sich vor dir. Die Bäume recken sich nach oben, um dir nicht nahe zu sein.

Den Vögeln ist nicht zu Singen zumute, wenn du da bist. Der blaue Himmel verdeckt sich mit Wolken, um dich nicht zu sehen.

Wir sind die Landschaft. Und wir wollen dich hier nicht. Nicht mehr. Wir wollen das alles nicht mehr. Wir wollen sie alle nicht mehr. Wir bergen keinen weiteren mehr von dir in uns.

Wir haben genug von den deinen, zwischen unseren Wurzeln reihen sie sich, einer neben dem anderen. Alle haben wir aufgenommen, einen nach dem anderen, haben wir in uns geborgen, wie du es nicht getan hast. Ein gerettetes Leben auf Tausenden von Toten, nein Millionen Toten. Das ist deine Blutschuld. Ihre Wege sind auf Toten gepflastert, die sie zur Strecke brachten, bevor sie sie mit zur Strecke brachten. Nun haben sie Sorgen um all jene, die sie nicht zur Strecke brachten, die jetzt Vollstrecker sein könnten. Von den Schultern fiel sie dir, die Blutschuld, ging auf uns über, die Schuld von: B wie Gerhard Bast, SS-Sturmbannführer, Gestapomitarbeiter und Leiter diverser Sonderkommandos Klaus Barbie, Gestapo-Chef von Lyon, bekannt als der „Schlächter von Lyon“ Gerhard Bohne, SS-Hauptsturmführer, Leiter der Berufsgruppe Rechtsanwälte im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen, juristischer Organisator der mit der Durchführung der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde beauftragten Zentraldienststelle T4 Martin Bormanns Familie, Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP und enger Vertrauter Adolf Hitlers Alois Brunner, SS-Hauptsturmführer, wichtigster Mitarbeiter Adolf Eichmanns

E wie

Adolf Eichmann, SS-Obersturmbannführer, Leiter des Eichmannreferats

M wie

Josef Mengele, Lagerarzt im KZ Auschwitz-Birkenau, der grausamste medizinische Experimente an Menschen durchführte

R wie

Walter Rauff, Chefkonstrukteur der mobilen Gaskammern

Eduard Roschmann, Kommandant des KZ Riga

Hans-Ulrich Rudel, Nationalsozialist mit den meisten nationalsozialistischen Auszeichnungen

P wie

Erich Priebke, SS-Hauptsturmführer, Beteiligter an den Geiselerschießungen bei den Ardeatinischen Höhlen in Rom

Ante Pavelić, faschistischer Diktator Kroatiens Um nur Einige zu nennen.

Wir haben sie nicht vergessen. Die, die du auf unseren Wegen in die Freiheit gezerrt hast. Die Last, die du von ihnen gestreift hast. Mensch für Menschen fielen sie von ihren Schultern, du ließest sie liegen, auf uns. Du hast ihre Schuld auf uns gelegt, sie uns auferlegt.

Mit neuen, unschuldigen Namen verließen sie dich, eine Neugeburt ohne Geburt. Ihre Schuld blieb bei uns.

Wir haben sie nicht liegen lassen.

Nein, wir haben alle aufgenommen.

Wir ließen sie eintreten, in uns.

Wir haben sie vor den kalten Wintern bewahrt und den heißen Sommern.

Wir haben gewartet, dass du sie wieder zu dir holst, als Teil von dir, sie zurückholst aus ihrem ewigen Versteck. Lange haben wir hier gewartet.

Doch du kamst nicht, um sie zu holen.

Du trittst auf sie, als seien sie nicht da.

Du trampelst auf ihnen herum, als wüsstest du nicht von ihnen.

Wir wissen, du hast nicht vergessen. Du hast sie nicht vergessen.

Du weißt, wo sie liegengeblieben sind.

Du weißt nicht, dass du sie uns übergeben hast.

Du weißt nicht, dass wir über sie wachen. Knochen im Ackerland.

In unsere Wege schrieben sie sich ein, sie versickerten in unseren Boden. Deine Last ist uns zu schwer, sie würgt unsere Wurzeln. Wir können sie nicht länger auf uns nehmen.

Wir wollen sie nicht hier.

Wir, die Landschaft, dürfen nicht vergessen. Wir vergessen nicht.

Der Boden zittert, erhebt sich, türmt sich vor dir auf. Die Pflastersteine spalten wir. Den Asphalt reißen wir auf.

Die Zuggleise verschieben wir. Der Berg blättert ab, Geröll kommt in Bewegung, wir füllen das Tal. Das Wasser quillt über, wir fluten das Tal. Die in uns geschlagenen Wege überwuchern wir. Die Bestände des Jungwaldes wachsen dicht, verdrängen das Tal, wachsen es zu, drängen dich hinaus. Keine Spur mehr deiner Wege. Sobald du dir einen Weg durch uns bahnst, drehen wir die Wuchsrichtung, wir wollen dich hier nicht mehr. Der Wald verschluckt deine Wege. Was du uns in mühevoller Arbeit abgerungen hast, holen wir uns in wenigen Tagen zurück. Wir können nicht mehr bezwungen werden. Hier passiert niemand mehr.

Wir sind kein Transitort mehr, wollen kein Transitort mehr sein.

Der Brenner ist nicht länger Schuldort.

Der Brenner ist kein Transitort mehr. Der Brenner ist geflutetes Tal, an dem sich Baum und Sträucher dicht an dicht drängen. Der Brenner kann nicht mehr bezwungen werden. Die Geschichte des Brenners beendet sich.

Du willst nicht nach dem, was war, graben. Stattdessen

gräbt ihr den Roggen um. Du willst deinen Roggen, Weizen, Buchweizen, Dinkel auf uns anbauen, als sei nie anderes auf diesem Boden gewesen.

Der Acker bringt nichts mehr hervor. Du schweigst, wir schweigen nicht. Nicht mehr. Für dich. Wir schweigen nicht mehr für dich. Wir machen nicht länger deine Arbeit Anstatt sie zu holen, holst du von uns, entreißt uns die Früchte unserer Arbeit, unserer Erinnerungsarbeit. Ähre für Ähre hängt sie an unserem Korn. Ehre für Ähre nimmst du von unserem Korn. Korn für Korn.

Deine Schuld erstickt nicht im Keim. Im Keim erstickt nichts, im Keim erblüht sie. Die Wiesen wissen Bescheid. Das Korn weint. Dicke. Tiefrote. Tränen. Kullern dem Korn entlang. Seit deinem Schweigen, weint das Korn. Es weint das Blut, das du vergossen hast. Ihr Blut auf deiner Ähre.

Du nimmst die Ähre von uns. Entnimmst ihr das Korn, das Mutterkorn. Zerdrückst es, bis du die Tränen nicht mehr erkennen kannst.

Du nimmst es zu dir, das Korn und seine Tränen. Du nimmst ihr Blut zu dir. Isst davon.

Ihr Blut wird zu deinem Blut.

Du bemerkst es nicht. Für dich steht Ehre vor Ähre.

Du dachtest, du könntest ihnen ein Ende setzen, doch wir halten sie fest, mit unseren Wurzeln umarmen wir sie. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, deine Blutschuld dir zurückzureichen. Hier nimm, dein an dir krankendes Korn. Es trägt deine Krankheit in sich. Durch das Essen des Kornes findet sie in dich zurück.

Sie schleichen sich in dich ein, all die von dir Vergessenen, finden in dich zurück. Sie finden dich.

Du kommst, um von uns zu holen, wie du immer von uns holst. Doch du bemerkst nicht, dass wir dir auch geben, das Deine zurückgeben, die Tränen des Korns.

© 2023 henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH. Aufführungsund sämtliche Nutzungsrechte sind bei henschel SCHAUSPIEL zu erwerben (www.henschel-schauspiel.de)

Kurze Geschichten, die lange im Gedächtnis bleiben

Gute Kurzgeschichten sind literarische Juwelen, die in komprimierter Form tiefe Einsichten und starke Emotionen vermitteln. Ihre Kürze macht sie ideal für unser modernes Leben, in dem Zeit oft knapp ist. Sie sind schnell zu lesen und eignen sich perfekt für kurze Pausen oder für den Weg zur Arbeit. Auf wenigen Seiten bieten sie intensive Leseerlebnisse, die uns in neue Welten entführen und unterschiedliche Perspektiven auf den Alltag aufzeigen.

Jhumpa Lahiri ist eine renommierte Autorin – bekannt für ihre tiefgründigen Erzählungen über Identität, Entfremdung und kulturelle Unterschiede. 1967 in London geboren und in den USA aufgewachsen, hat sie bengalische Wurzeln, die ihre Werke stark beeinflussen. Ihr Debüt, die Kurzgeschichtensammlung Melancholie der Ankunft (1999), gewann den Pulitzer-Preis. Auch ihre Romane, allen voran Tiefland (2013), erhielten zahlreiche Auszeichnungen. Lahiri schreibt sowohl auf Englisch als auch auf Italienisch. Sie begeistert Lesende weltweit mit ihrer präzisen und einfühlsamen Sprache.

Ihr neuster Kurzgeschichtenband Auf Wiedersehen. Römische Geschichten entführt uns in das faszinierende und widersprüchliche Rom von heute. Hier erinnert sich ein Mann an eine Sommerparty – und an einen besonderen Kuss vor Ort. Ein trauerndes Paar kehrt nach Rom zurück, um Trost zu finden, während eine Außenseiterfamilie aus ihrem neuen Zuhause, einer hellen Wohnung, von der Nachbarschaft vertrieben wird.

Lahiri zeichnet ein eindrucksvolles Panorama von Rom und fängt die feinen Nuancen von Rassismus und sozialen Spannungen ein. Ihre präzise, einfache Sprache macht emotionale Tiefen spürbar, ohne alles auszuformulieren – eine besondere Stärke der Autorin. Ein überaus lesenswertes Werk, das die universellen Fragen von Zugehörigkeit und Identität beleuchtet.

Diese Kurzgeschichten sind unterhaltsam, bieten aber auch eine wertvolle Möglichkeit zur Reflexion. Es lohnt sich, die kleinen Meisterwerke zu entdecken und sich von ihrer Prägnanz und Tiefe überraschen zu lassen! Auch er überrascht immer wieder: T. C. Boyle ist ein gefeierter amerikanischer Autor – bekannt für seine stilistisch vielseitigen satirischen Werke. Seine Geschichten und Romane erkunden oft die Spannungen zwischen Menschen und Natur, Gesellschaft und Individuum. Boyle ist für seine lebendige Sprache und für seine scharfsinnigen Beobachtungen berühmt. Mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, gilt er als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller der USA. Boyle liefert mit seinen neuesten Kurzgeschichten das perfekte Buch für kleine literarische Höhepunkte zwischendurch. In I walk between the Raindrops. Stories stimmt einfach alles: einfallsreiche Dramaturgie, gnadenloser und surrealer Humor, eleganter Sprachstil und originelle Figuren. Boyle schreibt so stimmig über die Absurdität in Alltagssituationen, dass man sich als Leserin oder Leser mehr als einmal darin wiederfindet. Diese 13 neuen brillanten Storys sollte niemand verpassen: Jede ist ein Stich ins Herz unserer aus den Fugen geratenen Gegenwart!

Kurzgeschichten zwingen die Schreibenden, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Jede Szene, jedes Wort hat Bedeutung, was das Leseerlebnis wiederum für uns Lesende intensiviert. Sowohl Lahiri als auch Boyle zeigen, wie man mit wenigen Worten komplexe Handlungsstränge auf engstem Raum hervorragend entwickeln kann. Beide Bücher sind absolute Leseempfehlungen!

Autor*innen

Roland Angerer Pädagoge, Kulturvermittler, Stilfs

Ermanno Cristini Künstler, Varese

Ivo Corrà Fotograf, Bozen

Flyle (Philip Unterholzner) Fotograph, Lana

Haimo Perkmann Kulturpublizist, Übersetzer, Meran

Piergabriele Mancuso Judaist und Musikwissenschaftler, Direktor des Eugene Grant Jewish History Program am The Medici Archive Project, Dozent an der Boston University, Udine

Markus Prieth Musiker, Meran

Mauro Sperandio Kulturjournalist, Meran/Venedig

Hubert Steiner Archäologe, Amt für Archäologie, Tisens

Miriam Unterthiner Dramatikern, Autorin, Wien/Latzfons

Elsbeth Wallnöfer Freie Autorin, Rechercheuse, unregelmäßig Kommentatorin bei Der Standard, Wien/Zürich/Bern

Lydia Zimmer Literaturvermittlerin und Literaturexpertin, Basel

Literatur

Jhumpa Lahiri: Das Wiedersehen. Römische Geschichten. 256 Seiten. 2024.

T. C. Boyle: I walk between the Raindrops. Stories. 272 Seiten. 2024.

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