Auszüge aus dem Museumsjournal 2/2022

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Ausstellungen in Berlin und Potsdam

2/22 APRIL MAI JUNI

ARIADNE Eine Statue wird befragt ARCHÄOLOGIE

200 Jahre Schliemann ABSTRAKT

8,50 €

,661

Bildsprache der Moderne nach 1945


INHALT

SAMURAI MUSEUM

Toyohara Kunichika, »Wenn die Großen und Mächtigen wetteifern«, 1868

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PANORAMA 10

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Schwerter und Masken in Mitte

Tagesreise Hamburg

Wie das Samurai-Museum eine prominente Lücke füllt

Vor der Rückgabe: Das Museum am Rothenbaum stellt seine Benin-Bronzen aus

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Anna Gritz

Reparatur als Kulturtechnik

Das Haus am Waldsee hat eine neue Direktorin 15

Ein Museum für George Grosz ANNA GRITZ FÄNGT AN

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Kulturevents im Frühjahr

Interview mit dem Leiter der Berlin Biennale Kader Attia 20

Kolumne Grün oder nur grün hinter den Ohren?

Bücher Was jetzt auf dem Tisch liegt


DISKURS

FOKUS

Orte im Wandel

200 Jahre Schliemann

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Viel Platz, wenig Freiraum Wie der jüngste Berliner Kunsthallenstreit Licht auf die Nutzung von Großbauten wirft

COVER ARIADNE ANTWORTET S. 86

Auf den Spuren Homers Zum 200. Geburtstag des Unternehmers, polyglotten Forschers und großen Archäologen Heinrich Schliemann 34

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Was passiert? Im ICC, im Mäusebunker, im Haus der Statistik, im Minsk

Odysseus als Lotse Wie Schliemann zur Archäologe kam 38

Gipsabguss einer Statue der schlafenden Ariadne

Von Neubukow bis Athen In diesem Jahr ist Schliemann überall

HEINRICH SCHLIEMANN

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Das ICC während des Festivals »The Sun Machine Is Coming Down«

WAS PASSIERT HIER?

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TAGESREISE HAMBURG

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Museum am Rothenbaum: Holzschachtel in Form eines Welses, Königreich Benin, 19. Jahrhundert

Heinrich Schliemann um 1877

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AUSSTELLUNGEN 42

Fragiler Mikrokosmos Rückblick auf den Mythos Beirut im Gropius Bau 46

Vom Wesen der Räume Das Museum für Fotografie im Dialog mit Candida Höfer CANDIDA HÖFER

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Keine fertige Kunst

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Der Surrealismus des André Thomkins in der Sammlung Scharf-Gerstenberg

Candida Höfer, Beinecke Rare Book and Manuscript Library New Haven CT I 2002

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Unter Druck Das Kupferstichkabinett feiert den Holzschnitt 58

Fotografie als Rohmaterial Dayanita Singh sprengt ihre Grenzen im Gropius Bau 60

Aufgeblättert! Die Neue Nationalgalerie würdigt Gerhard Richter zum 90. Geburtstag – und seine Bücher 62 Erich Dieckmann, Drei Stühle, 1925–35

Nachhaltig nützlich

ERICH DIECKMANN

Der Designer Erich Dieckmann wird vom Kunstgewerbemuseum wiederentdeckt

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Hollywood in der Helmut Newton Stiftung

Lokomotiven im Deutschen Technikmuseum

David Hockney in der Gemäldegalerie

HANS UHLMANN

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Der deutscheste Geist? Im Deutschen Historischen Museum nähert man sich Richard Wagner Hans Uhlmann, ohne Titel, 1952

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INHALT

FLUXUS

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Koelbl sieht Merkel

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im Deutschen Historischen Museum

EINBLICKE 84

Instant-Kunst Warum immersive Ausstellungen so populär sind

Druckgrafik in der Liebermann-Villa am Wannsee

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Bieke Depoorter

Interview mit einer Skulptur

bei C/O Berlin 66

Fragen an die Berliner Ariadne in der Abguss-Sammlung Antiker Plastik

Der Selfmade-Gelehrte Das Jüdische Museum erklärt das Denken Moses Mendelssohns

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Auf dem Holzweg

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Jüdische Erfahrung

Ein Spaziergang über Berlins älteste Straße

im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung

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Wachsporträts im Bode-Museum

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George Maciunas, »Yoko Ono Mask«, 1970

Rudolf Dörrier

Ich fühl mich Brandenburg Preußische Geschichte, neu erzählt

im Museum Pankow 69

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Am Ende steht das Wort

7 Sachen aus den Museumsshops

Wie Barbara Kruger die Neue Nationalgalerie beschriftet

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Umgedreht

Zeichnen, um zu überleben

Ein Bild von Jeanne Mammen im Stadtmuseum

Das Kunsthaus Dahlem öffnet die Tagebücher von Hans Uhlmann

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Bildnachweis

Kunst in der Gemeinschaft

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Über das Jahr 1910 im Brücke-Museum

Vorschau

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Niemand weiß, was es ist

Impressum

Fluxus fluxt im Gutshaus Steglitz

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Ausstellungskalender

Ganz formlos Das Museum Barberini feiert die Abstraktion 80

DIE BRÜCKE

Nicht allzu heiter Wie das PalaisPopulaire die Oper inszeniert

Ernst Ludwig Kirchner, »Artistin«, 1910

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PANORAMA



Weg des Samurai Zen-Buddhismus, Teekultur und Schwertkampf: Wie ein Privatsammler JAPANISCHE GESCHICHTE nach Berlin-Mitte bringt

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Eine Rüstung des Katō-Clans aus der späten Edo-Zeit Utagawa Hirokage, Große Schlacht zwischen den Truppen der Fische und des Gemüses, 1859 (vorherige Seite)

anch einen mag der Auszug der Sammlung Olbricht aus der Auguststraße, der Galerienmeile in Berlin-Mitte, wehmütig gestimmt haben. Doch unerwarteter Trost naht: Ab 8. Mai wird das Gebäude als Samurai Museum in neuem Glanz erstrahlen. Davon konnten wir uns während eines Rundgangs mit Sammler Peter Janssen, Museumsdirektor Alexander Jöchl und Kuratorin Martyna Lesniewska überzeugen. Der Unternehmer Peter Janssen kam über einen japanischen Freund zum Karate und trainierte bis zum schwarzen Gürtel (Erster Dan). Bald erwuchs aus der sportlichen Leidenschaft ein weitergehendes Interesse an japanischer Kunst und Kultur. Alles begann mit einem Samurai-Schwert, das Janssen 1981 für 1500 Mark auf dem Flohmarkt an der Straße des 17. Juni erwarb. Es wurde zum ersten Stück in einer der größten Privatsammlungen originaler Samurai-Artefakte weltweit. Nach Berlin-Zehlendorf, wo sich das 2017 gegründete Privatmuseum bis dato befand, reisten Sammler aus der ganzen Welt. Eine so hochkarätige Sammlung basiert auf Beziehungen, betont Janssen, der sein Vermögen als Projektentwickler für unterschiedliche Seniorenbetreuungsformen verdiente. Die stetig wachsende Kollektion hatte er im Untergeschoss eines seiner Objekte untergebracht. An drei Tagen in der Woche kamen jeweils etwa


PANORAMA 50 Besucher. Bald erwiesen sich die Räume jedoch als zu klein, denn der Sammler hat noch nie auch nur ein Stück verkauft. Inzwischen nennt Janssen an die 4000 Artefakte sein Eigen, die ältesten aus dem 6. Jahrhundert, besonders prachtvolle stammen aus der Edo-Zeit. Diese Phase von 1603 bis 1868 steht für Wohlstand, kulturelle und soziale Entwicklungen. Sie ist nach dem Regierungssitz der Dynastie der Tokugawa in der Burg in Edo, dem heutigen Tokio, benannt. Nachdem für den neuen Standort ein Mietvertrag über dreißig Jahre gesichert war, begannen vor zwei Jahren die Planungen für ein hochmodernes, die Sammlung adäquat präsentierendes Museum. Janssen scherzt, es sei die beste Entschuldigung gewesen, noch mehr einzukaufen. Vor allem aber wollte er dem Schicksal vieler Sammler entgehen, deren Besitz an die Person gebunden bleibt, weil sie nichts in der Gesellschaft verankert und sie auch nichts an diese zurückgeben. Janssen sammelte zunächst in Berlin, dann deutschlandweit und schließlich auf der ganzen Welt. Nach Japan, nach wie vor die ergiebigste Quelle, reist er jedes Jahr. Früher wurde dort vieles weitgehend ungeregelt verkauft, erklärt er. In den 1970erJahren setzte eine große Rückkaufwelle ein. Heute gibt es eine Liste von japanischen Kulturgütern mit nationalem Ausfuhrverbot, die ansonsten benötigte Exportgenehmigung limitiert den Wert pro Ausfuhr auf 200.000 Yen (1600 Euro). Beim Sammeln half Peter Janssen der Mythos, der den Samurai in der asiatischen und westlichen Popkultur anhaftet. Filme von Akira Kurosawa und Masaki Kobayashi zeigen die Samurai zwar als tragische Figuren. Doch Blockbuster wie die Fernsehserie »Shogun« von Richard Chamberlain, der Historienfilm »Der letzte Samurai« mit Tom Cruise, zahlreiche Mangas und Anime belebten den Kult immer wieder positiv – bis in die Games-Szene und viele andere Bereiche hinein. Die Samurai wurden mit der Entstehung der Militäraristokratie im 12. Jahrhundert zur regierenden Kaste und prägten das japanische Volk als Lehrer und Mäzene. Erst nach Öffnung des Landes, im Zuge der sogenannten Meiji-Restauration vor 154 Jahren, trat die japanische Kultur auf die europäische Bühne. Auf die Impressionisten beispielsweise hatte sie deutlichen Einfluss. Das Team um Sammler Janssen zielt mit dem neuen Museum auf die komplexe Welt der Samurai in Gänze ab. Es gilt, das Klischee einer immerwähren-

den Grausamkeit, die auf absolutem Gehorsam beruhe, zu durchbrechen. Deshalb geht es auch um japanische Geschichte, Philosophie, die Welt des Zen-Buddhismus und die Teekultur. Folgerichtig sind die mehr als vierzig Rüstungen, 200 Helme, 150 Masken, 160 Schwerter und jede Menge Schwertschmuck längst nicht die einzigen Objekte – auch wenn Janssen einräumt, dass seine liebsten Exponate aus der Phase der Bürgerkriege stammen. Spitzenstücke der Sammlung sind drei Samurai-Rüstungen des Kato-Clans, Familien des japanischen Schwertadels (Buke) aus der Provinz Mino. Die prächtig gewandeten Krieger reiten einem auf japanischen Pferden – von einem Brandenburger Spezialisten zum Stückpreis von 15.000 Euro lebensecht präpariert – entgegen. Sofort fällt auf, wie klein die Männer waren. Ein Samurai maß circa 1,55 Meter, seine Rüstung wog beachtliche 25 Kilo. Allein der Helm erforderte eine trainierte Nackenmuskulatur, manch einer war sogar mit italienischem Glas verziert. Viele Schmiede konnten nicht schreiben, daher sind die Signaturen auf den Schwertern von immenser Bedeutung, die von ihrer Herkunft künden sollten. Niedere japanische Krieger zogen übrigens weit weniger geschützt in den Kampf. Wer kein Waffennarr ist, für den hat ein überwiegend aus Originalteilen bestehendes Nō-Theater von 1700/1800 das Zeug zum Star der Ausstellung. Auch hochgestellte Samurai waren mitunter Darsteller. Stück für Stück in Japan auseinandergenommen und für den Ausstellungsraum geringfügig adaptiert, wurde das Theater in Berlin von Handwerkern aus Japan wieder zusammengesetzt. Im Hintergrund ist – wie in jedem Nō-Theater – eine Kiefer zu sehen. In dieser Kulisse werden zu festen Zeiten auf eine Gazewand authentische, in Japan aufgezeichnete Stücke projiziert. Die wenigsten wissen, dass Kabuki, das traditionelle Theater der Edo-Zeit, ursprünglich von einer Frau entwickelt wurde. Das Auftrittsverbot für Frauen kam erst später auf. Nicht weniger faszinierend ist ein dem historischen Vorbild detailgetreu nachempfundenes Teehaus. Als Geste der Demut durfte man es nur gebückt und ohne Waffen durch eine niedrige Seitentür betreten. Die obligatorische Ziernische ist mit einer minimalistischen Blumenvase bewusst geschmückt. Hier kann das Publikum eine originale Teezeremonie als Projektion erleben. Die Ausstattung des Museums folgt einer größtmöglichen Authentizität, unterstützt von einer zeitgemäßen, von Ars

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Electronica Solutions entwickelten Technologie. Screens etwa, die wie eine japanische Schiebetür inszeniert sind, visualisieren Fächer, hinter denen sich die ganze Welt der japanischen Kunstgeschichte verbirgt. Neben einem Raum für Schwertschmuck ist eine Klingenwerkstatt eingerichtet, in der vor den Augen des Publikums Schwerter geschmiedet und geschärft werden. Über dem Hauptausstellungsraum ist rundherum eine Galerie eingezogen. Der Rundgang auf zwei Ebenen ermöglicht vielseitige, auch unerwartete Perspektiven. Die Holzschindeln des Theaterdachs zum Beispiel könnte man fast berühren. Sämtliche Ausstellungstexte sind in einfacher Sprache verfasst, gut lesbar und digital präsentiert, sodass sie jederzeit aktuell sind, inklusive der englischen Fassung. Ein klares Farbkonzept erleichtert die Orientierung. Der Raum für Sonderausstellungen ist für alle Genres offen gestaltet. Etwa jedes halbe Jahr wechseln die Präsentationen zeitgenössischer Kunst, den Auftakt macht »Samurai – Rüstung und Kunst« der polnischen Fotografin Sylwia Makris. Die Serie lebt davon, dass zwischen der Entstehung der Rüstungen und ihrer fotografischen Inszenierung ­500 Jahre liegen. Am alten Standort führte Peter Janssen zeitweise selbst durch seine Sammlung. Etwa 3000 Objekte verbleiben in Dahlem, als Recherchezentrum steht er weiterhin der Forschung offen. In Berlin-Mitte wird dafür das Vermittlungsprogramm erheblich erweitert. So werden im Nō-Theater Veranstaltungen stattfinden, sogar ein japanisches Filmfestival ist angedacht, eine mobile Web-App zeigt erweiterte Inhalte. Kinder begleitet das digitale Maskottchen Kitsune durch die Ausstellung. Am Ende des Rundgangs wird der kleine Fuchs zum Drachen und entlässt sicher nicht nur die Kleinen beflügelt. Text GABRIELE MIKETTA

Katana-Montierung mit brauner Wicklung, späte Edo-Zeit

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Außerhalb der üblichen Kunstblase Mit ANNA GRITZ bekommt das Haus am Waldsee eine neue Direktorin. Neben der Kunst will sie auch deren Produzenten stärker einbinden und die Villa an der Berliner Peripherie endlich vom Garten her denken

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or einigen Monaten schien die Zukunft des Ausstellungshauses im Berliner Süden wenig vielversprechend. Katja Blomberg hatte nach 16 Jahren Leitung das Haus am Waldsee überraschend verlassen, acht Monate vor dem regulären Ende ihrer Amtszeit. Die Differenzen zwischen dem seit Sommer 2020 amtierenden neuen Vorstand des Trägervereins und der 65-jährigen Kunsthistorikerin waren offenbar so weit eskaliert, dass Blomberg nicht einmal mehr die von ihr vorbereitete Tony-Cragg-Ausstellung eröffnete. Genaueres über die Querelen drang nicht an die Öffentlichkeit. Die reguläre Bewerbungsphase für die Nachfolge war zu dem Zeitpunkt jedenfalls bereits in vollem Gange. Für das Auswahlverfahren bemühte sich das Haus aber um Objektivität und zog ein externes Beratungsgremium hinzu, dem aus Berlin unter anderem Stephanie Rosenthal (Gropius Bau) und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung (Savvy Contemporary, ab 2023 Haus der Kulturen der Welt) angehörten. Im Dezember fiel dann die Entscheidung: Anna Gritz wird ab

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Juni dieses Jahres die Leitung des Hauses am Waldsee übernehmen. Seit 2016 ist die gebürtige Düsseldorferin Kuratorin am KW Institute for Contemporary Art, für das sie viel beachtete Ausstellungen, etwa von Judith Hopf oder die erste Retrospektive Amelie von Wulffens in Berlin, realisierte. Derzeit verantwortet Gritz die partizipative Installation des Designerduos Bless im Rahmen des einjährigen Künstlerresidenzprogramms in einer Wohnung im Seitentrakt des KW. »Kunst reagiert auf Kontexte«, sagt Anna Gritz beim Treffen im Haus am Waldsee. »Die Idee des White Cube interessiert mich nicht, sondern die gelebte Realität – ein Haus wie dieses bildet dafür den perfekten Rahmen.« In der 1922 erbauten Villa des jüdischen Fabrikanten Hermann Knobloch schwingen sowohl das Private als auch die bewegte Geschichte immer mit. Seit 1946 werden hier Ausstellungen zur Gegenwartskunst realisiert, die vielfach wichtige Impulse für das Kunstleben der Stadt gaben. So wurde beispielsweise unmittelbar nach Kriegsende zuvor verfemte Kunst gezeigt und aktiv

rehabilitiert. 1980 schrieb das Haus mit der Ausstellung »Heftige Malerei« Kunstgeschichte; die beteiligten Maler firmierten in der Folge als »Neue Wilde«. Anna Gritz hat das Haus am Waldsee erstmals 2014 im Rahmen der Berlin Biennale besucht. »Vor allem reizt mich die Lage an der Peripherie. Die räumliche Distanz zur Innenstadt begreife ich als Chance, außerhalb der üblichen Kunstblasen zu agieren.« Bevor die 41-Jährige vor sechs Jahren aus der britischen Hauptstadt nach Berlin zog, war sie Kuratorin für Film und Performance an der staatlich finanzierten South London Gallery, die, wie Gritz meint, vergleichbar mit dem Haus am Waldsee eine gewisse Freiheit habe, am Rande der musealen Institutionen Schlaglichter zu setzen. Ihre umfangreichen Auslandserfahrungen und Netzwerke lassen eine stärkere internationale Ausrichtung des Programms erwarten. Gritz machte ihren Masterabschluss in San Francisco, war als Ausstellungsmacherin bei Apexart in New York, außerdem kuratorisch am Institut of Contemporary Arts


Anna Gritz auf dem Balkon zur Gartenseite des Haus am Waldsee


Anna Gritz im Konferenzraum Haus am Waldsee in Berlin-Zehlendorf (unten)

(ICA) und der Hayward Gallery in London tätig (von der auch ­Stephanie Rosenthal nach Berlin wechselte). Katja Blomberg hatte den Fokus allein auf in Berlin lebende Künstler gesetzt, die in der Stadt noch nicht angemessen institutionell repräsentiert worden waren. Ein Ansatz, den auch Anna Gritz am KW verfolgte: »In Berlin ist die künstlerische Szene viel fragmentierter als beispielsweise in London. Mir ist wichtig, das aktuelle Kunstgeschehen zu reflektieren und immer wieder neue Perspektiven auf die Stadt zu finden.« Also hat sie ähnliche Schwerpunkte wie ihre Vorgängerin? »Ich will mich weniger festlegen, sondern mehr auf künstlerische Positionen konzentrieren, die mir als dringlich im aktuellen gesellschaftsrelevanten Diskurs erscheinen.« Eine der ersten für das Haus am Waldsee geplanten Ausstellungen wird der 89-jährigen Margaret Raspé gewidmet sein, die Gritz bereits in einer Gruppenausstellung im KW gezeigt hat. Die weitgehend in Vergessenheit geratene Künstlerin erfand in den 1970er-Jahren den Kamerahelm mit montierter Super-8-Kamera, mit dem sie ihre alltäglichen Handlungen wie Kochen oder Geschirrspülen bis hin zum Malen festhielt. »Ihre Radikalität und ihr Experimentierwillen machen sie zu einer Wegbereiterin des feministischen experimentellen Films. Das wurde nie wirklich gewürdigt.« Raspé, die in ihrem Garten im Rhumeweg früher legendäre Künstlersoireen mit Schriftstellern, Musikern und den Wiener Aktionisten veranstaltete, wohnt bis heute in der unmittelbaren

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Zehlendorfer Nachbarschaft und war auch eines der ersten Mitglieder des Freundeskreises. »Ein gutes Beispiel also für eine lokale Kunstgeschichte, die im Haus am Waldsee noch nicht erzählt worden ist«, erklärt Gritz mit einem Lächeln. Auch über eine Ausstellung mit der amerikanischen Performancekünstlerin Leila Hekmat denkt Gritz nach. Man ahnt, dass sie nicht nur den inhaltlichen Rahmen weit aufspannen, sondern grundsätzlich die Richtung wechseln wird. »Ganz besonders freue ich mich auf den Garten, der im Mai fertiggestellt werden soll«, fährt Gritz fort und schaut sehnsüchtig durch die großen Fenster des Cafés auf die Baustelle des denkmal­ geschützten Parks hinter dem Museum. »Ich möchte das Haus vom Garten her erschließen und ihn in engem Austausch mit meinem Team, Künstlern und Landschaftsgärtnern weiterentwickeln.« Wenn das Budget es zulässt - lediglich die Betriebs- und Personalkosten des Hauses werden vom Land Berlin abgedeckt, alles Weitere muss durch den Verein der Freunde bzw. Drittmittel finanziert werden sollen eigens für den Park wechselnde Ausstellungen mit neuen Arbeiten entstehen. Auch Konzerte, Workshops und andere Vermittlungsformate sind geplant. Es scheint Anna Gritz wichtig zu sein, dass das Haus am Waldsee nicht nur ein Ort der reinen Kunstbetrachtung ist. »Es muss mehr Wege in die Kunst geben. Die meisten Kunstinstitutionen sind viel zu elitär.« Sie möchte ihr neues Umfeld im bürgerlichen Berliner Südwesten besser verstehen, die unmittelbare Nachbarschaft direkt einbeziehen und Kooperationen mit den umliegenden Museen, privaten Kunstorten und wissenschaftlichen Einrichtungen der Freien Universität eingehen. Vermittlungsarbeit bedeutet für Gritz darüber hinaus, das Haus am Waldsee als einen Ort der Produktion zu etablieren, an dem ein intensiver Austausch mit Künstlern, Kuratoren und Publikum in einem nichtakademischen Kontext stattfinden und in die Ateliers zurückgetragen werden soll. Ihr »feines Gespür für die Fortentwicklung der Aufgaben zeitgenössischer Kunstinstitutionen« stellte bereits der Vorstand des Trägervereins explizit heraus. »Einer der wichtigsten Punkte meiner Bewerbung war vielleicht, dass ich das Haus gerne aus einer künstlerischen Attitüde heraus leiten würde, vermehrt Künstler in den Trägerverein bringen, vielleicht einen künstlerischen Beirat bilden und Künstler in die inhaltlichen

und strukturellen Entscheidungsprozesse des Hauses einbeziehen möchte.« Als Inspiration nennt Gritz die in den 1960erJahren in London von Barbara Steveni gegründete »Artist Placement Group«, die Kunst außerhalb der herkömmlichen Kunstinstitutionen neu ausrichten wollte, vor allem durch die zeitweilige Einbindung von Künstlern in Wirtschaftsunternehmen oder politische Kontexte. Die strukturellen und programmatischen Ansätze von Anna Gritz wirken ambitioniert, und man kann ihr nur wünschen, dass sie auf genügend Flexibilität stößt, um an einigen Stellschrauben zu drehen. Text ANNE HAUN-EFREMIDES Fotos FLORIAN REIMANN


PANORAMA

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Neues Museum

Grosz in der Tankstelle Sein Lebensweg begann und endete in Berlin, seine intensivste Schaffensphase verbrachte er hier. Er mischte mit Dada die preußische Verkniffenheit auf und brachte mit seinen bissigen künstlerischen Kommentaren die Vertreter des Establishments in Rage – was ihm diverse Gerichtsverfahren eintrug. George Grosz war geschätzt und verhasst und prägte entscheidend die Kunst seiner Zeit. Und doch ist er in Berlin nur wenig präsent, Werke hängen lediglich vereinzelt in der Neuen Nationalgalerie und der Berlinischen Galerie. Eine private Initiative möchte das nun ändern: Sie eröffnet im Mai »Das kleine Grosz Museum«. Eine ehemalige Tankstelle in der Schöneberger Bülowstraße wird zu diesem Zweck hergerichtet. Den Kunstliebhabern der Stadt dürfte der Ort nicht unbekannt sein, der Schweizer Galerist Juerg Judin hatte die Tankstelle zu einem Wohn- und Atelierhaus umbauen lassen und einige Jahre für Ausstellungen und Veranstaltungen genutzt. Auf den zwei Etagen sollen nun eine biografische Einführung und wechselnde Werkspräsentationen den Künstler auch aus bislang vernachlässigten Perspektiven vorstellen. Den Aufschlag macht eine Ausstellung zum Frühwerk des Künstlers, das er als Kind und Jugendlicher noch unter dem Namen Georg Ehrenfried Groß schuf. Eine Schau zu Grosz’ künstlerischer Reaktion auf Atombombenabwurf und aufziehenden Kalten Krieg ist bereits avisiert. Das Museumsprojekt ist vorerst auf fünf Jahre angelegt, zwei Sonderpräsentationen mit begleitender Publikation soll es pro Jahr geben. Hinter der Initiative steht der Verein Grosz in Berlin, dessen Vorsitzender Ralph Jentsch den privaten Nachlass von Grosz verwaltet. Er wird neben Privatsammlungen und Museen auch Leih­ geber für die Ausstellungen sein. Man kann sich also auf überraschende Einblicke in ein bewegtes Künstlerdasein freuen. NM

George Grosz, »Passanten«, 1926 Eine ehemalige Schöneberger Tankstelle wird zum Grosz-Museum (oben)

Events im Frühjahr

Labsal für Kulturhungrige Die Tage werden länger, die Temperaturen steigen und so wächst die Hoffnung, dass die Kultur wieder zur vollen Blüte erwacht. Im Moment sieht alles nach einem veranstaltungsreichen Sommer aus, so hat etwa die Lange Nacht der Museen nach zweijähriger Pause ihre Rückkehr für das letzte Augustwochenende angekündigt. Doch auch in diesem Quartal sind schon einige größere Kulturevents geplant:

29. April bis 1. Mai 2022

11./12. Juni 2022

Gallery Weekend

Lange Nacht der Religionen

gallery-weekend-berlin.de

nachtderreligionen.de

12. bis 22. Mai 2022

11. Juni bis 18. September 2022

Berlin Design Week berlindesignweek.com 15. Mai 2022

Internationaler Museumstag museumstag.de

12. Berlin Biennale for Contemporary Art berlinbiennale.de 2. Juli 2022

Lange Nacht der Wissenschaften langenachtderwissenschaften.de

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AUSSTELLUNGEN



Fragiler Mikrokosmos


GROPIUS BAU

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Siebzehn Jahre zwischen der Libanonkrise und dem Bürgerkrieg gelten als goldenes Zeitalter von BEIRUT. Rückblick auf einen Mythos

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ie Ausstellung »Beirut and the Golden Sixties: ­A Manifesto of Fragility« lässt ein bewegtes Kapitel der jüngeren Geschichte Beiruts wieder aufleben: die Zeit zwischen der Libanonkrise 1958 und dem Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs 1975. Sie beleuchtet diese oftmals romantisierte und von vielfältigen kulturellen Einflüssen geprägte Ära und vermittelt einen Eindruck davon, wie das Aufeinanderprallen von Kunst, Kultur und politischen Ideologien die Beiruter Kunstszene zu einem Mikrokosmos transregionaler Spannungen machte. Die Schau zeigt Künstler*innen, deren Drang nach formaler Innovation oft ebenso stark war wie ihre politische Überzeugung. Nachdem der Libanon 1943 seine Unabhängigkeit von der französischen Kolonialherrschaft erlangt hatte, strömten Intellektuelle und Künstler*innen nach Beirut. Dank ausländischen Kapitals entstanden überall in der Stadt neue Kunsträume und Museen; zugleich war die Stadt ein Nährboden für gegensätzliche politische Einstellungen, die sich zunehmend als unvereinbar erwiesen. Fünf thematische Sektionen stellen das breite Spektrum dieser kulturellen und politischen Entwicklungen vor. Mit seiner langen Tradition der freien Meinungsäußerung zog Beirut Menschen an, die vor autokratischen Regimen aus anderen Teilen des Nahen Ostens flohen. Im ersten Teil »Le Port de Beyrouth: The Place« untersuchen Künstler*innen aus verschiedenen Communitys der Region die komplexe Vorstellung von Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort. Die zweite Sektion »Lovers: The Body« beleuchtet die Rolle Beiruts als Experimentierfeld, auf dem gegen die Zwänge einer hete­ronormativen, bürgerlichen Gesellschaft angekämpft wurde.

Etel Adnan, Untitled, ca. 1972-73 Huguette Caland, »Eux«, um 1975 (links) Aref El Rayess, ohne Titel, 1977–78 (vorherige Doppelseite)

Die Kunstszene Beiruts, in der zahlreiche Frauen und LGBTQIA+Künstler*innen aktiv waren, beteiligte sich maßgeblich an den Debatten, die die weltweite sexuelle Revolution auslöste. In Beiruts Kunstszene trafen die unterschiedlichsten Künstler*innen aufeinander, die sich einer breiten Palette von Techniken, Materialien und Stilen bedienten. Das vielfältige kulturelle Angebot wurde auch von internationalen Akteur*innen wie Max Ernst, André Masson, Wifredo Lam und Zao Wou-Ki geprägt. Der dritte Ausstellungsteil »Takween (Composition): The Form« betrachtet die lokalen Diskurse zu modernistischen Tendenzen, ein Fokus liegt auf der Sonderstellung der Abstraktion der 1950er- bis 1970er-­Jahre. Zudem wird die Verbindung zwischen den politischen Überzeugungen der Künstler*innen und ihrer Zugehörigkeit zu einem Stil oder einer Schule, von der orientalischen Abstraktion bis hin zum Informel, herausgearbeitet. Die vierte Sektion »Monster and Child: The Politics« befasst sich mit den Beziehungen zwischen Kunst und Politik in den Jahren vor dem libanesischen Bürgerkrieg, bevor der Sektarismus sämtliche Bereiche des Lebens in der Stadt beherrschte. Während dieser Blütezeit der Kunst- und Kulturproduktion suchten die Künstler*innen nach geeigneten Ausdrucksformen für ihre unterschiedlichen Anliegen – vom utopischen Projekt des Panarabismus und postkolonialen Kämpfen bis hin zu spaltenden politischen Positionen dem Kalten Krieg, dem Vietnamkrieg und dem Nahost-Konflikt gegenüber. Die letzte Sektion der Ausstellung »Blood of the Phoenix: The War« thematisiert die anhaltenden Auswirkungen des Krieges auf das kulturelle Schaffen in Beirut. Der libanesische Bürgerkrieg for-

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Khalil Zgaib, ohne Titel, 1958 Juliana Seraphim, ohne Titel, 1970 (links) Rafic Charaf, »Lebanon Untitled«, 1971 (rechts)

Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility Gropius Bau bis 12. Juni 2022 gropiusbau.de

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RANDNOTIZ ORT 2/22 derte von der lokalen Kunstszene einen hohen Tribut: Galerien und freie Kunsträume wurden geschlossen, Künstler*innen wanderten in mehreren Wellen nach Europa, in die Vereinigten Staaten und an den Persischen Golf aus – ein erster Ausblick auf das Geschehen im heutigen krisengeschüttelten Libanon. Der Krieg und seine Verwüstungen offenbarten die Unversöhnlichkeit der politischen Kräfte und entlarvten den Mythos vom »Goldenen Zeitalter«. Während die Ausstellung konzipiert und entwickelt wurde, kam es ab Oktober 2019 zu Massenprotesten in Beirut, zur Explosionskatastrophe im darauffolgenden Jahr, einer noch nie dagewesenen Wirtschaftskrise sowie der COVID-19-Pandemie. Die Schau bewertet ein zentrales Kapitel der Stadtgeschichte im Hinblick auf diese aktuellen Krisen. Joana Hadjithomas und Khalil Joreige, die in Paris und Beirut leben und arbeiten, entwickelten für die Ausstellung außerdem eine immersive Multimedia-Installation, die die Transformation von Kunstwerken durch Gewaltakte untersucht. Im Angesicht von Zusammenbruch, Katastrophe und Tod wirft die Arbeit die Frage auf: Können wir dem Chaos Poesie entgegensetzen? Text SAM BARDAOUIL, Co-Kurator der Ausstellung

In Pose für die Biennale von Lyon: Till Fellrath und Sam Bardaouil

Duo internationale Seit zwölf Jahren sind Till Fellrath und Sam Bardaouil ein Team, haben mit mehr als siebzig internationalen Institutionen zusammengearbeitet. Dass sie als Direktorenduo für den Hamburger Bahnhof benannt wurden, war dennoch eine Überraschung. Denn ein Museum haben die beiden bisher nicht geleitet.Das Haus wollen Bardaouil und Fellrath zum »Atelier der Zukunft« entwickeln, mit der Sammlung der Nationalgalerie »neue Prioritäten« setzen. Bevor es dazu kommt, tanzen die Kuratoren noch auf mehreren Hochzeiten. Zunächst präsentieren sie im Gropius Bau ihre Beirut-Ausstellung. Im April wird man das Duo in Venedig antreffen. Auf der Biennale kuratieren sie den französischen Pavillon, die Fotografin und Videokünstlerin Zineb Sedira zeigt die Ausstellung »Les rêves n’ont pas de titre«. Das nächste Gastspiel wartet im September, wenn das Duo unter dem Titel »Manifesto of Fragility« auch die Biennale von Lyon eröffnet. Es wird also noch dauern, bis Sam Bardaouil und Till Fellrath endgültig in Berlin angekommen sind. Ihre Internationalität kann dem Hamburger Bahnhof guttun. Sie werden jedoch mit lokalen Schwierigkeiten konfrontiert. Nach dem Abzug der Flick-Sammlung konnte der Mietvertrag der Rieckhallen zwar kurzzeitig verlängert und der Abriss vorläufig abgewendet werden. Eine langfristige Lösung für den Erhalt zu finden, muss mit Bund, Stadt und Investor aber erst noch verhandelt werden. WOE

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Unter Druck Ohne den HOLZSCHNITT wäre der künstlerische Austausch in Europa weitaus schwieriger gewesen. Eine Rehabilitation


KUPFERSTICHKABINETT

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Druckstock aus dem 15. Jahrhundert und Neudruck »Die Katze« Carl Moser, »Bretonische Hochzeit«, 1906 (links)

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er Holzschnitt ist das älteste druckgrafische Verfahren und findet bis heute weltweit Anwendung. Das Bildmotiv wird seitenverkehrt auf eine plane Platte aus Holz, den Druckstock, aufgetragen. Dafür wird Holz von dichtem, regelmäßigem Wuchs bevorzugt, vor allem Obstbaumhölzer. Die Teile des Druckstocks, die nicht drucken sollen, werden mit verschiedenen Werkzeugen entfernt. Am Ende dieses Prozesses bleiben die Linien und Flächen des Motivs als Stege oder Inseln stehen. Sie werden mit Druckfarbe versehen und von Hand oder mithilfe einer Druckerpresse auf Papier abgezogen, wobei das seitenverkehrte Motiv wie bei einem Stempel im Abdruck seitenrichtig erscheint. Da das Papier die Farbe der Druckstockhöhen aufnimmt, zählt der Holzschnitt zu den Hochdruckverfahren. Große Formate und tiefschwarze Flächen lassen sich ebenso drucken wie zarte Linien und Schraffuren. Zudem macht die Kombination mehrerer Druckstöcke farbige Bilder möglich. Der Holzschnitt erlaubt es außerdem, mit vergleichsweise geringem Aufwand hohe Auflagen von mehreren Tausend Blatt zu erzielen. Gerade dieser Umstand beförderte im 16. Jahrhundert die aufkommende massenhafte Verbreitung von Bildern. Die Schau mit mehr als hundert Werken aus dem reichhaltigen Bestand des Kupferstichkabinetts spannt den Bogen von den frühen und oft nur in wenigen Exemplaren erhaltenen Holzschnitten des 15. Jahrhunderts bis hin zu großformatigen zeitgenössischen Werken, die teils erst im vergangenen Jahr entstanden. Neben Meisterwerken von Albrecht Dürer oder Hans Baldung Grien gibt es viel Unbekanntes und Überraschendes zu entdecken. Entlang einer chronologischen Achse richtet sich der Blick auf das Zusammenspiel von Material und Technik sowie die Verwendung der Holzschnitte. Dazu gehören die christliche Andacht mit Heiligenbildern, Kartenspiele, Verzierungen in spätgotischen Minnekästchen, großformatige Raumdekorationen, Buchillustrationen, religiöse oder politische Flugblätter sowie Gemäldereproduktionen. Auch als eigenständige Kunstwerke wurden Holzschnitte an Sammler und Liebhaber auf dem freien Markt verkauft. Besondere Aufmerksamkeit ist der Entwicklung des Farbholzschnitts eingeräumt, denn in allen Epochen war die Herstellung bunter Drucke besonders gefragt. Dies führte bisweilen zu völlig

unerwarteten Ergebnissen und raffinierten Effekten. Handkolorierte Abzüge von 1460 sind ebenso ausgestellt wie die ersten farbigen Drucke von Hans Burgkmair und Lucas Cranach d. Ä., die um die Erfindung dieser Technik wetteiferten. Mehrfarbige ChiaroscuroHolzschnitte des 16. Jahrhunderts aus Italien und den Niederlanden stehen neben extravaganten Farbdrucken des Rokoko und Blättern des 20. Jahrhunderts, die mit über zwanzig Farbplatten hergestellt wurden. Inspiriert von japanischen Holzschnittmeistern, erinnern sie eher an Aquarelle als an Holzschnitte. Der Holzschnitt fand über alle Epochen Verwendung, und doch sind besondere Hochphasen zu konstatieren. Im 17. und 18. Jahrhundert geriet die Technik zeitweise aus der Mode. Aufgrund des feineren Lineaments und der freieren Ausdrucksmöglichkeiten wurden der Kupferstich und die Radierung mit ihrem Ätzverfahren bevorzugt. Erst zum Ende des 18. Jahrhunderts brachte die Entwicklung des Holzstichs eine Wiederbelebung. Härtere Hirnholzplatten aus Buchsbaum ermöglichten den Druck sehr detaillierter, auch kleinformatiger Motive in extrem hohen Auflagen, wie sie für die Illustrationen in Büchern und später im 19. Jahrhundert für Zeitschriften nötig waren. Um 1900 entdeckten Expressionisten wie Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde oder Karl Schmidt-Rottluff in der Nachfolge Paul Gauguins den Holzschnitt für sich völlig neu. Die Technik erschien ihnen als Ausdruck einer neuen Ursprünglichkeit, und es entstanden Meisterwerke in reduzierter Formensprache. Indem Zufälligkeiten wie Maserungen, Risse oder Unebenheiten zum bewusst kalkulierten Teil der Darstellung wurden, fand die Oberflächentextur des Materials zunehmend Eingang in die ästhetische Bildsprache, zum Beispiel bei Edvard Munch oder später bei Joseph Beuys und Gerhard Altenbourg. Die Ausstellung spürt der Begeisterung für den Holzschnitt in all seinen Facetten nach und lädt ein, die Objekte jenseits einer Epochen- oder Schulzuordnung in Beziehung zu setzen. Die Intensität und Vielfalt der Holzschnitte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeindrucken besonders: Zu sehen sind abstrakte Kompositionen von Helen Frankenthaler, Hans Hartung und Esther Fleckner ebenso wie figurative bis fotorealistische

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Albrecht Dürer und Willem Janssen, »Rhinozeros«, um 1620

Werke von Anselm Kiefer, Georg Baselitz und Franz Gertsch. Die gesamte Bandbreite der Drucktechnik, ihre bleibende Aktualität und überraschende Fülle treten vor Augen. Gerade zeitgenössische Positionen, die zwischen dem Anspruch eines Unikats und dem massenmedialen Charakter des Mediums oszillieren, bereichern die Präsentation. Besonders die originalen Druckstöcke verschiedener Epochen aus dem Bestand des Kabinetts, die erstmals in größerer Zahl gezeigt werden, bieten einen sinnlichen Zugang. Neben ungeschnittenen Stöcken mit Entwurfszeichnungen sind Druckstöcke von hervorragenden, teils anonymen altdeutschen Holzschneidern ausgestellt und solche von Lyonel Feininger, Sella Hasse, Matthias Mansen oder Nasan Tur. Letzterer betrachtet seine Druckstöcke als dem Druck gleichwertige Kunstwerke und konnte für eine Druck­ aktion innerhalb der Ausstellung gewonnen werden. In der begleitenden Präsentation »Holzschnittartig?« im Kabi­nett in der Gemäldegalerie setzen sich Studierende des Fach­ bereichs Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin mit dem Thema auseinander. Text CHRISTIEN MELZER und GEORG JOSEF DIETZ, Kuratoren der Ausstellung

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#holzschnitt. 1400 bis heute 3. Juni bis 11. September 2022 Kupferstichkabinett smb.museum


AUSSTELLUNGEN

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STARS in der Helmut Newton Stiftung Helmut und June Newton zogen um den Jahreswechsel 1981/82 von Paris nach Monte-Carlo und verbrachten die Wintermonate in der Folge in Los Angeles. Im Auftrag zahlreicher Magazine porträtierte Helmut Newton in den 1980er- und 1990er-Jahren in und um Hollywood viele Schauspieler, Regisseure oder Musiker. Neben diesen Porträts entstanden dort zahlreiche Aktaufnahmen für den »Playboy«. Die Ausstellung präsentiert darüber hinaus weitere Fotografen mit ihren Interpretationen von Hollywood, darunter George HoyningenHuene, Steve Schapiro, Larry Sultan, Julius Shulman, Michael Dressel, Jens Liebchen – und natürlich Alice Springs mit einer Bildserie, aufgenommen auf der Melrose Avenue in Los Angeles. »Hollywood«, 3. Juni bis 20. November 2022 helmut-newton-foundation.org

Helmut Newton, Elizabeth Taylor für »Vanity Fair«, 1989

LEBEN MIT LOKOMOTIVEN im Deutschen Technikmuseum Wie sah der Alltag an den Eisenbahnschienen in Ostdeutschland aus? Worin unterschied er sich von ähnlichen Szenarien im Westen? Burkhard Wollny ist Fotograf und Eisenbahnfan aus der Nähe von Stuttgart. Besonders alte Dampfloks haben es ihm angetan. Vor dem Mauerfall reiste er immer wieder in die DDR und nach West-Berlin, wo noch viele der alten Lokomotiven ihren Dienst taten. Dabei entstanden einzigartige Bilder vom Leben in den Städten und in der Provinz, auf Bahnhöfen und an Bahnübergängen. »Alltag an Schienen. Fotografien aus der DDR von Burkhard Wollny«, bis 19. Februar 2023 technikmuseum.berlin Eine rekonstruierte Kriegslok im Bahnhof Ruppersdorf, circa 1980

David Hockney, »Three Trees near Thixendale, Summer«, 2007

DAVID HOCKNEYS YORKSHIRE in der Gemäldegalerie Mit dem großformatigen Zyklus »Three Trees near Thixendale« wendet sich David Hockney dem stimmungsvollen jahreszeitlichen Wandel der Natur in seiner britischen Heimat zu. Fotografie konnte für ihn die Schönheit Yorkshires nicht einfangen, er nutzte sie jedoch als technisches Hilfsmittel, um seine Vorstellungen im großen Format umzusetzen. So verschmelzen in seinen jüngsten Landschafts­ bildern traditionelle Techniken und digitale Möglichkeiten. Im Dialog mit ausgewählten Landschaftsdarstellungen aus den Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin offenbaren die Arbeiten Hockneys’ Beschäftigung mit der Kunst vorangegangener Jahrhunderte ebenso wie die jahrzehntelange Beobachtung und Darstellung der nordamerikanischen Landschaft. »David Hockney – Landschaften im Dialog. Die ›Vier Jahreszeiten‹ der Sammlung Würth zu Gast in Berlin« 9. April bis 10. Juli 2022 smb.museum


EINBLICKE



Instant-Kunst IMMERSIVE AUSSTELLUNGEN zu den bekanntesten Künstlern haben Konjunktur. Doch ersetzen die Spektakel den Museumsbesuch? Im Jahr 1927 eröffneten in der Orangerie im Pariser Tuileriengarten die zwei ovalen Säle mit den riesigen Seerosenbildern, die Claude Monet dem französischen Staat gestiftet hatte. Nach seiner Vorstellung sollten sie den Betrachter in die stille Welt seines Gartens eintauchen lassen, ihn hineinziehen mit dem Blick auf reflektierende Wasserflächen. Zu einem Gesamterlebnis fehlte in Paris nur das Glas Wein in der Hand. Das im Januar eröffnete, »Monets Garten« (bis 20. April) überschriebene immersive Ausstellungserlebnis in Berlin will auch überwältigen, ebenfalls von allen Seiten zugleich, den Fußboden eingeschlossen. Still ist es eher nicht, aber heimelig. Die Besucher, auch in der Woche zahlreich, lagern entspannt auf großen Kissen, für ältere Besucher gibt es Hocker, kleine Kinder sind beeindruckt und stören selten. Die 44-minütige Show beginnt sinnvoll mit Zitaten des alten Monet zum Pariser Rundumkunstwerk. Dann folgt ein Gang durch sein Leben, alles richtig, nur der Kenner vermisst vielleicht dies oder das. Im Grunde wird hier referiert und zitiert, die zum Text passenden Bilder sind mehrfach vergrößert an die Wände projiziert, mal hier, mal dort aufleuchtend, alles ist in ständiger Bewegung. Aufnahmen der realen Welt – Bahnhöfe, Lokomotiven, Landschaften – sind eingefügt, gefühlvolle Musik unterstreicht das Thema. Vereinfacht betrachtet, handelt es sich bei diesem Format um einen Bildervortrag mit modernen Mitteln, nur dass der Referent nicht anwesend ist. Und so wie jeder Vortrag besser oder schlechter sein kann, tief in das Thema eindringt oder es oberflächlich abhandelt, verhält es sich auch mit immersiver Kunstvermittlung. Die neuen technischen Mittel stehen der inhaltlichen Qualität nicht im Wege, aber befördern sie auch nicht.

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Museumsausstellungen dagegen sind keine Vorträge, arbeiten sie auch mit Texten zum Lesen oder Hören. Sie laden den Besucher zum selbsttätigen Schauen, Gehen, Denken ein. Sie stellen ihn damit vor Anforderungen, eröffnen aber auch eigenständige Sichtweisen, sie bieten Raum zur Reflexion. Das »immersive Ausstellungserlebnis« – warum eigentlich Ausstellung? – ist eher direktiv, nur eine Interpretationsweise wird angeboten. Der Besucher liegt auf dem Kissen, ihm wird die Kunst erklärt. Ein heikles Thema ist der Gegensatz von originalem Werk und guter Reproduktion oder Projektion. Die Museen geben viel Geld aus, um Kunstgegenstände zu leihen und durch die halbe Welt zu transportieren. Die Aura des Originals ist für sie durch nichts zu ersetzen. Auch die Besucher sehen das so und nehmen lange Warteschlangen in Kauf. Oftmals aber sind die Originale klein; hinter Abstandshaltern und Sicherheitsverglasung entziehen sie sich dem genießenden Schauen. Die vergrößernde Reproduktion, erst recht Projektion, kann uns Werke näherbringen, auch den Pinselstrich selbst erlebbar machen. Das erklärt die Beliebtheit der Künstlerfilme, die ja oft mit ähnlichen Mitteln arbeiten, in den großen Ausstellungen dieser Welt. Sie dienen in den Museen der Vertiefung oder Einführung. Die immersiven Kunstshows dagegen sind ein sich selbst genügendes Event. In der Schau »Van Gogh. The immer­ sive Experience«, bis Ende April in Dresden zu sehen, ist der technische Aufwand noch größer: Der Text ist zugunsten der Musik stark reduziert, Bilddetails, Beine zum Beispiel, sind animiert, sie können aufstampfen. Van Goghs Werke breiten sich meist rahmen- und abstandslos über die Wände aus. Dann doch lieber die informa­ tive Schau »Monets Garten«! In den beiden

immersiven Vorstellungen eines Künstlerlebens, wie vermutlich auch in anderen, geht es allein um die bildnerische Wiedergabe der Welt durch den jeweiligen Maler. Wohl sind Krankheiten erwähnt sowie andere persönliche Unbilden und Glücksfälle. Aber historische Zusammenhänge, gesellschaftliche Bedingtheiten, Vorbilder und Abgrenzungen sind eher kein Thema, etwas Kompliziertes soll die unmittelbare Erfahrung nicht stören. Für die beiden hier vorgestellten Erlebniswelten werden – wie häufig in diesem Genre – ehemalige Industriegebäude genutzt. Das ermöglicht die Einrichtung von zusätzlichen Räumen zur Einstimmung, in Berlin mit allerlei Multimediaspektakel, einem stilgerechten Restaurant, viel Kunstblumen und mit einem Shop – ähnlich wie in Museen auch. Es geht darum, dem breiten Publikum ein niedrigschwelliges Angebot zu machen. Dabei sind die Eintrittspreise dieser gut besuchten Ausstellungen eher hoch. Man könnte wünschen, dass sich immersive Kunstvermittlung und Ausstellungstätigkeit der Museen nähern. Dass erstere den Besucher nicht unterfordern und zweitere ihn mit puristischer Strenge nicht überfordern. Aber wäre das wirklich ein Gewinn? Es können auch verschie­dene Formate der Kunstvermittlung konkurrenzlos nebeneinander bestehen. Die Besucher der immersiven Kunstspektakel werden hoffentlich einmal einen echten Monet oder echten van Gogh sehen wollen und bei einem Ausstellungsbesuch dann schon etliches an Wissen und Eindrücken mitbringen. Text ANGELIKA WESENBERG, Kunsthistorikerin und ehemalige Kustodin der Alten Nationalgalerie


Blick in die Ausstellung »Monets Garten« in der Alten Münze (auch vorherige Doppelseite)


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