Museumsjorunal 04/2024

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Ausstellungen

4/24

OKTOBER NOVEMBER

DEZEMBER

NOAH DAVIS

Erinnerung an den Maler des Underground

AUFKLÄRUNG

Wie stellt man die Philosophie der Vernunft aus?

FRIEDLICHE REVOLUTION

Vor 35 Jahren fiel die Berliner Mauer

GROPIUS BAU

Die Direktorin Jenny Schlenzka im Interview

INHALT

PANORAMA

8

Schwarzer Alltag

Das Minsk zeigt das Politische in der Malerei von Noah Davis

10

Blickfang

Ein Geschenk, das man nicht ablehnen kann

Geh doch nach Mitte!

Das Café Bravo hat das Zeug zum Klassiker

11

Momentaufnahme

Wie bringt man TXL wieder zum Fliegen?

12

Auf dem Posten

Das Personalkarussell in Berlin dreht sich gewaltig

13

News

Aus den Berliner Institutionen

14

Kolumne

Neue Nachhaltigkeit

Neue Bücher

Leselust im Herbst

16

Tagesreise nach Brandenburg

Exkursion in eine ferne Vergangenheit

Nan Goldin, »Max with a Gun, Provincetown, MA«, 1976
NAN GOLDIN 54
Cover: Noah Davis,»40 Acres and a Unicorn«, 2007
NOAH DAVIS

INTERVIEW Jenny Schlenzka

20 Gropius Bau

Wie Jenny Schlenzka eines der größten Ausstellungshäuser der Hauptstadt umkrempeln will

FOKUS 35 Jahre Mauerfall

30

Friedliche Revolution

Wie Berlin das Jubiläum des Mauerfalls zelebriert

34 Tipps

Ausstellungen und Veranstaltungen

Rineke Dijkstra fotografierte die Jugendlichen 1993 in Odessa

AUSSTELLUNGEN

38

Jugendstil

In der Berlinischen Galerie ist Rineke Dijkstra auf Identitätssuche

41

Naturschönheit

Im Gutshaus Steglitz ist die Malerin Franek zu entdecken

42

Metropole im Licht

Die Alte Nationalgalerie flaniert mit Claude Monet durch Paris

45

Blick auf die Stadt

Die Kunst der Vedute in der Tchoban Foundation

Neue Direktorin im Gropius Bau
Claude Monet, »Quai du Louvre«, 1867

Gisèle Vienne, Series »Portraits 42/63«, 2024

GISÈLE VIENNE

46

Pioniere an der Platte

Impressionistische Druckgrafik im Kupferstichkabinett

48

Mut zur Rebellion

Das Museum Barberini wagt sich an Maurice de Vlaminck

52

Theatralisch

Calla Henkel und Max Pitegoff bitten im Fluentum auf die Bühne

54

Diashow

Blick auf das Werk von Nan Goldin in der Neuen Nationalgalerie

56

Kollektives Gedächtnis

Das Museum Karlshorst erinnert an die Folgen des Hitler-Stalin-Paktes

57 Semiha Berksoy im Hamburger Bahnhof

Rohini Devasher im Palais Populaire

Ingeborg Flierl im Museum Pankow

58

Korallenfans unter sich

Joan Fontcuberta geht in der Alfred Ehrhardt Stiftung auf Darwins Spuren

60 Philippinen

Wie Kiri Dalena gegen Ungerechtigkeit kämpft, zeigt der N. B. K.

62

Ideologieverdacht

Andrea Pichl zeigt im Hamburger Bahnhof, was sich hinter Ornamenten verbirgt

64

Agenturjournalismus

Neueste Nachrichten im Museum für Kommunikation

66 Wohnen und Leben

Auf Hausbesuch bei Tracey Snelling im Haus am Lützowplatz

68 In Davos am Webstuhl

Das Brücke-Museum erzählt von der Textilkünstlerin Lise Gujer

70

Frau und Leserin

Das Hugenottenmuseum feiert den 200. Geburtstag von Emilie Fontane

71

Annette von Droste-Hülshoff im Stabi Kulturwerk

Roger Melis in der Galerie Pankow

Candida Höfer in der Akademie der Künste

Tracey Snelling, »Big Fuck«, 2020

Max Ernst, »Eine weitere Laune der Venus«, 1961

72

Vernünftig

Das DHM würdigt die Philosophie der Aufklärung

74

Puppenstuben

Gisèle Vienne gastiert im Haus am Waldsee und im Georg Kolbe Museum

76

Collage

Das Museum für Fotografie macht Ernst mit Max Ernst

78

Ironie ist möglich

Der Schinkel Pavillon zeigt Sigmar Polke

80

Metamorphosen

Samuel Fosso schlüpft im Kindl in viele Rollen

83

Robert Liebknecht im Mitte Museum Wohnungslose Frauen im Humboldt Forum Nach der Natur bei C/O Berlin

EINBLICKE

86

Auf dem Weg ins Baukunstarchiv

Das Architekturbüro Sauerbruch Hutton stellt in der Akademie der Künste aus

88

Begegnung mit Rom Landau

Im Nachlass von Georg Kolbe wurde eine überraschende Entdeckung gemacht

90 Scherenschnitt

Das Museum Europäischer Kulturen erzählt die Geschichte jüdischer Amulette

91

Archäologie

Forschungsergebnisse aus Afrika in der James-Simon-Galerie

92 Ahmadiyya-Moschee

Ein Ort der muslimischen Reformbewegung in Berlin

93 Vermittelnd

Seit 50 Jahren ist die Kommunale Galerie Berlin aktiv

93 Aufgeräumt

Das Museum Spandau geht in sich

ELISA TAMASCHKE

Elisa Tamaschke ist Kuratorin am Georg Kolbe Museum. Sie studierte Kunstgeschichte und Evangelische Theologie in Leipzig. Von 2011 bis 2016 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale) und wurde dort über den Schweizer Künstler Otto Meyer-Amden promoviert. Im Georg Kolbe Museum ist sie für die Bereiche Ausstellungen, Forschung und Publikationen zuständig. Seit 2020 forscht Tamaschke zum Nachlassteil Georg Kolbes aus dem Erbe seiner Enkelin. (S. 88) In diesem Kontext leitete sie 2022 die Tagung »Georg Kolbe im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche in Leben, Werk und Rezeption« und gab die begleitende Publikation mit heraus. Sie publiziert zu moderner und zeitgenössischer Kunst und bereitet zurzeit für 2025, in dem das Haus sein 75. Jubiläum feiert, eine Ausstellung zur Institutionsgeschichte des Georg Kolbe Museums vor.

KATHRIN BECKER

BICE CURIGER

Die Schweizer Kunsthistorikerin und Kuratorin Bice Curiger ist seit 2013 Gründungsdirektorin der Fondation Vincent van Gogh im südfranzösischen Arles. Sie war im Jahr 2011 künstlerische Leiterin der 54. Kunstbiennale von Venedig und von 1992 bis 2013 Kuratorin am Kunsthaus Zürich. Seit 1984 schrieb Curiger zahlreiche Kunstbücher. Bekannt wurde sie auch als Mitherausgeberin der Kulturzeitschrift »Parkett«. Mit dem Künstler Sigmar Polke verband Curiger eine lange Arbeitsbeziehung. Sie lernten sich 1974 kennen und bereits als Studentin verfasste Curiger ihren ersten Essay über ihn. In der Folge hat sie mehrfach über seine Fotografie und sein malerisches Werk geschrieben sowie viele Polke-Ausstellungen kuratiert –aktuell die Schau »Der heimische Waldboden« im Schinkel Pavillon. (Seite 78)

Die Kunsthistorikerin Kathrin Becker war bis 2019 Geschäftsführerin und Kuratorin des Neuen Berliner Kunstvereins und hat dessen Video-Forum geleitet. Seit Februar 2020 ist sie künstlerische Direktorin des Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst. In dem beeindruckenden ehemaligen Brauereigebäude in Neukölln gibt es genügend Platz für die Themen, die sie schon ihr gesamtes berufliches Leben interessieren: interkulturelle und transnationale Fragestellungen, die Rolle der bildenden Kunst in der Gesellschaft sowie der Komplex von Exklusion und Inklusion in zeitgenössischen Kulturen. Für Becker passt die Ausstellung von Samuel Fosso (S. 80) und sein Spiel mit Identitäten sowie medialen Bildern sehr gut zu Berlin.

Unter der Leitung von Jenny Schlenzka soll der Gropius Bau weniger elitär werden.

»Wie kann man verhindern, dass ein Museum sich wie ein

Mausoleum anfühlt?«

Beim Aufbau ihrer ersten Ausstellung im Gropius Bau hat uns die Direktorin JENNY SCHLENZKA erzählt, was sie Künstlern zutraut, dass ihr Haus freies Spiel braucht und warum dort auch gekocht wird

Eben noch ein Symbol für Spaltung und Kalten Krieg: Im November 1989 wurde die Berliner Mauer zum Ort einer der größten Freudenfeiern der Geschichte

Der Wille zur Freiheit

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer und kurz darauf die kommunistische Diktatur in der DDR. Der Mauerfall war der Höhepunkt der FRIEDLICHEN REVOLUTION –der Mut der Menschen ging in die Geschichte ein

Die zentralen Werte der Friedlichen Revolution waren Freiheit, Demokratie und Menschenrechte. Dass während der Proteste 1989/90 mutig die Forderungen mit Plakaten und Transparenten auf die Straße gebracht wurden und die Menschen sich damit erfolgreich gegen den Staat auflehnten, zeigt eindrücklich, dass der Wille zur Freiheit selbst eine Mauer aus Beton und eine scheinbar unüberwindbare Diktatur ins Wanken bringen kann.

Im November 2024 erinnern Kulturprojekte Berlin gemeinsam mit zahlreichen Partnern an die Friedliche Revolution und den Mauerfall. Berlin feiert das 35. Jubiläum mit einer über vier Kilometer langen Installation von Schildern und Plakaten, auf denen die Menschen ihre Haltung zu Freiheit und Demokratie zum Ausdruck bringen. Zwischen Invalidenstraße und Axel-Springer-Hochhaus

entsteht so eine Inszenierung des ehemaligen Mauerstreifens, die den Mut der Beteiligten würdigt, indem optisch und inhaltlich Reminiszenzen an die Bilder demonstrierender Menschen während der Friedlichen Revolution geschaffen werden. Der ehemalige Mauerverlauf – einstige Trennlinie zwischen staatlicher Bevormundung und Meinungsfreiheit – wird so mit einem positiven Bild des Errungenen aufgeladen.

Berlin dankt den damals Beteiligten mit einem Vorhaben, das ihre Werte ins Zentrum rückt. Doch was waren eigentlich diese Werte? Was war die Friedliche Revolution und wie führte sie zum Mauerfall?

Die Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) war in der Verfassung der DDR festgeschrieben. Der Protest gegen diese Diktatur begann nicht erst 1989 – vielmehr hatte es ihn immer

gegeben – doch er wurde 1989 immer lauter. Vor allem die Kommunalwahlen im Mai verstärkten den Unmut: Oppositionelle Gruppen konnten erstmals Wahlfälschung nachweisen – bei unfreien Schein-Wahlen, deren einziger Zweck es war, die Macht der SED zu legitimieren. Im Sommer und Herbst 1989 forderten immer mehr DDRBürger*innen Grundrechte wie Reise-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und demokratische Reformen. Ausgehend von den Montagsdemonstrationen in Leipzig versammelten sich bald Hunderttausende im ganzen Land. Damit standen die Menschen in der DDR jedoch weder allein noch am Anfang. Denn überall in Ostmittel- und Südost-Europa gingen 1989 immer mehr Menschen in den aktiven Widerstand gegen die kommunistischen Diktaturen. Neben der DDR waren unter anderem die

Ziviler Protest ging dem Mauerfall voraus: Demonstration von rund 300 Personen am 8. Juni 1989 in Ost-Berlin

AUSSTELLUNGEN

Wo viel Licht ist

Die impressionistische Malerei revolutionierte das Sehen.

In der DRUCKGRAFIK gingen die Künstler noch einige radikale Schritte weiter

»Das Rennen«: Lithografie von Édouard Manet aus dem Jahr 1865

Seerosen, Sonnenaufgänge, Licht- und Schatteneffekte: Fast jeder hat eine Vorstellung davon, was ein impressionistisches Gemälde ausmacht. Daneben gibt es aber auch einen anderen, weniger erforschten, teils sogar noch völlig unbekannten Impressionismus: Zum 150. Jubiläum dieser Stilrichtung präsentiert das Berliner Kupferstichkabinett bislang selten oder nie gezeigte Druckgrafiken von 40 Künstlerinnen und Künstlern aus sechs Nationen, unter anderem von Édouard Manet, Pierre-Auguste Renoir, Mary Cassatt, James Whistler und Lesser Ury; außerdem malerische Fotografien des Piktorialismus sowie Radierungen von Rembrandt van Rijn, der bereits im 17. Jahrhundert die Welt mit den Augen des Impressionismus gesehen hat.

In der Druckgrafik versuchte man wie in der Malerei Lichtreflexe im Kunstwerk zu bannen: das Glitzern von Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche oder nächtliche Spiegelungen von elektrischer Beleuchtung. Im Schwarz-Weiß der Druckgrafik ließen sich zudem atmosphärische Phänomene wie Regen, Nebel und sogar Smog besonders gut darstellen Den Pionieren der Originalgrafik gelang es mit Hilfe der protofotografischen Technik des Cliché verre (Glasklischeedruck) die Sonne selbst als Zeichnerin zu gewinnen. Ab Mitte der 1850er-Jahre trafen sich Künstler wie Camille Corot und Charles-François Daubigny im Wald von Fontainebleau, um mit der Technik des Glasklischeedrucks zu experimentieren. Als Druckplatte verwendeten sie Glasscheiben, auf die sie eine lichtundurchlässige Schicht aufbrachten und mit der Radiernadel ihre

Zeichnungen hineinritzten. Legten sie die Platte anschließend auf ein fotosensibel gemachtes Papier, wurde der Belichtungsprozess durch die Sonne ausgelöst und die Zeichnung sichtbar. Seit 1862 orientierten sich Maler wie Édouard Manet, Johan Barthold Jongkind oder Francis Seymour Haden an Rembrandts Maler-Radierungen und ließen sich davon zu eigenen Werken inspirieren. Manche, wie Camille Pissarro, Edgar Degas oder später auch der Niederländer Charles Storm van’s Gravesande, überarbeiteten ihre Druckplatten nach jedem Vorgang neu. So entstanden »Zustandsdrucke«, also neue Originale innerhalb einer Serie. Andere, wie der Schwede Anders Zorn, interpretierten eigene Gemälde als Druckgrafiken. Seine Radierungen wirken flimmernd, unmittelbar und spontan. Seit den 1880er-Jahren waren Édouard Manet oder Eugène Carrière von Schatten und vom Immateriellen fasziniert. Sie schufen als Lithografen malerische und geheimnisvoll anmutende Impressionen. Pierre-Auguste Renoir oder Paul Signac nutzten die Lithografie für farbige und wie schwebend erscheinende Lichtstimmungen, so zart und lichthaltig, wie ihnen das in der Malerei nie gelingen konnte. Vollkommen entgegengesetzt sind die Werke von Frank Brangwyn zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Er wählte riesige Druckplatten und setzte den Plattenton – also die Druckerschwärze auf der Druckplatte – malerisch in Szene; er ätzte seine radierten Linien besonders tief, so dass sie sich im Druckbild nach oben wölben wie Narben auf menschlicher Haut. Seine Werke haben nichts mehr mit jenen Radierungen zu tun, die kultivierte Grafikkenner in ihren Sammelmappen bewahrten. Im Gegenteil, diese Arbeiten hatten den Anspruch von Gemälden, die wandfüllend ganze Räume beherrschen konnten.

Gedruckt oder belichtet, schwarz-weiß oder in Farbe: Die neuen Druckgrafiken bahnten dem Impressionismus den Weg ins Museum. 1881 war mit einer Ausstellung von »Maler-Radierungen französischer und englischer Künstler der Neuzeit« diese internationale Kunst erstmals in die Berliner Museen geholt worden. Dieser Coup war eine Revolution des Sehens, galt doch die Kunst des Impressionismus zu dieser Zeit noch keineswegs als museumswürdig. 740 Druckgrafiken wurden damals präsentiert – allesamt Leihgaben –, darunter einige, die in der aktuellen Ausstellung zu sehen sind, wie etwa Meisterwerke von Manet, Daubigny, Corot, Haden oder Whistler. Mit der damaligen Ausstellung wurde das Publikum für die Moderne begeistert, die zeitgenössische Künstlerschaft in Deutschland erhielt neue, internationale Impulse, und am Berliner Kupferstichkabinett nahm mit der modernen Druckgrafik ein neuer Sammlungsschwerpunkt seinen Anfang.

Text ANNA MARIE PFÄFFLIN, Kuratorin für Kunst des 19. Jahrhunderts

Der andere Impressionismus. Internationale Druckgraphik von Manet bis Whistler bis 12. Januar 2025 Kupferstichkabinett smb.museum

Anders Zorn radierte das »Bildnis der Tänzerin Rosita Mauri« im Jahr 1889

Anarchist der Farben

Auf der Leinwand von MAURICE DE VLAMINCK

explodierte der Impressionismus zum Expressionismus.

Die Retrospektive zeigt weitere Widersprüche

Mit expressiven Farben machte vor dem Ersten Weltkrieg eine junge Kunst auf sich aufmerksam. In Deutschland gründete sich 1905 die Künstlergruppe »Die Brücke«. In Frankreich traten im selben Jahr junge Künstler mit provozierenden Gemälden auf dem Pariser Herbstsalon in die Öffentlichkeit. Kritiker empfanden das heftige Kolorit als ungezähmt und beschimpften die Gruppe als »Wilde« (»fauves«). Neben André Derain, Henri Matisse und Kees van Dongen gehörte auch Maurice de Vlaminck zu den Neuerern. Zeitgleich zum Entstehen des Expressionismus in Deutschland setzten sie in einem bis dahin ungekannten Maß auf die Kraft der Farbe.

In Dresden geriet eine Ausstellung mit Werken Vincent van Goghs zum Auslöser. Die Brücke-Künstler griffen nach der neuen Freiheit des künstlerischen Ausdrucks und formulierten das Manifest einer Jugendbewegung: Sie lehnten die Kunst an den Akademien ab und reklamierten neue Handlungsspielräume. In Frankreich transformierten die Fauvisten den Impressionismus. Wiederum war es van Gogh, dem sie folgten. Sie wollten seinen Einsatz von Primärfarben und Komplementärkontrasten zu einer Malerei steigern, die Lebensfreude und den unkonventionellen Lebensstil der Jungen zum Ausdruck brachte. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Kunst in einer bis dahin ungekannten Weise international. Der französische Impressionismus hatte Europa, Amerika und Japan erreicht. Landschaftsmalerei unter freiem Himmel führte die traditionelle Kunst ins 20. Jahrhundert: Jetzt zählte die subjektive Beobachtung. Tradition wurde verworfen, die eigene Wahrnehmung bildete den Ausgangspunkt. Im Übergang vom Impressionismus zum Expressionismus wandelte sich mit dem Jahr 1905 die Ausrichtung: An die Stelle von Beobachtung trat nun der Ausdruck von Emotionen. Die Fauvisten luden ihre Farbigkeit unter dem Licht des Südens auf. Doch Maurice de Vlaminck ging nicht wie die Fauvisten Henri Matisse und André Derain an die französische Riviera. Wie die

Maler der Brücke ihren Südseetraum an den Moritzburger Seen realisierten, blieb Vlaminck zeitlebens an den Orten der Impressionisten und entwickelte dort seine explosive Farbigkeit. Die antimilitaristische Literatur der Anarchisten wurde zu seiner Triebfeder. Er bewunderte Claude Monet, Berthe Morisot, Pierre-Auguste Renoir, Camille Pissarro und Alfred Sisley und malte deren Motive entlang der Schleife des Flusses Seine.

Der passionierte Radrennfahrer verdiente seinen Lebensunterhalt zunächst als Musiker. Er sah sich als Autodidakt, Außenseiter und Rebell im Kunstbetrieb. Doch der Händler Ambroise Vollard, der Van Gogh, Cézanne und Picasso schon erworben hatte, als diese noch umstritten waren, kaufte bereits 1905 den Großteil von Vlamincks Atelierbestand. Das ermöglichte dem Künstler, sich fortan auf die Malerei zu konzentrieren. Innerhalb weniger Jahre schuf er ein umfangreiches Œuvre. Seine Werke befinden sich heute weltweit in den bedeutendsten Museen und Sammlungen europäischer Kunst der Klassischen Moderne.

Vlaminck hatte sein Auge für die Topografie des Seine-Tals auf ausgedehnten Radtouren sowie als Wassersportler geschult. Er stellte seine Landschaften, die die Spontanität der Freilichtmalerei der Impressionisten mit einem in leuchtenden, unvermischten Farben gesteigerten Kolorit verband, bald international aus. So war er mit sechs Gemälden auf der wegweisenden Sonderbund-Ausstellung in Köln 1912 ebenso vertreten wie auf der Armory Show im folgenden Jahr in New York. Der wie Vollard gegenüber allem Neuen aufgeschlossene Berliner Kunsthändler Herwarth Walden zeigte Vlaminck 1912, im ersten Jahr des Betriebs seiner Galerie »Der Sturm«. Vlaminck sah sich in seinem rebellischen Geist von Autoren wie Pjotr Alexejewitsch Kropotkin und Élisée Reclus bestätigt, die er während seiner dreijährigen Militärzeit um 1900 gelesen hatte. Sie bestärkten ihn in seiner Ablehnung von Militarismus und Staatsraison. Während des Ersten Weltkriegs wurde Vlaminck als Vater dreier Töchter nicht an die Front geschickt, sondern in einer Waffenfabrik

Wild aufs Malen: Maurice de Vlaminck, »Frau mit Hut«, 1905

Was für ein Theater!

Künstlerische Arbeit wird bei CALLA HENKEL und MAX PITEGOFF zur unendlichen Performance

Die Räume, die Calla Henkel und Max Pitegoff seit über einem Jahrzehnt organisieren, funktionieren generativ – sie füllen sich scheinbar wie von selbst mit Inhalten und verleihen allem, was darin passiert, den Charakter einer latenten Fiktionalität. Im Falle der TV Bar, die sie von 2019 bis 2022 in Berlin-Schöneberg betrieben, handelte es sich jedoch auch schlicht um eben das: eine Bar, die den üblichen Regularien unterliegt, zermürbend alltägliche Abläufe erfordert und den Gästen einen Raum bietet, in dem es in Ordnung ist, wenn über mehrere Wochen auch mal nichts Signifikantes passiert.

Henkels und Pitegoffs künstlerische Arbeiten entstehen dabei wie ein weiteres Abfallprodukt neben verwelkten Blumen und zerbrochenen Gläsern. Statt die Aktivitäten innerhalb der Räume zu dokumentieren, verwenden sie Formen, Momente, wenig glamouröse Abrechnungszettel oder die abgenutzte Architektur als Material für ihre Fotografien, Performances und Filme. So auch im New Theater Hollywood, das sie seit Januar 2024 betreiben und das als Schauplatz und Protagonist ihres neuen Episodenfilms »Theater« fungiert.

Auf den ersten Blick scheint ein Theater der Vorstellung eines autarken, offenen Raumes, wie es die TV Bar war, zu widersprechen. Im Theater sind die Bühne im Gegensatz zum Backstage-Bereich, Performer und Skript auf der einen, Publikum und Improvisation auf der anderen Seite, feste Größen, entlang derer Aufmerksamkeit und Bedeutung definiert werden. Diese Eindeutigkeit macht es umso reizvoller, die Eckpfeiler in Frage zu stellen. Mit ihrem neuen Episodenfilm, der parallel zur Arbeit im Theater entsteht, überbrücken Henkel und Pitegoff diese Trennung - ohne wirklich eine andere Wahl zu haben. In der Geschichte einer Person, die sich ein Theater kauft, um mit neuen Bekanntschaften ihr Bedürfnis nach Gemeinschaft zu stillen, wird das reale Theater plötzlich in allen seinen Facetten bedeutsam.

Das Überblenden von Fiktion und dokumentarischen Überbleibseln der Performances kennzeichnet ihre Herangehensweise: Henkel und Pitegoff arbeiten mit Material, das sie während der Proben im New Theater Hollywood aufnehmen und das man im herkömmlichen Theaterkontext oder in einer Ausstellung nicht (mehr) zu Gesicht bekommt. Die Produktion als unsichtbarer Prozess bildet so den inhaltlichen Unterbau für die Erzählung. Das New Theater Hollywood ist, genauso wie »Theater«, auf dem ehemals florierenden Santa Monica Boulevard angesiedelt, unweit eines sich in kreativer Todesstarre befindlichen Hollywoods – der Writersund Actors-Strike aus dem letzten Jahr schwelt im Hintergrund. Was ist Performance und was ist (künstlerische) Arbeit? Und gibt es so etwas wie eine Performance der Arbeit? Nicht zuletzt Fragen, die in Los Angeles, Stadt der scheinbar unendlichen Performance, nicht passender sein könnten.

Text JUNIA THIEDE, künstlerische Leitung, und DENNIS BRZEK, Kurator

Calla Henkel und Max Pitegoff. Theater bis 14. Dezember 2024 Fluentum fluentum.org

New Theater Hollywood Space

Politik und Erinnerung

Wie der Nichtangriffspakt zwischen Nazi-Deutschland und Sowjetunion ins kollektive Gedächtnis einging – oder nicht

Am 23. August 1939 unterzeichneten das Deutsche Reich und die Sowjetunion einen Nichtangriffsvertrag mit einem geheimen Zusatzprotokoll. In die Geschichte ging dieser als Hitler-Stalin-Pakt oder nach den beiden unterzeichnenden Außenministern als Molotow-Ribbentrop-Pakt ein. Aber nicht nur die Bezeichnung, auch die Bedeutung, die dem Vertragswerk in West-, Ostmittelund Osteuropa zugemessen wird, unterscheidet sich. Der Pakt hat ein lange nachhallendes Echo erzeugt und ist bis heute ein geschichtspolitischer Streitpunkt. Die Ausstellung geht diesen Auseinandersetzungen nach. Mit dem geheimen Zusatzprotokoll wurde Ostmitteleuropa zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer in eine deutsche und eine sowjetische Machtsphäre aufgeteilt. Zwischen der Unterzeichnung 1939 und dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 setzten sowohl die Sowjetunion als auch das Deutsche Reich diese Aufteilung nach und nach durch. Beide bedienten sich kriegerischer Mittel, annektierten und besetzten Territorien anderer Staaten, vertrieben, deportierten und ermordeten zahllose Menschen.

Der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow unterzeichnet den deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag am 28. September 1939 in Moskau

vorrangig die Shoa, zurücktritt, wird er im heutigen Russland geschichtspolitisch instrumentalisiert. Im Gegensatz zu Westeuropa, wo die stalinistischen Verbrechen infolge des geheimen Zusatzprotokolls nur wenig bekannt sind, sind der Pakt und seine Folgen in den betroffenen Staaten Ostmitteleuropas fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Im Baltikum zum Beispiel bilden sie den Nukleus in der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Auf europäischer Ebene schlagen sich diese Differenzen spätestens seit den Osterweiterungen der Europäischen Union im Jahr 2004 nieder. Während in den westeuropäischen Staaten die Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Zentrum der Betrachtung steht, fokussieren sich die ostmitteleuropäischen Staaten auf die stalinistischen Verbrechen. Nicht zuletzt der völkerrechtswidrige Überfall Russlands auf die Ukraine 2014 hat dort Narben aufgerissen und zu Mahnungen geführt, die komplexe Geschichte stärker zur Kenntnis zu nehmen.

Die Ausstellung »Riss durch Europa. Die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts« nimmt die Ereignisse in Ostmitteleuropa zwischen 1939 und 1941 in den Blick. Mit dem Fokus auf alle Regionen, die von den Folgen des geheimen Zusatzprotokolls betroffen waren – Estland, Lettland und Litauen, Finnland, Polen und Rumänien – bietet sie erstmals einen Gesamtüberblick über das Geschehen.

Zwei Themen-Stationen gehen näher auf den eigentlichen Pakt und die kurze deutsch-sowjetische Kooperation ein sowie auf die erinnerungspolitischen Debatten in Europa, in denen der 23. August als europäischer Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime seit der Einführung 2009 kontrovers diskutiert wird. Vier Ausstellungsmodule stellen zunächst die betroffenen Staaten und ihre Entwicklung in der Zwischenkriegszeit vor, bevor auf die Auswirkungen des Paktes auf Politik und Gesellschaft eingegangen wird. Die Schicksale von jeweils drei Personen verdeutlichen die Tragweite der Ereignisse. Kooperation und Widerstand, Überleben und Sterben werden anhand der ausgewählten Biografien in ihrer ganzen Spannweite erfasst.

Die sehr unterschiedlichen Erinnerungen an die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts seit den 1990er-Jahren spielen eine zentrale Rolle. Während in Deutschland der Nichtangriffsvertrag zunehmend in Vergessenheit geraten ist und hinter den Kriegsbeginn am 1. September 1939 und die deutschen Verbrechen in Europa,

Die Ausstellung und ein Begleitband sollen einen Raum für Diskussionen eröffnen und den Austausch über multiple Perspektiven anregen. Deshalb wurde sie als Wanderausstellung konzipiert. Neben der deutsch/englischen gibt es bereits eine ukrainisch/ englische Sprachfassung; eine Präsentation in der Ukraine ist für 2025 geplant. An der Ausstellungskonzeption war der Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf beteiligt. Zudem sind in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung alle Ausstellungsinhalte auf deren Webseite bereitgestellt und es gibt eine Handreichung für Schulen zur Nutzung der digitalen Ausstellung.

wissenschaftlicher Mitarbeiter

Riss durch Europa. Die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts bis 26. Januar 2025 Museum Berlin-Karlshorst museum-karlshorst.de

SEMIHA BERKSOY im Hamburger Bahnhof

Die bekannte türkische Malerin und Opernsängerin Semiha Berksoy hatte einen bedeutenden Einfluss auf die kulturelle Landschaft in der Türkei. Das illustrieren in der Ausstellung 80 Gemälde sowie zahlreiche Archivdokumente, Filmausschnitte und Tonaufnahmen. In den 1930er-Jahren studierte Berksoy an der Hochschule für Musik in Berlin und entwickelte sich zur international gefeierten Sopranistin. Die Ausstellung umfasst mehr als sechs Jahrzehnte ihres Schaffens, wobei der Fokus auf der Malerei liegt. »Semiha Berksoy«, 6. Dezember 2024 bis 11. Mai 2025, smb.museum

ROHINI DEVASHER im Palais Populaire

In »Borrowed Light« setzt sich die indische Künstlerin mit ihrer langjährigen Passion für die Astronomie auseinander, in der das Licht eine zentrale Rolle spielt. Dafür arbeitete sie mit professionellen oder Laien-Astronomen zusammen, um die Erzählungen, Gespräche und Geschichten derjenigen zu erfahren, deren Leben sich durch die Betrachtung des Nachthimmels verändert hat. Für ihre Kosmologien bewegt sie sich an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Kunst und Philosophie. Es ist Devashers erste Einzelausstellung in Europa. Von der Deutschen Bank wurde sie zur »Artist of the Year« 2024 gekürt.

»Borrowed Light«, bis 10. März 2025, palaispopulaire.db.com

INGEBORG FLIERL im Museum Pankow

Die Berlinerin Ingeborg Flierl prägte die DDR-Textilkunst ganz entscheidend. Ihr Werk umfasst neben mehr als 200 Gobelins und zahlreichen Applikationen auch Druckgrafiken und baugebundene Keramik-Arbeiten. Um das Ehepaar Flierl (ihr Mann war der Architekt Peter Flierl) bildete sich ein Kreis gleichgesinnter Künstler, der gegen die staatlich initiierte Formalismus-Debatte zusammenrückte. Von 1956 bis 1961 lebte die Familie am Kollwitzplatz – ein Treffpunkt für viele Menschen. Die Bäume dort hatten die Nachkriegswinter ohne Abholzung überstanden. Flierl porträtierte das tägliche Treiben und den eigenen Alltag. Die erstmals ausgestellten, bisher unbekannten Zeichnungen und Grafiken zeugen von der typischen Nachkriegsatmosphäre in Ost-Berlin – zwischen überstandenen Kriegsjahren und neuem Lebensmut.

»Ingeborg Flierl – Rund um den Kollwitzplatz«, bis 2. Februar 2025, berlin.de/museum-pankow

Die Künstlerin vor ihrem Gobelin-Entwurf »Harlekin«, 1961
Rohini Devasher, »One Hundred Thousand Suns«, 2023 (Videostill)
Semiha Berksoy, »My Mother Playing the Oud«, 1958

Epoche der Kosmopoliten

Vernunft als universelle Instanz? Die AUFKLÄRUNG

war voller Gegensätze. Zur Aktualität eines 250 Jahre alten philosophischen Konzepts

Der Ausstellungstitel »Was ist Aufklärung?« ist eine Frage und ein Zitat. Im Dezember 1783 veröffentlichte der Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner einen Beitrag in der »Berlinischen Monatsschrift«, in dem er gegen die Einführung der Zivilehe argumentierte, die in ebendieser Zeitschrift zur Diskussion stand.

Für Zöllner lief eine Zivilehe den Interessen des Staates entgegen, und er sah darin nichts anderes als ein Resultat jener merkwürdigen Ideen, die als »Aufklärung« verbreitet wurden. Auf seine Frage »Was ist Aufklärung?« in einer Fußnote setzte er hinzu: »Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wo[h]l beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!« Tatsächlich waren zu dieser Zeit viele der bekannten Schriften der Aufklärung bereits publiziert, auch die amerikanischen Kolonien hatten sich nicht zuletzt im Namen der Aufklärung vom englischen Mutterland getrennt – was Aufklärung nun eigentlich bedeuten sollte, wurde aber immer noch diskutiert.

Friedrich Wilhelm Springer, »Miniaturbildnis Immanuel Kant«, 1795

Für die Philosophiegeschichte hatte Zöllners Fußnote Konsequenzen. Denn die »Berlinische Monatsschrift« gab seine Frage an die Leserschaft weiter und machte dies zu einer Art Werbekampagne für das neu gegründete Blatt. Zahlreiche Autoren sandten ihre Antworten ein, von denen einige abgedruckt wurden. Im September 1784 erschien beispielsweise Moses Mendelssohns Replik »Ueber die Frage: Was heißt aufklären?«. Mendelssohn sah das Aufklären als einen Prozess: »Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung« und beschrieb Begriffe ebenso wie Menschen als Neuankömmlinge in einem Staat. Immanuel Kants im Dezember desselben Jahres

veröffentlichter Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« gehört heute wahrscheinlich zu dessen bekanntesten Schriften. »Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!«, heißt es dort. Ein Mann solle sich selbst emanzipieren. Doch galt dies auch für einen Sklaven? Oder eine Frau? Das Deutsche Historische Museum bringt Zöllners Frage erneut ins Gespräch und gestaltet auf Grundlage dieser Fußnote eine große Ausstellung. Die anschauliche Auseinandersetzung mit einer philosophischen Frage stellt eine gewisse Herausforderung dar. Dabei folgt die Ausstellung mit vielen weiteren, konkreten Fragen an das 18. Jahrhundert, untersucht die Rolle der Vernunft, die Entstehung neuer Wissenschaften und eines neuen Ordnungsdiskurses sowie die Forderung nach Menschenrechten. Sie beschäftigt sich mit den politischen und wirtschaftlichen Modellen der Zeit und dem neuen Begriff von Öffentlichkeit, der sich auch auf Publikationsmedien und Akademien bezieht. Einzelne Sektionen stellen die grundlegende Bedeutung der Pädagogik dar, zeichnen die Geschlechtermodelle der Zeit nach und behandeln die Moderne, welche die Antike wiederentdeckte. Diese Sektionen stehen wie die Elemente eines Kaleidoskops miteinander im Zusammenhang; Personen und Ereignisse erscheinen dabei in unterschiedlichen Konstellationen. Die Schau charakterisiert die Aufklärung als ein genuin internationales Phänomen. Es wurde vor allem von europäischen Denkern (und einigen Denkerinnen) getragen, aber diese formulierten ihre Ideen nicht zuletzt aufgrund außereuropäischer Reisen, eines regen Austauschs von Briefen, Büchern und Schriften und aufgrund eines intensiven Handels mit Waren von anderen Kontinenten.

Titelseite von Kants Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«

Modernitätsversprechen: Die Robe à la française mit BallonStickereien verdeutlicht, dass der erste Heißluftballonflug 1783 europaweit Aufsehen erregte und sogar eine Mode auslöste

Die philosophischen Konzepte der Zeit wurden keineswegs immer in die Praxis umgesetzt. So deklarierte etwa Friedrich II. von Preußen eine religiöse Toleranz, die nicht verwirklicht wurde. Thomas Jefferson postulierte in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika die Gleichheit aller Menschen und war selbst Sklavenhalter. Die Konzepte und Praktiken der Epoche waren voller Widersprüche. Es war die Zeit der Kosmopoliten, aber auch des Kolonialismus, in dem Menschen zur Handelsware wurden. Entdeckungsreisen führten zu fremden Völkern, die mit großer Neugierde beschrieben wurden; doch Versuche der Klassifizierung von Menschen bereiteten auch die Grundlage für eine spätere Rassenkunde. Heute berufen wir uns auf viele der positiven Forderungen dieser Epoche: auf die politische Freiheit, die Menschenrechte und eine offene Diskussionskultur. Dennoch sind wir gerade auch die Erben der Widersprüche dieser Zeit, sie prägen bis heute unser Denken und Handeln.

In der Ausstellung zeigen wir etwa 400 zumeist einzigartige Objekte aus den Sammlungen deutscher wie anderer europäischer und amerikanischer Institutionen, darunter Manuskripte von Isaac Newton, das silberne Mikroskop Georgs III. von England und eine französische Erklärung der Menschenrechte in Form einer runden Oblate. Aus der Sammlung des DHM stammen rare Porzellanobjekte und ein französisches Ballkleid, das mit Luftschiffen bestickt ist. An digitalen Stationen kann das Publikum intensiver in die Themen eintauchen, zum Beispiel die Wege des Raubdrucks von Schriften Voltaires oder Rousseaus nachverfolgen.

Deutsche und internationale Persönlichkeiten beantworten in Video-Interviews die Frage »Was ist Aufklärung?« und erläutern ihre heutige Sicht auf die Problematik. Unter anderen äußern sich der Immunologe Drew Weissman, der 2023 den Nobelpreis für Medizin für ein neues Impfverfahren erhielt, die Philosophin Martha Nussbaum, der Philosoph Kwame Anthony Appiah, die Historikerin Annette Gordon-Reed, der ehemalige Direktor des British Museum Neil

MacGregor; deutsche Publizisten wie Jens Bisky und Jürgen Kaube und Nargess Eskandari-Grünberg, die ehemals aus dem Iran flüchtete und heute als Bürgermeisterin von Frankfurt am Main amtiert. Längere Versionen der in der Ausstellung gezeigten Interviews finden sich auf einer besonderen Webseite des DHM.

In einer begleitenden Buchpublikation kommen internationale Fachleute aus der Philosophie, Geschichts-, Kunst- und Literaturwissenschaft zu Wort, darunter Robert Darnton, Roger Chartier, Jonathan Israel, Emma Rothschild, Peter E. Gordon und Jürgen Habermas.

Ein von der Kulturstiftung des Bundes gefördertes Vermittlungsprogramm ermöglichte es, junge Menschen in Berliner und Brandenburger Schulen sowie Jugendzentren und Bildungseinrichtungen in die Planung miteinzubeziehen; Resultate ihrer Projekte werden ebenfalls in der Ausstellung und einer begleitenden Webseite gezeigt. Die Ausstellung selbst ist inklusiv konzipiert und bietet eine sogenannte Kinderspur, die selbstentdeckendes Lernen fördern soll.

Text LILIANE WEISSBERG, Kuratorin

Was ist Aufklärung?

Fragen an das 18. Jahrhundert 18. Oktober 2024 bis 6. April 2025 Deutsches Historisches Museum dhm.de

EINBLICKE

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