#179: Begegnungen mit Literatur

Page 1


Herausgegeben von der Distel Vereinigung Nr. 1792024

www.kulturelemente.org

info@kulturelemente.org redaktion@kulturelemente.org

„Wenn jemand

eine Reise tut…“

„… So kann er was verzählen; / Drum nahm ich meinen Stock und Hut, / Und tät das Reisen wählen“, schrieb seinerzeit der Dichter Matthias Claudius in seinem Urians Reise um die Welt. Vom Nordpol bis nach Grönland und von Amerika nach Mexiko („da, dacht’ ich, liegt das Gold wie Stroh“) führte ihn seine literarische Exkursion, bis er letztendlich aus Asien und Afrika zurückkehrend feststellte: „Und fand es überall wie hier, / Fand überall ’n Sparren, / Die Menschen grade so wie wir, / Und ebensolche Narren.“

Stellt die nüchterne Einsicht des Weltenbummlers Urian wirklich des ganzen Rummels letzten Sinn dar? Oder handelt es sich um eine abwegige, desillusionierte Bemerkung? Schwer zu sagen: Schließlich bewertet jeder seine Erfahrungen nach eigenem Maßstab. Goethe, ein weltenkundiger Mann, meinte: „Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu reisen“. Und Schiller: „sehn wir doch das grosse aller Zeiten / auf den bretern, die die Welt bedeuten, / sinnvoll, still an uns vorübergehn“.

Reisen um des Reisens willen, sozusagen als Selbstzweck? Das kann allemal ein Anstoß für das Reisen

sein. Aber es ist bei Weitem nicht der einzige – und wahrscheinlich auch nicht der wichtigste. Das Reisen – und vom Reisen berichten, wie uns die Reiseliteratur von Vernes Reise um die Welt in 80 Tagen bis zu den Reisen des Marco Polo und den On the Road-Erzählungen von London, Kerouac, Hesse, Chatwin, Heine, Lenz und vielen anderen lehrt – gehören nun einmal zur Wesenseigenheit des Menschen. Das Unbekannte, das Fremde – aber nicht selten auch unerwartete Affinitäten – üben seit Urzeiten eine magische Anziehungskraft auf seinen erfahrungshungrigen Geist aus. Seien es nun religiös-, militärisch-, kommerziell- introspektiv- oder anderweitig motivierte, mehr oder minder kurzatmige Unternehmungen: Einen triftigen Grund zum Reisen findet früher oder später jeder. Wobei es nicht jeder dem tragischen Helden Odysseus, dem neugierigen Kaufmann Marco Polo oder den heroischen Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies gleichtun muss: Man kennt großartige Schriftsteller wie Kafka, Proust, Emily Dickinson oder Jorge Luis Borges, die Zeit ihres Lebens selten ihren Wohnort verlassen und trotzdem auf ihre Art und Weise die endlose Weite des menschlichen Universums ergründet haben.

Inhalt

Lydia Zimmer berichtet von ihren Begegnungen in Südtirol und stellt drei Bücher vor.

Sonja Steger stellt Romina Casagrande vor.

Renate Giacomuzzi lässt uns auf die Leerstellen im literarischen Werk von msch blicken.

Shirin Sojitrawalla begegnet der diesjährigen Dramaproduktion von Anna Gschnitzer

Den neuen Gedichtband Aria von Anne Marie Pircher rezensiert Barbara Siller

Für Michael Zeller ist Franz Tummler einer der profiliertesten Schriftsteller deutscher Sprache.

SAVANNE: Claudia Tröbinger überrascht mit einem Text zu einem Treffen von Literat*innen.

Ein besonderes Buch von Matthias Vieider stellt Jörg Zemmler vor.

FOTOSTRECKE

Matthias Schönweger bebildert die Kulturelemente mit Sprachkunst.

GALERIE

Haimo Perkmann stellt die Lichtskulpturen des Fotokünstlers Andrea Salvà vor.

Begegnungen mit Literatur

Ermöglicht durch ein Literaturstipendium brach Lydia Zimmer im Herbst 2019 von Basel nach Meran auf. Inmitten der malerischen Bergkulisse traf sie auf Menschen, welche sie durch die Passerstadt begleiteten und ihr die Südtiroler Literaturszene eröffneten. Sie kam in Austausch mit der Region und den Literaturschaffenden. Seither schreibt sie für die Kulturelemente regelmäßig Literaturtipps.

Die Begegnung mit Lydia Zimmer brachte uns auf die Idee zur vorliegenden Ausgabe, in der Literaturexpert*innen ihre Reflexionen über Südtiroler Autor*innen kund tun. Ziel war es, ein Bild davon zu erhalten, wie Südtiroler Autor*innen wahrgenommen werden und welche Resonanz sie im Ausland erfahren.

Dabei hatten die Expert*inen die Freiheit, sich intensiv mit den Persönlichkeiten und Werken zu befassen, die sie am meisten berühren. Die spannenden Ergebnisse finden Sie in dieser Ausgabe. Die Beiträge und Reflexionen laden Sie ein, die Südtiroler Literatur aus neuen Perspektiven zu entdecken. Im Zentrum einiger dieser Überlegungen steht die Erkenntnis, wie wichtig Reisen und das Begegnen für den literarischen Austausch sind. Durch die Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Erfahrungen entsteht ein fruchtbarer Boden für Kreativität und Inspiration. Es wird beleuchtet, wie diese Begegnungen die Wahrnehmung und Resonanz der Südtiroler Literatur prägen. Entstanden sind facettenreiche Einblicke, die inspirieren und aufzeigen, wie Literatur Brücken zwischen Menschen und Welten baut. Ein ähnlicher Zugang wurde diesmal auch für die Rubrik Curators Page gewählt. Eingeladen hat Kulturelemente die Wiener Kuratorin Sabine Kienzer, sich mehrere Tage auf der BAW – Bolzano Art Weeks die vom 27. September bis 06. Oktober in Bozen stattfand, umzusehen.

Hannes Egger / Haimo Perkmann

Der Mensch erforscht die Landschaft nicht in stiller Einsamkeit: Wörter, die er auf seinen Streifzügen mitbzw. aufnimmt und (un-)willkürlich wieder absetzt, gehören zu seinen engsten Begleitern und gewähren uns auch nach geraumer Zeit („geraume Zeit, eh ich sie selbst betrat, / war schon der beste theil der Welt mein eigen“ – Schiller, Don Karlos) einen überraschenden Einblick ins peregrinare (aus dem lateinischen per-agrare, über das – eigene – Feld hinausgehen) unserer Vorfahren und Zeitgenossen. „Reisen“ und „Erfahrung“ sind die ersten Wörter, die uns gleich römischen Meilensteinen entlang der via publica (von via – vom Skt. Vah-, sich bewegen, daher auch der deutsche Weg – leiten sich die italienische Ausdrücke viaggio, viandante und viatico das Reisegeld, ab) beistehen sollen, damit wir nicht „den Weg verlieren“, wie man so schön sagt. Reisen und Erfahrung waren einst Synonyme: Das althochdeutsche Verb „irfaran“ (mhd. „ervarn“) bedeutete anfänglich reisen, durchfahren, erst später kennenlernen und erforschen, bewandert sein. Selbst das Leben und der Tod werden meistens als Erfahrungsreisen ausgelegt: das eine durch das Tränental des Diesseits, der andere ins grauenhafte Jenseits – wobei Körper und Seele im zweiten Fall offensichtlich getrennte Wege gehen. Die Neugierde, die Sehnsucht – aber auch eine (selbst-) auferlegte Buße drängen seit Adam und Evas Zeiten den Menschen dazu, sich räumlich zu bewegen, sich dem Ungewissen und der Angst zu stellen. Die Angst, italienisch angoscia (vom lateinischen angustus etwas das einengt, die Bewegungsfreiheit und den Atem hemmt) ist die wahre Antriebskraft und gleichzeitig der beste Weggefährte eines jeden Reisenden und sie muss Schritt nach Schritt überwunden, hinter sich gelassen werden.

es wahrscheinlich das Phänomen Tourismus gar nie gegeben. Sie „erfanden“ auch die Straßenkarten, Itineraria scripta und Itineraria picta genannt. Aus dem Jahr 217 n. Chr. stammt das Itinerarium Antonini in welchem die genauen Abstände zwischen den Städten und mansiones (Herbergen) eingezeichnet waren. Die Tabula Peutingeriana ist hingegen die bekannteste der illustrierten Itineraria picta Sie umfasst das gesamte, 80000 km lange Straßennetz des 3. Jahrhunderts n. Chr., das seinen Ausgangspunkt am vergoldeten miliarium aureum auf dem Forum Romanum hat. Daher auch der Spruch: „Alle Straßen führen nach Rom“.

Persönliche Begegnungen: Wie ich Südtiroler Literatur entdeckte

HERAUSGEBER Distel-Vereinigung

ERSCHEINUNGSORT Bozen

PRÄSIDENT Johannes Andresen

VORSTAND Peter Paul Brugger, Martin Hanni, Bernhard Nussbaumer, Reinhold Perkmann, Roger Pycha

KOORDINATION Hannes Egger, Haimo Perkmann

VERANSTALTUNGEN

PRESSERECHTLICH

VERANTWORTLICH Karl Gudauner

FINANZGEBARUNG Christof Brandt

SEKRETARIAT Hannes Egger

– 39100 Bozen, Silbergasse 15

Tel +39 0471 977 468

Fax +39 0471 940 718

info@kulturelemente.org www.kulturelemente.org

GRAFIK & SATZ Barbara Pixner

DRUCK Fotolito Varesco, Auer

LEKTORAT Olivia Zambiasi

BEZUGSPREISE Inland Euro 3,50, Ausland Euro 4,00

ABONNEMENT Inland Euro 22,00, Ausland Euro 29,00

BANKVERBINDUNGEN Südtiroler Landessparkasse Bozen

IBAN IT30 F060 4511 6010 0000 1521 300 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur

Die kulturelemente sind eingetragen beim Landesgericht Bozen

unter der Nr. 1/81. Alle Rechte sind bei den Autorinnen und Autoren. Nachdruck, auch auszugsweise, ist nur mit Genehmigung der Redaktion und Angabe der Bezugsquelle erlaubt.

Der Mensch reist seit er sesshaft geworden ist. Ackerbau und Viehzucht haben zwar seinen Lebensraum in bedeutendem Maße eingegrenzt aber auch dazu beigetragen, im „beheimateten“ und begüterten Landwirt das Bedürfnis nach ungebundener Bewegung zu wecken. So sonderbar es klingen mag, Sesshaftigkeit –oder Ortsgebundenheit – entscheiden letztendlich darüber, ob die Bewegung (iter facere, nennt sie Grimm im Deutschen Wörterbuch) von einem Ort zum anderen als Reise definiert werden kann oder nicht. Denn Reisen beginnen und enden immer am selben Ort: Daheim. Menschen ohne ein Daheim unternehmen keine Reisen: Vagabunden, Obdachlose, Weltenbummler oder sonstige Nomaden des dritten Jahrtausends versetzen lediglich ihren zeitweiligen Aufenthaltsort. Das ursprüngliche, tierähnliche Wandeln der Jäger-und-Sammler-Gesellschaften auf permanenter Nahrungssuche, also das authentische Modell des homo sapiens sapiens wie er sich in den letzten 200000 Jahren von Kontinent zu Kontinent ausgebreitet und vermehrt hat, stellte das Gegenteil einer wahrhaften Reise dar, denn ihr streunendes Leben bestand geradezu in ihrer Mobilität.

Der moderne, von der findigen Tourismusbranche gewissermaßen ferngesteuerte "urbi et orbi"-Urlaub der urbanisierten Arbeiter- und Beamtengesellschaft, Wunschtraum aller „all inclusive-Konsumenten“, ist eine Kreation der Nachkriegszeit und des sogenannten Wirtschaftswunders der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Er hat zuerst zum Massentourismus und nun zum verheerenden Overtourismus geführt, der gleich einem fressgierigen Moloch jedes ködernde Urlaubsziel samt intakter Landschaft, vorgespielter Kultur und vermeintlicher Tradition im Acht-TageRhythmus auffrisst und wieder ausspuckt. Im Gegensatz dazu steht die klassische Urlaubsreise (das Wort leitet sich vom althochdeutschen "Urloup", "Erlaubnis", ab: Der König erteilte sie dem Ritter, der an einem Kreuzzug teilnehmen wollte und in dieser Zeit keine Abgaben entrichtete) früherer Zeiten. Die alten Römer, die vor allem ihre Luxusvillen in Kampanien aufsuchten, verwendeten dafür das Wort otium – im Gegensatz zum nec otium, also zum geschäftigen Treiben. Ohne das außerordentliche römische Straßennetz hätte

Anfänglich reiste man vor allem aus religiösen und kriegerisch-kommerziellen Gründen. Das Bedürfnis, sich mit Gleichgesinnten aus nah und fern an einem heiligen Ort zu treffen, kann seit der mysteriösen Errichtung der eindrucksvollen Monumentalbauten von Göbekli Tepe in der Südtürkei nachgewiesen werden. Später wurden daraus mittelalterliche Pilgerreisen, Wallfahrten, Bittgänge, Prozessionen usw. In gleicher Weise entwickelte sich die militärische Truppenbewegung, was auch das Wort „reisen“ bestätigt. Das althochdeutsche „reisa“ ist mit Aufbruch, Heerfahrt gleichzusetzten, also bedeutete reisen, „risan“, sich zum Aufbruch rüsten. Im Wort steckt die indogermanische Wurzel rei- „(sich) in Bewegung setzen, (sich) bewegen, erregt sein“. Ein weitgereistes Wort der indogermanischen Sprachfamilie, möchte man sagen. Man kennt auch eine alternative Art des Reisens. Reisen quasi als Flucht in eine „Gegenwelt“, wo Künstler und Intellektuelle seit jeher fernab der Heimat einen Ort, der ihrer inneren Einstellung am besten entspricht, suchen. Denken wir zum Beispiel an James Joyce: Er verließ Irland, weil er sich dort eingeengt fühlte. In Paris fand er das kosmopolitische Umfeld, das er für seine Werke brauchte. Manche suchen ganz einfach Inspiration, um ihre Werke zu bereichern und sich selbst neu zu erfinden, wie z.B. der Maler Paul Gauguin. Er zog nach Tahiti, um die ursprünglichere und „wildere“ Lebensweise der Inselbewohner in seine Malerei zu integrieren. Die Farben, Motive und Stimmungen seiner Werke änderten sich drastisch durch den neuen Einfluss. Wieder andere müssen aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen, weil sie Verfolgung, Zensur oder Repressalien befürchten. In einer neuen Heimat suchen sie Schutz vor autoritären Regimen und die Möglichkeit, ihre Arbeit ohne Furcht vor Verfolgung fortzusetzen. Thomas Mann und viele andere verließen Deutschland, um den Nationalsozialisten zu entkommen. Einige Künstler suchten in einer neuen Heimat nach persönlicher Erneuerung oder innerem Frieden. Das Verlassen ihrer gewohnten Umgebung bot ihnen die Möglichkeit, ihre Identität neu zu definieren und sich von alten Zwängen zu befreien. Ernest Hemingway fand in Kuba und Spanien eine Umgebung, die ihn nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Mensch inspirierte und erneuerte. Für einige Künstler*innen war und ist das Leben im Exil nicht unbedingt eine Wahl, sondern eine Notwendigkeit. Sie suchten eine neue Heimat, weil sie ihre ursprüngliche Heimat verloren haben oder nicht mehr dorthin zurückkehren können. Albert Camus, der in Algerien geboren wurde, konnte nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft nicht nach Algerien zurückkehren und verbrachte den Rest seines Lebens in Frankreich, ohne je die Verbindung zu seiner ursprünglichen Heimat zu verlieren. Der deutsche Dichter Conrad Ferdinand Meyer umschreibt die Bewegung des Lebens im Gedicht „Der römische Brunnen“.

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund. Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht.

Als ich im Herbst 2019 das erste Mal nach Meran aufbrach, hatte ich nur eine vage Vorstellung von Südtirol und seiner Literatur. Mein Aufenthalt dort, ermöglicht durch ein Stipendium der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte sollte meine Perspektive grundlegend verändern. Inmitten einer malerischen Kulisse und begleitet von Menschen, die mir die Welt der Südtiroler Literatur eröffneten, begann ich eine Entdeckungsreise, die mein Verständnis für regionale Literatur und ihre Bedeutung für kulturelle Identitäten vertiefte.

Die Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran ist ein einzigartiger Ort für kreatives Arbeiten. Autor*innen, Buchmenschen und auch Literaturvermittler*innen wie ich können sich in Meran auf ihre Projekte konzentrieren. Die geförderten Projekte widmen sich jedoch nicht nur dem kreativen Schaffen, sondern sie vereinen immer auch eine Reflexion über Menschenrechte und kulturelle Identitäten. Die Residenz fördert so nicht nur den literarischen Austausch, sondern trägt auch zur kulturellen Vielfalt in Südtirol bei.

Während meines vierwöchigen Aufenthalts bot sich mir die Gelegenheit, in eine literarische Welt einzutauchen, die mir vorher unbekannt war. Bei der Ankunft erhielt ich die Kontaktdaten mehrerer Buchmenschen. Diese unbekannten Menschen anzurufen, erforderte Mut. Niemand erwartete meinen Anruf.

Mein Einstieg in die Südtiroler Literatur begann klassisch: Ich ging in die Buchhandlung Alte Mühle in der Sparkassenstraße. Dort lernte ich Vanessa Gómez-Salas kennen, eine engagierte Buchhändlerin. Ihre Empfehlungen waren für mich der Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der Südtiroler Literaturlandschaft. Ich kam alle zwei Tage vorbei, wurde bestens beraten und ging nie mit leeren Händen. Immer wieder landeten wir vor dem Regal mit Südtiroler Büchern von Autoren wie Oswald Waldner und Sepp Mall. Beiden sollte ich während meines Aufenthalts noch persönlich begegnen.

Das erste Südtiroler Buch, das ich las, war Das Birnbaumhaus von Anna Maria Leitgeb. In diesem Buch entfaltet sich die Beziehung zwischen Mutter und Tochter vor dem Hintergrund des alten Birnbaums, der als Symbol für die Generationen und für den Lauf der Zeit steht. Leitgeb verwebt historische Fakten mit einer poetischen Sprache und vermittelt so die Ambivalenzen des Lebens in Südtirol während der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die Erzählung fängt in ausdrucksstarken Bildern die Lebensrealität der Menschen in Südtirol ein und gibt einen tiefgründigen Einblick in die

Kulturgeschichte der Region. Leider ist dieses großartige Buch nur noch antiquarisch erhältlich.

Autor und Lyriker Oswald Waldner schickte mir zwei Jahre nach unserem Kennenlernen sein frisch erschienenes Buch – er nennt es Aufzeichnungen – mit dem Titel Fragmente einer Behausung mit einem sympathischen Brief. Wir hatten damals in Meran über den Entstehungs- und Schreibprozess gesprochen. Überhaupt: Wenn es etwas gibt, was mich an den Buchmenschen in Südtirol beeindruckt, dann sind es die nachhallenden, mittlerweile langjährigen Kontakte, der persönliche Austausch und die allumfassende Neugier bei den zahlreichen Begegnungen. Ich gewann in den vier Wochen immer wieder den Eindruck, dass man sich wirklich kennenlernen möchte, dass ein großes Interesse an tiefgründigem Austausch existiert und an eigenen Meinungen, dass Begegnungen auf Augenhöhe gewünscht sind. Das überbrückte mein erstes Fremdsein und erleichterte das Ankommen in dieser Region sehr.

Ein wichtiger Moment meines Aufenthalts war sicher auch das Treffen zum Kaffee mit Sepp Mall, der mir von seinen Erfahrungen und seinem Schreiben erzählte. Der Autor stand letztes Jahr mit seinem Buch Ein Hund kam in die Küche auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2023. Von ihm erfuhr ich, während wir gemeinsam Kaffee in der Fußgängerzone tranken, seine persönliche Geschichte über die Auseinandersetzung von deutschsprachiger Literatur in Südtirol. Er schreibt gerne literarisch und poetisch über Menschen mit historischem Hintergrund. In Ein Hund kam in die Küche erzählt Sepp Mall eindrucksvoll von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der NS-Zeit aus der Perspektive eines Kindes. Der 11-jährige Ludi berichtet von der schmerzhaften Auswanderung seiner Familie aus Südtirol nach Deutschland und vom tragischen Schicksal seines behinderten Bruders. Das Buch konnte ich damals noch nicht lesen. Doch Mall schaffte es auch in seinen früheren Werken, tief in die menschliche Psyche einzutauchen. An ihm ist zu sehen, dass Süd-

tiroler Literatur nicht nur regional bedeutsam, sondern universell relevant ist.

Die Südtiroler Literaturszene ist jedoch nicht nur auf Prosa beschränkt. Immer wieder wurde ich auf die Bedeutung der Lyrik aufmerksam. Während meines Aufenthalts lernte ich Sonja Steger kennen, eine Lyrikerin, engagierte Autorin und Kulturarbeiterin. Sie führte mich in die kulturelle und literarische Szene Merans ein. Sie ist nicht nur Mitbegründerin der Zeitschrift ost west club sondern auch aktiv im ost west club, einem Kulturverein, der den literarischen Austausch in der Region fördert. Der ost west club ist ein wichtiger Ort für kulturelle und politische Bildung, ein Treffpunkt für Menschen aller Sprachgruppen und Weltanschauungen. Hier finden Lesungen, Buchpräsentationen und Diskussionsrunden statt, die zur Belebung der Literaturszene beitragen. Ich werde immer die Veranstaltung auf dem Minigolfplatz in Erinnerung behalten: Ich konnte dem Publikum internationale Autor*innen vorstellen, die in ihren Romanen Menschenrechte thematisieren. Sonja Steger und die zahlreichen Veranstaltungen, die sie organisierte, halfen mir, das Spannungsfeld zwischen der deutschsprachigen und italienischsprachigen Kultur in Südtirol besser zu verstehen. Dank ihrer beharrlichen Vermittlung landete ich schließlich auch im Redaktionsteam von Kulturelemente – damals an meinem Abreisetag, morgens um 7.15 Uhr im Café an der Ecke vor meiner Wohnung.

Meine Begegnungen mit den lokalen Autorinnen und Autoren in Meran eröffneten mir neue Perspektiven auf die Literatur und Kultur Südtirols. Die Region selbst, mit ihrer bewegten Geschichte und Mehrsprachigkeit, ist ein fruchtbarer Boden für literarische Erzählungen. Die vielen unkomplizierten herzlichen Kontakte, die mir Südtirol und seine Literatur nähergebracht haben, haben mein Verständnis für die kulturelle Vielfalt Europas bereichert. Diese Ausgabe von Kulturelemente lädt Sie ein, auf Entdeckungstour zu gehen und sich von der reichen literarischen Landschaft Südtirols inspirieren zu lassen.

Romina Casagrande

„Romanzare“ auf dem Fundament der Geschichte

Die Leerstelle msch

Ein herbstlicher Nachmittag, nach regnerischen Tagen fällt mattes Sonnenlicht durch buntdurchwirkte Blätter. Im Garten eines Meraner Kaffeehauses sprechen Romina Casagrande und ich über ihre literarischen Werke und gemeinsam verwirklichtes. So etliches tritt zu Tage bei unserer Recherche du temps perdu, wenn auch diese erinnerten Lichtflecken-der-Gemeinschaft auf dem Chiaroscuro der verflossenen Jahre sporadisch aufschimmern, tun sie das umso intensiver. Diese Begegnungen reihen sich entlang dem Handlauf der Literatur. Romina ist ein zierlicher Mensch, der Stärke ausstrahlt und Ruhe, ihre Freundlichkeit ist verflochten mit einer quasi scheuen Zurückhaltung, die langsam dem Hervorbrodeln von Geschichten, Gedanken und Gefühlserinnerungen weicht, sobald das Gespräch Fahrt aufnimmt. Die ruhige Sinngeladenheit ihrer Aussagen wirkt anregend und erzeugt das Gefühl, eine gemeinsame Heimat zu teilen, jene der Literatur. Die Zugeneigtheit zur Geschichte und zur bildenden Kunst gesellen sich dazu. Kennengelernt haben wir uns, so glaube ich mich zu erinnern, bei einer Vernissage im ost west club est ovest in der Psairrergoss. Unsere gemeinsame Freundin Giorgia Lazzaretto stellte uns einander vor. Im darauffolgenden Sommer fand die erste ihrer Buchvorstellungen im ost west Country Club im Marconi Park statt, viele weitere sollten noch folgen. Isabella Repole und Max Arduino lasen Passagen aus Le Ragazze con le calze grigie und Romina erzählte… Bei der Vorstellung ihrer Bücher lässt sie die Texte gerne von Vorleser*innen vortragen. Das Buch nähert sich dem umstrittenen und gleichzeitig gefeierten Künstler Egon Schiele aus der Sicht zweier Frauen, die Lebens- und Kunst-prägend für ihn waren: seine Muse und Geliebte Wally Neuzil und seine Frau Edith Harms. Ohne Plattitüden oder posthume Verurteilungen beschreibt die Autorin differenziert diese komplexen Situationen und Beziehungsgeflechte. Mit diesem Buch unternahm sie ihre erste größere Lesetournee in Italien. Wie bei all ihren Büchern gilt: „Der Impuls für mein Schreiben ist, dass mich etwas tief berührt oder begeistert. Ich muss das Thema vertiefen und mich darin versenken.“ Der Mut der 16-jährigen Wally, die Egon Schiele zur Seite stand und dafür in Kauf nahm, an den Rand der Gesellschaft gedrängt und als Prostituierte

verunglimpft zu werden, war der zündende Funken, sich mit dieser Fin de Siecle Figurenkonstellation auseinanderzusetzen.

Während der Arbeit an den Ragazze reiste sie mehrmals nach Wien: „Fast alle Orte, die ich beschreibe, habe ich besucht. Nur so gelingt es mir, Details wahrzunehmen und folglich zu beschreiben, die helfen, die Geschichte fühlbar werden zu lassen und Authentizität zu vermitteln.“

Inspiration aus der Welt der Bildenden Kunst lag auch ihrem Text Anna über den in Meran tätigen Bildhauer Blasius Mayrhofer (1870-1944), deren direkte Nachfahrin sie ist. Der historische Roman La Medusa kreist um die Figur des Malers Théodore Géricault. Um die britische Malerin und Dichterin Elisabeth Siddal (18291862) geht es in der Kurzgeschichte Sirene Bildende Kunst wirkt auf sie impulsgebend, weil, “È la pelle, con le sue cicatrici e asperità, a farsi tela di un vissuto che si nutre di ciò che più nascondiamo e che nel corpo, nella gestualità dell'arte, trova espressione.” Fast alle ihre Romane basieren auf der Tiroler bzw. der Südtiroler Geschichte. Ihr Erstling Amailija ist Margarethe Maultasch, der Gräfin von Tirol (1318-1369) gewidmet. Bei ihrem Studium waren die klassische Antike und das Mittelalter ihre Schwerpunkte. „Ich liebte und liebe es zu lernen, gegen eine universitäre Laufbahn habe ich mich entschieden, da ich mir nicht hätte vorstellen können, mich ein Leben lang mit nur einer historischen Epoche zu befassen.“ Vor diesem Hintergrund ist es logisch, dass historische Genauigkeit für Romina essenziell und grundlegend ist. Das Fundament all ihrer Romane ist profunde Recherche, das Studium von Unterlagen in Archiven, die Lektüre von Fachliteratur und die Befragung von Zeitzeugen. Ihre drei jüngsten Romane I Bambini di Svevia, Bambini del Bosco und L’eredità di Villa Freiberg sind zeitgeschichtlich brisanten Themen gewidmet – Kinderarbeit, Schmugglertragödien und medizinische Experimente in der Zeit des Nationalsozialismus –, erzählerisch verschränkt mit Familiengeschichten bzw. den Schicksale der kindlichen und jugendlichen Protagonist*innen. Ihre kritische und zugleich behutsame literarische Herangehensweise lässt die Auseinandersetzung mit Themen wie jenem der Schwabenkinder, die jahrhun-

dertelang bis nach Kriegsende als billige Arbeitssklaven nach Oberschwaben geschickt wurden, um dort zu arbeiten, in all ihrer Tragik erfassbar werden ohne jedoch jene Funken von Hoffnung und Freude zu vernachlässigen, die es den Protagonist*innen ermöglicht nicht aufzugeben…

Möglicherweise ist Romina Casagrande eine literarische Botschafterin ihrer Heimat sowie der Südtiroler Zeitgeschichte für das italienische Publikum, „dem es schwerfällt, die beiden Seelen Südtirols zu verstehen“, meint Romina. „In den Bergen leben meist konservative Menschen im positiven Sinn und im negativen. Einerseits werden Traditionen bewahrt. Andererseits führt der verschlossene Charakter dazu, dass vieles Unausgesprochen bleibt und die Menschen belastet. Anstrebenswert wäre es, als Mensch zu wachsen, sich neuen Einflüssen zu öffnen und trotzdem seine kulturelle Identität zu bewahren.“ Viele ihrer Protagonist*innen gehen diesen Weg.

Zusätzlich zum Schreiben gibt es eine weitere große Berufung und Leidenschaft: das Unterrichten. Beides im Wechselspiel mache ein erfülltes Leben aus, betont Romina. Unterrichten sei eine große Herausforderung, die sehr viel Genugtuung schenke. Es gehe auch darum, die Schüler*innen für Literatur zu begeistern und dadurch Wege aufzuzeigen, sich und die Welt besser kennen und verstehen zu lernen.

Im Kaffeehaus-Gespräch halten wir inne, erinnern uns an eines unserer gemeinsamen Projekte. Bei der Plakataktion anlässlich der 700 Jahre Feier Merans, 2017 kuratiert von Katharina Hohenstein und mir, wurden 10 Meraner Autor*innen mit der Frage konfrontiert: „Absolut Meran! Und völlig unterschätzt. Ovvero „Nel cuore di Merano! E quasi invisibile”. Romina ließ sich von Anna Gruber in einem Meraner Innenhof fotografieren und gab dies zur Antwort: „I cortili interni. Nascosti fra le ombre dei Portici, cortili di Merano si aprono come squarci di luce. Sono il regno dei muschi e di pietre antiche, dove il battito rallenta e puoi ascoltare lo scorrere del Tempo.” …und auch jetzt lauschen wir dem Verrinnen der Zeit und Romina schließt mit dem Satz: „Die großen Fragen bleiben immer die gleichen. Literatur versucht, universelle Worte zu finden für ganz persönliche Probleme.“

Es gibt viele Schlüssel, mit denen man sich Zugang zum Werk von Matthias Schönweger verschaffen kann, doch einen gibt uns der Künstler selbst in die Hand: msch. Die Signatur msch findet sich bereits in den 70er Jahren, z.B. bei den Illustrationen der medientheoretischen Essays von Vilém Flusser, die 1973 und 1974 in der Tageszeitung Dolomiten erschienen sind. Es gibt sie in handschriftlicher Form auf Kunstobjekten, Bildern und Buchseiten, aber auch als ironisch gestalteten Blickfang auf dem Header der Homepage (www.schoenweger.net) oder als photographische Collage im zuletzat erschienen Werk gebucht, 2023). Dort erscheint sie zweigeteilt: der erste Buchstabe m, quasi als körperliche Einschreibung der Signatur, dargestellt über die Handlinien einer Hand, an die sich der zweite Teil in Form des handschriftlichen Zeichens anfügt. Die Position der Hand erinnert an Segensgesten im Christentum ebenso wie im Buddhismus: gebucht Buch 2, S. 3. Ebenso wie ein Schlüssel nur Sinn macht, wenn sich dazu ein passendes Schlüsselloch findet, lassen sich die Werke von Schönweger nur sinnvoll entschlüsseln, wenn man sich mit den darin enthaltenen ‚Leerstellen’ beschäftigt, wie der literaturwissenschaftliche Begriff lautet, mit dem seinerzeit Wolfgang Iser, der bekannte Vertreter der Rezeptionsästhetik, die ‚Schlüssellöcher’ benannte. Das Kürzel msch bedeutet also nicht (nur) das, was es oberflächlich zu bezeichnen scheint, nämlich die in Kleinschreibung wiedergegebenen Anfangsbuchstaben des amtlich beglaubigten Namens. Eine leicht verständliche und häufig vom Autor vorgetragene Erläuterung ist der Hinweis auf eine Lücke in Form von zwei fehlenden Buchstaben, mit denen aus der lautlich nur schwer artikulierbaren Signatur msch wörtlich und buchstäblich ein Mensch wird. Doch dieser – so gibt uns die Person Matthias Schönweger in dem 2024 gedrehten Filmporträt Mensch, msch! (Regie: Martin Telser) nachdenklich zu verstehen – sei nach wie vor mangelhaft und unvollendet, und er lässt es offen, ob daraus jemals etwas anderes, d.h. Besseres oder gar Vollkommenes werden könnte: „Irgendwann wird aus dem msch ein Mensch […] Aber bis dato fehlen ein paar Buchstaben [….] So ist es mit dem mMenschsein. In Wirklichkeit ist es ein Menschwerden.“

Das von Schönweger aufgezeigte Loch bzw. die Leerstelle, oder wie auch immer man die semantische Lücke bezeichnen möchte, wurde also von ihm nicht geschlossen, sondern er hat lediglich die Tür zu neuen Räumen, geöffnet, die nun jeder selbständig beschrei-

ten kann, der sich mit den Werken von msch beschäftigt. Einen dieser Räume, den ich mit dem SignaturSchlüssel hier öffnen und – zumindest mit ein paar ersten Schritten – begehen möchte, ist der Bedeutungsraum rund um das Thema Autorschaft. Michel Foucault setzte bei diesem Thema mit der lapidaren Frage „Was ist ein Autor?“ an und erläuterte in dem ebenso betitelten Essay Qu'est-ce qu'un auteur? 1969) dann anschaulich, dass es sich hierbei um ein zutiefst metaphysisches Thema handelt. Im Diskursverlauf der christlich geprägten westlichen Kultur sei mit Nietzsches programmatischer Verkündigung vom Tod Gottes der Autor zum direkten Nachfolger desselben erklärt worden. War er bis dahin Sprachrohr, d.h. Medium der göttlichen Botschaft, ist er nun zum Schöpfer all dessen geworden, was wir als Welt erkennen. Der Autor = Kunst wird zum Ursprung, zur Grundbedingung menschlichen Seins erklärt und, aller Modernität und Absage an die Last der christlichen Tradition zum Trotz, obliegt der Kunst weiterhin die lästige oder lustvolle Aufgabe, den Menschen zum Menschen zu machen. Die Vereinbarkeit von schöpferischer Gestaltungskraft mit solcher Verantwortungslast ist evident und tatsächlich wird es zum Kennzeichen der modernen Kunst und Literatur, dass sie fortan auf die gottesähnliche Verkündigung von Wahrheiten verzichtet: „Heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die ‚Botschaft’ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen (écritures), von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe […]“ lautete das bekannte Fazit Roland Barthes La Mort de l'auteur engl. 1967, fr. 1968; Der Tod des Autors, in: Das Rauschen der Sprache Frankfurt/M. 2005, S. 57-63) und etwas weniger apodiktisch formulierte es Michel Foucault: „Das Merkmal des Schriftstellers besteht nur noch in der Eigentümlichkeit seiner Abwesenheit.“ (Was ist ein Autor? in: Schriften/Bd. 1, Frankfurt/M. 2001, S. 10031041). Abwesenheit des Autors heißt nichts anderes als Abwesenheit einer bedeutungsgebenden Instanz und folglich auch einer eindeutigen Bedeutung. Dies ist nicht gleichzusetzen mit ‚Nonsens’ sondern es heißt vielmehr, dass ein literarischer Text oder ein bildnerisches Kunstwerk ursprünglich eine Bedeutung hatte, die nicht mehr offensichtlich sichtbar/ablesbar ist, aber durch ihre Abwesenheit zur Suche anregt. Eine eigentümliche und besondere Qualität von Schönwegers literarischem und künstlerischem Werk ist die Fähigkeit, Leser*innen, Betrachter*innen, Zuhörer*innen in subtiler Form anzuregen, nach Bedeutungen zu suchen, um die, in der Regel deutlich sichtbar angezeigten, Leerstellen mit diesen zu füllen und dabei auch abzuwägen, ob der selbst gefundene/er-

schaffene Inhalt in die vorgegebene Form passt. Dies geschieht häufig in spielerischer Art mit leicht ironischem Unterton – etwa in Form von eingelegtem Toilettenpapier, wie in einem der allerersten Werke von Schönweger hure anne, 1977) oder mit einem wörtlich in das Buch „eingesargten“ Spielzeugsoldaten (Von Wegen, 1994) und anderen beweglichen Objekten, die sich in den Büchern finden. Ebenso zum spielerischen Erlebnis wird notgedrungen der Umgang mit Werken wie dem bereits erwähnten zuletzt erschienenen ( gebucht), das sich im wörtlichen wie im übertragenen Sinne einem eindeutigen Zugriff entzieht, da es sich weder entscheiden lässt, ob es sich hierbei um ein oder um zwei Bücher handelt, was der tatsächliche Titel des Buches ist, wo sich Anfang und Ende finden u.v.m. Die Leser*innen werden somit in die Rolle von Mitspieler*innen versetzt, die das – wörtlich so genannte – „Drehbuch“ nach Lust und Laune tatsächlich sowie im übertragenen Sinne drehen und wenden können, um dem Werk ‚auf die Schliche zu kommen’, also herauszufinden, welchen Spielregeln das Werk folgt. Die Nähe zum Spiel ist kein Zufall, sondern deutliche Referenz auf Schiller, der bekanntlich kurzerhand die Kunst zum Spiel und viceversa erklärt hatte: „[…] der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795). Schönweger wird nicht müde, immer wieder auf das Konzept des „Homo ludens“ zu verweisen, das für ihn eine dezidiert politische Haltung bezeichnet, ebenso wie für Vilém Flusser, der ihn nachweislich prägte (siehe Flusser Studies 28, 2019) und für den das kreative Spiel die rebellische Antwort auf den „stumpfsinnigen Ernst des Lebens und es Todes“ war (Flusser: Spiel ,Ms., siehe flusserstudies. net). Dem freien Spieler geht es nicht ums Gewinnen und er ändert die Spielregeln nach Belieben – dieser Regel Flussers folgt auch Schönwegers Werk mit beeindruckender Konsequenz, denn hier wurden von Beginn an herkömmliche Regeln außer Acht gelassen und Grenzen überschritten. So ist keines der Werke von msch eindeutig einer Gattung zuordenbar, denn auch wo „Roman“ darauf steht, findet sich poetisch und grafisch Gestaltetes und wird augenzwinkernd zur „RomanC“ umbenannt (von & zu Peter & Paul 2003). Schrift, Bild und Performance sind die künstlerischen Ausdrucksmittel, die in aufwändig gestalteten Buchobjekten verewigt oder als fluide, vergängliche Assemblagen und Auftritte in ungewöhnlichen Räumen zu finden sind – allen voran die über fünfzig von Schönweger künstlerisch gestalteten Kriegsbunker im Südtiroler Raum. Dass zu den Grenzen, die Schönwegers Kunst zu erodieren versucht, ganz wesentlich auch die sprachlichen und kulturellen Barrieren gehören, die Südtirol nach wie vor prägen, versteht sich nach dem hier Dargelegten vermutlich von selbst.

Sonja Steger
Matthias Schönweger, gebucht Buch 2, S. 3.

Anna Gschnitzer: Theater ist Teamplay

Shirin Sojitrawalla

Theater ist Teamwork. Das müsste eigentlich allen klar sein, doch gibt es gerade im Theater einen männlich geprägten Geniekult, der so tut, als sei ein Einzelner fürs große Kunstwerk verantwortlich. Mit so einem Gehabe kann die 1986 geborene Dramatikerin Anna Gschnitzer nichts anfangen. Sie ist keine Einzelkämpferin, sondern braucht den Austausch mit den Menschen, für die sie schreibt, die Vorstellung von realen Körpern und eines realen Raumes. „Theater ist Teamplay, ein Text ist kein Theaterabend.“ Wenn es möglich ist, begleitet sie den Probenprozess gern schreibend. Der Reiz der Theaterarbeit liegt für sie auch darin, nicht nur allein am Schreibtisch zu sitzen, was nicht heißt, dass sie es nicht auch schätzt, die Kontrolle über ihren Text abgeben zu dürfen.

Die in Innsbruck geborene und in Sterzing in Südtirol aufgewachsene Anna Gschnitzer gehört zu den interessantesten Theaterautorinnen ihrer Generation und zu den erfolgreichen. Gleich drei ihrer Theaterstücke wurden dieses Jahr uraufgeführt. Die Entführung der Amygdala im Januar am Theaterhaus Jena. Das Stück dreht sich um eine Mutter, die sich nach einem Unfall dazu entschließt, aus ihrer Rolle auszubrechen wie aus einem Gefängnis. Systemkollaps. Die Regisseurin und Schauspielerin Pina Bergemann hat es inszeniert und spielt diesen irrwitzigen Monolog einer Frau nach dem Nervenzusammenbruch auch. Gerade kam das Stück obendrein an der Berliner Schaubühne zur Aufführung, das renommierteste Theater bislang in der jungen Karriere von Anna Gschnitzer. Mit Pina Bergemann indes verbindet sie schon eine längere Zusammenarbeit. Solch kontinuierliche Arbeitsbeziehungen gibt es im Theater öfter, man denke an Elfriede Jelinek und ihre Regisseure Nicolas Stemann oder Jossi Wieler oder auch an Dea Loher und den Regisseur Andreas Kriegenburg. Theater ist eben nicht nur Teamwork, sondern auch eine Frage des gegenseitigen Verständnisses und Vertrauens. Eine ebensolche Arbeitsbeziehung führt Anna Gschnitzer auch mit dem deutschen Regisseur Alexander Nerlich, der im Juni ihre Sophokles-Überschreibung Ich, Antigone am Staatstheater Mainz in Szene setzte. Der Abend ragt aus Gschnitzers Werk heraus, weil er sich auf eine berühmte Vorlage stützt, wie sonst nur ihr Musiktheaterprojekt Fanes das sich auf Südtiroler Sagen bezieht. Bei der Mainzer Auftrags-Antigone waren die Grenzen eng gesteckt, der Kern des Stücks

durfte nicht angetastet werden. Gschnitzer hat den Text trotzdem sachte ins Überzeitliche geholt, den Frauen mehr Rederecht zugestanden und darauf aufmerksam gemacht, dass auch die Erfahrung von Gewalt von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ein Thema, das Gschnitzer sehr interessiert, transgenerationale Traumata. Warum werden Menschen, wie sie geworden sind. Mit Alexander Nerlich, dem Regisseur von Ich, Antigone wird sie im nächsten Jahr abermals zusammenarbeiten. Diesmal fürs Stadttheater Ingolstadt, wieder eine Auftragsarbeit, es soll um die Frankenstein-Erfinderin Mary Shelley gehen und um den Klimawandel.

Die dritte Gschnitzer-Uraufführung in diesem Jahr fand im Mai am Schauspielhaus Wien statt. Capri erzählt von einer Tochter-Mutter-Beziehung, es geht um Klassismus, Self Care, also Selbstfürsorge, und weibliche Erschöpfungszustände. Aus ihrer eigenen Erschöpfung macht die Autorin kein Geheimnis, gerade die Verbindung von Mutterschaft und Autorinnenschaft birgt besondere Herausforderungen. Anna Gschnitzer wurde 2020 Mutter einer Tochter. Eine Zeitlang hat sie sich mit der Arbeit als Dramaturgin, sowohl am Residenztheater, später dann auf der anderen Seite, an den Münchner Kammerspielen über Wasser gehalten. Seit vier Jahren kann sie vom Schreiben leben, muss allerdings den Spagat zwischen Mutterpflichten und Künstlerinnentum wagen. Solche Erfahrungen fließen natürlich auch in ihre Texte, die sich oft mit weiblichen Lebenslagen beschäftigen, und immer wieder auch soziale Themen aufs Tapet bringen. Ihr bislang erfolgreichstes Stück Einfache Leute das Gschnitzer mal als ihr perönlichstes bezeichnet hat, verhandelt das Thema Klassismus auf ebenso erhellende wie unterhaltsame Weise. Beim Heidelberger Stückemarkt 2021 erhielt sie dafür den Publikumspreis. Einfache Leute erzählt auf mehreren Zeitebenen von Alex und ihrem Weg nach oben. Sie ist eine typische Klassenaufsteigerin, leidet am so genannten ImposterSyndrom und legt ihren früheren Habitus nie ganz ab. Gschnitzer macht keinen Hehl daraus, dass dieser Lebenslauf auch etwas mit ihrer eigenen Biografie zu tun hat; auch sie selbst stammt aus einem Elternhaus, in dem Bücher und Theater nicht auf der Tagesordnung standen. Nach der Schulzeit ist sie nach Wien gegangen, und hat Vergleichende Literaturwissenschaft und Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst

studiert. Es war dann die heutige künstlerische Leiterin des Schauspielhauses Wien, Marie Bues, die sie ermuntert hat, mal einen Text fürs Theater zu schreiben. So fing es an. 2018 bekam sie dann für ihr Stück Fallen den Publikumspreis des Münchner Förderpreises für deutschsprachige Dramatik Oft stehen Frauen im Mittelpunkt ihrer Stücke, die für Schauspielerinnen sehr besondere Rollen bereit halten, auch für ältere. Rollen, die das übliche Schema durchbrechen, die wahrhaftig und kämpferisch sind. Dabei möchte sie ihre eigenen Stücke nicht als autofiktional („mehr fiktional als auto“) verstanden wissen, wenngleich sie oft auf ihren eigenen Erfahrungen beruhten. Was sie interessiert, sind private und gesellschaftliche Widersprüche, die sie in ihren Texten freizulegen sucht. Empfindet sie sich als politische Autorin? Ja, sagt sie, und erzählt, dass die Autorin Marieluise Fleißer wichtig gewesen sei für die Entwicklung der eigenen Schreibbiografie.

Wie bei allen begabten Theaterautorinnen stellt sich auch bei Anna Gschnitzer die Frage, ob sie nicht vorhat, einen Roman zu schreiben, also das Genre zu wechseln und damit womöglich einen größeren Leserkreis zu erreichen. Zumal sich etwa der Beginn ihres Stücks Die Entführung der Amygdala schon wie ein Romananfang liest. Anna Gschnitzer liebäugelt schon länger mit der Idee, einen Roman zu schreiben, erzählt sie, auch weil das ihr im Gegensatz zu einem Theaterstück die Möglichkeit gäbe, eine Figur länger zu begleiten und mit mehr Futter auszustatten. In ihren letzten Theaterstücken habe es schon einen prosaischen Ton gegeben, fügt sie an. Dabei wäre sie nicht die erste und sicherlich nicht die letzte Dramatikerin, die auch als Romanautorin reüssiert. Wahrscheinlich bietet einem das Romane schreiben auch mehr Freiheit, weil die Themen nicht, wie oft am Theater, vorgegeben werden. Dabei sind es nicht nur die Inhalte, sondern der sprachliche Zugriff, der sie interessiert. Gschnitzers Stücke besitzen eine besondere Musikalität, einen bewusst gesetzten Ton, der Sprache als mündlichen Ausdruck wertschätzt. Bei aller Ernsthaftigkeit der Sujets kommen Witz und Sarkasmus dabei zum Glück nicht zu kurz. Der Humor sei auch eine Art Selbstschutz, anders würde sie es gar nicht ertragen, sagt sie und stellt die schöne Faustregel auf: „Einmal weinen, einmal lachen“.

Stillleben in Bewegung

Der Fotograf und freischaffende Künstler Andrea Salvà erforscht seit vielen Jahren die Anfänge der Fotografie. Sein Augenmerk gilt dabei vor allem dem 1890 von Gabriel Lippmann entwickelten, auf Interferenz beruhenden Verfahren der Farbfotografie. Das heute fast in Vergessenheit geratene Lippmannverfahren ist einzigartig, beruht doch die Wahrnehmung des fotografierten Objektes auf dem Zusammenspiel chemischer und physikalischer Prozesse. Dabei trifft sowohl das einfallende als auch das reflektierende Licht auf eine spezielle Emulsion. Salvà erschafft mithilfe dieser Lichtbewegungen seine Stillleben. Diesem paradox anmutenden Prozess entspringen philosophische Überlegungen zu Wirklichkeit und Erscheinung, denn der Blick auf die Werke ändert sich mit dem Winkel des Lichts, wodurch auch eine semantische Interferenz entsteht. Dies wiederum macht die technische Entwicklung der Fotografie als solche für den zeitgenössischen Kunstbegriff interessant. Was fasziniert den Künstler Andrea Salvà an der Interferenzfotografie in Bezug auf die zeitgenössische Kunst?

ANDREA SALVÀ „Mein Weg innerhalb der zeitgenössischen Fotografie ist im Wesentlichen ein Projekt über die Wahrnehmung von Licht und „Imagine clarity“. Jahrelang habe ich Berge fotografiert. Als ich tagelang in das Licht dieser grandiosen natürlichen Umgebung eintauchte, wurde mir klar, dass die Klarheit und Kraft dieses Lichts mit den hochentwickelten fotografischen Mitteln von heute nicht reproduziert werden kann. Vergeblich suchte ich im Zuge meiner Recherche nach dem richtigen System, bis ich erkannte, dass das Problem nicht optischer, sondern wissenschaftlicher Natur war – verbunden mit phänomenologischen und psychologischen Bedingungen der Wahrnehmung. An diesem Punkt entdeckte ich das System der Interferenzfotografie. Ihre Eigenschaften sind bis heute unübertroffen: sie kann alle Farben des Spektrums wiedergeben, was die heutigen digitalen Sensoren noch immer nicht können. Aufgrund ihrer Präzision wurde diese fotochemische Technologie mit Nanopartikeln von Physikern zur Untersuchung subatomarer Teilchen erst kürzlich wieder aufgegriffen.

Die Lippmann-Fotografie ist eher eine Lichtskulptur als eine Fotografie, denn sie besitzt eine sehr hohe und nicht reproduzierbare, mithin einzigartige Bildschärfe. Inmitten unserer heutigen Bilderschwemme ist dieses Verfahren aber auch eine Art gegenkulturelle fotografische Herangehensweise, denn die heutige Technologie zeigt uns nur einen geringen Teil dessen, was dargestellt wird, indem sie den Großteil der echten Farben vor uns versteckt.

Kurz gesagt, Fotografie und zeitgenössische Kunst brauchen die Technik, um sich auszudrücken, jedoch tendiert diese zur Selbstermächtigung, wodurch der zeitgenössische Künstler seine Kontrolle über die Technologien verliert, die er verwendet. Die Interferenzfotografie entgeht diesem Schicksal, indem sie der griechischen Bedeutung von téchne (τέχνη) entspricht. Als Künstler muss ich dabei alle kreativen Schritte persönlich durchführen und mir des gesamten künstlerischen Prozesses bewusst sein. Die entstehenden Arbeiten sind weniger Fotografien als vielmehr Lichtobjekte oder auch Lichtskulpturen.“

Eine ausdrucksvolle poetische Stimme Aria. Gedichte von Anne Marie Pircher.

„Mein Blatt hielt lange stand: am Arm des Nussbaums zwischen Tanz und Kampf“ (Seite 9)

Ein Vergleich aus der Naturwelt steht im Zentrum der ersten Stophe im Gedicht ‚Kapitulation’: das zitternde Blatt an einem Baum im Herbst, das sich dem Wind (noch) widersetzt. Das Wort ‚standhalten’, getrennt durch ein Enjambement, verdeutlicht den lange andauernden Widerstand, den das lyrische Ich gegen den Fall zu leisten versucht. Letztendlich muss es in diesem Gedicht aufgeben, was durch die Zeitform des Präteritums angedeutet ist‚ und im Titel sowie in der letzten Strophe zur Sprache kommt: „das Blatt ein Fall/für die Erde“ (Seite 9).

Gegensatzpaare wie Tanz/Kampf, Frieden/Krieg, die in diesem Gedicht verwendet werden, finden sich in weiteren Gedichten des soeben im laurin-Verlag erschienenen Gedichtbandes Aria der Autorin Anne Marie Pircher. Das Buch ist der 2023 verstorbenen Mutter gewidmet; dem Gedichtband vorangestellt ist das Motto der amerikanischen Nobelpreisträgerin für Literatur (2020) Luoise Glück, „Just think/the sun was there, in that bare place“.

Bilder aus der Natur, mit denen menschliche Gefühle und Erfahrungsweisen durch die Stimme eines lyrischen Ichs nachgezeichnet werden, sind bestimmend für Pirchers Lyrikband. Wiederholt wird der Akt des Standhaltens thematisiert, einmal in Verbindung mit dem Schatten des lyrischen Ichs, „der standhielt/während du fortgingst/ins blaue Kalt der Welt“ (Seite 14), oder in Verbindung mit einem „Bild, ein [em] Wort/das standhält“ (Seite 21), „ein[em] Herz/das standhält“ (Seite 22) oder „jenes zarte, flüsternde/Ich, das standhält“ (Seite 45). Dieses zarte lyrische Ich nimmt die innere und äußere Welt mit einer ausgesprochenen Aufmerksamkeit für Details und mit einer großen Sensibilität für kleinste Veränderungen und feine Nuancen wahr. Gefühle, Gedanken und Erinnerungen, sinnliche Wahrnehmungen und Bilder, Veränderungen in der Natur, Eindrücke und Sichtweisen aus der Um- und Mitwelt werden in eine Sprache übertragen, die von Stille und poetischem Reichtum geprägt ist. Das Verdichten der erfahrbaren Welt durch Sprache ist in diesem Gedichtband ein wesentliches Thema. Das lyrische Ich setzt seine Wörter gegen die „Schlagwörter“ (Seite 37) der Medien und führt zuweilen einen „Kampf um Wörter“ (Seite 68), wenn „uns die Propaganda/an die Wand“ (Seite 68) fährt. Die Suche nach den Wörtern bleibt das einzig Wichtige für das lyrische Ich. Die Sprache bietet ihm ein Refugium, auch wenn sie zuweilen ohnmachtlos zu sein scheint „kein Wort taugt/für die

Verheerung“ (Seite 41) – und manchmal kann das Schweigen „tröstlicher [sein]/als jedes Wort“ (Seite 60).

Das lyrische Ich spürt dem schwierigen Prozess der poetischen Wortfindung und der Erschaffung der Sprachwelten nach. Es gibt jedoch keine Alternative, denn es lebt in der Sprache und durch die Sprache und sucht letztendlich Halt und Sicherheit in „einem Wort/ das mich pflückt“ (Seite 88). Eine besondere Stille durchzieht den Gedichtband. Manchmal ist sie gewollt, manchmal verbirgt sich dahinter ein unheimliches Schweigen, das nach einer Stimme, einem Ausdruck und einem Ausweg sucht, bevor der lyrischen Stimme die Luft ausgeht: „Ich verlieh meine Stimme in unterschiedlichen Tonlagen der Farbe des Windes summte und summte in mich hinein, aus mir hinaus: Aria“ (Seite 53) Das Unheimliche rührt aus der Kindheit und den frühen kindlichen Erfahrungen, die zum Teil unbewusst sind und kaum erinnert werden können, denn „es gab wenig/zu erinnern: ein Geruch/ein Geräusch, zweifelsohne/zweideutig: Liebe und Haft/Liebhaft“ (Seite 59). Diese kindliche, ambivalente Erfahrung der Liebe und Haft wird dem lyrischen Ich zum Gefängnis, aus dem es sich mit allen Kräften zu befreien versucht. Es gibt eine Tat, einen „Täter und [ein] Opfer“ (Seite 12), „einen Punkt/der Rechenschaft verlangt“ (Seite 45). Die Kindheitsbilder, oft trüb, schwer deutbar und kaum übersetzbar, aber immer tiefgehend, begleiten die lyrische Stimme und machen sein Wesen zu dem, was es ist, auch dann, wenn die Stimmen des Alltags, nicht selten die Stimmen, die von Kriegen sprechen, sie zu übertönen scheinen. Immer wieder kehrt die lyrische Stimme an den Anfang zurück, „blickt von oben/auf das kleine Ich“ (Seite 53), versucht unbewusste Schichten herauszuschälen und die Bilder in konkrete, nachvollziehbare Welten zu übertragen. Diese nie vollendete Arbeit und der nie vollzogene Prozess – eine „Wunde/ die nicht schließt“ (Seite 59) – machen es dem lyrischen Ich unmöglich, sich vom Erlebten zu lösen. Die „Häutung“ (Seite 44) wird als ein Bild eingesetzt, das mit dem Vergleich zur Schlange aus der Tierwelt hereingeholt wird. Sie ist Zeichen für das unaufhörliche Streben nach einer schmerzhaften Befreiung, die eine „Geburt, Wende“ (Seite 48), eine „zweite/Geburt“ (Seite 53) des lyrischen Ichs möglich machen würde, entgegen dem Widerstand aller „Finger/[die] irgendwohin zeigen“ (Seite 45) und das lyrische Ich kränken. Körperteile wie der Hinterkopf, die Glieder, die Stirn, und im-

mer wieder das Gesicht, das Auge und die Hand durchlaufen die Gedichte, daneben findet auch die Welt der Farben, immer wieder in der Form der Komposita – das Himmelsblau, das Fensterblau, das Lichtgrau –, Eingang in Pirchers Poesie. In vielen Gedichten dieses Bandes ist die Natur sehr präsent; oft sind es die Pflanzen und die Bäume – der Efeu, die Chrysantheme, die Hyazinthe, der Lorbeer –, oft die Tiere, – der Wurm, die Schlange, die Eidechse, die Schildkröte, die Libelle oder der Maulwurf –, und daneben auch das Wasser und die Flüsse, denen sich das lyrische Ich anvertraut. Jahres- und Tageszeiten flechten sich in die Gedichte ein und bilden oft dessen Vordergrunds- oder dessen Hintergrundsstimmung. Die Gedichte sind reimlos, haben unterschiedliche Versen- und Strophenlängen und folgen einer ihnen ganz eigenen Musik. Durch die zahlreichen Enjambements schaffen sie Pausen, Raum für Polyvalenzen und Zeit zum Nachdenken. Sie führen rhythmisch auf ein Ende hin, das vorerst einen Schluss verspricht. Oft spielen die Gedichte mit den Sprachen, tragen kurze englische, italienische oder deutsche Titel, wenige darunter sind ohne Titel. Auch in den Verszeilen gibt es Mehrsprachigkeit und das Wort ‚translation’ wird mehrmals im übertragenen Sinne genutzt. Die eingesetzten Metaphern und Vergleiche sind eindrucksvoll und vermitteln eine Atmosphäre, die von Melancholie und Trauer getragen ist. In der poetischen Sprache, in der die Autorin diese Atmosphäre verdichtet, liegt eine schlichte Schönheit.

Anne Marie Pircher: Aria Laurin Verlag, 2024

Ehrenrettung eines

Verstoßenen

Vor 25 Jahren starb einer der profiliertesten

Schriftsteller deutscher Sprache

„immer geschieht etwas anderes, als das, was geschieht“

Ein großes literarisches Werk hat er hinterlassen, kein umfangreiches. Es brauchte Zeit, und die nahm und nimmt es sich, bis heute.

Kaum einen zweiten Schriftsteller deutscher Sprache kenne ich, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, der den Roman als Kunstform so weit vorangetrieben hat wie er. Der Anschluss gehalten hat an die Kunst des Erzählens, wie es in der Welt geübt wird. Vor gut einem Vierteljahrhundert ist er gestorben, Ende 1998. Kennt man ihn heute noch genug im deutschen Sprachraum (mit seinen vielen Grenzen)? Haben zu Lebzeiten ihn viele erkannt?

x Lange hat es gedauert, bis ich diesem außerordentlichen Erzähler begegnet bin, in einer jener Bücherkisten vor den Geschäften, die mich nicht an sich vorbei lassen. Ein dünnes Taschenbuch, von 1965, so schadhaft, dass ich es normalerweise nicht kaufe. Warum dieses? Gleich in einem Café habe ich dann hineingelesen in das eingerissene Büchlein – mir verschlug es den Atem. Eine solche Erzähltradition gibt es also auch in Deutschland, und davon hast du Jahrzehnte lang nichts gewusst?

Was kann ich sagen von einer Geschichte, in der etwas anderes geschieht als das, was geschieht?

Ein Dorf in Österreich, unter sowjetrussischer Besatzung, unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Hier lebt die junge Susanna Jorhan mit ihrem Söhnchen. Zwischen vier Männern steht sie – zwei Gewinnern des Kriegs, aus Russland, zwei einheimischen Verlieren. Da thront der „Kapitän“, Leiter der russischen Kommandantur, in ihrer ehemaligen Villa. Da lauert ihr der Soldat Kolja auf, der sie auf einem einsamen Bauernhof entdeckt und verrückt nach ihr ist. Mit Axel von Wilnow, dem von den Sowjets enteigneten Gutsbesitzer, hat sie eine Liebesbeziehung angefangen und ist von ihm schwanger. Und als vierter taucht ihr angetrauter Mann wieder auf, im Krieg verschollen, und erwartet „seine“ Frau, jenseits der Grenze, im amerikanischen Sektor: EIN SCHRITT HINÜBER. Mit jedem dieser vier Männer hat Susanna ihr ganz eigenes „Verhältnis“ – ein Geflecht aus Ängsten und Lüsten, aus Gefühl und Kalkül einer Frau, durchwirkt von dem Willen, sich selbst niemals abhanden zu kom-

DER SCHRITT HINÜBER heißt der kleine Roman, 150 Seiten lediglich, erschienen erstmals 1956. Die Geschichte einer Frau, wie ich sie aus der Feder eines männlichen Schriftstellers selten gelesen habe, von einem meiner Sprache schon gar nicht. „Geschichte“ allerdings ist ein Begriff, der das Erzählen dieses Autors allzu stark einengt und den Reiz seiner Prosa bedroht. „Immer geschieht etwas anderes, als das, was geschieht. Aber dieses andere läßt sich nicht erkennen. Was eigentlich geschieht, läßt sich nicht herunterdrehen auf eine Geschichte. Es geht anders weiter, nicht in ‚bestimmten Tagen’ oder Briefen, die ankommen. Die Worte kommen an. Aber sie erzählen nicht eine Geschichte. Sie machen selbst das, was geschieht. Die Geschichte hört auf, trotzdem geht es weiter auch nach diesem bestimmten Tag.“ Unwiderstehlich war der Sog, in den ich geriet und der die nächsten Tage anhielt (denn den Roman, auch wenn es nur 150 Seiten sind, kann man nicht hinabschlingen. Es muss Wort für Wort gelesen sein.)

men. Raffiniert und hilflos, in dem engen Rahmen, den ihr die Wirklichkeit steckt, balanciert sie durch ihr Leben. Heldin so wenig wie Opfer. Bloß eine Frau. „Einmal, wenn mich niemand mehr für seine Frau, seine Geliebte oder Mutter halten wird, dann kann ich mich einfach hinlegen und Ruhe haben.“

Große Erzählkunst, wie sie selten glückt. Diese Susanna Jorhan, aus Franz Tumlers Roman DER SCHRITT HINÜBER von 1956, hat literarisch das Format einer Effi Briest, einer Madame Bovary. Müsste sie nicht längst eine frühe Ikone der sogenannten Frauenliteratur geworden sein? Und warum hat mich erst so spät der Zufall einer Bücherplunderkiste zu diesem außerordentlichen Autor geführt?

Ein Traditionsbruch offenbar in diesem Land.

x

Je mehr ich jetzt von Franz Tumler las, umso mehr wuchs meine Bewunderung. Eine absehbare Zahl von Büchern, aber jedes von ihnen forderte meine Aufmerksamkeit, ungeteilt. Was ist das für eine Literatur, die ihren Leser derart in Besitz nimmt?

Diese Bücher gehen aufs Ganze.

So sehr die Autoren in ihrer Zeit stehen und darin verwurzelt sind – stärker nehmen sie Anteil am Menschen, wie er in der Welt zuhause ist, im Kosmos. Der Mensch als ephemere Einheit, geistig, seelisch, körperlich, der aus Fernen kommt, eine kurze Weile hier ist, bald weiter muss in eine Zukunft hinein, unabsehbar unserem Erkennen. Das ist ihr Thema.

An den Parteilichkeiten der jeweiligen Gegenwart, mit all den Blindstellen und ideologiegesteuerten Engführungen des Wahrnehmens und Denkens – daran gehen

diese Autoren keineswegs vorüber. Aber sie zitieren sie gleichermaßen, transzendieren sie auf das, was der menschlichen Existenz wesentlich ist und möglicherweise von ihr bleiben wird, in welcher Verwandlung auch immer.

Über den Tag hinaus wahrnehmen, fühlen, denken: in eigener Zeit zu sein. Das ist das Talent des Schriftstellers. Daraus lebt er seinen Beruf. x Ein weiteres Beispiel für Franz Tumlers Erzählverfahren lässt sich fast wie ein Rechenexempel vorführen. Die „Erzählung“ DER MANTEL, von 1959, wie der Autor den längeren Prosatext in bescheidener Weise nennt, ist für einen heutigen Leser vielleicht das eingängigste seiner Bücher. Von dem Mann Huemer wird darin erzählt, der seinen Mantel verlor. Er sucht ein befreundetes Ehepaar am Stadtrand auf. Zwei Kapitel lang, über dreißig Seiten, wird von Huemers Weg zu den Freunden erzählt, hin und zurück, zu Fuß, per Bahn. Und was erfährt der Leser von dem Besuch selbst?

„Huemers Besuch bei Seidlers dauerte knapp zwei Stunden; um vier kam er an, um sechs brach er oben im Haus auf, um den Zug, mit dem er zurückkehren wollte, nicht zu versäumen.“

Das ist alles. Alles, was zwischen drei Menschen an einem Nachmittag geschehen kann und was vorher zwischen ihnen geschehen war, steckt in der ausführlichen Schilderung von Huemers Hin- und Rückweg. „Alles ist voller Regungen, die wahrnehmbar nur sind, wenn man nicht hinsieht.“

x So lernte ich Franz Tumler kennen und hochschätzen, in seinen Büchern nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber da gab es offenbar noch eine Vorzeit, und die war rabenschwarz. Da musste ich hinab ins Tausendjährige.

x „immer geschieht etwas anderes, als das, was geschieht“

Debütiert hat Franz Tumler 1935 mit der kleinen Erzählung DAS TAL VON LAUSA UND DURON, das ich bei einem Wiener Bukinisten fand, ein Exemplar aus dieser Zeit noch. (Ein Besitzer vor mir hatte es bereits am „4. 2. 41“ gelesen, wie er hinten mit Bleistift festgehalten hat.) Die Handlung spielt in den Bergen Südtirols, wo Tumler 1912 geboren wurde, und erzählt das Schicksal der beiden Geschwister Anita und Leon, wie sie dort vom Ersten Weltkrieg erfasst und verschlungen werden. Die Erzählung wurde 300.000 Mal verkauft. Ihr Verfasser, gerade 24 Jahre jung, zog mit diesem Verkaufserfolg das Interesse der damaligen politischen Machthaber in Deutschland auf sich, der Nationalsozialisten – und erlag ihm. Der junge Mann, der sich vom Schuldienst freimachen wollte, um als unabhängiger Schriftsteller zu leben, wurde ein Nutznießer des neuen Regimes. Ab 1935 schrieb er regelmäßig für dessen Zeitschrift „Inneres Reich“, kam auf die „Vorschlagsliste für Dichterlesungen“ zu stehen, die die Reichsschriftumsstelle im Propagandaministerium herausgab. Tumler trat der NSDAP bei und der SA. Den Krieg verbrachte er von 1941 bis zum Ende als Artillerist der Kriegsmarine auf See. Nach 1945 war Tumlers Eintreten für die Ideologie der Nationalsozialisten naturgemäß ein Skandalon. Fast noch ein größeres Skandalon aber war es, dass er darüber kein Wort verlor, lange Jahre. Er hatte sich im politischen Raum einmal schrecklich verrannt. Ein zweites Mal sollte ihm das nicht passieren. Er schwieg – und schrieb: makellose Literatur.

Jeder, der sie liest, steht an einem Abgrund. Er blickt mit Grauen hinab und ahnt da unten seine eigenen Gefahren, für die er selbst einzustehen hat. Zerredet wird ihm nichts. 1953 veröffentlichte Tumler den Roman EIN SCHLOSS IN ÖSTERREICH, verließ sein Land und zog nach (West-)Berlin. 1956 kam dann sein Roman EIN SCHRITT HINÜBER heraus, das Buch, das ich nach Jahrzehnten aus einem Bücherkarren fischte für eine schlappe Mark (die es damals noch gab). Und war, ungetrübt vom Vorwissen über das Leben seines Autors, begeistert von diesem Stück deutschsprachiger Erzählliteratur, wie ich sie nach 1945 hierzulande selten gelesen hatte.

Durfte ich immer noch einen solchen ausgewiesenen „alten Nazi“ für einen großartigen Schriftsteller halten? Wie aber steht es um die Moral des Schreibens? Sie steckt nicht in einer Absicht, und sei es der menschenfreundlichsten. Im Wort ist sie aufgehoben, allein dort. Da Franz Tumler, soweit ich sehe, sich niemals essayistisch geäußert hat, zu keinem Thema, halte ich mich an seine erzählten Geschichten, das beste und authentischste und ehrlichste, das er seinen Zeitgenossen und der Welt gegeben hat. In dem Erzählen war, wie er es tat, alles enthalten, was er mitzuteilen hatte. Ein Autor ist glücklich zu schätzen, von dem das gesagt werden kann.

Bolzano Art Weeks: Ein kollektives Kunst-Projekt für alle

Die Bolzano Art Weeks (BAW) laden Kunstschaffende aus Südtirol ein, an einem Projekt teilzunehmen, das sich deutlich von auf Wettbewerb und Markt ausgerichteten Kunstveranstaltungen unterscheidet. Vor vier Jahren von Nina Stricker gegründet, zeichnen sich die Kunstwochen durch Gleichberechtigung und Chancengleichheit aus.

Unter dem Motto WELLbeing WELfare WELcome setzen die BAW auf die Zugänglichkeit von Kunst und Kultur für alle. Breit aufgestellt, horizontal gehandhabt und hierarchiefrei bespielt, bilden sie eine Ausnahmeerscheinung im Vergleich zu den üblichen Kunstwochen. Denn hier in Bozen wird unter obigem Titel entschieden auf die Idee des Gemeinwohls gesetzt: „Es ist eine altkapitalistische, antikonsumistische Vision, die wir in die Gesellschaft des Überflusses, der die radikale Kreativität verloren geht, hineininterpretieren.“

Stricker versteht die BAW als Gegenpart zum italienischen Marketing- und Sammler-orientierten Kunstsystem, wo „alles Authentische verloren geht“. Mit WELLbeing WELfare WELcome stellen sich Fragen nach der Gestaltung, nach den Verhältnissen und dem Wert von nichtkommerzieller Kunst und Kunst-Arbeit und nach den Prozessen kreativen Denkens. Die Vorgehensweise ist nicht linear und ohne kontrollierte Programmierung. Es gilt: Viele Perspektiven und verschiedene Ansätze zu einem Thema frei und assoziativ zu verorten und in einen direkten Zusammenhang zu bringen.

„Wir wollen nicht thematisieren, was das italienische Kunstsystem unter zeitgenössischer Kunst versteht“, so Stricker, die – gemeinsam mit einem erweiterten Team und von Gilles Deleuzes Rhizom inspiriert – einen transdisziplinären, partizipativen und durchlässigen Kontext verfolgt. Die Grundausrichtung ist konsequent prozessorientiert und offen. Es darf, es muss ausprobiert werden! Dabei entstehen neue Möglichkeitsräume zur In-Situ-Erforschung regionaler Zusammenhänge und aktueller Ereignisse. Die dabei entstehenden neuen Anknüpfungspunkte lassen sich unmittelbar in die Gesellschaft integrieren. Fast zwei Wochen lang präsentieren Künstler*innen

ihre Arbeiten in Co-working-spaces, bitten zu Open Studios Visits und kooperieren an Standorten von und mit Wirtschaftsunternehmen. Sie laden in einen von der Wehrmacht erbauten Bunker ein – Santiago Torresagasti & Matteo Marzanoʼs audiovisuelle Installationen der blaue rand el borde azul dokumentieren die Auswanderung der Familie des Künstlers 1997 von Buenos Aires nach Südtirol, und zeigt in einer zweiten Installation die verhafteten Margarete und Gudrun Himmler im Hotel Post in Bozen Gries in einer KI-generierten Animation eines Fotos von 1945 im Gespräch: Argentinien, Südtirol, hin und retour – einst „Identitätsschleuse“ und beliebtes Fluchtziel für NS-Verbrecher verbindet die Arbeit die Geschichte von Argentinien und Südtirol auf eindringliche Weise.

Inmitten der vom Overtourismus geplagten mittelalterlichen Altstadt wird performt: nackt mit Stühlen und dem mitmachenden Publikum bekleidet (sic!) fordert die selbstbewusste Kunststudentin Dora Musola ihr Publikum heraus, nimmt es mit, streng: „Follow me, you are not allowed to film or take photos, only Christian is.“ Christian ist Christian Falsnaes, ihr Professor an der Universität für Kunst und Design in Bozen – horizontal und hierarchiefrei wie gesagt! Augenhöhe und Konkurrenz ist hier kein Widerspruch! Falsnaes zeigt auch im Zuge der BAW in Stilfs die Performance COLLABORATION. Sie basiert auf mit seinen Studierenden durchgeführten Experimenten zur Entwicklung eines Instruments, das Diskussionen über Zusammenarbeit und Gemeinschaft anstoßen will.

Eingeladen zu einem Treffen von LiteratInnen saßen du und ich nebeneinander.

Beide lauschten wir der Erzählung einer Autorin eine Freundin von dir, wenn ich mich richtig erinnere dass ihr Vater entschieden hatte, ihr seine Sprache, das Kroatische nicht weiterzugeben um ihr gewisse Diskriminierungen zu ersparen denen er selbst ausgesetzt war.

Einige Monologe weiter war die Reihe an dir du erzähltest unter anderem von deinem Schwiegersohn einem Palästinenser.

Dieser Schwiegersohn lebt mit seiner Tochter und seiner Frau in Europa und findet an dem Wunsch der Letztgenannten, das Arabische zu erlernen, wenig Gefallen, im Gegenteil.

Orientalismus Edward W. Said 1978

Warum hast du das Pferd allein gelassen? Mahmoud Darwish Gedichte 1995

Das Tor zur Sonne Elias Khoury Roman 1998

Im Taxi. Unterwegs in Kairo Khaled Al-Chamissi Erzählungen 2007

Möchtest du nur eines der erwähnten Bücher lesen und zwar Gedichte dann empfehle ich dir die Sammlung von Ghayath Almadhoun: Ein Raubtier namens Mittelmeer Nicht, weil er größer ist als Darwish sondern weil er heute schreibt.

Die Orte bieten nicht nur kreative Räume, sie sind auch gut betreut. Künstler*innen selbst kommen auch außerhalb der Öffnungszeiten und stellen die Arbeiten der Kolleg*innen vor. Ein Beispiel ist CUT, ein kuratorisches Projekt, das künstlerische Forschung in Dialog- und Begegnungsräumen fördert. Für BAW stellt der Kurator und Medienkünstler Maximilian Pellizzari in der Casa Spadafora – einem eigens für die BAW wieder zugänglich gemachten Gebäude – eine Installation von Silvia Hell vor. In durchaus holistischer Herangehensweise setzt sie Wissenschaftsjargon in bildgebende Symbole um und versucht damit nichts Geringeres als die Gesamtheit von Raum, Zeit und aller Materie und Energie zu visualisieren.

Nicht unweit, in der Ar/Ge Kunst, präsentiert Anna Scalfi Eghenter mit The Fluo Swan eine Vertragsperformance, die die Zuschauer*innen auf unerwartete, ja auf für unmöglich gehaltene Ereignisse vorbereitet und zeigt, wie Kunst als Versicherung gegen Ungewissheit wirken kann.

Es sind spannende Herausforderungen und hoch gesteckte Ziele, doch wir wissen um das Transformationspotenzial zeitgenössischer Kunst, und das können die 4. Bolzano Art Weeks mitunter überzeugend unter Beweis stellen. In einer Stadt, die vom Overtourismus und Überkonsum geprägt ist, bieten sie jedenfalls eine durchaus fruchtbare Plattform, um Kunst und Gemeinschaft neu zu denken.

Mit im Boot der BAW ist aber auch das renommierte Museion mitten im Zentrum der Südtiroler Landeshauptstadt mit der großartigen Ausstellung AMONG THE INVISIBLE JOINS – Werke aus der Sammlung Enea Righi Die kluge Kooperation lukriert Besucher*innen aus unterschiedlichen Kreisen und fördert einen Austausch, der auch abseits der ausgetretenen Pfade stattfindet. „Alle haben ihre eigenen Kreise, die sich zum Teil überschneiden. Das bringt anderes Publikum an andere Orte. Wenn die sich bewegen, beginnt die Umsetzung“, heißt es von Seiten des BAW-Teams. Und zwar? „Wir wollen uns die Stadt zurückholen. Es soll hier nicht aussehen wie in jeder anderen Tourismusregion. Die kreativen Viertel sollen wieder Bestand haben und sich ihre Räume zurückerobern.“

Um ihn besser zu verstehen hast du den Koran gelesen und ein bisschen die Poesie der antiken Araber doch trotz deines guten Willens (den ich aufrichtig schätze und respektiere) scheint es, dass es euch nicht gelungen ist, die kulturellen Grenzen zu überwinden.

Ich bin in gewissen Dingen etwas langsam deshalb habe ich mich erst einige Tage nach diesem Treffen gefragt welche Bücher du wohl ausgewählt hättest, um einen hypothetischen italienischen Schwiegersohn zu verstehen: die Bibel und eine Gedichtsammlung von Petrarca?

Seither habe ich also immer wieder an Buchtitel gedacht für alle dichtenden Schwiegermütter dieser Welt, die vermittels von Büchern ihre palästinensischen Schwiegersöhne besser verstehen möchten.

Ich liste sie dir hier in chronologischer Reihenfolge auf (für dich, die du auch Deutsch liest, beginne ich mit den beiden herausragenden Büchern eines Gerechten die auf Deutsch in einem Band erschienen sind und auf Italienisch schändlicherweise fehlen):

In den Feldern der Philister Meine Erinnerungen aus dem israelischen Unabhängigkeitskrieg Tagebuch Uri Averny 1950

Rückkehr nach Haifa Ghassan Kanafani 1970

Ein Witz für ein Leben Mazen Maarouf Erzählungen 2015

Eine Nebensache Adania Shibli Roman 2017

Ein Raubtier namens Mittelmeer Ghayath Almadhoun Gedichte 2018

Kontinentaldrift

Das arabische Europa Eine Anthologie arabischer, zeitgenössischer Dichter und Dichterinnen, die in Europa leben Herausgegeben von Ghayath Almadhoun und Sylvia Geist 2023

Das sind viele könntest du jetzt sagen, womit du auch Recht hättest.

Ich kann aber nicht wissen, welche Art Leserin du bist ob du Bücher eher verschlingst oder sie nur anliest ob du eine schnelle oder langsame Leserin bist usw.

Solltest du außer Literatur auch Sachbücher lesen dann empfehle ich dir wärmstens, das dritte Buch in meiner Liste nicht außer acht zu lassen beginne im Bestfall mit diesem. Im Italienischen lautet der Untertitel: Das europäische Bild des Orients und man könnte hinzufügen: Eine Projektion.

Sollte dich das Vorhaben eines Romans interessieren, der die mündliche Erzählung der Palästinenser ab 1948 umfasst ist das Buch von Khoury das richtige für dich Liest du gerne Erzählungen und schätzt den schwarzen Humor solltest du unbedingt ein bisschen Zeit denen von Mazen Maarouf widmen.

Bist du wie ich der Ansicht dass es sich auf die Ermordung eines Autors ziemt, mit der Lektüre seines Werkes zu antworten dann wisse, dass Ghassan Kanafani ermordet wurde wegen der Tatsache, dass er schrieb. Gerade lese ich wieder in seinem Rückkehr nach Haifa und mir scheint, dass diese Erzählung ein sehr guter Anfang wäre.

Danke der Aufmerksamkeit, liebe Dichterin liebe Frau und Mutter und Großmutter Mit großer Zuneigung Claudia Tröbinger Burgstall, 2.4.24

N.B. Das Erscheinungsjahr der Bücher bezieht sich auf die erste im Original erschienene Ausgabe.

Aus dem Italienischen von Alma Vallazza

Sabine Kienzer
C/R Tröbinger,

Das Buch von Matthias Vieider

... das es nicht gibt und das finde ich sehr schade. Ich weiß, dass es fast eines gegeben hätte, ich weiß, dass zu seinen Texten Bilder eines Künstlers mit rein sollten, ich weiß, dass Matthias sich dagegen entschieden hat. Das ist schon mehrere Jahre her. Als Herausgeber und in Zusammenarbeit gibt es was, aber das Buch im Sinne von das, es fehlt. Sehr. Vielleicht wissen nicht alle, wer Matthias Vieider ist. Er ist ziemlich groß und mager, zumindest war das noch so, als ich ihn das letzte Mal sah, schwarze Haare, aus Steinegg oder die Gegend. Hat in jungen Jahren mit Poetry Slam angefangen, sich dann emanzipiert, spielt erfolgreich Klarinette in seiner Band Fainschmitz, lebt in Wien, macht dort u. a. Museumsführungen, organisiert viel, auch für Transart immer wieder, das muss genügen. Ich mag seine Texte seit immer schon sehr, besonders seine kurzen, seine Miniaturen. Oft geht es dabei um Tiere, aber nicht nur. Hauptsächlich, für mich, um Worte. Um was sie bedeuten und auch um ihren Klang. Und damit und dazu das Absurde, das Matthias in kurzen Sätzen auszudrücken vermag wie kaum jemand. Vielleicht der mittelfrühe Oswald Egger auch.

Ich fordere ein Buch von Matthias Vieider. Zeitnah. Die Texte sind da, das weiß ich. Es gibt in Südtirol und auch in Österreich Verlagsförderungen, die dürfen auch für Wander-, Koch- und Kriminalromane ausgegeben werden, müssen aber unbedingt auch Menschen, denen die Literatur als Kunstform am Herzen liegt und die sich daran abarbeiten, zur Verfügung stehen. Matthias hat eine Homepage, schauen Sie hin: www. matthiasvieider.net, folgen Sie ihm auf den Socials. Irgendwann muss, wird dort stehen: endlich. Das wird für mich, und vielleicht auch manchen unter Ihnen ein Feiertag sein.

Autor*innen

Reinhard Christanell Autor, Kulturjournalist, Bozen

Renate Giacomuzzi Literaturwissenschaftlerin und Universitätsdozentin, Innsbruck/Tokyo

Haimo Perkmann Kulturpublizist, Übersetzer, Meran

Sabine Kienzer Kulturjournalistin, Kuratorin und Kulturmanagerin, Wien

Andrea Salvà Fotograf und Künstler, Meran

Matthias Schönweger Künstler, Meran

Barbara Siller Literaturwissenschaftlerin, Cork

Shirin Sojitrawalla Theater- und Literaturkritikerin, Freiburg i. Breisgau/Wiesbaden

Sonja Steger Kunstvermittlerin, Autorin, Schenna

C/R Tröbinger, سمشلا

Ausdrucksarbeiterin, Burgstall

Michael Zeller Schriftsteller, Wuppertal

Jörg Zemmler Schriftsteller, Musiker und Filmemacher, Seis/Wien

Lydia Zimmer Literaturvermittlerin und Literaturexpertin, Basel

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.