Ausstellungen in Berlin und Potsdam
1/24 JANUAR FEBRUAR MÄRZ
PERFORMANCE bewegt die Künste
8,50 €
NANCY HOLT weitet die Perspektiven KOREA kommt endlich ganz nah
DISKURS
INHALT
Wissen im Museum 22
Wie wir wissen Museen als Wissensspeicher 25
Institutionen im Wandel Eine Tagung des Berliner Museumsverbandes
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Performance Bewegend
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Szene aus »Ophelia's Got Talent« von Florentina Holzinger, Inszenierung an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 2023
PANORAMA 8
Lawrence Lek Autoliebe im Light Art Space
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Gegensätzlich André Masson und Ernst Wilhelm Nay treffen in der Sammlung Scharf Gerstenberg aufeinander
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Komplizenschaft Vier Stimmen von Berliner Performance-Experten
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Nadia Kaabi-Linke
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im Hamburger Bahnhof
Genitalpanik 13
Nahost
Erinnerungskämpfe
C/O Berlin würdigt die frühen Aktionen von Valie Export
im PalaisPopulaire
Wohnunslosigkeit
Von Sprachlosigkeit und unfassbarem Schweigen
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Blickfang
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Bezirzen mit Schinkel
Neue Nachhaltigkeit
Naama Tsabar bringt im Hamburger Bahnhof das Publikum zum Klingen
Land Art
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Der Gropius Bau nimmt die Perspektiven von Nancy Holt ein
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Geh doch nach … Mitte. Zum Dallmayr! 11 Carina Linge, »Gestohlene Nacht«, 2023
AUSSTELLUNGEN
Über den Aufschwung des Perfomativen in der bildenden Kunst
PERFORMANCE
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Cover: Videoinstallation von Pipilotti Rist in der Julia Stoschek Foundation: »(Entlastungen) Pipilottis Fehler«, 1988
FOKUS 28
OH, MUTTER!
JULIA STOSCHEK FOUNDATION
Momentaufnahme
Ein Kreuz mit der Kreislaufwirtschaft
Bücher
Leseperformance
Fünf Lesetipps
Tania Brugueras Kunst ist riskant
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Mutter(un)glück im Haus am Lützowplatz
Tagesreise
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Who’s who
Museen
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In den Häusern tut sich was
Für die Kamera
Wen man jetzt kennen muss
Aufbruch an der Ostsee
im Humboldt Forum
Instrumental
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Jangseung, Dorfwächterfigur, Korea, JoseonDynastie (1392– 1910), vor 1898
Nahtstelle Das Georg Kolbe Museum nähert sich dem asketischen Werk von Noa Eshkol
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Klimawandel Das Technikmuseum erzählt von einer Polarexpedition
KOREA
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Die Julia Stoschek Foundation zeigt Perfomance in Fotografie und Video
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CONTRIBUTORS
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Plakativ
EINSTEINTURM
Im Kulturforum wird die Kinowerbung gefeiert
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Wissen in der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst
Gerettete Moderne GUNDULA SCHULZE ELDOWY
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im Kupferstichkabinett
Kreativer Widerstand im Jüdischen Museum Gundula Schulze Eldowy, Robert Franks Augen im Rückspiegel, New York, 1990
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Wahrheit verpflichtet Das Schöneberg Museum würdigt den Pressefotografen Jürgen Henschel
MAYRA WALLRAFF Mit besonderer Sensibilität hält sie den Tanz in ihren Fotografien fest. Neben ihrer Karriere als ausgebildete Tänzerin entdeckte Mayra Wallraff die Fotografie und ließ sich an der Ostkreuzschule ausbilden. Die beiden Professionen verbinden sich in ihren Arbeiten auf ideale Weise – das künstlerische Verständnis für Bewegungen und wichtige Bühnenmomente ist in ihren Fotos deutlich spürbar und verleiht diesen große Authentizität. Seit 2015 porträtiert sie die Berliner Kunst-, Tanz-, Performance-und Theaterszene. Aktuell begleitete Wallraff die angesagte Choreografin Florentina Holzinger mit der Kamera (siehe S. 2, 28 und 34).
Erich Mendelsohn, Entwurfsskizze für den Einsteinturm, vermutlich Juni 1920
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Koloniale Verbrechen
Kiezgeschichten
Sklaven der Technik
Im Gotischen Haus wird Hakenfelde zum Mittelpunkt der Welt
Das KW Institute will unsere Maschinenwelt ein wenig transparenter machen
Das Museum Neukölln sucht nach Antworten
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Picasso
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Poesie des Nordens
LISA LONG
EINBLICKE
im Gutshaus Steglitz
Hut und gut!
Jan Scheffler zeigt seine Landschaftsfotografie in der Alfred Ehrhardt Stiftung
Bruderschaften im DDR Museum
Über das unbekannte Korea klärt das Humboldt Forum auf
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Solar
Hans Uhlmann
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Extrabreit
Im Einsteinturm gibt es Grund zu feiern
in der Berlinischen Galerie 58
New York Eine Begegnung von Gundula Schulze Eldowy und Robert Frank in der Akademie der Künste 61
Drastisch und ganz nah
Restitutionsgeschichten
Die Neue Nationalgalerie macht Platz für Lucy Raven
86
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Bits & Pieces
im Tieranatomischen Theater
Nachrichten aus den Museen
Die Quadriga im Mauer-Mahnmal
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Klimakrise
Engagiert
im Museum für Kommunikation
Wie das Käthe-Kollwitz-Museum den Standortwechsel meistert
Das Bröhan-Museum stellt frühe Serien von Gundula Schulze Eldowy vor
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Sieben Sachen
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aus den Museumsshops
Tage wie diese
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Warum es im Museum Europäischer Kulturen gerade läuft
Umgedreht
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Antikolonialismus
Abbildungsnachweis
Das Museum CharlottenburgWilmersdorf arbeitet Bezirksgeschichte auf
JAN SCHEFFLER
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Ausstellungskalender
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110 Jan Scheffler, B 63.690° L -19.540°, Þórsmörk / Island
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Lisa Long ist in Kalifornien aufgewachsen. Seit sie ein Teenager ist, pendelt sie zwischen Deutschland und den USA. Das amerikanische »Ja, lass es uns versuchen!« hat sie sich auch als Kuratorin zeitgenössischer Kunst und künstlerischer Direktorin der Julia Stoschek Foundation bewahrt (siehe S. 44). Long arbeitet am liebsten mit Künstlern zusammen, die einen persönlichen und politischen Ansatz verfolgen. Ihr Fokus liegt auf den Bereichen Film, Video, Sound und Performance; dabei ist ihr die sinnliche Erfahrung von Körper und Raum besonders wichtig. Ihr Ideal: Die Vielzahl gelebter Realitäten in den Vordergrund rücken und ständig den Perspektivwechsel suchen.
Impressum
JOACHIM BAUR Museen und Ausstellungen sind sein Metier. Der Historiker und Kulturwissenschaftler lehrt und forscht an der Technischen Universität Dortmund etwa zu Repräsentationen von Migration, Analysen materieller Kultur, Geschichte und Zukunft des Museums sowie Theorie und Praxis des Kuratierens (siehe S. 22). Besonders treibt ihn die Frage um, wie Museen gesellschaftlich wirksam werden und die Demokratie stärken können. Seit 2010 betreibt Joachim Baur zudem die Agentur »Die Exponauten. Ausstellungen et cetera«. In Berlin kuratierte er jüngst die Schau »Ready for Take-Off. 100 Jahre Flughafen Tempelhof«. Seit 2023 gehört er zum Vorstand von ICOM Deutschland.
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Augenblicke in Endlosschleife
D
ie Performance als künstlerischer Ausdruck veränderte Mitte des 20. Jahrhunderts das westliche Kunstverständnis entscheidend: Den menschlichen Körper sowie die Erfahrungen des Publikums radikal in den Fokus der künstlerischen Praxis zu stellen, löste die Trennung zwischen Kunstobjekt, Künstler*in und Publikum auf. Für viele Künstler*innen war der performative Einsatz des Körpers zentral, um auf gesellschaftliche und persönlich erlebte Formen von Diskriminierung, wie Sexismus und Rassismus, aufmerksam zu machen. Etwa zur gleichen Zeit markierte das Aufkommen des Videos eine weitere wegweisende Veränderung. Die neue Medientechnologie demokratisierte die Art und Weise, wie wir unsere Körper und Bewegungen aufzeichnen, diese Bilder bearbeiten und präsentieren – eine Entwicklung, die die frühen Video-Experimente mit dem heutigen Verständnis von sozialen
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Was verändert sich, wenn Performances nicht mehr live, sondern für die Kamera stattfinden? Eine Ausstellung zeigt die BRÜCHE und Schnittstellen
Akeem Smith, »Social Cohesiveness«, 2020
Medien und dem Umgang mit den selbst geschaffenen Bildwelten verbindet. Vor diesem historischen Hintergrund beleuchtet »Unbound: Performance as Rupture« in der Julia Stoschek Foundation zum einen die Befreiung der Kunst durch Performance und Video und zum anderen die Befreiung eben jener Künstler*innen, die bisweilen durch Ideologien der Unterdrückung und restriktive Identitätskonstrukte vom kunsthistorischen Kanon ausgeschlossen wurden. Diese Ausschlüsse sind Ausgangspunkt der Ausstellung, in der Künstler*innen verschiedener Traditionen und Communitys als »coconspirators« (Mitverschwörer*innen) versammelt werden – ein Begriff, der auf den Performancehistoriker Uri McMillan zurückgeht. Viele Arbeiten entlarven die Gewalt des männlichen und kolonialen Blicks, der von der Kamera aufrechterhalten wird, und reagieren darauf, viele kreieren raum- und zeitübergreifende Verbindungen,
die nur mithilfe von zeitbasierten Technologien sichtbar werden können. Zu sehen sind 37 Werke aus den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren bis hin zu Positionen der Gegenwart, neben Dokumentationen von Performances auch Arbeiten, die eigens für die und vor der Kamera performt wurden. Den Auftakt macht Peter Campus’ knapp fünfminütiges Video »Three Transitions« (Drei Übergänge) von 1973. Die Arbeit ist ein frühes Beispiel für eine spezifische Form von Performance, die ohne Kameratechnik und Bildbearbeitung nicht möglich wäre. In diesem Fall kam Chroma Keying zum Einsatz, womit Hintergründe in Fotos und Videos ausgetauscht werden können; die sogenannten Greenund Bluescreens sind in der Video- und Filmproduktion mittlerweile allgegenwärtig. So konnte Campus zum Beispiel ein brennendes Foto in der Hand halten, auf dem sein bewegtes Porträt zu erkennen ist, das
langsam durch das Feuer vernichtet wird. Im darauffolgenden Raum ist die Zweikanal-Videoinstallation »Double Quadruple Etcetera Etcetera I & II« (2013) von Sondra Perry zu sehen, die in Bezug zu Campus’ frühen Videoexperimenten gelesen werden kann. In der Arbeit geht es um die Unsichtbarkeit und Hypervisibilität von Körpern, insbesondere von Schwarzen Menschen, die in Gesellschaften leben, die von weißen Menschen dominiert werden. Perry filmte zwei befreundete Künstler*innen, wie sie sich dreißig Sekunden lang in der Ecke ihres Studios frenetisch bewegen. Die Aufnahmen bearbeitete sie in Photoshop mit einem Werkzeug, das einen ausgewählten Teil des Bildes mit ähnlichen Inhalten aus dem Motiv oder dem Hintergrund ersetzt und somit unerwünschte Bildteile entfernt. In Perrys Video wurden die gefilmten Körper mit Farbe und Struktur der weißen Studiowände überdeckt, nur die Haare
der zwei Personen blieben als visuelle Erkennungsmerkmale sichtbar. Im Loop und über die Ecke des Ausstellungsraums projiziert, entsteht der Eindruck, dass die Performer*innen gegen das Filmen und Bearbeiten ankämpfen—vergeblich. Gleichzeitig bietet die Unsichtbarkeit eine Art Schutzraum vor den voyeuristischen Blicken des Publikums. Mit der Schau wird versucht, den eurozentrischen Blick auf die Geschichte der Performance- und Videokunst kritisch aufzuarbeiten, ohne dabei zu vergessen, dass auch dieses Unterfangen nicht vollständig gelingen kann. Der Ausstellungstitel weist auf diese Unvollständigkeit hin: auf die Risse, Brüche und Leerstellen jedes Narrativs sowie die disruptive Kraft des Körpers und der Kunst.
Unbound. Performance as Rupture bis 28. Juli 2024 Julia Stoschek Foundation jsfoundation.art
Text LISA LONG, künstlerische Leitung
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SAMMLUNG SCHARF-GERSTENBERG
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Zerstörung und Zuversicht Die existenzielle Erfahrung des Kriegs prägte ANDRÉ MASSON und ERNST WILHELM NAY gleichermaßen. Trotz formaler Nähe könnte ihre Malerei nicht gegensätzlicher sein
Ernst Wilhelm Nay, »Der Besuch«, 1945 »Kythera«, 1947 (Ausschnitt, vorherige Doppelseite)
I
m Jahr 1914 zog der 18-jährige André Masson von Paris in die Schweiz, um sich von seiner Familie zu distanzieren. Als wenig später Deutschland seinem Heimatland den Krieg erklärte, kehrte er nach Frankreich zurück. Die Lektüre von Friedrich Nietzsche, erklärte er später, habe wohl als Katalysator gewirkt: »Das musst du sehen, das ist ein Test«, sagte er sich. Im Frühjahr 1916 kam Masson an die Front, wenig später wurde er schwer verwundet. Die Brustverletzung, die seine Gesundheit lebenslang beeinträchtigen sollte, und die existenziellen Erfahrungen des Krieges verarbeitete Masson in seinen Werken. So entstand Anfang der 1930er-Jahre eine Serie von Bildern, denen er den Titel »Massacre« gab. Für sie entwickelte er ein semiabstraktes Formenvokabular, mit dem er in großzügigem All-over das gesamte Motiv in tumultartige Unruhe versetzte. Die Dynamik verdankte sich einer eigenwilligen Kombination aus analytischem Kubismus und automatischer Zeichnung, wie sie Masson zuvor als bildnerisches Pendant zur »écriture automatique« der Surrealisten entwickelt hatte. Die Figuren des großformatigen Gemäldes »Massacre« (1931) sind in einzelne Farbflächen zergliedert – doch fallen sie nicht auseinander, sondern verbinden sich vielmehr untereinander und mit der Umgebung, dank des schwungvollen Lineaments. Christian Zervos publizierte ein Jahr später dieses und ähnliche Gemälde von Masson in der Zeitschrift »Cahiers d’art« und stellte den Maler
in eine Reihe mit Pablo Picasso, dessen durch den Kubismus aufgeworfene Probleme der Malerei Masson mit einer Suche nach dem »Wesen der Kunst« beantwortete, die einerseits »im Geheimnis der Emotion« und andererseits in der Anwendung einer »perfektionierten Technik« bestünde. Knapp zehn Jahre später, der Zweite Weltkrieg hatte begonnen, trat Ernst Wilhelm Nay seinen Militärdienst an. Auch er hatte Nietzsche gelesen, doch stand bei ihm weniger das Verlangen nach einer existenziellen Erfahrung im Vordergrund als der Wunsch, einer schier ausweglosen Lage zu entkommen. Von den Nationalsozialisten als »entarteter Künstler« verfemt, konnte er den Lebensunterhalt für sich und seine Frau nur mit Mühe und über private Beziehungen bestreiten. Nay hatte Glück: Im Übungslager in Schwerin an der Warthe (heute Skwierzyna, Polen), ebenso wie im weiteren Verlauf des Krieges, traf er auf freundliche und gebildete Menschen. Zwar geriet auch er an die Front, erlebte harte Märsche und schwere Gefechte, doch blieb er bis zum Ende des Krieges unverletzt. Bereits in der Bretagne fand Nay Zeit zum Aquarellieren. Als er 1942 als Kartenzeichner nach Le Mans versetzt wurde, erhielt er sogar die Möglichkeit, im idyllisch gelegenen Atelier eines französischen Bildhauers zu arbeiten und dessen umfangreiche Bibliothek zu nutzen. Im selben Jahr konnte er auf einer Dienstreise Galerien und Museen in Paris besuchen.
André Masson, »Massacre«, 1931
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Ernst Wilhelm Nay, »Männer mit Stier«, um 1947 André Masson, »Massacre«, 1933 (oben)
Nays Interesse an den neuesten Strömungen der Kunst ist belegt. Zu den erklärten Vorbildern des Künstlers gehörte Ernst Ludwig Kirchner. Doch gab es auch andere Kunstrichtungen, mit denen er sich intensiv auseinandersetzte. So hatte er bereits 1931/32 während seiner Zeit als Stipendiat an der Villa Massimo in Rom eine Reihe von Werken geschaffen, deren archaisierend verrätselte Formen an die surrealistischen Gemälde von Max Ernst und André Masson erinnern. Kurz zuvor, 1931, war die dritte Auflage von Carl Einsteins »Kunst des 20. Jahrhunderts« mit einer Ergänzung über den französischen Surrealismus erschienen. Eine erneute, bislang unbeachtet gebliebene Auseinandersetzung Nays mit der französischen Kunst, insbesondere mit den Werken von Masson, begann 1942 während seiner Zeit in Le Mans. Wie viele dieser Bilder er im Original sehen konnte, ist nicht belegt. Doch gab es Abbildungen in wichtigen Publikationen. So enthielt die erwähnte dritte Auflage der »Kunst des 20. Jahrhunderts« zwölf Schwarz-Weiß- und eine Farbabbildung von Masson. 1932 hatte Christian Zervos elf weitere Werke des Franzosen in »Cahiers d’art« publiziert – darunter das bereits erwähnte Gemälde »Massacre« aus der Sammlung Pietzsch. Nay berichtete später, die Zeitschrift in seiner französischen Zeit gelesen zu haben. In Bildern »voll neuer Formen und Farbideen«, wie Nay 1942 in einem Brief an einen Freund schrieb, entwickelte er in Le Mans eine den Massaker-Werken André Massons erstaunlich verwandte
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Formensprache. In Aquarellen und Gouachen, die in der nachfolgenden »Hekate-Zeit« (1945–48) und in den »Fugalen Bildern« (1949–51) ihre Fortsetzung fanden, erscheinen aus einzelnen Farbfeldern zusammengesetzte Figuren, zusammengehalten und mit ihrer Umgebung verbunden durch ein rhythmisch ausholendes Lineament. Selbst die Farbgebung erinnert bisweilen an die Werke Massons. Inhaltlich zielte Nay hingegen in eine gänzlich andere Richtung. Während in den Bildern Massons die gesamte Welt als Ort einer furiosen, allumfassenden Zerstückelung erscheint, die unterschiedslos Mensch und Natur erfasst, nutzt Nay das Ineinandergreifen der überraschend ähnlichen Einzelformen, um genau das Gegenteil zu erreichen. Nicht der Krieg, das Massaker oder die existenzielle Gefährdung des Menschen sind das Thema seiner Werke, sondern Liebespaare, Schlafende, Mondnächte und immer wieder Frauen. Als »Tochter der Hekate«, »Sibylle« oder »Mélisande« erfahren sie eine literarisch-mythische Überhöhung, die auf der formalen Ebene seiner Suche nach einer neuen, übergeordneten und allein den geistig-abstrakten Regeln der Kunst gehorchenden Wirklichkeit entspricht. »Mit der Bildung neuer Objekte war die Wendung ins Mythische vollzogen«, hatte Einstein 1931 das Kapitel über den französischen Surrealismus beschlossen. Nachdem der Kubismus das klassische Raumschema durchbrochen habe, sei deutlich geworden, dass mit dem Surrealismus »das bekannte Motiv durchaus nicht immer Ende der menschlichen Prozesse sein muß, sondern aus diesen eine noch unbekannte oder unvermutete Gestalt wachsen kann […] nämlich das freie, mythische Schauen«. Eben diese »mythische Schau« war es, die Ernst Wilhelm Nay der existenziellen Verzweiflung entgegensetzte, die zehn Jahre zuvor in den Massaker-Bildern von André Masson ihre Formulierung gefunden hatte. Zugleich verband er sie mit der Idee einer »neuen«, an Kubismus und Surrealismus geschulten, semiabstrakten Formensprache, die wenig später, im Deutschland der Nachkriegszeit, zum Aushängeschild der bundesrepublikanischen Moderne werden sollte. Den Bezug zur menschlichen Figur niemals gänzlich aufgebend – selbst in den allerletzten, abstrakten Gemälden der 1960er-Jahre ist dieser letztendlich zu erkennen –, etablierte diese Formensprache einen höheren, ungegenständlichen Ort, der Trost und Zuversicht zugleich versprach. Text KYLLIKKI ZACHARIAS, Leiterin der Sammlung Scharf-Gerstenberg
Mythos und Massaker – Ernst Wilhelm Nay und André Masson bis 28. April 2024 Sammlung Scharf-Gerstenberg smb.museum
NADIA KAABI-LINKE im Hamburger Bahnhof Die Berliner Künstlerin Nadia Kaabi-Linke erkundet verborgene Spuren von Gewalt, die unbemerkt Geschichte und Gegenwart prägen. Im Zentrum der Ausstellung steht das Projekt »Blindstrom-Extrakte«, das sich auf eine Sammlung von Gemälden bezieht, die in den 1930er-Jahren vom sowjetischen Geheimdienst zensiert und beschlagnahmt wurden. Heute befindet sich die Sammlung im Nationalen Kunstmuseum der Ukraine. Zudem wird die Neuproduktion »Bud’mo«, ein im Frühjahr 2023 in der Ukraine produziertes Video-Klangprojekt, zu sehen sein. Es erzählt von historischen Verbindungen und vergessenen oder ausgeblendeten Überschneidungen der ukrainischen, deutschen und russischen Geschichte. »Nadia Kaabi-Linke. Seeing Without Light«, bis 7. April 2024 smb.museum/hbf Ausstellungsansicht
ERINNERUNGSKAMPF im PalaisPopulaire
Lubaina Himid, »Dreaming Has a Share in History«, 2016
Wie schreiben sich Erinnerungen in unser Gedächtnis ein? Die Werke der Ausstellung erforschen Spuren der Geschichte, und dabei kommen alternative und sogar subversive Sichtweisen der Vergangenheit zum Vorschein. Viele der Künstler arbeiten mit der Differenz zwischen persönlicher und offizieller Erzählung und setzen sich so mit den Ungenauigkeiten der Erinnerung und der Geschichte auseinander. Unsere Aufmerksamkeit wird auf das Übersehene gelenkt, Zeitabläufe werden neu zusammengesetzt, Humorvolles und Absurdes kommt ins Spiel. Die Bedeutung der Sprache für das Erinnern und den Widerstand wird hervorgehoben. Neben internationalen Leihgaben zeigt die Ausstellung Werke aus der Sammlung Deutsche Bank, die in den letzten zehn Jahren angekauft wurden. »The Struggle of Memory. Sammlung Deutsche Bank, Part 2« bis 11. März 2024, palaispopulaire.db.com
WOHNUNGSLOSE FRAUEN im Humboldt Forum Armut ist im Berliner Stadtraum allgegenwärtig. Wohnungslose Frauen werden oft nicht gesehen, gezielt übersehen oder nutzen die Unsichtbarkeit zum Selbstschutz. Auf der Freifläche der Ausstellung »Berlin Global« fokussiert der Verein Querstadtein auf das Thema Wohnungslosigkeit. An Audio-Stationen werden die individuellen Erfahrungen von fünf Protagonistinnen – Anna, Janet, Janita-Marja, Richi und Susanne – vermittelt und in den Kontext gesetzt. Die Audios verdichten Themen wie das Überleben auf der Straße, Gründe für Wohnungs- und Obdachlosigkeit und Gewalterfahrungen. Dabei dokumentieren sie den Mut und die Ausdauer der Frauen, immer wieder aufs Neue für ein selbstbestimmtes Leben einzustehen. »Mitten unter uns. Wohnungslose Frauen* in Berlin«, bis 31. März 2024, Humboldtforum, humboldtforum.org
Blick in die Ausstellung
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MUSEUM EUROPÄISCHER KULTUREN
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Tage wie diese Die Periode als Anlass zum Gespräch? Warum MENSTRUATION auch Spaß machen kann
V
ieles an der Periode scheint selbstverständlich zu sein. Doch der Schein trügt – selbstverständlich ist weder die Tatsache, dass der Mensch als eine von wenigen Spezies überhaupt menstruiert, noch die Regelmäßigkeit, mit der sich die Periode Monat für Monat einstellt. Auch das Wissen über die körperlichen Vorgänge ist es nicht, so wenig wie die Menstruationsprodukte, die uns heute zur Verfügung stehen. Mit »Läuft. Die Ausstellung zur Menstruation« öffnet das Museum Europäischer Kulturen (MEK) den Blick für all das, was nur zeit- und ortsgebunden selbstverständlich scheint, und das, was auch ganz anders sein könnte. Das beginnt bei den Menstruationsprodukten selbst: Deren Geschichte ist länger, als man annehmen mag, und zugleich erstaunlich kurz. Der Markt dafür entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die ersten Menstruationsprodukte patentiert und verkauft wurden. Von Anfang an waren Frauen als Erfinderinnen, Ärztinnen und Unternehmerinnen daran beteiligt, neue Produkte zu entwickeln und zu vermarkten. Manche hatten damit Erfolg, manche waren ihrer Zeit weit voraus und manchen legte die Gesellschaft bei der Umsetzung Steine in den Weg. Als alltagskulturelles Museum befasst sich das MEK insbesondere mit der materiellen Kultur der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart. Betrachtet man die Entwicklung der Menstruationsprodukte über die Jahrzehnte hinweg, fällt auf, dass diese alles andere als linear ist. Nicht jede neue Erfindung setzte sich durch, manche erst nach Jahrzehnten. Schon im 19. Jahrhundert gab es fast alles, was wir heute kennen, aber in etwas anderer Form: Die ersten »Menstruationstassen« auf dem US-amerikanischen Markt ähnelten zwar den heutigen, waren aber umständlich an einer Art Tragegurt befestigt. Die frühen Wegwerfbinden deutscher Hersteller enthielten als saugfähiges Material Holzwolle oder Moos. Auch sie mussten an Gürteln befestigt werden – denn Unterhosen, wie wir sie heute kennen, gab es noch nicht. Die Periodenprodukte belegen, dass es um mehr als das Auffangen von Menstruationsblut ging. Sie erfordern besondere Handlungen im Alltag, bestimmen die Art, wie wir uns kleiden und bewegen, und bringen neue Alltagsgegenstände hervor, wie den sogenannten Hygienemülleimer mit einer besonderen Deckelklappe. Der Umgang mit dem Müll, den wegwerfbare Menstruationsprodukte erzeugen, ist eines der Themen des zweiten großen Ausstellungsbereichs. Darin geht es um die Diskurse, die die
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Menstruation begleiten. Denn seit sich Menschen mit der Menstruation beschäftigen, gibt es Theorien dazu und Annahmen, was die Menstruation für Menstruierende bedeutet oder bedeuten sollte und wie der richtige Umgang damit auszusehen hat. Und auch hier ist nichts selbstverständlich oder einfach. Ob es nun um Normalität geht, um Aufklärung, Stimmung, Leistungsfähigkeit oder andere Themen – in all diesen Bereichen gab und gibt es unterschiedliche Ansichten, von denen keine die einzig richtige ist, sondern die sich als mögliche Haltungen in Zeit und Ort wandeln oder nebeneinander bestehen. Kennzeichnend für sie alle ist, dass sie mit Ansprüchen und Anforderungen an Frauen einhergehen – und zu oft auch mit manifesten Nachteilen. Betrachtet man etwa die Frage nach der Leistungsfähigkeit oder der Schonungsbedürftigkeit Menstruierender, so fällt auf, dass jedes Jahrzehnt mit eigenen, zum Teil konträren Ansichten aufwarten konnte. Der sogenannte »Menstruationsurlaub« etwa, die Möglichkeit einer menstruationsbedingten Auszeit, die heute als Teil progressiver Unternehmensführung gilt und Anfang 2023 in der spanischen Regierung zu heißen Debatten führte, wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts erwogen. Damals allerdings waren es gar nicht so fortschrittliche Ärzte, die bürgerlichen Frauen ein paar Tage Auszeit jeden Monat empfahlen und damit begründeten, weshalb Frauen sich für das universitäre Studium nicht eigneten. Am eindeutigsten sind die gesellschaftlichen Folgen in Bezug auf das Tabu. Zwar gilt auch hier: Von einem einzigen, universalen Tabu kann nicht die Rede sein. Und auch für die letzten Jahrzehnte lassen sich verschiedene Bewegungen konstatieren. So werben seit ein paar Jahren Firmen zunehmend damit, endlich, als einzige, und zwar wirklich das Menstruationstabu zu brechen. Zugleich bezeichnete eine große deutsche Zeitschrift die Menstruation schon in den 1970er-Jahren als das letzte Tabu, das gerade gebrochen würde. Insgesamt herrscht aber weiterhin eine Sprachlosigkeit vor, die dafür sorgt, dass Menstruierende dem Arbeitgeber Schmerzen lieber verschweigen oder Freundinnen nur hinter vorgehaltener Hand nach Tampons fragen. Diese Sprachlosigkeit ist kein privates Problem, sondern schlägt sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen nieder. Dass der Forschungsmangel in Bezug auf die Menstruation eklatant ist, dürfte spätestens mit dem Aufkommen der Debatte über Endometriose ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen sein.
Läuft. Die Ausstellung zur Menstruation bis 6. Oktober 2024 Museum Europäischer Kulturen smb.museum
Menstruationsprodukte: Zeitstrahl in der Ausstellung
Zu den Selbstverständlichkeiten in Bezug auf die Menstruation gehört dementsprechend auch, dass nur vermeintlich alle Tatsachen bekannt sind. Doch schon bei den grundlegenden Fakten fehlt Wissen: Wie groß ist der Blutverlust wirklich? Was ist eigentlich ein durchschnittlicher Zyklus? Bekanntes vermittelt das MEK in der Ausstellung anhand von Schaubildern. Eine Gynäkologin erläutert im Interview den aktuellen Wissensstand und die Forschungslücken. Auch falsche Theorien spielen in der Ausstellung eine Rolle – von Ärzten, Psychologinnen und Forschenden vertretene Ansichten, die wissenschaftlich als State of the Art der Zeit galten, sich später jedoch als unhaltbar erwiesen. Berühmtestes Beispiel ist das sogenannte Menotoxin, das Periodengift, das der Arzt Béla Schick 1920 angeblich nachgewiesen hatte. Es sollte dafür verantwortlich sein, dass Blumen welken und Speisen verderben. Die Studie war mangelhaft, diente Zeitgenossen aber als Bestätigung dafür, dass man Frauen von bestimmten Tätigkeiten ausschließen sollte. Auch wenn das Thema »Menstruation« manchen nach wie vor als heikel gilt, die Ausstellung kann und soll Spaß machen. Dafür sorgen unter anderem Hands-On-Stationen, wie die, an der sich »Wäsche für besondere Zeiten« aus dem frühen 20. Jahrhundert anprobieren lässt. Das sorgt für Rätselraten bei der Frage, wo denn vorne und hinten ist und wozu die vielen Bänder und Knöpfe dienen.
Ausschnitte aus Filmen und Musikvideos, Kunstwerke und Comedy bringen ebenfalls zum Lachen, regen zum Nachdenken und zum Austausch an. Auch an anderen Stationen ist Mitwirkung gefragt: Sind wirklich alle Menstruierenden vor dem Einsetzen der Menstruation schlecht gelaunt und wie geht es mir da? Finde ich es gut, dass es nun ein Perioden-Emoji gibt, oder eher überflüssig? Und welche Geschichte wollte ich schon immer erzählen? Das wichtigste Ziel der Ausstellung ist es, einen Gesprächsanlass zu bieten. Das hat zur Überraschung von uns Kuratorinnen bereits im Vorfeld funktioniert: Auf die Ankündigung der Ausstellung reagierte das Gegenüber oft unmittelbar mit einer Geschichte, mit eigenen Erfahrungen, die zum Teil Jahrzehnte zurücklagen. Auch in der Ausstellung lässt sich das seit der Eröffnung beobachten: Besucherinnen und Besucher bleiben über Stunden, teilen Erfahrungen und Ideen, kommen mit anderen ins Gespräch. Und auch wenn das MEK verachtende Mails bekommt, was dieses Thema denn in einem Museum zu suchen hätte: Allein die vielen Gespräche, die bereits angestoßen wurden, zeigen, wie notwendig die Ausstellung ist. Text JANA WITTENZELLNER, stellvertretende MEK-Direktorin
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Buried Memories. Vom Umgang mit dem Erinnern. Der Genozid an den Ovaherero und Nama
Stein des Anstoßes
bis 21. Juli 2024 Museum Neukölln museum-neukoelln.de
Wie lässt sich zeitgemäß der Verbrechen der Kolonialzeit gedenken? Ein DENKMAL in Neukölln ist Ausgangspunkt einer gemeinsamen Suche nach Antworten
as Ausstellungs- und Akademieprogramm »Buried Memories. Vom Umgang mit dem Erinnern. Der Genozid an den Ovaherero und Nama« greift mit dem Vokabular des Museums das wichtige erinnerungspolitische Thema des Umgangs mit der Kolonialzeit auf: Es zeigt, analysiert und ermöglicht einen Dialog mit der Stadtgesellschaft. Die Ausstellung gibt Impulse für eine vielschichtige Reflexion, der Dialog vermisst gemeinsam den Möglichkeitsraum für einen zeitgemäßen Umgang mit dem kolonialen Erbe. Die Führungen, Workshops, Performances und Seminare werden zu digitalen Exponaten auf der Website der Ausstellung und dokumentieren den vielfältigen Diskurs. Im Anschluss an die Laufzeit wird der Erfahrungsbericht zugleich zur Handlungsempfehlung für den künftigen Umgang mit dem Gedenk-Ensemble auf dem Friedhof am Columbiadamm. Den historischen Ankerpunkt der Ausstellung bildet der sogenannte Herero-Stein. Dieses Denkmal befand sich ursprünglich auf dem Gelände der Kaserne des Kaiser-Franz-Garde-GrenadierRegiments Nr. 2 in Berlin-Kreuzberg. Seit 1973 steht der Stein – auf Initiative der Afrika-Kameradschaft Berlin und des Traditionsverbands ehemaliger Schutz- und Überseetruppen – auf dem Friedhof am Columbiadamm. Er dokumentiert in seiner ursprünglichen Gestaltung eine koloniale Perspektive, da ausschließlich sieben deutscher Soldaten des Regiments gedacht wird, die im damaligen Deutsch-Südwestafrika zu Tode kamen. Im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte ist der Herero-Stein zur Projektionsfläche widerstreitender Gedenkkulturen geworden: Einerseits nutzen ihn die Traditionsverbände, um am Volkstrauertag ihrer in Afrika getöteten Kameraden zu gedenken, andererseits ist er für die Aktivist*innen der dekolonial-aktivistischen Zivilgesellschaft ein Medium, um mit Farbattacken auf den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts hinzuweisen und die bislang klaffende Lücke in der (bundesdeutschen) Erinnerungskultur bei der Aufarbeitung des kolonialen Erbes sichtbar zu machen. Die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung hatte angeregt, »das Ensemble zum Gedenken an die Opfer des Völkermordes an den Ovaherero und Nama auf dem Garnisonsfriedhof umzugestalten. Dazu soll unter Federführung des Museums Neukölln der BVV in der 1. Jahreshälfte 2023 ein Konzept vorgestellt werden«. Basierend auf dieser kulturpolitischen Forderung stellt das Museum Neukölln dem kolonialen Blick die dekolonisierte Perspektive der namibischen Künstlerin Isabel Tueumuna Katjavivi gegenüber. Um die Ausstellung mit der raumgreifenden Installation »They tried to bury us« – der Titel der Schau ist eine Referenz dazu – betreten zu können, muss man zunächst den »Vorhang der widerstreitenden Narrative« durchschreiten. Die Szenografie ist flexibel und partizipativ gestaltet, um den im Verlauf der Ausstellung geführten Debatten Raum geben zu können. Die Meinungen, Erkenntnisse, Erlebnisse und Erfahrungen, die sich im Verlauf der Ausstellung ergeben, werden fortlaufend im Blog auf der Ausstellungswebsite dokumentiert. Die Installation soll dem historischen Trauma dieses Genozids, das die Überlebenden und ihre Nachkommen seit Generationen belastet, im wahrsten Sinne des Wortes ein Gesicht geben und das Gefühl des psychischen Eingeschlossenseins aufbrechen. Die im Sand verborgenen Masken symbolisieren die 70.000 getöteten Menschen – und repräsentieren gleichzeitig die verschütteten und verdrängten Erinnerungen an diese grausamen Ereignisse. Die Besucher*innen werden mit der Gegenüberstellung der dekolonisierten Perspektive – der Darstellung des nicht gezeigten Leidens
MUSEUM NEUKÖLLN
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der Ovaherero und Nama – und der kolonialen Perspektive des sogenannten Herero-Steins konfrontiert. Eine Timeline aus Fakten und zeitgenössischen Zitaten ermöglicht dem Publikum, sich die historischen Ereignisse, das kollektive Verdrängen und die Negation eigenständig zu erschließen und einzuordnen. Über einhundert Jahre – bis 2021 – währte der Prozess, die Gräueltaten, die unter Befehl Lothar von Trothas begangen wurden, auch von deutscher Seite als Völkermord anzuerkennen. Der Untertitel »Vom Umgang mit dem Erinnern« betont den Impuls der Ausstellung für einen mitfühlenden Dialog innerhalb der Stadtgesellschaft. Hier setzt die Arbeit der Museumsakademie ein. An der Schwelle zwischen Geschichte, Kunst und Gesellschaft soll ein gemeinsames Verständnis der historischen Wahrheit entwickelt werden – eine gemeinsame Sprache mit einem neuen Vokabular und einer neuen Grammatik zur Beschreibung von Trauer, Schmerz und Trauma. Auf dieser Grundlage, so die Hoffnung, kann eine gegenseitige Heilung in Gang kommen. Gemeinsam haben Afrotak TV CyberNomads, die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland und das Museum Neukölln die Idee entwickelt, insbesondere Personen aus der engagierten Zivilgesellschaft zur inhaltlichen Ausgestaltung dieses Dialoges einzuladen. Für die Konzeption und Realisation wünscht sich das Museum Neukölln Partner*innen aus der Zivilgesellschaft, die fachlich fundierte Module im Rahmen der Neuköllner Museumsakademie anbieten. Das Spektrum reicht von Führungen, Workshops, Lesungen und Diskussionen bis hin zu experimentellen künstlerischen Performances. Auch während der Ausstellung wird dieser Call for Moderators geöffnet bleiben. Um für dieses ambitionierte Begleitprogramm einen adäquaten Raum zu schaffen, wurde mit Unterstützung der Freunde und Förderer Schloß Britz e. V. – in Erweiterung des Bonmots, dass der Kopf rund ist, damit das Denken die Richtung ändern kann – eine mongolische Jurte erworben. Sie wird im Garten des Museums ihren Platz finden: ganz in der Nähe der Ausstellung und doch ein eigenständiger Raum, um Dialoge zu führen. Text MATTHIAS HENKEL, Leiter Museum Neukölln, ISABEL TUEUMUNA KATJAVIVI, Co-Kuratorin und Künstlerin
»Herero-Stein« nach der Intervention der dekolonial-aktivistischen Zivilgesellschaft, 2022/23 / »They tried to bury us«, 2018 (links)
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