Museumsjournal 4/22

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LEILA HEKMAT Haus am Waldsee wird Sanatorium T. REX Tristan Otto ist zurück DAS MINSK Potsdam hat ein neues Museum Ausstellungen in Berlin und Potsdam 8,50 € 4/22 OKTOBER NOVEMBER DEZEMBER

Tagesreise

Łukasz Wierzbowski, ohne Titel Junge Fotografin, um
EIN BLICK NACH POLEN 56 INHALT 14
nach Wolfsburg Feministische Kunstwege aus der Krise 16 Aus den Museen Was öffnet, was schließt und was sich sonst noch tut PANORAMA
1930 8 T. Rex Tristan Im Museum für Naturkunde sensibilisieren Dinos für den Klimawandel 10 Fantasie anregend Wie man Kindern und Jugendlichen die Fotografie nahebringt 12 Kolumne Wir müssen runter vom Gas! Neue Bücher Was wir im Herbst lesen FOTOGAFIE FÜR KINDER 10 2

FOKUS

Provenienzforschung

20

NS-Raubkunst

Die Liebermann-Villa hat ihre Bestände untersucht

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Historisches Unrecht

Eine detektivische Provenienzrecherche in der Akademie der Künste

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Aus der Forschung

Ein Überblick über aktuelle Projekte der Museen

30 Warum man Europa nicht ausstellen kann Die Leiterinnen des MEK erzählen im Interview, wie sie ihr Haus aus der Deckung bringen

Rudolf G. Bunk, Rückseite des Gemäldes »Porträt Hanns Meinke«, 1936 Museum Europäischer Kulturen (MEK) LEILA HEKMAT S. 70 Leila Hekmat, »Female Remedy«, Shirley, 2022 PROVENIENZ-
COVER
DISKURS Europäische Kulturen
FORSCHUNG 18 3 EUROPÄISCHE KULTUREN 28

AUSSTELLUNGEN

36

Wo das Unbewusste regiert

Das Museum Barberini feiert den Surrealismus

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Hinter den Kulissen der Alten Nationalgalerie E. T. A. Hoffmann im Stabi Kulturwerk Paul van Ostaijen im Ephraim-Palais

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Ägyptologie

Wie in Preußen eine neue Wissenschaft entstand, zeigt das Neue Museum

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Migration und Kolonialismus

Eine Geschichte Berlins, erzählt vom FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum

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Johann Gottfried Schadow

Die Alte Nationalgalerie wird emotional

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Asketen im Pergamonmuseum Heiraten im Museum Neukölln Werbefotografie in der Helmut Newton Stiftung

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Francisco de Goya

Die Sammlung Scharf-Gerstenberg zeigt, wie aktuell der spanische Radierer ist

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Nosferatu

Warum der älteste Blutsauger des Kinos in der Kunstgeschichte verwurzelt ist

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Spekulativ

Das Deutsche Historische Museum traut sich was 56

Anarchie und Alltag

Die polnische Fotoszene trifft sich in der Zitadelle Spandau

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Preis der Nationalgalerie

Im Hamburger Bahnhof darf Sandra Mujinga aus der Haut fahren

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Werner Herzog

Wenn ein Filmemacher aufs Ganze geht, dann in der Deutschen Kinemathek

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Antike Tonfiguren

im Alten Museum Ruth Wolf-Rehfeldt im Kupferstichkabinett

Japanische Landschaften im Humboldt Forum

Johann Gottfried Schadow, Doppel standbild der Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen, 1795/97 Sandra Mujinga, Preis der Nationalgalerie 2021, Ausstellungsansicht JOHANN GOTTFRIED SCHADOW
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58 4

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Ungarische Moderne

Die Berlinische Galerie blättert ein unbekanntes Kapitel Avantgarde auf

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Lucia Moholy

Das Bröhan-Museum rehabilitiert eine Fotografin

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Leila Hekmat

Im Haus am Waldsee wird performativ nach Heilung gesucht

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Wolf Vostell und Boris Lurie im Kunsthaus Dahlem Loredana Nemes in der Kommunalen Galerie Die rote Kapelle in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand

EINBLICKE

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Tabea Blumenschein

Die Berlinische Galerie präsentiert eine fulminante Schenkung

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Das Minsk

Wolfgang Mattheuer und Stan Douglas eröffnen das neue Potsdamer Ausstel lungshaus. Und seine Direktorin Paola Malavassi erklärt es im Interview

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Josef Thorak

Warum eine Pferdeskulptur des Nazi-Bildhauers in der Zitadelle Unterschlupf fand

85

Georg Kolbe Museum

Der Posten der Direktorin ist neu besetzt

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Unter einem Dach

Das Institut für Museumsforschung und das Zentralarchiv erklären, wie die Berliner Museen wiedervereinigt wurden

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Hansi Müller-Schorp

Warum ein Konvolut von Produkt fotografien die Kunstbibliothek glücklich macht

90 Es biedermeiert sehr Das Knoblauchhaus ist mit preis gekrönter Dauerausstellung wieder offen

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Preußen mal anders Ein Ausstellungsprojekt im Schloss Bellevue 92

Sieben Sachen 94 Umgedreht 95 Bildnachweis 97

98 Ausstellungskalender

TABEA BLUMENSCHEIN Tabea Blumenschein, ohne Titel (Red Queen), 1989
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DAS MINSK 78
Impressum
Direktorin Paola Malavassi 5 4 / 22INHALT

DISKURS

Ercole de Marias mythologisches Barockgemälde »Raub der Europa« (nach Guido Reni) hängt in der Bildergalerie von Sanssouci
EUROPÄISCHE KULTUREN Warum man einen Kontinent nicht ausstellen kann

Kulturelle

ziehen keine Grenzen!«

Das MUSEUM EUROPÄISCHER KULTUREN scheut sich nicht, immer wieder politische Fragen zu stellen. Für Elisabeth Tietmeyer und Jana Wittenzellner gibt es eine Antwort: Haltung zeigen

die Kulturtage Schottland im MEK: den in Ukraine auf dem George Square in Glasgow
»Wir
Verflechtungen zeigten auch
Europäischen
Protest gegen
Krieg
der
am 12. März 2022

Das Museum Europäischer Kulturen (MEK) ging 1999 aus der Zusammenlegung der europäischen Sammlung des heutigen Ethnologischen Museums mit den Beständen des Museums für deutsche Volkskunde aus Ost- und West-Berlin hervor. Elisabeth Tietmeyer kennt die Institutionen in leitender Funktion seit dreißig Jahren. Seit 2013 ist die Ethnologin Direktorin des MEK.

Im Winkel. Der Straßenname passt. Gut versteckt zwischen dem Geheimen Staatsarchiv, wo die Akten der preußi schen Bürokratie lagern, dem FriedrichMeinecke-Institut, wo die Freie Universität ihre Historiker ausbildet, und einer neu gebauten Townhouse-Siedlung treffen wir Elisabeth Tietmeyer und Jana Wittenzellner im Direktionsbüro, dessen holzfurnierte Oberschränke nur mit einer Leiter zu errei chen sind. Aber die beiden Leiterinnen des Museums Europäischer Kulturen (MEK) bleiben sowieso lieber mit den Füßen auf dem Boden, in Berlin-Dahlem, mitten in Europa und darüber hinaus.

MUSEUMSJOURNAL Das Humboldt Forum postuliert, die Welt in die Mitte der Stadt zu holen. Anders als das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst ist das Museum Europäischer Kul turen in Dahlem geblieben. Führt Europa in Berlin ein Schattendasein?

das genauso erhalten geblieben. Jetzt können wir dieses Denken an unserem Standort in Dahlem durchbrechen.

Ist ein Museum für europäische Kultu ren nicht zwangsläufig eurozentrisch? Bräuchte es den kuratorischen Blick von außen auf Europa?

Tietmeyer Zunächst muss man all gemein festhalten, dass jeder Mensch ethnozentrisch ist. Wir schließen von uns auf andere. Aber deshalb sollte man nicht im Umkehrschluss glauben, dass jetzt außereuropäische Kuratoren ihren Blick auf Europa darstellen müssten.

Warum nicht?

Die Kulturwissenschaftlerin mit dem Forschungs schwerpunkt Geschlechter- und Sexualitäten geschichte kam 2017 ans Museum Europäischer Kulturen. Sie arbeitete unter anderem als Kuratorin für Netzwerk und Community. Seit 2022 ist Jana Wittenzellner stellvertretende MEK-Direktorin.

Elisabeth Tietmeyer Nein. Wir sind im Gegenteil viel sichtbarer geworden. Früher hielt man das MEK immer für eine Abtei lung des Ethnologischen Museums. Als die Idee aufkam, das Schloss als Humboldt Forum zu nutzen und das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst dort zu verorten, haben wir uns natürlich gefragt, warum unser Museum nicht dabei sein sollte. Denn für uns war immer klar: Eine Trennung in Europa und Außereuropa ist eurozentrisch, und genau das war ja gerade von den Initiatoren nicht beabsichtigt. Für uns war die Ent scheidung in wissenschaftlicher Hinsicht ein Rückschritt ins 19. Jahrhundert und entsprach nicht der Realität. Aber diese An sicht war für die politische Ebene damals nicht relevant. Wir haben uns dann intensiv auf unsere Arbeit in Dahlem konzentriert und mit unseren neuen wissenschaftlichen und methodischen Ansätzen ein großes Stammpublikum gewinnen können. Viele Veranstaltungen, die wir hier anbieten, wären so im Humboldt Forum gar nicht möglich.

Jana Wittenzellner Man kann das Humboldt Forum auch nicht isoliert be trachten, sondern muss es zusammen mit den anderen Häusern auf der Museums insel sehen. Deren musealer Gesamtzu sammenhang beruht auf dem Gedanken »Wir und die anderen«. Wenn das MEK mit ins Humboldt Forum gezogen wäre, wäre

Tietmeyer Weil das auch nur selbst referenziell wäre – dies würden wir viel leicht spannend finden, aber wäre das für unsere Kollegen außerhalb Europas ebenfalls interessant? Bei meinen For schungen und Besuchen in Afrika habe ich kein Museum gesehen, in dem »Europa« ein Thema gewesen wäre. Im MEK fördern wir lieber den globalen Austausch und schaffen Netzwerke. Zurzeit etwa haben wir eine Kollegin vom Botswana National Museum in Gaborone zu Gast. Sie setzt sich mit unseren Ausstellungen und dem Depotbestand auseinander, lässt sich von uns erklären, wie wir unsere Datenbank organisieren und welche Sammlungs konzeption wir verfolgen. Sie reflektiert und kommentiert unsere Arbeit, stellt ihre Ideen vor und diskutiert sie mit uns. Das schärft unseren Blick – auch auf Europa. Wir erwarten aber nicht, dass sie »Europa« ausstellt. Das machen wir ja auch nicht.

Wittenzellner Wir heißen auch nicht Museum »für« europäische Kulturen. Es wäre Hybris zu glauben, man könne in einem einzelnen Museum »die« europäi schen Kulturen ausstellen. Wir können Objekte, die aus unterschiedlichen euro päischen Kulturen stammen, in Zusam menhänge bringen. Wir zeigen, wo sich Menschen voneinander abgrenzen und wo sich Verflechtungen finden. Dass das nicht deckungsgleich mit europäischen Grenzen ist, ist völlig klar. Das sieht man an den Objekten selbst: Sie gehörten teils zu Ländern oder Regionen, die es längst nicht mehr gibt. In Europa haben sich politische und ideelle Grenzziehungen un unterbrochen verschoben.

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Wie definieren Sie Europa?

Tietmeyer/Wittenzellner (unisono): Gar nicht!

Wittenzellner Wir ziehen keine Grenzen.

Tietmeyer Wo sollte man auch Grenzen ziehen, wenn es in und mit Europa so viele kulturelle Verflechtungen gibt, sei es durch den globalen Handel oder Migration, sei es durch Missionierung oder durch Reisen? Wo fängt Europa an, wo hört es auf?

Man könnte Europa geografisch, poli tisch, kulturell oder emotional definieren. Reflektieren das nicht auch viele Objekte Ihrer Sammlung?

Wittenzellner Wir arbeiten unter anderem mit Objekten aus dem Museum für Deutsche Volkskunde und der euro päischen Abteilung des Museums für Völkerkunde, des heutigen Ethnologischen Museums. Aus der Verbindung dieser zwei Institutionen entstand 1999 das MEK. Viele dieser Objekte wurden im 19. Jahrhundert gesammelt. Damals ging es um Aspekte des Lebensalltags der unteren und mitt leren sozialen Schichten. Es ist ein Sam melsurium von Objekten, mit denen man aus heutiger Sicht nicht unbedingt etwas anfangen kann. Daraus lässt sich keine gültige Europa-Definition ableiten. Deshalb wird bei uns auch niemand aus einer Aus stellung kommen und eine Antwort auf die Frage haben: Was ist Europa?

Erwarten Ihre Besucher nicht, dass ihnen europäische Kulturen gezeigt, erklärt und definiert werden?

Tietmeyer Der Begriff »Kulturen« wird immer noch mit »Ethnien« oder »Völker« gleichgesetzt. Das ist problematisch. Kultur als Lebenswelt ist dynamisch, sie hat grundsätzlich prozesshaften Charakter. Der Begriff selbst muss vielfältig definiert werden, denn es gibt ganz unterschiedliche Formen von Kultur. Darum trägt der Titel unseres Museums den Plural von Kultur. Wenn die Leute glauben, dass sie im MEK zum Beispiel Wahrheiten über »die« Italie ner, »die« Ungarn oder »die« Polen erfah ren – wenn sie eine »Völkerkunde Europas« erwarten –, dann werden sie enttäuscht. Das können und wollen wir nicht.

Was erfahren sie im MEK?

Tietmeyer Wir thematisieren ver gleichend Formen und Folgen kultureller Verflechtungen. Damit zeigen wir, wo es Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Europa und darüber hinaus gibt. So gehen wir zum Bespiel anhand verschiedener Krippen aus Europa, Afrika und Lateiname rika auf die Folgen christlicher Missionie rung in der Welt ein. Aber wir präsentieren nicht nur Kulturkontakte, wir praktizieren sie auch: Dafür haben wir die Reihe der Europäischen Kulturtage entwickelt, bei denen jedes Jahr eine andere Region oder Stadt im Fokus steht. Mit einer Ausstellung und Veranstaltungen bringen wir den Men schen Land und Leute näher. Das geschieht partizipativ mit Experten, die sich mit den jeweiligen Kulturen auskennen.

Wittenzellner Kulturelle Gemein schaften sind kleinteilig. Kulturelle Ausdrucksweisen halten sich nicht an nationalstaatliche Grenzen.

Tietmeyer Wir bewahren zum Beispiel eine große sámische Sammlung, deren Pro venienzen wir erforschen werden, natürlich mit Vertretern der Sámen aus den entspre chenden nordeuropäischen Ländern. Die Sámen sind die einzige indigene Bevölke rungsgruppe in Europa. Wir verfügen auch über eine außergewöhnliche Sammlung zu den Krimtataren von der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer oder über eine große Textilsammlung, mit vielen Objekten aus Tschechien und der Slowakei. Wie viele andere Museumssammlungen ist auch ein Großteil der Sammlung des MEK subjektiv geprägt – das heißt, in der Vergangenheit bestimmten die Kuratoren, was sie für sammlungswürdig hielten und was nicht. Es gab kein Sammlungskonzept. Überdies wurde besonders in früherer Zeit positivis tisch ausgestellt. Das machen wir schon lange nicht mehr.

Wie stellen Sie stattdessen aus, auch im Vergleich mit anderen ethnologischen Museen?

Tietmeyer Ethnologische Museen beschäftigen sich vor allem mit indigenen Kulturen einer Gesellschaft, weniger mit der Gesellschaft an sich. Das MEK ist eher kulturanthropologisch und kulturhisto risch ausgerichtet. Wir orientieren uns an aktuellen gesellschaftlichen Themen und sammeln Objekte der Gegenwart, die wir kulturhistorisch kontextualisieren. So

Was wäre Europa ohne den Eurivision Song Contest? Gerhard Goders Skulptur von Conchita Wurst, 2014 MEK-Format Bewegungsmelder: Die Vitrine »#WeStandWithUkraine« wurde anlässlich des Kriegsbeginns eingerichtet
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hatten wir in den letzten Jahren zum Bei spiel eine Ausstellung zu Fast Fashion und Slow Fashion. Darüber hinaus wollen wir damit künftigen Generationen zeigen, wie wir gelebt haben und was wir in unserer Gesellschaft wichtig fanden.

Wittenzellner Wir haben als work-inprogress ein Sammlungskonzept erarbeitet und vorläufig drei thematische Schwer punkte festgelegt. Erstens »Natur und Kultur«: Wie geht man im Rahmen seiner Kultur mit der Natur um? Zweitens »Identi tät«, dabei geht es um Prozesse der Identi tätsbildung, also auch um sexuelle Vielfalt, gesellschaftliche Diversität. Drittens »globale Verflechtungen«: Wie kommen Dinge oder Menschen aus Europa in den Rest der Welt? Was wird als europäisch wahrgenommen? Was adaptieren wir aus anderen Teilen der Welt?

Geben Sie mit den historischen Objekten in Ihrer Sammlung Antworten auf aktuelle Fragen?

Tietmeyer Oft erwarten Besucher, im Museum Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Ich bin aber überzeugt, dass wir weniger Antworten geben als Fragen stellen und debattieren müssen.

Viele Menschen erleben Europa wieder als Krisenkontinent und sind verunsi chert. Kann ein Museum ein hilfreicher Partner sein?

die Ukraine« wollten und konnten wir nicht organisieren.

Wittenzellner Das wäre auch viel zu ethnisch gedacht

Tietmeyer und zu national, genau diese Herangehensweisen wollten wir mit der Gründung des MEK 1999 überwinden.

Welche Art Museum wollen Sie für Ihr Publikum sein?

Wittenzellner Das Museum ist ein guter Lernort. Es muss gesellschaftlich re levant sein, aber auch ein Ort, an dem man unterhalten wird. Es ist nicht die Aufgabe eines Museums, tagesaktuell zu reagieren. Mit unserem Alltagsbezug können wir aber Themen verhandeln, die die Menschen gegenwärtig bewegen und die Auswirkun gen auf ihr Leben haben.

Tietmeyer Uns ist wichtig, das MEK als einen »dritten« Ort anzubieten, an dem man sich sicher fühlt und an dem offen diskutiert werden kann. Wir versuchen, mit unseren Möglichkeiten auf wichtige Themen und Lebensrealitäten unserer Zeit zu reagieren. So setzten wir zum Beispiel 2016 in der sogenannten Flüchtlingskrise eine große partizipative Ausstellung mit Geflüchteten um. Mit der Ausstellung »1000 Tücher gegen das Vergessen« haben wir 25 Jahre nach ihrem Ausbruch an die Jugoslawienkriege erinnert. Als sich diese Themen häuften, haben allerdings einige Besucher gefragt, ob wir nun nur

noch solche schwierigen Themen aufgrei fen würden.

Inwieweit gehen Sie darauf ein?

Tietmeyer Wichtig ist für uns, dass sich die Menschen im MEK wohlfühlen –dies ist sehr subjektiv, darum bieten wir unterschiedliche Themen und Formate an. Dazu zählen auch Ausstellungen, bei denen das Anfassen, ästhetischer Genuss und Leichtigkeit im Vordergrund stehen, aktuell zum Beispiel »All Hands On: Flechten«. Wir wollen für alle da sein. Gerade jetzt, wo in der Ukraine Krieg herrscht, wird deutlich, wie wichtig das ist. Häuser und Museen dort sind zerstört. Viele der geflüchteten Ukrainer, die unseren »Bewegungsmelder« oder die Fotoausstellung der ukrainischen Künstlerin Mila Teshaieva gesehen haben, waren froh, dass es in Berlin ein Museum gibt, das ihnen einen Zugang zu ihrer Kultur ermöglicht und auf ihr Schicksal hinweist. #WeStandWithUkraine: Das ist für mich eine Frage der Haltung.

Wittenzellner Immer wenn Museen zerstört werden, wird Erinnerung zerstört. Deshalb müssen wir als Institution – und Museen sind mächtige Institutionen – han deln, sichtbar sein, unsere Objekte zugäng lich machen und immer wieder in aktuelle Kontexte setzen.

Tietmeyer Wir versuchen, auf ak tuelle Situationen einzugehen, indem wir Sammlungsobjekte entsprechend kontextualisieren. Als die Krim 2014 von Russland annektiert wurde, haben wir ein Ausstellungsformat mit dem Titel »Bewe gungsmelder« entwickelt. Wir fühlten uns als öffentliche Institution dazu verpflichtet, auf diese Situation zu reagieren. Vor allem, weil die Krimtataren mehr als andere auf der Krim unter dieser Situation gelitten haben und dies heute noch tun. So haben wir in einer Vitrine darauf und auch auf das vergangene Schicksal der ethnischen Minderheit aufmerksam gemacht, wobei wir einige Objekte aus unserer Sammlung zeigten. Je nach aktuellen Vorkommnis sen aktivieren wir den »Bewegungsmel der« – so auch nach Kriegsausbruch vor über einem halben Jahr. Wir gingen auf den Krieg ein und stellten die Ukraine mit aussagekräftigen Objekten aus unserer Sammlung als Land historisch vielfältiger Kulturen vor. Für eine schnelle Reaktion auf aktuelle kulturelle und gesellschaft liche Ereignisse ist dieses Format sehr gut geeignet. Eine große Ausstellung »So ist In der ständigen Sammlungspräsentation »Kulturkontakte. Leben in Europa«

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Gefühle in Stein gemeißelt

Beim Eintritt in die Alte Nationalgalerie gilt jeder erste Blick den beiden marmornen Schwestern, Kronprinzessin Luise und Prinzessin Friederike von Preußen. Das heute zentral in der Skulp turenhalle aufgestellte Doppelstandbild ist ein Highlight der Alten Nationalgalerie und gleichzeitig das Hauptwerk des Bildhauers Johann Gottfried Schadow (1764–1850). Der zur Entstehungszeit erst 31-jährige Hofbildhauer hat sich mit diesem Werk in die Kunst geschichte eingeschrieben: Es ist nicht nur das erste Standbild zweier historischer Frauen in Lebensgröße, sondern es steht auch ikonisch für den Berliner Beitrag zum europäischen Klassizismus. Bis heute verbreitet sich das Bild der populären Prinzessinnen, vermarktet auf Taschen, Radiergummis oder Briefmarken. Besu cher*innen aus aller Welt zeigen sich berührt von dem Werk, foto grafieren sich damit und bewundern die Anmut und die lebensnahe Sinnlichkeit der beiden Schwestern.

Die Nationalgalerie besitzt nicht nur den weltweit größten musealen Bestand an skulpturalen Arbeiten des Bildhauers, sondern gleich zwei Originale der Prinzessinnengruppe: das Origi nalgipsmodell aus der Werkstatt Schadows sowie den ausgeführ ten Marmor, der lange Zeit im Berliner Stadtschloss stand. Nach dreijähriger Restaurierung des Modells werden nun – erstmals überhaupt – beide Originale der Prinzessinnengruppe gemeinsam zu sehen sein. Das vergleichende Sehen ermöglicht neue Perspek tiven und eröffnet neue Bewertungen der großen Kunstfertigkeit und Produktivität von Bildhauer und Werkstatt.

Schadow schuf mit seinem Standbild nicht nur ein Doppelpor trät von Luise und Friederike, ihm gelang es, in Haltung und Gestik ein einfühlsames Bildnis zweier einander zugetaner Schwestern

zu entwerfen. Blicke, Berührungen, Gesten und Gesichtsausdruck sind als Bildcodes feste Elemente von Freundschaftsbildern, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Einfluss gewannen. Die Ausstellung setzt die Prinzessinnengruppe erstmals in den Kontext internationaler Freundschaftsporträts. Vermittelt über den englischen Sentimentalismus erreichte in der Epoche der Empfindsamkeit die Kultivierung von Seelenverwandtschaft und Freundschaft auch in Deutschland einen Höhepunkt. So bot sich ebenso nachfolgenden Generationen im Freundschaftsporträt, im Verhandeln von Nähe und Eigenständigkeit, geschwisterlicher Verbundenheit und Konkurrenz, ein spannungsvolles Bildmotiv. Darüber hinaus geht die Ausstellung der Frage nach, was die besondere Formensprache Schadows ausmacht, woher das Motiv der beiden sich vertraulich umfassenden Schwestern stammt und wie sich Maler und Bildhauer bis heute mit diesem Werk auseinandergesetzt haben. Neue Erkenntnis zur Werkgenese und zur Werkstattpraxis Schadows, aber auch Neubewertungen seiner kunsttheoretischen Traktate sind Anlass genug für einen neuen Blick, eine aktuelle Retrospektive.

Die Ausstellung findet im gesamten dritten Obergeschoss der Alten Nationalgalerie statt und trägt in elf Themenräumen die bildhauerischen und grafischen Hauptwerke Schadows und seiner Zeitgenossen zusammen. Daneben finden sich bis in die Antike zurückreichende Arbeiten sowie moderne und zeitgenössische Werke. Zahlreiche internationale Leihgaben, darunter plastische Bildwerke, Gemälde und Grafiken, sowie kunsttheoretische Schrif ten Schadows geben Einblick in das umfangreiche Œuvre des unerschöpflich arbeitenden Bildhauers.

JOHANN GOTTFRIED SCHADOW war ein Star im Klassizismus, mit seiner Prinzessinnengruppe schuf er eine Ikone der Freundschaft. Über einen Bildhauer, der Realität und Ideal versöhnte
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Johann Gottfried Schadow, »Doppelstandbild der Prinzessinnen Luise und Friederike von Preußen«, 1795/97
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Um 1800 war Johann Gottfried Schadow der berühmteste Künstler Preußens. Der Bildhauer verstand es wie kaum ein anderer, die herausragende Stellung des Hofbildhauers mit unternehmeri schem Erfolg und einer soliden bürgerlichen Existenz zu verbinden und dabei ein internationales Netzwerk zu pflegen. Seine Werkstatt war von einer enormen Produktivität geprägt. Etwa 400 bild hauerische Werke und 2300 Zeichnungen von der Hand Schadows haben sich erhalten. Der Künstler selbst modellierte, zeichnete und schrieb kunsttheoretische Traktate und leitete gleichzeitig mit der Berliner Akademie eine der bedeutendsten Kunsthochschulen der Zeit. Seine herausragenden künstlerischen Fähigkeiten zogen eine Vielzahl von Schülern an, was ihm den Beinamen »Vater der Berli ner Bildhauerschule« einbrachte. Geprägt durch Aufklärung und wissenschaftlichen Entdeckergeist, von höfischer Treue und bür gerlichem Selbstbewusstsein, wird Schadow nicht allein in seiner Vielseitigkeit als Schöpfer der Quadriga auf dem Brandenburger Tor vor Augen geführt. Es ist vor allem die Eigenständigkeit der sehr persönlichen Formensprache, die Schadow nicht nur im Berlin seiner Zeit, sondern weit darüber hinaus bis heute eine Sonder stellung in der Kunstgeschichte verleiht. Wie kaum einem anderen gelang es ihm, Realität und Ideal, Natur und Antike zu vereinen und eine sehr eigenständige Position in der klassizistischen Bildhauerei zu erlangen. Diese zwischen den Polen changierende Formenspra che drückt sich wohl am klarsten in der Prinzessinnengruppe aus. Seinerzeit rief dies Kritiker und Bewunderer gleichermaßen auf den Plan: Monierten die einen die Figurengruppe als weder »ganz antik noch ganz modern«, feierten die anderen sie als »Göttinnen des

Publicums«. Gerade diese Ambivalenz in der bildhauerischen Ge staltung forderte zu immer neuen Auseinandersetzungen heraus und fasziniert bis in die Gegenwart. Das Doppelstandbild ebnet so auch heutigen Betrachter*innen den Zugang zu Schadows Werk und Wirken.

Ein umfangreiches Vermittlungsprogramm für Erwachsene, Familien und Kinder begleitet die Ausstellung. Darüber hinaus bietet der Katalog spannende Einblicke in das Restaurierungspro jekt sowie neue Quellenfunde. Er widmet sich vor allem dem Wirken Schadows über Berlin hinaus, beleuchtet dessen internationale Rezeption und verortet das Werk im europäischen Zusammenhang.

Berührende Formen

21. Oktober 2022 bis 19. Februar 2023

Alte Nationalgalerie smb.museum

Text YVETTE DESEYVE, Kuratorin für Skulptur und Plastik an der Alten Nationalgalerie Johann Gottfried Schadow, »Praxiteles«, »Phryne«, um 1811/17, »Satyr«, um 1800, »Achill«, 1786/87
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ASKETEN im Pergamonmuseum

Ab dem 16. Jahrhundert waren Darstellungen von Asketen an den Höfen der MogulKaiser und Dekkan-Sultane des indischen Subkontinents sehr beliebt. Durch die Gunst der Asketen, die von den großen Glaubensrichtungen und Ethnien verehrt wurden, er langten die muslimischen Herrscher religiöse Legitimität. Die Bilder in den illuminierten Manuskripten und Alben, die im Buchkunstkabinett präsentiert werden, bezeugen die reiche mystische Tradition. Im Fokus stehen vor allem die vielfältigen kulturellen Prakti ken der Asketen und ihre Machtstellung auf dem indischen Subkontinent. Asketen sind jedoch auch Schlüsselfiguren in illustrierten Liebesgeschichten, in denen sie als ideale Liebende gezeigt werden.

»Mystische Begegnungen. Sufis, Könige und Yogini in der indischen Miniaturmalerei«, bis 4. Dezember 2022, smb.museum

»Eine Yogini trifft einen Asketen«, Indien, 17. Jahrhundert

HEIRATEN im Museum Neukölln

Hat das Thema Hochzeit – noch oder wieder – eine HochZeit? Oder ist es museumsreif? Für die einen gehören die Ehe und die damit verbundene Hochzeit zum festen Bestandteil des Lebens; andere verwirklichen sich in einer alternativen Beziehungsform. Wie in einem Hochzeitsalbum bietet die Ausstellung mit Hunderten von Fotos tiefe Einbli cke in die Vielfalt und den Wandel der Hochzeit in Neukölln: vom ersten Kennenlernen bis zum goldenen Jubiläum; sie ben Neuköllner Ehepaare erzählen von ihren schönen oder skurrilen Hochzeitserlebnissen. Gerade in Neukölln hat sich zum Thema ein vielfältiger Dienstleistungssektor entwickelt. Diese Dienstleister sind Gäste an einer informativen Hoch zeitstafel zu Brautmode, Hochzeitskutsche, Ehevertrag und vielem mehr.

»Der schönste Tag. Hochzeit in Neukölln« 19. November 2022 bis 23. Mai 2023 museum-neukoelln.de

WERBEFOTOGRAFIE

in der Helmut Newton Stiftung

Helmut Newton nannte sich selbstironisch »a gun for hire« – so hieß auch die erste posthume Ausstellung seiner kommerziellen Fotogra fie im Jahr 2005. Die aktuelle Präsentation knüpft daran an und führt sie weiter, mit Aufnahmen, die in den 1980er- und 90er-Jahren für internationale Marken entstanden sind, vor allem in Monaco, Paris und Mailand. Über 200 Fotografien, darunter viele unbekannte Motive, sind zu sehen. Kontaktbögen, Polaroids, Look Books und Anzeigenmotive verweisen auf die unterschiedlichen Anwendungsweisen und Distribu tionswege in Newtons Werk.

»Helmut Newton. Brands«

3. Dezember 2022 bis 21. Mai 2023 helmut-newton-foundation.org

Eheringe von Hermann und Wilhelmine Wegener, 1889 Helmut Newton, Monica Bellucci, Bluemarine, Nizza, 1993
AUSSTELLUNGEN
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Gegen Gewalt und Heuchelei

Als Hofmaler porträtierte FRANCISCO DE GOYA den spanischen Adel. Das hielt ihn nicht davon ab, mit drastischen Bildern die Missstände im Land zu geißeln

Francisco de Goya, »Yo lo vi« (Ich sah es), Blatt 44 aus »Los desastres de la guerra«, 1810–20

Universelle Sprache. Der Autor träumt. Seine einzige Absicht ist es, schädliche Gemeinheiten auszurotten und mit diesem Werk der ›Launen‹ ein gesundes Zeugnis der Wahrheit zu verewigen.« Mit diesen Worten kommentierte Francisco de Goya das berühmt gewordene Blatt »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«. Er veröffentlichte es 1799 als Teil des Zyklus »Capri chos«, zu deutsch: Launen. Mit den insgesamt 80 Radierungen und Aquatinten wandte sich der Hofmaler erstmals an eine Klientel, die zu den Leidtragenden dieser »schädlichen Gemeinheiten« gehörte: das Volk. Unter dem Deckmantel des Träumers und mit scharfem Sinn für das Absurde geißelte er die sozialen Missstände seiner Zeit.

Zehn Jahre später nahm Goya die Arbeit an einer weiteren, 82 Blätter umfassenden Serie auf. Seit 1807 hielten napoleonische Truppen Spanien besetzt, die Gefechte zogen sich hin, die Bevöl kerung wehrte sich. Hungersnöte verschärften die Lage. Mit den »Desastres de la guerra« prangerte Goya in drastischen Bildern den Verlust der Vernunft und die ungebremste Gewalt an. Die Folge konnte erst 1863 erscheinen, 35 Jahre nach Goyas Tod.

Goyas Zyklen sind angesichts der jüngsten Entwicklungen bestürzend aktuell. Daher widmet sich die Ausstellung dem GoyaBestand der Sammlung Scharf-Gerstenberg. Zu sehen sind rund drei Dutzend originale Druckgrafiken sowie alle vier Druckzyklen des Künstlers, zu denen auch »La Tauromaquia« (1814–1816) und »Los Disparates« (1815–1824) gehören.

Da die Druckfolgen in gebundenen Büchern vorliegen, werden sämtliche Blätter der »Caprichos« und der »Desastres de la guerra« als Großprojektionen gezeigt. Sie führen die von An schauung getragene und mit Fantasie verbildlichte Zeugenschaft des Künstlers vor Augen: »Yo lo vi« (Ich sah es) betitelte er das 44. Blatt der »Desastres«.

Die Ausstellung entstand in Kooperation mit dem Bard College Berlin, das begleitende Veranstaltungen organisiert, in denen es auch um aktuelle Themen wie Grenzen, Flucht und Krieg geht.

Francisco de Goya,

Francisco de Goya,

Goya. Yo lo vi –Ich sah es –I Saw It bis 6. November 2022 Sammlung Scharf-Gerstenberg
»Lo que puede un sastre!« (Kleider machen Leute!), Blatt 52 aus »Los Caprichos«, 1799 (oben)
»Brabisimo!« (Bravissimo!), Blatt 38 aus »Los Caprichos«, 1799 51 4 / 22SAMMLUNG SCHARF-GERSTENBERG
Nah am Abgrund: Der Forscher Clive Oppenheimer reiste mit Werner Herzog für »Into the Inferno« (2016) zu den legendärsten Vulkanen. Am Rande eines Kraters entstand das Porträt

Extremfilmer

Er hungert mit seinem Hauptdarsteller, nimmt Tuchfühlung mit Grizzlys auf oder hypnotisiert Hühner. Für seine Filme geht WERNER HERZOG stets aufs Ganze

Eine apokalyptische Szenerie: Rauchschwaden ziehen am Himmel, die Erde bebt. In ungeheuren Eruptionen brechen sich Lavaströme Bahn, kriechen wie gewaltige Lindwürmer ins Tal. Eisschollen brechen auf. Wasserfälle stürzen herab. Quallen schweben wie schwerelos in der Tiefsee. Wir sehen undurchdring liche Dschungel, endlose Wüsten. Werner Herzog zeigt in seinen Filmen die Fragilität einer zu bewahrenden Schöpfung ebenso wie ihre zerstörerische Kraft. Er feiert Landschaften von paradiesi scher Schönheit in, wie er es nennt, »ungesehenen Bildern« und setzt ihnen Aufnahmen von Gewalt, Zerstörung und Tod entgegen. Herzog, der angibt, selbst nicht zu träumen, visualisiert Träume und Sehnsüchte, zeigt innere Landschaften, Seelenbilder. Eine 3-KanalVideoinstallation lässt das Publikum in diese Welten eintauchen, die über die Leinwand hinauszuwachsen scheinen und oft von klassi scher Musik untermalt sind.

Die Natur, das hat der Regisseur immer betont, ist dem Men schen gegenüber gleichgültig. Wir können sie betrachten, uns an ihr abarbeiten, aber sie nie wirklich bezwingen. Daher liebt Herzog die Kreisform, die sich als Kamerafahrt und Schwenk in vielen seiner Filme findet. Er inszeniert Zyklen, auf die Zerstörung folgt die Wiederauferstehung. Das wird besonders in seiner sogenannten Schöpfungstrilogie deutlich, bestehend aus der surrealen »Fata Morgana« (1971), den requiemartigen »Lektionen in Finsternis« (1992) und dem bisweilen skurril anmutenden »The Wild Blue Yonder« (2005). Wie aus der Perspektive von Außerirdischen blickt Herzog auf unseren Planeten, staunend und trauernd zugleich.

Die Spuren, die der Mensch hinterlässt, erhalten bei ihm eine kosmische Dimension. Eine »Wunderkammer« präsentiert in der Ausstellung Requisiten des Szenenbildners Henning von Gierke – wie stumme Zeugen menschlicher Kulturleistungen, auch als Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Ein Palmenblatt aus dem Dach von Fitzcarraldos Haus, der Pflock, mit dem Nosferatu ge pfählt wurde, das Essbesteck, das Kaspar Hauser zum Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft dressierte … Fake oder Wahrheit? Bei Herzog geht es um eine sogenannte ekstatische Wahrheit, die nicht an Fakten gebunden ist.

Dabei stellt er die Frage, was uns zum Menschen macht. Zivili siert oder deformiert uns die menschliche Gemeinschaft? Sind es Mut, Kraft, Neugier, Widerständigkeit oder Pflichtgefühl – oder ist es vielmehr die Suche nach Gemeinschaft, die uns auszeichnet? Herzog ist in seiner Zusammenarbeit mit Klaus Kinski vorgewor fen worden, er erzähle immer wieder dieselbe Heldengeschichte voller Heroismus und Hybris (»Aguirre«, 1972, »Fitzcarraldo«, 1982, »Cobra Verde«, 1987). Doch die Ausstellung zeigt auch Herzogs einfühlsame Porträts, wie »Land des Schweigens und der Dunkelheit« (1971) über die taubblinde Fini Straubinger, die sich um andere Menschen mit Handicap kümmert, oder den Spielfilm »Stroszek« (1977) mit dem Berliner Straßenmusiker Bruno S., der mit zwei Weggefährten in Amerika sein Glück sucht und dabei große Hoffnung und tiefe Aussichtslosigkeit durchlebt. In seinen Dokumentarfilmen begegnet der Regisseur seinen Protagonisten mit großer Neugier, er lässt Insassen von Todeszellen über das Leben nach dem Tod reflektieren (»On Death Row«) oder befragt Hirnforscherinnen und Neurologen in »Theatre of Thought« (2022) zu menschlichen Wahrnehmungen. Wie gehen wir mit Schuld um? Wie inszenieren wir unser Leben? Bei Herzog geht es um die großen Fragen. Er lotet die Grenzgebiete zwischen Wildnis und Zivilisation aus, um so etwas über die Conditio humana zu erfahren. Doch Werner Herzog ist nicht unumstritten. Er fordert sein Publikum immer wieder heraus, er polarisiert. Seine Karriere ist begleitet von kontroversen Debatten, bei denen die Meinungen weit auseinandergehen. Die Diskussionen betreffen Inhalt und Ästhetik seiner Filme, aber auch deren Entstehungsbedingungen. Wie viel Manipulation ist im Dokumentarfilm erlaubt? Kann eine Inszenierung tatsächlich »wahrer« sein als eine Dokumentation? Um welche Wirkung geht es Werner Herzog in seinen Filmen – um Schock, Aufklärung oder die Möglichkeit zur Trauer? Welche Rolle spielen die Machtverhältnisse zwischen Einheimischen und Film team bei Dreharbeiten außerhalb Europas? Ist dort ein Miteinander auf Augenhöhe überhaupt möglich? Zu fünf Fragestellungen haben wir Personen aus verschiedenen Berufsgruppen, Generationen und Kulturen um Stellungnahmen gebeten. Wie wurden Herzogs

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Filme bei der Premiere wahrgenommen, wie erleben wir sie heute? Wie können wir die Herausforderungen und Diskurse, die sich aus ihnen ergeben, produktiv machen? Verschiedene Sichtweisen auf das Werk werden deutlich, beleuchten Herzog als Person und als Medienphänomen.

In der Öffentlichkeit wird Herzog vielfach wahrgenommen als einer, der auszog, ein Schiff über den Berg zu ziehen, der im Ange sicht von Vulkanausbrüchen oder Grizzlybären nicht die Fassung verliert, der, selbst als er vor laufender Kamera bei einem Inter view angeschossen wird, noch die Ruhe bewahrt. Abenteurer oder Forscher? Herzog hat die erste Zuschreibung immer abgelehnt. Er würde nur mit kalkulierten Risiken arbeiten, und das stets profes sionell. Die Schauspielerin Nicole Kidman sagt im Dokumentarfilm »Radical Dreamer«, der im Oktober in die Kinos kommt: Nach den Erfahrungen bei »Queen of the Desert« (2015) in der Sahara würde sie mit Herzog überall drehen, er habe ihr jede Angst genom men. Als Christian Bale für seine Rolle in »Rescue Dawn« (2006) unter ärztlicher Aufsicht 65 Kilogramm abnahm, fastete Herzog in dieser Zeit aus Solidarität mit. »Film muss physisch sein«, ist sein Credo, und tatsächlich zeigen ihn viele Werkfotos beim körper lichen Einsatz. Er spielt Szenen vor, ist am Set sehr präsent. Der Comiczeichner Reinhard Kleist hat die großen HerzogMythen für uns in Bilder gefasst und hinterfragt diese zugleich: Herzog und Kinski – wer hält wen im Würgegriff und profitiert von der medialen Resonanz am meisten? Herzog und der Grizzlybär: Welcher Gefahr setzte sich Herzog aus? Herzog als Hypnotiseur, als Mann, der nach verlorener Wette vor Publikum seinen Schuh isst. Mythen und Legenden formen Herzogs Persona. Bei der jungen Generation hat er durch seine unangepasste Haltung längst Kult status erlangt. Von keinem anderen Regisseur existieren so viele Persiflagen in den sozialen Medien, er trat bei den »Simpsons« auf, Joko und Klaas haben ihn imitiert. Was soll da noch kommen?

Über siebzig Spiel- und Dokumentarfilme hat Werner Herzog in den letzten 55 Jahren gedreht. Er kann sicher als einer der einflussreichsten deutschen Regisseure seiner Generation be trachtet werden. Er könnte sich also zurücklehnen, doch Herzog ist nach wie vor produktiv. In diesem Jahr erscheinen zwei neue Filme, »Theatre of Thought« und »Fire Within«, die im Oktober im Rahmen der Ausstellung aufgeführt werden, er ist als Schauspieler zu erleben – zuletzt sorgte seine Rolle als Schurke in der Star-WarsSerie »The Mandalorian« (2019–20) für Aufregung – und Herzog tritt zunehmend auch als Autor in Erscheinung. Schon früh schrieb er Gedichte und seine »Filmerzählungen«. Es folgten Tagebücher wie »Vom Gehen im Eis« (1978) oder »Die Eroberung des Nutzlo sen« (2004). Im letzten Jahr veröffentlichte Herzog seinen ersten Roman »Vom Dämmern der Welt«, nun folgen seine Lebenserinne rungen »Jeder für sich und Gott gegen alle«. Die Ausstellung stellt außerdem den Leser Herzog vor, der über »Pu der Bär« genauso ins Schwärmen gerät wie über die neueste Übersetzung von Flau bert. Und sie zeigt Herzog als Lehrenden, der seine eigene Rogue Film School gegründet hat sowie regelmäßig Workshops gibt. Die Oscar-Preisträgerin Chloë Zhao und der Regisseur Joshua Oppen heimer berichten, wie Herzog sie unterstützt und inspiriert hat. Sein Werk bleibt weiterhin Herausforderung und Ansporn zugleich.

Die Ausstellung, die erstmals umfassend das Werner-HerzogArchiv der Deutschen Kinemathek auswertet, wird von einem zwei sprachigen Audioguide (App) begleitet, in dem Herzog sowie seine wichtigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Wort kommen. Der viersprachige Katalog enthält ein umfangreiches Interview, über hundert exklusive Fotos, die Comiczeichnungen von Reinhard Kleist, Faksimiles ausgewählter Exponate sowie ein »Herzog-ABC« zu allen Fragen über Leben und Werk.

Werner Herzog bis 27. März 2023

Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen deutsche-kinemathek.de

Werner Herzog bei den Dreharbeiten zu »Fitzcarraldo«, 1982
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ANTIKE TONFIGUREN im Alten Museum

Über Jahrhunderte hinweg wurden im antiken Griechenland und darüber hinaus Terrakottafiguren hergestellt. Der Forschung galten sie lange als billige Massen ware ohne große Bedeutung. Dabei wirken die farbenfroh gefassten Figuren fast wie aus dem Leben gegriffen. Heute ist klar, dass sie im antiken Alltag eine wichtige Funktion erfüllten. Die unterschiedlichsten Themen wurden in Ton gebannt – von mythischen Gestalten bis zum Akt des Brotbackens. Die Terrakotten fanden sich in vielen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens: im Haushalt, im Heilig tum oder im Grab. Exemplarisch stellt die Ausstellung die Kontexte vor, in denen die Tonfiguren Verwendung fanden, und beleuchtet Fragen nach der Herstellung und Rezeption dieses »Massenmediums« der Antike.

»Klasse und Masse. Die Welt griechischer Tonfiguren«

7. Oktober 2022 bis 2. Juli 2023, smb.museum

RUTH WOLFREHFELDT im Kupferstichkabinett

Ruth Wolf-Rehfeldt erhält den diesjährigen Hannah-Höch-Preis. Ihr um fangreiches Œuvre umfasst Gemälde, Zeichnungen und Schreibmaschinen grafiken. Mit ihren Typewritings, die die Nähe zur visuellen und konkreten Poesie suchten und sich in den 1980er-Jahren zu Collagen erweiterten, partizipierte die Künstlerin am Mail-Art-Programm der DDR. Ihre bis heute hochaktuellen Arbeiten befassen sich mit dem Wandel der Kommunika tionsmedien, globaler Kommunikation und dem Wert von Informationen. Sie treten in einen Dialog mit Collagen von Hannah Höch und anderen artver wandten Arbeiten.

»Hannah-Höch-Preis 2022. Ruth Wolf-Rehfeldt«

2. November 2022 bis 5. Februar 2023, smb.museum

JAPANISCHE LANDSCHAFTEN im Humboldt Forum

Wie wird ein Berg zum Nationalsymbol und welche Rolle spielt dabei die Reproduktionsgrafik? Warum gilt ein in traditionellen Farben ausgeführtes, aber westlich gerahmtes Bild eines nebelverhangenen Tales als typisch japanisch? Landschaftsdarstellungen sind selten nur ein Abbild der Natur. Häufig sind sie frei erfunden oder reflektieren im spezifischen Blick winkel, gewählten Ausschnitt oder Stil eine subjek tive Sicht. Sie vermitteln Emotionen, Erinnerungen oder Vorstellungen von der sozialen, politischen und ökonomischen Ordnung der Welt. Die Präsentation in der Dauerausstellung schaut mit frischem Blick auf bekannte Landschaftsdarstellungen aus Japan und hinterfragt ihre Einordnung in nationale Kunst geschichten.

»Ambivalente Landschaften in visuellen Kulturen Japans«, bis 5. Dezember 2022 humboldtforum.org

Figürliches Salbgefäß mit Darstellung des Erosknaben, 400–350 v. Chr. Katsushika Hokusai, »Fuji bei aufklarender Brise«, ca. 1831 Ruth Wolf-Rehfeldt, »Flächenüberschneidung verschiedene Elemente (unregelmäßig)«, 1980–84
AUSSTELLUNGEN
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Zu Hilfe!

In ihrem performativen Sanatorium inszeniert

LEILA HEKMAT eine surreale Sittenkomödie

über die obsessive Suche nach Heilung

Ich muss diese Erfahrung noch einmal durchleben, weil ich glaube, dass ich Ihnen dadurch von Nutzen sein kann, ebenso wie ich glaube, dass Sie mir auf meiner Reise über diese Schwelle von Hilfe sein können, indem Sie mich bei klarem Verstand halten und mir ermöglichen, die Maske, die mein Schutzschild gegen die Feindseligkeit des Konformismus sein wird, nach Belieben auf- und abzusetzen.« Mit diesen Worten leitet die surrealistische Künstlerin Leonora Carrington in ihren Memoiren »Down Below« die Erinne rung an ihren Aufenthalt im Sanatorium in Santander, Spanien, ein. Sie bietet ihre Erfahrungen als Direktive und die gemeinsame Auf arbeitung ihrer Leiden durch Leser*in und Autorin als eine instruk tive Reise an, wie man sich zum Kosmos hin befreien, »den Krieg beenden und die Welt erlösen kann, die wie ich ›eingeklemmt‹ war«. Als Guide, als (un)zuverlässiger Kompass lädt Carrington ein, ihr an den Ort zu folgen, an dem sich die Grenzen zwischen Körper und Wesen auflösen – das »Down Below«. Eingesperrt in ein Sanatorium voller Nonnen, mit Cardiazol vollgepumpt, nackt an ein Bett gefesselt und mit ihren Visionen alleingelassen, ähnelte Carringtons Reise zur »Genesung« der vieler widerstrebender und oft weiblicher Subjekte. Es scheint, die erste Aufgabe der Institutio nen war es, das, was nicht passte, zu zähmen, das Widerspenstige zu kultivieren und das Reuelose wegzusperren.

Willkommen im »Hospital Hekmat«, einer Einrichtung, die die Heilung einer Krankheit sucht, die keiner Behandlung bedarf. In der Ausstellung der amerikanischen Künstlerin Leila Hekmat im Haus am Waldsee findet eine nicht unähnliche Verbindung zwischen Besucher*innen und Protagonist*innen statt. Nimmt man die

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verführerische Einladung an, Teil dieses surrealistischen Theaters zu werden, das sich innerhalb der Grenzen des Hospitals entfaltet – die alchemistische Ehe von Geist und Körper, von Heilerin und Patientin, Gefangener und Wärterin, Erzählerin und Publikum –, und springt furchtlos in den eigens vorbereiteten Kessel, löst sich in einem Feuerwerk von Zischlauten auf, erwartet einen Heilung. Oder etwa doch nicht?

In ihrer Sittenkomödie »Female Remedy« verwandelt Leila Hekmat das Haus am Waldsee in das »Hospital Hekmat«. Archi tektonisch gleicht das Gebäude vielen (psychischen) Heilanstalten, wie sie um die Jahrhundertwende in ehemaligen Villen und Herren häusern entstanden. Die Besucher*innen werden nach und nach durch spezialisierte Behandlungsräume geführt, die unter anderem als Krankenzimmer, Operationssaal und Kapelle ausgestattet sind, und begegnen dabei einer Gruppe wundersamer, kranker Frauen sowie deren spirituellen Heilerinnen. Hekmat hat aus ihren früheren Stücken und Performances ein kurioses Figurenensemble herauf beschworen, das das »Hospital Hekmat« bevölkert. Schnell wird klar,

dass der einzige Zweck der Institution darin besteht, durch Komö die und absurde Possen bereits existierende Insolenzen zu stärken und das vernunftswidrige Innenleben der Patientinnen zu fördern. »Hospital Hekmat« ist ein Heilungsort für die reuelose Frau. Mit ihrer Ankunft in Berlin vor etwa zehn Jahren begann Leila Hekmat eine Karriere als Schauspielerin und Performance-Künst lerin. Ihre künstlerische Praxis setzt sich kritisch mit den gesell schaftlichen Erwartungen an Frauen auseinander und untergräbt vermeintliche Konventionen von Gender und Sexualität. In der Tradi tion des absurden Theaters und der Commedia dell’Arte entwickelt sie kollaborative Performances, die sich am darstellerischen Spek trum von Fernsehen und Kino über Opera buffa, barocke Kirchen musik bis hin zu Musiktheater und Varieté bedienen. Im Laufe der Jahre wurden Hekmats Inszenierungen immer anspruchsvoller und oft mit großen Besetzungen aufgeführt. Die Skripte, die aufwendig handgefertigten Kostüme und Bühnenbilder manifestieren einen größeren Werkkomplex, in dem Skulptur, Collage, Film und Installa tion zusammenkommen, um die Performances über den Moment ihrer Aufführung hinaus zu bewahren. Hekmats Herangehensweise an das Performative zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie die politischen Dimensionen ihrer Arbeit weniger didaktisch als viel mehr strukturell und physisch für das Publikum erfahrbar macht.

»Female Remedy« steht als Gesamtwerk in der feministischen Tradition seiner surrealistischen Vorgänger, als Satire, die die irrationalen Kräfte der Psyche als Portale zur Selbstfindung aus schöpft. Die Obsession von Heilung wird zu einem gemeinsamen Ringen der Patientinnen und der Krankenschwestern – so verlieben sich allesamt ineinander und leiden doch schon bald an densel ben deliriösen Krankheiten. Durch kryptische Gesten, fulminante Kostüme und unkonventionelle Verhaltenskodizes kreieren die Charaktere eine neue psychische und sexuelle Sprache, die das Ex zentrische, die Schwächen und das Versagen der Patientinnen nicht vertuscht, sondern offen zur Schau stellt und als neuen Zugang zur Suche nach Selbsterkenntnis propagiert.

Was geheilt werden soll, bleibt unklar. Handelt es sich – aus gehend vom Ausstellungstitel – um eindeutig feminine Leiden oder ist das Weibliche selbst die Krankheit, die geheilt werden soll? Die abwegigen Versuche zu heilen, was nicht geheilt werden kann und vielleicht auch nicht geheilt werden sollte, machen sich einerseits über die oft ebenso absurden Behandlungsmethoden lustig, die an realen Hospitälern angewandt werden, und sind andererseits eine offene Rebellion gegen die Ideologie von Wellness, Selbstver besserung und Konformismus im Namen der Gesundheit. Hekmat verwischt im Haus am Waldsee die Trennung zwischen Kunst und Museum. Diese Transformation zwingt uns, unsere Einstellung zu Institutionen zu überdenken, und provoziert die Frage, was wir für unseren Umgang mit Institutionen lernen können – Institutionen, die wir erben oder neu erschaffen – und welche Muster wir in diesen Prozessen reproduzieren wollen.

Text ANNA GRITZ, Direktorin des Hauses am Waldsee

Leila Hekmat. Female Remedy

bis 8. Januar 2023

Haus am Waldsee hausmawaldsee.de

Leila Hekmat »Il Matrimonio di Immacolata«, 2021 »Crocopazzo!«, 2020 »Triple Curly«, 2020 (vorherige Seite)
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WOLF VOSTELL UND BORIS LURIE im Kunsthaus Dahlem

Zwei Künstler, ein Thema – als Wolf Vostell und Boris Lurie sich Mitte der 1960er-Jahre kennenlernten, verband sie bald mehr als eine tief empfundene Freundschaft. Beide bezogen mit ihrer Kunst politisch Stellung, beide be schäftigten sich mit der Aufarbeitung der Schrecken des Holocaust, beide traten Krieg und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit aller Kraft entgegen. Ihre rauen Arbeiten widersetzen sich einer einfachen Konsumierbarkeit, die bei den als ein Gräuel des Kunstbetriebs erschien. Heute wirken die Werke der Künstler aktueller denn je, setzen sie doch auf eine Art Schocktherapie, mit der sie das Publikum auf die Kontinuität von Gewalt und Menschenverachtung aufmerk sam machen.

»Kunst nach der Shoah. Wolf Vostell im Dialog mit Boris Lurie«, bis 30. Oktober 2022 kunsthaus-dahlem.de

LOREDANA NEMES in der Kommunalen Galerie

Die Serie »beautiful« von Loredana Nemes ist eine fotografische Reise nach Rumänien, in das Land ihrer Kindheit. Zwischen 2002 und 2013 kehrte die Künstlerin jährlich nach Sibiu, ihre Geburtsstadt, zurück – auf der Suche nach der Erinnerung, immer jedoch mit Blick auf die veränderte Gegenwart. Es sind leise Bilder, die den unspek takulären Alltag festhalten. Die hügelige Landschaft Siebenbürgens und marode Hinterhoflandschaften ergänzen das Porträt der Stadt. Loredana Nemes zeigt uns die Bewohner ihrer Heimat mit großer Zu neigung. Begleitet werden die Bilder von poetischen Texten, in denen Nemes ihre Erinnerungen an Kindheit und Flucht aus dem sozialisti schen Rumänien thematisiert. »beautiful. Fotografien und poetische Texte von Loredana Nemes«, bis 23. Oktober 2022 kommunalegalerie-berlin.de

DIE ROTE KAPELLE in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Der Berliner Widerstand gegen den Nationalsozialismus verstärkte im Jahr 1942 noch einmal seine Aktivitäten. Doch im Herbst 1942 gelang der Sonderkommission »Rote Kapelle« der Geheimen Staatspolizei die Festnahme von mehr als 120 Menschen. 49 von ihnen wurden vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt, andere ohne jedes Verfahren ermordet. Als Künstler und Sohn eines Überlebenden fand Stefan Roloff einen persönlichen Zugang zu elf Beteiligten des Geschehens. Seit 1998 begleitete er sie zumeist über einen längeren Zeitraum mit der Kamera und ließ sich ihre Sichtweisen schildern. Seine Video installation wird ergänzt durch eine Dokumentation, die exemplarisch zeigt, wie vielfältig die Lebenswege jener Menschen waren, die sich in den Berliner Widerstandskreisen zusammen gefunden hatten.

»Stefan Roloff: Zeitzeugnisse – Überlebende der Roten Kapelle sprechen« bis 4. Dezember 2022, gdw-berlin.de

Ausstellungsansicht Loredana Nemes, Jungen beim Kartenspiel, 2004 aus der Serie »beautiful« 2002–13 Boris Lurie, »Big NO Painting«, 1963
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