Museumsjournal 3/22

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Ausstellungen in Berlin und Potsdam

3/22 JULI AUGUST SEPTEMBER

SIBYLLE BERGEMANN Hommage an die Fotografin DONATELLO Bildhauer mit Perspektive

8,50 €

,661

OUTREACH Wie Museen ihr Publikum erweitern


INHALT

BERLIN BIENNALE »Alle Fragmente des Wortes werden hierher zurückkehren, um sich gegenseitig zu reparieren«: Installation von The School of Mutants auf der Berlin Biennale

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PANORAMA 8

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Kunst im Bunker

Kolumne

Die Sammlung Boros hat sich wieder neu sortiert

Papierknappheit und Nachhaltigkeit 16

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»Die Zukunft ist hybrid« Wie nachhaltig Matthias Henkel das Museum Neukölln gestalten will 13

Abschied und Willkommen Julia Wallner geht, Ilka Voermann kommt SAMMLUNG BOROS Bunker in der Reinhardtstraße

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8

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Nach der Flucht Angebote für Ukrainerinnen und Ukrainer in Berlin

Bücher Lesestoff für den Sommer 18

Tagesreise Leipzig »Unterschätzt« im Museum der bildenden Künste


DISKURS Take Care!

FOKUS Outreach

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»Fürsorge ist vor allem eine schöne Idee«

Wie man die Reichweite erhöht

Stephanie Rosenthal spricht über ihre letzte große Ausstellung im Gropius Bau

Berliner Outreach-Experten berichten aus der Praxis

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Ode an die Spinne

TanzZeit und Komische Oper

Der Gropius Bau zeigt das Spätwerk von Louise Bourgeois

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Malen als Heilung

Traum von der Teilhabe Was Kulturinstitutionen gesellschaftlich leisten können

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Aus den Fugen

Lange Nacht der Museen

Die Berlin Biennale reflektiert den Ausnahmezustand

SIBYLLE BERGEMANN S. 50

Bühnenreif – zwei Erfolgsmodelle

28 Wie die Kunst therapeutisch wirken kann

COVER

Sibylle Bergemann, Dakar, Senegal, 2001

Wie eine internationale Erfolgs­ geschichte in Berlin begann

STEPHANIE ROSENTHAL

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Louise Bourgeois, »Couple IV«, 1997

LOUISE BOURGEOIS

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AUSSTELLUNGEN 48

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Zur See!

Das große Unbehagen

Warum der Berliner Maler die Weite in Holland suchte, verrät die Liebermann-Villa

Mona Hatoum in drei Berliner Häusern 63

DIE KUNST IST WEIBLICH

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Gut sortiert Das Museum der Dinge ordnet die Dinge

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Innig für den Augenblick Die Berlinische Galerie würdigt die Fotografin Sibylle Bergemann

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In kritischem Zustand Wie die Urbevölkerung Australiens ihr Land retten will, zeigt das Humboldt Forum

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Bildhauerei mit Perspektive

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Wie Donatello Kunstgeschichte schrieb, zeigt eine große Ausstellung in der Gemäldegalerie

Die Kunst ist weiblich Im Bröhan-Museum sind die Frauen präsent

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Bauten der Alliierten

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im Militärhistorischen Museum

Geburt des Techno

Denkmalschutz

im FHXB

in den Römischen Bädern

Identitäten

Ost-Berliner Kunst

im C/O Berlin

in drei Häusern

Julie Wolfthorn »Landschaft mit Birken«, o. J.

Antike Textilien im Bode-Museum

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Passkontrolle Das Deutsche Historische Museum erzählt die Geschichte der Staatsbürgerschaft

DONATELLO

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SONGLINES

64 Donatello, »Thronende Madonna«, ca. 1410–15

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Stanley und Ronnie, traditionelle Eigentümer von Cave Hill (Sieben Schwestern), 2017


INHALT

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EINBLICKE ERGUN ÇAĞATAY

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Flechten macht glücklich

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Das Museum Europäischer Kulturen erklärt eine uralte Technik 84

Strukturiert Hommage an den Fotografen zum Jubiläum der Alfred Ehrhardt Stiftung FRAGMENTE Simon Vouet, »Virginia da Vezzo«, 1606–27

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87

Gastgeber von Welt 200 Jahre Messe Berlin sind höchste Zeit für eine Ausstellung 88

Es ist ein Rembrandt! Über eine bedeutende Neuzuschreibung in der Gemäldegalerie 89

Ausgegraben aus Ruinen Eine spektakuläre Rückgabe an das Museum für Vor- und Frühgeschichte

Ergun Çağatay, Kinder vor einem Hauseingang, Berlin-Kreuzberg

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Im Geiste von Piranesi 72

Türkischdeutsches Leben Das Museum Europäischer Kulturen präsentiert Fotografien von Ergun Çağatay

FLECHTEN

82

Salzfass aus Birkenrinde, Russland, vor 1887

Über die Lieblingskunst des Aufsichtspersonals 92

Eklektik der Stile

7 Sachen

Die Graphothek öffnet den Nachlass von Paul Grunwaldt

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Umgedreht

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Starkes Stück!

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Noch im kleinsten Fragment finden sich in der Kunstbibliothek große Schicksale

Bilderstreit im Schloss Charlottenburg

Sascha Wiederhold in der Neuen Nationalgalerie

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Jeden Tag im Museum

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Die Kunstbibliothek freut sich über eine Schenkung von Architekturzeichnungen

Bildnachweis JEDEN TAG IM MUSEUM

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Gerard Janssen vor dem Porträt einer Dame von Diego Velázquez in der Gemäldegalerie

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Impressum 98

Ausstellungskalender

Nina Canell

in der Berlinischen Galerie

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PANORAMA Ausstellungsansicht der Sammlung Boros mit Arbeiten von Bunny Rogers im ehemaligen Darkroom des Bunkers in der Reinhardtstraße.



Was ist wirklich? Der Körper steht im Zentrum: Mit der neuen Schau im Bunker entwirft die SAMMLUNG BOROS ein melancholisches Bild von Fragilität und Entfremdung

A

Anna Uddenberg, »FOCUS # 2 (pussy padding)«, 2018

lle dreißig Minuten ertönt eine Kirchenglocke. Sie markiert den Übergang in eine andere Sphäre, die sofort physisch spürbar wird, sobald die schwere Stahltür am Eingang ins Schloss fällt. Im Bunker wirkt die äußere Welt wie ausradiert, kein ­Geräusch, kein Tageslicht, keine Witterung dringen durch die meterdicken Betonwän­ de. Die bis in die oberste Etage der Aus­ stellungsräume scheppernde Soundarbeit von Anne Imhof wurde nur zwei Tage vor Eröffnung der vierten Neupräsentation mit rund zwanzig Künstlern für die Sammlung Boros erworben. Seit 2003 gehört dem Sammlerpaar Karen und Christian Boros der historische Luftschutzbunker in Berlin-Mitte. 2008 zeigten die beiden hier ihre erste Aus­ stellung. Tausendachthundert Tonnen Beton hatten sie zuvor heraussägen lassen, Geschosse durchbrochen, um auf den dreitausend Quadratmetern achtzig Räume zwischen zwei und zwanzig Meter Höhe zu schaffen. In diesem dystopischen Bauwerk muss sich die Kunst immer wieder behaupten. Die imma­nenten Spuren seiner wechselvollen Geschichte von der Zufluchtsstätte im Bombenhagel zum Nachkriegsmilitärgefängnis, vom »Bana­ nenbunker« zu DDR-Zeiten bis hin zum berüchtigten Techno- und Sexclub in den 1990er-Jahren wirken wie ein Katalysator. Was sind die latenten Erzählungen eines Ortes, was ist wirklich und was nicht? Alicja Kwade – seit Jahren eine Konstante in der Sammlung Boros – öffnet mit ihrem Werk den Blick auf ebenjene Phänomene, die sich der menschlichen Wahrnehmung entziehen. Gleich am Eingang hängen gerahmte Ausdrucke ihres Genoms – Selbstbild, aber auch Porträt des Bauplans eines menschlichen Lebens. Der Körper als universelles Medium des kollektiven Unbewussten, seine Fragilität, nicht nur in Pandemie-Zeiten, sondern auch im


Zusammenhang beschleunigter technolo­ gischer Entwicklungen, ist ein Grundmotiv, das den Ausstellungsrundgang mit leiser Melancholie durchzieht. In mehreren Räumen stößt man auf die lebensgroßen, meist gesichtslosen weiblichen Puppen von Anna Uddenberg, die in akrobatisch verdrehten Rück-, Seit- und Vorbeugen sowie modisch zu­ gerichtet durch technoide Schnürungen und hautenge Nickistoffe den Körper ausstellen und fetischisieren: ein wilder Mix aus pornografischem Kitzel und latenter Gewalt, der mittels Handykamera allein auf den imaginären männlichen Blick im virtuellen Raum hin ausgerichtet ist. Die hysterische Plakativität des von Uddenberg entworfenen Sex-Universums wirkt an diesem Ort besonders verzweifelt. Künstlerische Visionen vom Körper scheinen in der Gegenwart radikal auf sich selbst bezogen, aber ebenso auf den unaufhörlichen Strom von Bildern, in den sie von Beginn an eingebettet sind. Auch Bunny Rogers’ Avatare in einem ehema­ ligen Darkroom des Bunkers können als Reaktion auf mediale Frauenbilder gelesen werden, die den eigenen Körper immer wie­der auf den Prüfstand stellen. Ihr Neopet als Amor nimmt ästhetisch Bezug auf die gleichnamige Website virtueller Haustiere, die Rogers als ihren digitalen Zufluchtsort beschreibt, und trifft ins Schwarze: virtuelle Surrogate statt atmen­ der Präsenz. Das Ideal des intakten und schönen Körpers wird in der Realität vielfach nur durch Korrekturen erreicht. Die Orthesen der mexikanischen Künstlerin Berenice Olme­do sind in der Ausstellung mecha­ nisch animiert, richten sich für einen Moment auf, um dann sofort wieder leblos in sich zusammenzufallen. Hier mutieren die technischen Geräte zu autonomen, fragilen Körpern und versinnbildlichen die bange Frage nach der zukünftigen Schnittstelle von Mensch und Maschine. Yngve Holen – ebenfalls ein vertrauter Künstler der Sammlung – analysiert in seinen skulpturalen Arbeiten das Verhält­ nis zwischen Design und der Funktion von Objekten, zwischen Warenfetisch und tatsächlichem Wert. Die labyrinthischen Kubaturen des Bunkers erlauben nur wenige überraschende Durchblicke, die die klaustrophobische Atmosphäre kurz­ zeitig auflösen. So mutet Holens in luftiger Höhe angebrachtes, überdimensioniertes, hölzernes Abbild einer SUV-Felge wie eine gotische Fensterrose inmitten des hermetischen Betonklotzes an.

Die Skulptur »Asian Boy« von He Xiangyu (2019–20) hält jenen Moment fest, in dem ein chinesischer Junge zum ersten Mal eine Dose Cola öffnet.

Schon in der vergangenen Präsenta­ tion setzten die Boros mit Michel Majerus und Uwe Henneken neben der in der Sammlung dominierenden Konzeptkunst einen Schwerpunkt auf figürliche Malerei. Nun widmen sie Wilhelm Sasnal gleich zwei Räume. Der polnische Maler rekrutiert seine Motive vornehmlich aus den Massen­ medien und erschafft eine subjektive Dokumentation der Gegenwart, nicht ohne in seiner Faszination für die allgemeine Verfügbarkeit von Bildern auch sein Unbehagen demgegenüber zum Ausdruck zu bringen. Eine Entdeckung des vergangenen Gallery Weekends ist der 1993 geborene New Yorker Maler Louis Fratino. In Fratinos Malerei, die das Farb- und Formenspek­ trum der Moderne rauf und runter dekli­ niert, spielt Erotik eine große Rolle. Aber eigentlich geht es vielmehr um die intime Darstellung eines Innenlebens, das sich in den männlichen Aktdarstellungen genauso spiegelt wie in den Interieurs und Landschaften. Dass oft schon die kleinen Dinge große Wirkung haben, zeigt der belgische

Konzeptkünstler Kris Martin mit seinem fortlaufenden Projekt »End-Points«, bei dem er den allerletzten Punkt aus Büchern, die für ihn von besonderer Bedeutung sind, herausschneidet und auf ein leeres Blatt Papier klebt. Die neue Ausstellung von Karen und Christian Boros macht einmal mehr sinnfällig, wie wichtig der öffentliche Zugang zu derart hochkarätigen Privat­ sammlungen gerade in einer Stadt wie Berlin ist, die sich zwar mit dem Label der weltweit höchsten Akkumulation von Künstlern schmückt, aber deren öffentli­ che Museen so gut wie keinen Ankaufsetat haben. Der Abzug zahlreicher Sammlungen wie von Erika Hoffmann, Thomas Olbricht oder Christian Flick aus der Stadt, spiegelt das Unvermögen hiesiger Kulturpolitik, ein solches Potenzial zu bewahren und zu unterstützen. »Das machen andere Städte besser«, meint Christian Boros und fügt mit einem Seitenhieb auf das zukünftige Museum des 20. Jahrhunderts hinzu: »Man muss nicht für eine halbe Milliarde Euro Paläste für Sammler bauen.« Text ANNE HAUN-EFREMIDES

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DISKURS Kann etwas, das real nicht mehr existiert, anhaltende Schmerzen verursachen? Protheseninstallation von Kader Attia


TAKE CARE! Wie Künstler, Kuratoren und Therapeuten sich Fragen von Heilung, Reparatur und Wiedergutmachung widmen


STEPHANIE ROSENTHAL (geb. 1971) leitet seit 2018 als erste Frau den Gropius Bau. Die promovierte Kunsthistorikerin startete ihre Karriere am Haus der Kunst in München und wechselte dann als Chefkuratorin an die Londoner Hayward Gallery. 2016 war sie künstlerische Leiterin der 20. Biennale von Sydney und 2019 Jury-Vorsitzende der Kunstbiennale von Venedig. Im Mai wurde überraschend bekannt, dass Rosenthal ab September die Direktion des Guggenheim-Museums in Abu Dhabi übernimmt.


DISKURS

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»Fürsorge ist vor allem eine schöne Idee« Die Kunst kann unsere Welt wohl nicht retten, aber andere Sichtweisen darauf eröffnen. Ihre letzte Ausstellung im Gropius Bau ist ein guter Grund, um mit STEPHANIE ROSENTHAL über Heilung im Museum zu sprechen

Begriffe wie Heilung und Fürsorge sind überall präsent, und dies nicht erst seit der Pandemie oder im Angesicht des Krieges in der Ukraine. Warum erscheint Ihnen dieses Thema als so dringlich in der Kunstwelt? Die künstlerische Auseinanderset­ zung mit diesem Thema ist nichts Neues. Kunst war schon immer nah am Leben. Ein Ansatz der Ausstellung »On Caring, Repairing and Healing« (Arbeitstitel) ist zu verdeutlichen, dass Künstler*innen in das soziale Gefüge eingreifen und gesellschaft­ liche Veränderungen nicht nur durch ihre Kunst, sondern auch durch ihre Aktionen bewirken. Das war schon für Allan Kaprow, den Erfinder des Happenings, ein großes Thema. Künstler*innen sind Visionär*innen. Sie sind maßgeblich daran beteiligt, die Art und Weise zu überdenken, wie wir uns zur Natur und zueinander verhalten. Fragen der Fürsorge und Gesundheit stehen dabei zwangsläufig im Vordergrund. Warum? Eine Hauptaufgabe des Kurators oder der Kuratorin ist Fürsorge – für die

Künstler*innen und das Publikum. Hier kommt die Dringlichkeit von Vermittlung ins Spiel, ein Thema, das in Deutschland erst zunehmend an Bedeutung gewinnt, während es in anderen Ländern seit Langem etabliert ist. Wir haben ein Projekt ins Leben gerufen, das sich »Resonanz­ raum« nennt und in Zusammenarbeit mit der Londoner Treuhandstiftung Wellcome Trust entstanden ist. Hier geht es um mentale Gesundheit und die Frage, wie diese mit der Kultur in Verbindung steht. In diesem Kontext ist auch unser Pro­ gramm »Ámà« im vergangenen November entstanden. »Ámà« war eine viertägige Veranstaltung zu den Themen Fürsorge, Reparatur und Heilung, mit Vorträgen über Meditation und Speed-Dating-Sessions bis hin zu Workshops, in der Sie der Frage nachgegangen sind, wie sich Fürsorge im Museum anfühlt. Welche Antworten haben Sie gefunden? »Ámà« war bewusst breit aufgestellt, um vorbereitend zur Ausstellung den Abhängigkeiten und Verstrickungen von

Systemen und Strukturen nachzugehen, sei es das Verhältnis von Institutionen und Menschen oder die historisch gewachse­ nen Barrieren, die über Sprache, Architek­ tur und vieles mehr fortgesetzt werden. An vielen Stellen werden bereits Anstrengun­ gen unternommen, Wege der Fürsorge und der Reparatur im weitesten Sinne zu finden und die – oft widersprüchlichen – Geschich­ ten zu betrachten, die sie ausmachen. Hier stellt sich selbstverständlich die Frage, was fehlt, denn die Dinge sind ja miteinan­ der verknüpft. Die Kultur und die Kunst im Besonderen sind die ersten, die autoritären Systemen zum Opfer fallen. Ist der Anspruch auf Heilung durch Kunst nicht ein wenig naiv? Zunächst sollte doch die Gegenfrage lauten: Wer formuliert den Anspruch auf Heilung und was ist damit gemeint? Dieses Bedürfnis nach Heilung ist für viele der künstlerischen Positionen ein Trugschluss. Sie zeigen auf, dass es keine Heilung gibt. Stattdessen begegnen wir dem Begriff im Kontext von ebenjenen Beziehungen, die wir im sogenannten globalen Norden

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Guyodo, ohne Titel, 2021

anders aufbauen und führen sollten. Ich bin sehr beeinflusst von Donna Haraways Buch »Unruhig bleiben. Die Verwandt­ schaft der Arten im Chthuluzän« und ihrer Idee des »Kinship« (Verwandtschafts­ beziehungen). Innerhalb der sozialen Organisation verweist Kinship auf die Beziehungen im Jetzt, im Vergangenen sowie im Kommenden, so verbindet es menschliche und mehr-als-menschliche Gemeinschaften. Meiner Meinung nach sind Ausstellungen eine Art von Kinship, man findet also durch die Kunst im besten Fall eine Art von »common ground« unter­ schiedlichster Sparten und Bereiche, den man vielleicht sonst nicht erreichen würde. Gibt es eine neue gesellschaftliche, genauer gesagt: fürsorgliche Verantwortung der Museen? Der Ausgangspunkt für die Aus­ stellung war die Frage: Was bedeutet es eigentlich, Menschen willkommen zu heißen und diese Gastfreundlichkeit aus­ zuweiten? Museen müssen auch Orte der Gemeinschaft sein. Gleichwohl wissen wir, dass in einer riesigen bürokratischen Institution wie dem Gropius Bau Fürsorge vor allem eine schöne Idee ist, man aber letztlich in Strukturen verhaftet bleibt, die es schwer machen, sie tatsächlich umzu­ setzen. Auf ihrer Künstlerliste finden sich unter anderem Heiler und Schamanen, deren Kunstschaffen sekundär ist. Können Sie uns einige Positionen vorstellen? Das Projekt hat mit Kader Attia begonnen, mit dem ich eigentlich eine

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Einzelausstellung machen wollte. Für Attia steht der Begriff des Reparierens im Zentrum sowie das Sichtbarmachen von Narben und der Umgang mit Trau­ mata. Als Co-Kurator präsentiert er in der Schau mit André Eugène und Guyodo zwei haitianische Künstler, die Vertreter der sogenannten Atis Rezistans (Künstler des Widerstands) sind – ein Kollektiv aus Port-au-Prince, das häufig mit recycelten Materialien als einer Form von Reparatur arbeitet. Brook Andrew wurde von mir ein­ geladen, weil er die indigene Community auf vielen Ebenen vertritt. Er ist ein Abori­ ginal-Künstler, der seit Jahrzehnten auch als Berater für große Sammlungen tätig ist. Für unsere Ausstellung hat er ein kriti­ sches und dennoch sehr humoristisches Theaterstück geschrieben, das sich der Frage widmet, wie sich Objekte in einem Museum »fühlen«. Es geht zum Beispiel um die Veränderung der Aura von Objekten, wenn sie aus ihrem Kontext gerissen und ins Museum gebracht werden, oder die Frage, wer das Recht hat zu entscheiden, welche Objekte ins Museum gehören und welche nicht. Brook Andrew ist auch Teil Ihres kuratorischen Teams. Als solcher hat er andere indigene künstlerische Positionen eingeladen, bei­ spielsweise Betty Muffler und Maringka Burton, die beide traditionelle Heilerinnen sind. In ihrer Malerei geht es tatsächlich um den Prozess des Heilens durch das Malen, und zwar das Heilen der eigenen Community. Spiritualität steht hier klar im Vordergrund.

Warum kuratieren Sie die Ausstellung im Kollektiv? Wir haben uns entschieden, als kura­ torisches Team zu arbeiten, weil es uns wichtig war, dieses Thema aus den unter­ schiedlichsten, und das heißt auch nicht nur westlichen Blickwinkeln zu betrachten. Dies ist nur möglich, wenn man die ent­ sprechende Perspektive auch tatsächlich repräsentiert. Was treibt die anderen Künstler der Ausstellung um? Eine Künstlerin wie Grace Ndiritu würde wahrscheinlich gerne einen Work­ shop zum Thema »Heilung der Museen« machen. Das ist zwar ein Stück weit naiv, dennoch finde ich es wichtig, solche Standpunkte zu zeigen, weil auch eine Haltung etwas bewirken kann. Aber bei den meisten Künstler*innen steht die Unmög­ lichkeit von Heilung im Vordergrund, die sich letztlich in der Sichtbarmachung der Problematik erschöpft. So zum Beispiel bei Andrea Büttner, der ein großer Raum in der Ausstellung gewidmet ist. Sie setzt den Fokus auf die deutsche Geschichte und deren Aufarbeitung und zeigt Fotos vom Pflanzgarten im Dachauer Konzentrations­ lager, wo es anthroposophische Ansätze gab und mit Heilpflanzen gearbeitet wurde. Ihre Position ist eher gegen Heilung – man kann nicht ausbrechen aus den Strukturen und den Traumata der Geschichte. Zeigen Sie ältere Positionen in der Ausstellung? Ja, vereinzelt. Lygia Clark zum Beispiel ist eine Position aus den 1960er-Jahren.


RANDNOTIZ Sie war Therapeutin und Künstlerin und hat ihre Skulpturen für ihre Therapien eingesetzt. Unsere früheste künstlerische Position ist Artemisia Gentileschi. Sie gilt als herausragendste Malerin des 17. Jahr­ hunderts. Gentileschis Bilder zeigen vor allem gewalttätige Szenen in Kombination mit heroischen Frauenfiguren, was oft mit ihrer Biografie in Zusammenhang gebracht wird. Sie wurde als junge Frau von ihrem Lehrer vergewaltigt. Ihre Gemälde werden in der Kunstgeschichte als aktivistische Position gelesen.

Aktivismus als Hilfe zur Selbstheilung? Die Malerin Paula Rego ist ein konkre­ tes Beispiel dafür, dass Kunst ein Mittel sein kann, um historisches Unrecht oder Missstände zu mildern oder zumindest sichtbar zu machen. Sie war uns ebenfalls aufgrund ihres aktivistischen Ansatzes wichtig, weil sie sich Ende der 1990erJahre gegen das Abtreibungsgesetz in Portugal ausgesprochen und dies in ihren Gemälden und Radierungen thematisiert hat. Schließlich hat sie zu einer Liberalisie­ rung beigetragen. Interview ANNE HAUN-EFREMIDES

Paula Rego, ohne Titel, 1999, aus »The Abortion Series«

Modell Guggenheim Abu Dhabi

AUF SAND GEBAUT Stephanie Rosenthal wird ab Septem­ ber die künstlerische Leitung des Gug­ genheim-Museums in Abu Dhabi über­ nehmen, dessen Eröffnung für 2025 geplant ist. In den vergangenen vier Jahren als Direktorin des Gropius Baus hat Rosenthal das Berliner Ausstel­ lungshaus modernisiert und durch ein Artist-in-Residence-Programm wieder zu einem Produktionsort gemacht. Mit Ausstellungen von Lee Bul, Yayoi Kusama, Zanele Muholi oder Dayanita Singh ist das Programm weiblicher und diverser, das Publikum jünger gewor­ den. Man hätte sich für den eingeschla­ genen Kurswechsel jedoch von Rosen­ thal einen längeren Atem gewünscht. Die Emirate sind attraktiv für den Wan­ derzirkus der Kunstwelt. Seit Langem strömen internationale Kuratoren und Galeristen, Künstler und Intendan­ ten in die Glitzermetropolen am Golf, deren Scheichs mit Etats locken, von denen in der Heimat nur zu träumen ist. Die Fertigstellung des von Frank Gehry entworfenen Prestigeobjekts der Guggenheim Foundation hatte sich nach Bekanntgabe der ersten Pläne im Jahr 2006 immer wieder verzögert und wurde von Künstler-Boykotten aufgrund verheerender Arbeitsbedin­ gungen der Gastarbeiter überschattet. Nach dem Louvre wird das Guggen­ heim die zweite große Kunstinstitution in Abu Dhabi mit Fokus auf moderner und zeitgenössischer Kunst. »Mein Ziel ist es, eine inklusive Insti­ tution zu schaffen, die wirklich in der Region verwurzelt ist und sich zu einem der wichtigsten Museen welt­ weit entwickeln kann«, verkündete Ro­ senthal in einer Pressemeldung. Ein so euphorischer wie ehrgeiziger Plan, der hoffentlich nicht im Sand verläuft. AH

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FOKUS


In den Museen ist der Begriff in aller Munde, beim Publikum womöglich noch ein Fremdwort:

OUTREACH


»Outreach ist kein Spielen am Rande. Es ist eine Haltung« Museen und Kulturinstitutionen stehen vor großen Herausforderungen: Wie spricht man ein Publikum an, das noch gar keines ist?

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Das lab.Bode war Experimentierfeld für die Vermittlungsarbeit in Museen, hier die Wanderausstellung »Haltung zeigen!«, auf der vorherigen Doppelseite Installation im Bode-Museum

E

in Begriff macht Furore: Outreach. Kaum ein Museum, kaum eine Kulturinstitution, die das sperrige Wörtchen, das sich nur unzureichend ins Deutsche übersetzen lässt, nicht bewegt. Eins ist in allen Häusern klar: Es ist nicht damit getan, Ausstellun­ gen und Veranstaltungen zu machen und darauf zu vertrauen, die Leute würden schon kommen. Manche kommen eben nicht und haben dafür mannigfaltige Gründe. Outreacher sprechen gern von Barrieren, um zu ver­ anschaulichen, dass einigen Menschen der Gang ins Museum wie verbaut erscheint. Ihren öffentlichen Auftrag, der gesamten Ge­ sellschaft zu Bildung zu verhelfen und dabei Vergnügen zu bereiten, können viele Institutionen durch klassische Vermittlung nicht erfüllen. So divers wie die Welt draußen ist, soll die Innenwelt der Museen auch werden. Das ist die Hoffnung und der Anspruch. Man will Barrieren abbauen, Schwellen zumindest niedriger machen, wenn nicht völlig einebnen. Outreach ist dafür die Stra­ tegie, die aus der akademischen Theorie seit einigen Jahren in die Praxis der Museen und Ausstellungshäuser drängt, ins Kultur­ management wie in die Bildungs- und Kulturpolitik. Mit Outreach sollen nicht nur die Menschen ins Museum eingeladen werden, sondern umgekehrt soll auch das Museum stärker in die Gesell­ schaft hinein wirken und in verschiedene Gemeinschaften. Ein Blick zurück: In Berlin hat der Hochschullehrer Klaus Siebenhaar Graswurzelarbeit betrieben. Er beschreibt in einem

kritischen Essay die Schwierigkeiten, aber auch die Chancen, mit Audience Development und Outreach mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Und der Kulturmanager Wolf Kühnelt erinnert sich an die Zeit, als er gemeinsam mit Berlin-Touristikern die Lange Nacht der Museen aus der Taufe hob. Das Event – einst ein großes Experiment – sorgt schon seit Langem in vielen Städten in Deutschland und darüber hinaus für nächtlichen Publikumsansturm auf die Museen. Doch wie erhöht man im Museumsalltag die Reichweite? Wir haben spezialisierte Kuratorinnen und Kuratoren für Outreach sowie Expertinnen und Experten aus der kulturellen Bildung, der Museumspädagogik und der Kulturverwaltung gebeten zu erklären, wie sie ihr Metier diversifizieren. Was sie überhaupt unter Out­ reach verstehen, wollten wir wissen, denn der unscharfe Begriff ist gar nicht so leicht mit Leben zu füllen. Welche Zielgruppen sollen erreicht werden? Und wie niedrigschwellig muss, wie anspruchs­ voll darf Outreach sein? Wir haben uns berichten lassen, welchen Herausforderungen sich Outreacher stellen müssen und mit welchen Projekten sie Erfolge erzielen. Wir haben erfahren, dass Outreach nicht ohne Inreach auskommt, also dass sich auch in den internen Strukturen von Museen und Institutionen einiges ändern muss, wenn man größere Diversität anstrebt. Und wir haben gelernt, wo es noch hakt und wo die Barrieren am schwierigsten abzubauen sind.

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Outreach muss authentisch sein

Im Vordergrund steht: Was hat das mit mir zu tun? Outreach ist ein sperriges Wort, ein ungenau eingedeutschter Anglizismus. Der Begriff funktioniert eigentlich überhaupt nicht für die Menschen, mit denen wir in den Austausch, ins Arbeiten, Handeln und Denken kommen wollen! Schon fast typisch für die Museen. Aber: Es ist immer gut, ein Wort zu haben, das irritiert, das noch nicht genau ausdefiniert ist und keine eindeutigen Er­ fahrungen oder Bilder hervorruft. Outreach ist kein Spielen am Rande der Institution. Es ist eine Haltung. Es umfasst etwa das Wissen um und die Analyse von Ausschlussmechanismen wie Klassismus, Diskriminierung oder Rassismus sowie die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion durch Einbeziehung nichtmusea­ ler Expert*innen. Diversität kann das Museum strukturell verän­ dern. Wenn wir gesellschaftlich relevant sein wollen, müssen wir eine aktive, langfristige und politische Teilhabe ermöglichen. In dem digitalen, partizipativen Projekt »Various Answers« haben wir über ein Jahr mit Fokusgruppen zu Werken der Sammlung gearbeitet. Es geht um diverse und alternative Formen der Kontexualisierung von Kunstwerken, deren Neubefragung und Aktualisierung. Dabei steht fast immer die Frage im Vorder­ grund: Was hat das mit mir zu tun? DANIELA BYSTRON Curator of Outreach Brücke-Museum

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Zu Outreach kommt es meist dann, wenn die Institution ihre Komfortzone verlässt. Langfristigkeit steht dabei im Vorder­ grund, einmalige Treffen oder einzelne Veranstaltungen werden der Aufgabe nicht gerecht. Die Herausforderung besteht darin, sich nicht hinter Phrasen und undurchdringlichen Konzepten zu verstecken. Wir stellen uns stets die Frage: Für wen ist ein Angebot relevant und warum? Und anschließend: Wen erreicht mein Angebot trotz erkennbarer Relevanz nicht? Niedrigschwellig zu sein, bedeutet nicht, auf Anspruch zu verzichten. Outreach ist kein Mittel des Audience Developments. In der Praxis unterteilt sich die Arbeit zumeist in Programme für die jeweiligen Nachbar­ schaften und langfristige Schulkooperationen. Outreach muss authentisch sein. Ein Kunstmuseum bleibt ein Kunstmuseum, mit oder ohne Outreach. Man sollte sich nicht als etwas präsen­ tieren, das man nicht ist. Viele Programme versuchen verstärkt, selbst interessant zu sein, anstatt sich für die Geschichten und Meinungen der Menschen zu interessieren, die sie erreichen wollen. Die größten Barrieren in der musealen Bildungsarbeit schafft sicherlich die zeitgenössische Kunst. Im Herbst 2021 hat der Museumsdienst mit der Berlin Art Week und der vene­ zolanischen Künstlerin Sol Calero für fünf Tage einen Ort auf dem Vorplatz des Kindl entwickelt, der sich mannigfaltig mit der zeitgenössischen Kunstproduktion auseinandersetzte. Es war ein offener und wenig institutioneller Treffpunkt mit großer Anziehungskraft. Workshops, Gespräche, gemeinsames Essen, Musik, Sport, Performances und eine Kunstinstallation liefen teils parallel und kostenfrei. Wer einmal da war, ob zufällig oder geplant, kam am nächsten Tag wieder. Es mischten sich Künst­ ler*innen und Familien aus der Nachbarschaft, Anwohner*innen und Kunstbegeisterte aus der ganzen Stadt. Solange Museen zehn Euro Eintritt oder mehr für einen Besuch verlangen müssen, um wirtschaftlich zu arbeiten, ist es kaum möglich, die Outreach-Ziele zu erreichen. Um Identifikation zu ermöglichen, müssen Museen vielfältigere Erzählungen bereithalten. Das führt direkt zum ebenso wichtigen Inreach: Wer macht die Programme, wer kuratiert die Ausstellungen? PAOLO STOLPMANN Leitung Museumsdienst Berlin Kulturprojekte Berlin


FOKUS

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Niedrigschwelligkeit ist eine anspruchsvolle Aufgabe Wir müssen Strategien entwickeln, um mit der Stadtgesellschaft in Kontakt zu kommen, wir sind daher selbst unterwegs. Er­ gänzend arbeiten wir mit unterschiedlichen Partner*innen an langfristigen Projekten. Das Bauhaus-Archiv befindet sich in einem sehr heterogenen städtischen Umfeld. Wir wollen unsere Rolle als Institution in diesem Quartier vielfältiger gestalten und stärken und interessieren uns daher insbesondere für unsere Nachbarschaft. Niedrigschwelligkeit ist eine anspruchsvolle Aufgabe, wenn wir die Interessen und Bedürfnisse der Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, ernst nehmen. Kooperationen brauchen Zeit und Engagement. Outreach muss als Aufgabe des ganzen Hauses begriffen werden, für die es Ressourcen braucht. Mit unserer Reihe »Bauhaus_RaumLabor« möchten wir bereits Kindern zeigen, dass das Museum ein Ort ist, an dem ihre Perspektive ernst genommen wird. Einer unserer Leitsätze ist daher: Kinder sind nicht das Publikum von morgen, sondern die Besucher*innen von heute.

Veränderung ist auf allen Ebenen nötig, bei Programm, Publikum und Personal Bei Outreach geht es für mich um die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Ausschlüsse das Museum produziert und wie wir diese abbauen können. Das betrifft weniger die sogenann­ ten Zielgruppen als die Strukturen des Museums. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich Museen mit sich selbst aus­ einandersetzen. Ein Wissen um Rassismus, Diskriminierung oder Ausschlüsse ist häufig nicht vorhanden. Es braucht daher zu­ allererst einen Wissensaufbau und die Bereitschaft, sich diesen Themen zu stellen. Für einen langfristigen Wandel ist Verände­ rung auf allen Ebenen nötig: Programm, Publikum und Personal. Es ist interessant zu beobachten, wie unser Stammpublikum auf Personen oder Gruppen reagiert, die es nicht in einem Museum für moderne Kunst erwartet. Von fast schon penetranter Neugier über Abwehrreaktionen bis hin zu aufrichtigem Interesse ist alles dabei. Mein Ziel ist es, dauerhafte und regelmäßige Kontakte zu Gruppen aufzubauen, die sich im Feld der Kunst bewegen, aber von Rassismus oder Ableismus betroffen sind. In unserem Programm »Standortwechsel« etwa, einer Art Mini-Residenzprogramm, laden wir jeweils für ein Jahr Künstler*innen oder Gruppen ein, einmal pro Woche vor Ort in der Berlinischen Galerie zu arbeiten und das Atelier zu nutzen. Ich freue mich auch, wenn sich Schüler*innen einer Willkommensklasse nach einem Jahr bei der Lehrerin dafür einsetzen, weiterhin am Programm teilzunehmen. Perspektivisch müssen wir Formen und Strukturen erarbeiten, wie sich Gruppen von außen dauerhaft in die Programmgestaltung einbringen können. Nur so kann ein Museum ein relevanter Ort werden und dauerhaft bleiben. CHRISTINE VAN HAAREN Leitung Bildung und Outreach Berlinische Galerie

FRIEDERIKE HOLLÄNDER Leitung Bildung und Vermittlung Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung


Wir hätten nicht mit solcher Resonanz gerechnet

Wir hinterfragen Schemata und Denkmuster Das Weltstudio in der Ausstellung »Berlin Global« im Humboldt Forum ist der Ort für Workshops und Vermittlung, für sponta­ nes Mitmachen und Verweilen und für Kooperationen mit der diversen Stadtgesellschaft. Die drei raumgreifenden Installa­ tionen Fadenkartograf, Kugelkartograf und Personenkartograf thematisieren niederschwellig die Methode der Kartografie und hinterfragen Schemata und Denkmuster zur Welt. Alle sind eingeladen, sich nach dem Ausstellungsrundgang über Berlin in der Welt und die Vernetzung der Welt mit Berlin auszutauschen und in entspannter Atmosphäre aktiv zu werden. Das haptische Erlebnis steht im Fokus. Aus Fäden entsteht eine wachsende Webkarte, am Kugelkartografen kann man Wegbe­ schreibungen zu einem Lieblingsort an eine unbekannte Person versenden und auf Riesenpostern sind Verbindungen mit der Welt dargestellt. Auf digitale Zugänge oder mediale Endgeräte wird bewusst verzichtet. Beteiligung und Interaktion lassen das Weltstudio wachsen und variieren sein Erscheinungsbild. So gibt es bei jedem Besuch Neues zu entdecken: neue Webtextilien an Galeriehaken, wechselnde Posterschauen und Pop-up-Präsenta­ tionen von Partizipationsprojekten. CONSTANZE SCHRÖDER Leitung des Fachbereichs Bildung und Vermittlung Stadtmuseum Berlin

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Unsere Gesellschaft wird immer diverser. Dies spiegelt sich bislang nur in Ansätzen in unserem Team und unserer Museums­ arbeit wider. Das möchten wir nachhaltig verändern. Wir be­ greifen Outreach als eine Querschnittsaufgabe, die alle Bereiche der Museumsarbeit betrifft: Personal, Programm, Publikum und Zugänge. Wir wollen stärker unsere Nachbarschaft erreichen und für sie eine Anlaufstelle zur Freizeitgestaltung und außer­ schulischer Lernort sein. Unterschiedliche Menschen sollen sich angesprochen, repräsentiert und wohl fühlen. Bei der Themen­ wahl und Präsentation gehen wir auf die Interessen und Bedürf­ nisse unterschiedlicher Gruppen ein und entwickeln bereits gemeinsam Inhalte. Wir bringen andererseits das Museum in das vertraute Lebensumfeld der Bürger*innen, z.B. in Schulen oder Senior*innenheime im Kiez. So arbeiten wir gemeinsam an einem Haltungswechsel. Es ist jedoch eine der größten Herausforderun­ gen, das gesamte Museumsteam mitzunehmen (Inreach). Durch einen gemeinsamen Austausch und mithilfe von Fortbildungen werden alle für Barrieren und Handlungsmöglichkeiten sensibi­ lisiert. Das Haus wird dank räumlicher Veränderungen – Garde­ robe, All-Gender-Toiletten und Sitzgelegenheiten – einladender, wir bauen wortwörtlich Barrieren ab. Neue Zugänge haben wir auch auf sprachlicher und inhaltlicher Ebene geschaffen, etwa mit unserer App. Dort finden sich Themenrouten auf Deutsch, Englisch und in Leichter Sprache. Eine Route behandelt speziell Objekte, die unsere Vorstellung von geschlechtlicher Identität formen und hinterfragt Rollenbilder und deren Auswirkungen auf Produktentwürfe. Darüber hinaus zeigt der eintrittsfreie Sonntag bereits große Erfolge. Wir haben viel Zeit und Mühe in die Vor­ bereitung eines besonderen Programms gesteckt, hätten jedoch nicht mit solch überwältigender Resonanz gerechnet. Wir sehen viele Leute aus dem Kiez und von außerhalb, die noch nie bei uns im Museum waren. VERONIKA DEINZEL & DOROTHEA LEICHT Kuratorinnen für Outreach Werkbundarchiv – Museum der Dinge


FOKUS

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Die Berliner Museen befinden sich auf dem richtigen Weg

Begegnungen auf Augenhöhe sind uns wichtig Als Gruppe junger Menschen mit diversen Hintergründen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren erarbeiten wir mit Kurator*innen und Kunstvermittler*innen wie auch eigenständig Vermittlungs­ formate und machen Outreach-Arbeit. Wir möchten die Perspek­ tiven, Wünsche und Erfahrungen des jungen Museumspublikums, aber auch der Nichtbesucher*innen stärker einbringen. Unser Gremium steht für Demokratisierung im Museum. Wir wollen ein Museum, das mit dem Alltag junger Menschen verknüpft ist. Dafür öffnen wir es als diversen Raum und schaffen Möglich­ keiten für Diskussionen und Aktionen. Begegnungen auf Augen­ höhe sind uns besonders wichtig. Als eines von wenigen weiteren Jugendgremien ist Achtet AlisMB ein Modellprojekt in der deutschen Museumslandschaft und noch sehr neu für die Strukturen einer großen Institution wie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. An jedem Punkt unserer Entwicklung müssen daher individuelle Handlungsräume gefunden werden, und als Gruppe sind wir gefordert, sehr aktiv an der Umsetzung unserer Vision mitzuarbeiten – das ist einerseits eine wertvolle Möglich­ keit für partizipative Prozesse, andererseits langwierige Bürokra­ tie abseits kreativer Projekte.

Outreach ist zunächst einmal das englische Wort für Reich­ weite. Diese zu erhöhen, ist ein zentrales Thema für Museen. Sie sollen als Diskursräume fungieren, relevant bleiben und Ziel­ gruppen erreichen, die bisher zu wenig angesprochen werden. Durch Kooperationen – etwa mit Werkstätten für Menschen mit Beeinträchtigungen, Nachbarschaftsvereinen, Jugend­ zentren und Volkshochschulen – werden Menschen erreicht, die oftmals nicht mitbekommen, was die Museen ihnen bieten können. Natürlich sorgt Outreach nicht dafür, dass alle ins Museum kommen – es gibt ja auch Leute, die grundsätzlich kein Interesse haben, und das ist auch in Ordnung. Oft wird Outreach allein auf Maßnahmen zur Ansprache neuer Besucher*innen reduziert. Es ist aber genauso wichtig, dass sich die Inhalte, der Kanon, die Programme der Kultureinrichtungen ändern. Out­ reach muss daher verschränkt mit einer diversitätsorientierten Organisationsentwicklung gedacht werden. Weil es dabei um die Pflege von Beziehungen und Vertrauen geht, erfordert es viel Zeit, vor allem aber personelle Kontinuitäten. Outreach ist eine Daueraufgabe. Aus diesem Grund haben wir das Programm der Outreach-Kurator*innen ins Leben gerufen. Ende 2020 konnten alle Stellen dauerhaft verankert werden. Die OutreachKurator*innen streben in ihren Häusern einen systematischen Öffnungsprozess sowohl nach innen als auch nach außen an. Je offener Kultureinrichtungen für die damit einhergehenden Veränderungen sind, umso größer sind die Erfolge von Outreach. Die Berliner Museen befinden sich auf dem richtigen Weg. Die Einführung des freien Eintritts am ersten Sonntag im Monat zielte darauf ab, mit niedrigschwelligen Angeboten die Museen zu öffnen. Praktisch alle Häuser berichten jetzt schon, dass das Publikum an diesen Tagen deutlich diverser ist als sonst. CHRISTINE REGUS Leitung des Referats Museen, Gedenkstätten und Einrichtungen bildender Kunst Senatsverwaltung für Kultur und Europa

MARTIN BECK & LEYLA SÜNNENWOLD Achtet AlisMB, Jugendgremium der Staatlichen Museen zu Berlin

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Wir wollen Barrieren abbauen Outreach bedeutet, Verbindungen auf historischer wie mensch­ licher Ebene herzustellen und Verantwortung für gesellschafts­ politische Diskurse zu übernehmen. Ambivalenz, Pluralität und Irritation sind der Gesellschaft inhärent, Outreach sollte das erfahrbar machen sowie dazu beitragen, identitäts- und ideolo­ gisch umkämpfte Themen zu entschärfen und Wege der Annähe­ rung, des konstruktiven Streitens und des Verstehenwollens zu befördern. Letztendlich ist Outreach eine Querschnittsaufgabe, die Kulturinstitutionen nahbarer und menschlicher machen soll, und zwar für möglichst alle. Wir leben in einem sehr konservati­ ven System: Nur das, was klar beziffert werden kann, bekommt Gewicht. Outreach ist aber kein klar umrissenes Feld. Die Inhalte folgen keinen etablierten Strukturen. Wenn ich etwas an der Grundhaltung im Museum verändern möchte, stoße ich hier und da auf Abwehr und Misstrauen. Ich muss daher viel Zeit in den Aufbau von Vertrauen investieren und manchmal um meine Position kämpfen. Aber wer Outreach macht, muss hartnäckig und kommunikativ sein. Wer schüchtern und leise ist und An­ erkennung als Motor braucht, ist fehl am Platz. Die Stiftung Berliner Mauer mit ihrem historisch-politischen Bildungsauftrag soll auch demokratische Grundwerte vermitteln. Unsere Themen haben nationale Relevanz, wir wenden uns haupt­ sächlich an Schulgruppen. Gedenkstätten und Erinnerungsorte können sehr einschüchternd wirken. Wir wollen physische, aber auch sprachliche und symbolische Barrieren abbauen und Outreach nicht nur für bestimmte Altersgruppen und soziale Milieus denken, sondern vor allem achtsamer werden, Angebote ganzheitlicher denken und marginalisierte Perspektiven stärken. Wenn Museen ihre Räume auch für weniger »elitäre« Ansprüche öffnen, können sie viel von Menschen lernen, die Bedarf an (Begegnungs-)Räumen haben. Dabei geht es nicht nur um das Lernen aus Kooperationen und anderen Perspektiven, sondern auch um das Lernen aus Situationen, in denen etwas schief geht oder wo »Fehler« passieren. Ich empfinde das wöchentliche Sprachcafé mit deutschsprachigen ehrenamtlichen Menschen aus der Nachbarschaft und geflüchteten Menschen aus einem Übergangswohnheim derzeit als größten Erfolg. Aufgrund unse­ rer Arbeit kommen zunehmend mehrsprachige und geflüchtete Menschen zu uns. GÜLŞAH STAPEL Kuratorin Outreach Historisch-politische Bildung Stiftung Berliner Mauer

Die ausführlichen Antworten finden Sie online unter MUSEUMSJOURNAL. BERLIN

Das sind anspruchsvolle Prozesse Ich verstehe unter Outreach einen systematischen Prozess, der die Haltung der Kulturinstitution, deren Gefasstheit und Pro­ grammatik verändern soll, um ein die Gesellschaft widerspiegeln­ des Publikum zu erreichen. Mit dem Begriff »niedrigschwellig« tue ich mich schwer. Vielmehr geht es darum, Anknüpfungs­ punkte aufzuspüren: Was müssen wir zum Beispiel tun, damit unser Publikum »Andockmöglichkeiten« zwischen Interessen, Kompetenzen und Fragestellungen sowie den Objekten der Museen findet? Das sind höchst anspruchsvolle Prozesse. Seit fast zehn Jahren initiieren wir große Projekte, um Men­ schen zu erreichen, die in den Museen unterrepräsentiert sind. Die systematische Arbeit mit Schulen ist dabei ein Schwerpunkt, keine andere Institution bildet die gesellschaftliche Diversität so gut ab wie die Schule. Wir richten aber auch den Fokus auf besonders heterogene Nutzer*innengruppen oder arbeiten mit sozialräumlichen Bündnispartner*innen aus der Kinder- und Jugendhilfe zusammen. Daraus resultiert ein riesengroßer Er­ fahrungsschatz, den wir auf alle Staatlichen Museen übertragen und verstetigen können. Um das mit der notwendigen Intensität, Sorgfalt und Schnelle zu leisten, benötigen wir jedoch weitaus mehr Ressourcen, auch um die gewonnenen Kompetenzen mit anderen Institutionen zu teilen. Wir erleben in den Projekten eine hohe Akzeptanz, und mit vielen Partner*innen hat sich eine enge Zusammenarbeit entwi­ ckelt. Aus Lab.Bode ist etwa Achtet AlisMB, das Jugendgremium der Staatlichen Museen zu Berlin, hervorgegangen. Im Haus Bastian – Zentrum für kulturelle Bildung loten wir neue Möglich­ keitsräume aus. Der Museumssonntag verändert das Publikum selbst an tourismusstarken Standorten wie der Museumsinsel. Das sind erfreuliche Entwicklungen, die zeigen, dass kulturelle Teilhabe machbar ist. Es ist jedoch noch viel Luft nach oben. Aus meiner Sicht ist das unsere Kernaufgabe der nächsten Jahre. HEIKE KROPFF Abteilungsleitung Bildung/Kommunikation Staatliche Museen zu Berlin

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FOKUS

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Outreach an Bühnen TanzZeit

Komische Oper Berlin

KOMPLIZEN FINDEN

URBAN NETZWERKEN

Das Projekt möchte Kindern und Jugendlichen kulturelle Teilhabe ermöglichen und gesellschaftlicher Ungleichheit im Bildungswesen und Kulturbetrieb entgegenwirken. Wie gelingt das konkret? Die Vermittlung findet im regulären Unterricht statt. So wird der »so­ ziale Körper Schulklasse« in all seiner Vielfalt Ausgangspunkt und Inspiration für die Gestaltung von zeitgenössischem Tanz in der Schule. Am Ende des Schuljahres stehen junge Tänzerinnen und Tänzer aus allen Berliner Bezirken beim Festival »Alles tanzt« im Podewil auf einer echten Bühne und führen die selbst erarbeite­ ten Choreografien auf. Weitere Formate haben sich über die Jahre bewährt: Die »Tanzkomplizen« zeigen regelmäßig Tanzauffüh­ rungen für ein Publikum ab dem Vorschulalter. Eine Jugendcom­ pany schlägt die Brücke zwischen Schule und Professionalisierung, ist mitunter sogar Sprungbrett in den künftigen Tanzberuf. Über das digitale Vermittlungstool »Calypso« wird der Nachwuchs der Tanzvermittler ausgebildet. Besonders beliebt ist der »Club Oval«. Hier trifft sich die Szene zum wilden Crossover-Battle, darunter häufig ehemalige Schülerinnen und Schüler von TanzZeit – so schließt sich der Kreis.

Das Projekt »Selam Opera!« hat in den vergangenen zehn Jahren neue Maßstäbe im Outreach gesetzt. Lebenswirklichkeit, Geschich­ ten und Bedürfnisse der Menschen, die man erreichen möchte, werden ernst genommen. Mit einem vielfältig besetzten Kinderchor, Untertiteln auf Türkisch, mit dem Operndolmuş – einem Sammel­ bus für Erwachsene und Kinder – sowie der Pop-up-Opera heißt die Komische Oper Berlin ein vielfältiges Publikum willkommen und meint damit nicht nur ethnische Diversität, sondern spricht unter­ schiedliche Altersgruppen, Erfahrungshintergründe und Milieus an. Ausschlaggebend ist eine hohe künstlerische Qualität und die breite Vernetzung in die Berliner Stadtgesellschaft. Ein abteilungs­ übergreifendes Team arbeitet daran, Zugänge zur Kunstform Oper zu schaffen und umzusetzen. So führte die musikalische Auseinan­ dersetzung mit der Geschichte der Gastarbeiter dazu, Programm, Publikumszusammensetzung und künstlerische Positionen im Haus kritisch zu hinterfragen. Ergebnis waren 2016 das »Türk Müzik Festivali«, 2017 die zweisprachige Kinderoper »Die Bremer Stadtmusikanten (Bremen Mızıkacıları)« und dieses Jahr das Auf­ tragswerk »Üçüncü mevki – Im Wagen dritter Klasse«.

TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen, Aufführung einer Moabiter Grundschule im FEZ

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AUSSTELLUNGEN



Zur See! Aus Berlin flüchtete MAX LIEBERMANN im Sommer an die holländische Küste. Über eine maritime Hingabe

Max Liebermann, »Strand bei Noordwijk«, 1911 »Landschaft bei Noordwijk«, um 1906 (rechts) »Am Strand von Noordwijk«, 1908 (vorherige Doppelseite)

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LIEBERMANN-VILLA AM WANNSEE

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wischen 1905 und 1913 verbrachte Max Lieber­ mann (1847–1935) jeden Sommer im idyllischen Fischerdorf Noordwijk an der holländischen Nordseeküste – mit nur einer Ausnahme. 1910 blieb er in seiner neu erbauten Villa am Wannsee. Liebermann war in Noordwijk überaus produktiv, er schuf dort über 120 Werke – von großformatigen Gemälden bis hin zu zarten, farbenfrohen Pastellen. Die Holland-Bilder markieren ein ent­ scheidendes Moment in Liebermanns Schaffen und belegen seinen unerschütterlichen Glauben an die Ideen des Impressionismus. 2022 wäre Max Liebermann 175 Jahre alt geworden. Zu diesem Jubiläum widmet die Liebermann-Villa am Wannsee seinen stim­ mungsvollen Noordwijk-Bildern eine Sommer-Ausstellung. Die Schau präsentiert erstmals eine große Zahl dieser Werke an einem Ort, vom goldenen Sand der Dünen bis hin zum fröhlichen Treiben auf dem Jahrmarkt. Dabei wird auch die Bedeutung des Küstenorts für das persönliche und berufliche Umfeld des Künstlers deutlich. In Noordwijk begegnete Liebermann vielen Berliner Bekannten und feierte Jubiläen wie seinen 60. Geburtstag im Jahr 1907 oder seine Silberhochzeit zwei Jahre später. In den frühesten Noordwijk-Bildern ist Liebermanns Interesse am ursprünglichen Dorfleben besonders ausgeprägt. Mit Aus­ druckskraft, zunehmend lockerer Pinselführung und intensiven Farben fing er spielende Kinder, Gemüseverkäufer und Wäsche bleichende Dorfbewohnerinnen ein. Mit der wachsenden Be­ liebtheit des kleinen Ortes kamen Freizeitmotive wie flanierende Touristinnen oder Tennisplätze hinzu. Fast täglich war Liebermann im Dorf unterwegs und skizzierte vorbereitende Zeichnungen für seine Gemälde. Zu den stärksten Motiven zählen Frauen und Kinder am Strand – mal vor dem ruhigen Meer, mal in Strandkörben vor heraufziehen­ den Wolken geschützt. Liebermann hatte mit dem unbeständigen Wetter an der Nordsee durchaus zu kämpfen, wie er 1908 in einem Brief beklagte: »Ich bin hier seit 6 Wochen, aber seit einigen Tagen ist ein Hundewetter u mein Talent liegt brach.« 1912 beschrieb er die malerische Ausbeute so: » […] in meinem 43-jährigen Hol­ landfahren habe ich einen ähnlich schlechten Sommer noch nicht erlebt. Ich fürchte daher, daß die diesjährige Ernte demgemäß ausfallen [wird].«

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Mit dem aufkommenden Tourismus wurde Noordwijk zu einem Treffpunkt des deutschsprachigen Großbürgertums in Holland. Liebermanns Berliner Kunsthändler, Paul Cassirer, ließ sich 1906 eine Villa in den Dünen bauen und lud in der Folge zahlreiche Künst­ lerfreunde ein. So begegnete Max Liebermann vielen seiner Seces­ sionskollegen in Noordwijk, darunter Max Slevogt und Lovis Corinth. Der Küstenort avancierte zu einem Ort des Netzwerkens der deutschen Kunst- und Kulturszene. Liebermann selbst ermunterte seine Bekannten zu kommen, so im Juli 1908 Hugo von Tschudi: »Als bestes Mittel gegen Ihre pessimistische Stimmung empfehle ich Ihnen eine Reise nach Noordwijk.« In seinem letzten NordseeSommer resümierte er in einem Brief vom 19. August 1913 an den damaligen Direktor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark: »Ich bin seit einer Woche wieder hier, wo ich jeden Menschen, jedes Haus, fast jeden Baum kenne, ja beinahe Alles gemalt habe. Es ist wie eine Badekur an dem innern Menschen, wo ich hier einige Wochen einsam [...] lebe.« Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kehrte Lieber­ mann nie wieder nach Holland zurück. Stattdessen verbrachte er die Sommermonate in seiner Villa am Wannsee, wo er in seinem prächtigen Garten die letzten Motive für sein impressionistisches Lebenswerk fand. Text LUCY WASENSTEINER, Direktorin der Liebermann-Villa am Wannsee

Küste in Sicht! Max Liebermann in Noordwijk bis 19. September 2022 Liebermann-Villa am Wannsee liebermann-villa.de

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Sibylle Bergemann, »Nina und Eva Maria Hagen«, Berlin 1976

Innig für den Augenblick Klischees waren ihre Sache nicht – SIBYLLE BERGEMANN schaute sensibel auf die Zeit und ihre Menschen


BERLINISCHE GALERIE

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ie Hände in die Taille gestützt, ein Regenmantel über der zugeknöpften wadenlangen Strickjacke, steht Birgit selbstbewusst am S-Bahnhof Pankow-Heinersdorf in Ost-Berlin. Hinter ihr qualmt ein Fabrikschornstein, der ihre kühne Pose unterstreicht. Die Auf­ nahme sorgte im Jahr 1984 für Kritik. Das DDR-Umweltministerium beschwerte sich über den schwarzen Rauch – Bildhintergründe hätten neutral zu bleiben. Die Fotografie ist Teil einer der zahl­ reichen Modestrecken, die Sibylle Bergemann (1941–2010) für die »Sibylle – Zeitschrift für Mode und Kultur« inszenierte. Für das in der DDR beliebte Magazin arbeitete sie von 1970 bis zur Einstellung der Produktion 1995. Mit ihren Mode- und Porträtaufnahmen, den Reportagen und stimmungsvollen Serien gehörte Bergemann zu den bekanntesten deutschen Fotograf*innen. Im Fokus ihrer Arbeit stand stets der Mensch, wobei sie insbesondere Frauen abbildete. Berlin war Lebensmittelpunkt und oft gewähltes Motiv ihrer Schwarz-WeißFotografien. Auftragsarbeiten und ihre eigene Reiselust führten sie unter anderem nach Dakar, Moskau, New York und Paris. Bereits mit 15 Jahren hegte Bergemann den Wunsch, Fotogra­ fin zu werden. Zunächst absolvierte sie jedoch ab 1958 eine kauf­ männische Ausbildung und arbeitete anschließend als Sekretärin bei der Zeitschrift »Das Magazin«. Über die befreundete Bildredak­ teurin Brigitte Voigt lernte Bergemann Mitte der 1960er-Jahre Arno Fischer kennen, der später ihr Lebenspartner wurde. Fischer unter­ richtete zu dieser Zeit Fotografie an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Berlin-Weißensee. Sein mannigfaltiges Wissen und der intensive Austausch mit Kolleg*innen bildeten die Grundlage für Bergemanns Praxis. Sie begann leidenschaftlich zu fotografieren und richtet die halbe Küche als Dunkelkammer ein. Dort verbrachte sie viel Zeit mit dem Vergrößern ihrer Aufnahmen. Sibylle Bergemanns Bilder erzählen von den Beziehungen zwischen den Menschen, den Dingen, die sie umgeben, und den gesellschaftlichen Situationen, mit denen sie verwoben sind. In der Großstadt Berlin fand sie ihre Motive: Menschen auf der Straße, auf dem Weg zur Arbeit, in der Bahn oder beim Tanz im traditions­ reichen »Clärchens Ballhaus« in Berlin-Mitte. Bis in die späten 1970er-Jahre arbeitete Bergemann vor allem in Schwarz-Weiß. Von Anfang an sind Fenster ein wichtiges Motiv – für Berge­ mann sind es die Gesichter der Menschen, die dahinter leben. »Da ich mich nicht getraut habe, Menschen zu fotografieren, habe ich Fenster fotografiert«, sagte sie 2009 in einem Interview. Mit Empathie fotografierte Bergemann auch auf ihren Reisen. Gemeinsam mit Arno Fischer fuhr sie Anfang der 1970er-Jahre nach Moskau und Leningrad. Inmitten des Gemenges auf einem Vogelmarkt richtete sie ihre Kamera direkt auf eine Gruppe Ju­ gendlicher. Dicht gedrängt stehen sie in gestreiften und karierten Hemden zusammen. Zwei von ihnen halten lässig eine Taube in der Hand. Einer der Jungen blickt zwischen den anderen hindurch, direkt ins Objektiv der Fotografin.

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Im Jahr 1979 fährt Bergemann das erste Mal nach Paris. Seit 1978 ermöglichte ihr die Mitgliedschaft im Verband der Bildenden Künstler der DDR, Reisen in den Westen zu beantragen. Das Verfah­ ren war kompliziert, Anträge mussten fachlich begründet sein und für die Bewilligung musste sich die Fotografin hartnäckig einset­ zen. Die oft kurzfristig erteilte Genehmigung und die beschränkte Aufenthaltsdauer erschwerten die Planung. Darüber hinaus stellten mangelnde Devisen und limitierte finanzielle Mittel eine zusätzliche Herausforderung dar. Die Bilder, die in Paris entstanden, zeigen Menschen in der von Leben erfüllten Großstadt, Kurioses ebenso wie stille Momente. So wie sie hier die Atmosphäre einfängt, fotografierte sie 1984 auch in New York. Die raue Metropole ist in den Bildern kaum zu spüren,

Sibylle Bergemann, »Shibam«, Jemen 1999

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Sibylle Bergemann, »Birgit«, Berlin 1984 »Dakar«, Senegal, 2010 (links)

Bergemann richtete ihren Blick auch auf die innigen Augenblicke menschlicher Begegnungen: ein beschwingt tanzendes Paar oder eine alte Dame, die beim Überqueren der Fahrbahn gestützt wird. Bergemann versuchte mit der eigenen Bildsprache, künstleri­ sche Autonomie jenseits des parteilich verordneten Bilderkanons zu behaupten, ohne dabei Veröffentlichungsverbote zu riskieren. Sie war auf den großen Ausstellungen der DDR, wie der Porträtfoto­ schau und der Kunstausstellung vertreten. Vom Ministerium für Kultur erhielt sie 1977 den Auftrag, die Entstehung des Denkmals für das Marx-Engels-Forum in Berlin-Mitte fotografisch zu begleiten. Farbfotografie spielte erst ab 1990 eine wesentliche Rolle in Bergemanns Œuvre. Gemeinsam mit Harald Hauswald, Ute Mahler, Werner Mahler, Jens Rötzsch, Thomas Sandberg und Harf Zimmermann gründete sie in jenem Jahr Ostkreuz – Agentur der Fotografen, um nach der Wiedervereinigung auf dem neuen Markt bestehen und ihre Rechte sichern zu können. Als Fotografin war sie auch im internationalen Bildjournalismus tätig. Ihre erste Aus­ landsreise im Auftrag der Zeitschrift »Geo« führte sie 1999 in den Jemen. Begeistert von den Farben in diesem Land, brachte sich Bergemann das Entwickeln und Vergrößern der Farbaufnahmen bei. »Ich habe gelernt, mich in die Farbe reinzugucken«, bekundete sie. Es gelang ihr, die weichen, erdigen Farbtöne des Jemen ihrer Empfindungen in die Fotografien zu übertragen. Bis zu ihrem Tod 2010 fotografierte und veröffentlichte Bergemann.

Die Ausstellung in der Berlinischen Galerie präsentiert Sibylle Bergemanns umfangreiches Werk in über 200 Fotografien. Dabei wechseln sich bisher unveröffentlichte Fotografien mit bekannten Serien ab. Im begleitenden Katalog wird Bergemanns Schaffen aus verschiedenen Perspektiven erörtert. Erläuterungen zur Biografie und den Reisen, eine Verortung des Œuvres aus feministischer Sicht sowie eine essayistische Betrachtung der Serie »Das Denkmal« finden ebenso Eingang wie die fotografische und editorische Praxis. Text LENA SCHOTT, wissenschaftliche Volontärin an der Berlinischen Galerie

Sibylle Bergemann. Stadt Land Hund. Fotografien 1966–2010 bis 10. Oktober 2022 Berlinische Galerie berlinischegalerie.de

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