Magazin
Herbst ⁄ Winter 2018
31 Nr.
Aa
Valentin Groebner Nils Plath Robert Bramkamp Sarah Khan Heike Gfrereis Jan Söffner Thom van Dooren Jürgen Goldstein Carolin Callies Tobias Asmuth Volker Heller Thomas Krüger
Schwerpunkt
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Valentin Groebner Retourkutschieren: Eine Landpartie Nils Plath / Robert Bramkamp Doppelbelichtungen oder: Hinter jeder Hecke ein Computerprogramm
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Sarah Khan Hohe Maßnahmen
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Jürgen Goldstein Literarische Wegweiser in die Natur
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Carolin Callies wo die alb anfängt, dort hört der zug auf
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Tobias Asmuth Ihr Auftrag bitte!
Heike Gfrereis / Jan Söffner Der Zauber steckt im Detail Thom van Dooren Natur kuratieren Zu den Bildern von Michael Wang
Volker Heller / Thomas Krüger Wahlverwandte # gefördert Aktuelles aus der Stiftung Gremien & Impressum Neue Projekte → Plakat in der Heftmitte
Michael Wang Extinct in the Wild Mehr zur Bildstrecke → ��
Aa Mukhaizna Ölfeld, Al Wusta Governorate, Oman. Die letzte arabische Oryxantilope (Oryx leucoryx) wurde von Wilderern �972 im Wadi Mukhaizna geschossen. Hier befindet sich heute ein Ölfeld der Occidental Petroleum Corporation. Ab Arabische Oryxantilope. Al Wusta Wildreservat, Jiddat Al Harasis, Oman.
Ba Xochimilco, Mexico City, Mexiko. Künstliche Kanäle markieren den letzten Ort, an dem das Axolotl (Ambystoma mexicanum) in freier Wildbahn beobachtet wurde. Bb Axolotl (Ambystoma mexicanum), Universidad Nacional Autónoma de México, Mexico City, Mexiko.
Editorial Umwandlung und Umformung – das sind die üblichen Übersetzungen des Begriffs Transformation. Er hat im letzten Jahrhundert in fast alle wissenschaftlichen Bereiche Einzug gehalten: in Mathematik, Physik, Medizin, Geologie, Sprachwissenschaft, Rechtswissenschaft … Für uns spielt er in der Kultur, insbesondere der Kulturförderung, eine prominente Rolle. Die Idee der Transformation hat unsere neueren Programme geprägt, insofern sie Institutionen wie Stadtmuseen, öffentliche Bibliotheken oder Theater bei ihrer Weiterentwicklung, ihrer Öffnung und Diversifizierung, kurz: ihrer Transformation zugunsten ihrer Zukunftsfähigkeit unterstützen. In einem Fall ist der Name sogar Programm: Bei TRAFO geht es um Modelle für Kultur im Wandel im ländlichen Raum. Die dort verbliebenen Kultureinrichtungen sind zumeist in einer sehr viel schwierigeren Situation als Kulturinstitutionen in größeren Städten. Die Kulturstiftung des Bundes hat deshalb einen ihrer Förderschwerpunkte auf die Kultur im ländlichen Raum und in Kleinstädten gelegt. Dieses Heft, das rechtzeitig zum IDEENKONGRESS zu Kultur, Alltag und Politik auf dem Land vom �9. bis ��. September erscheint, möchte mit seinem thematischen Schwerpunkt Land den Blick auf Besonderheiten kultureller Produktion im ländlichen Raum lenken. Die paarig angeordneten Bilder des New Yorker Künstlers Michael Wang, einer der Teilnehmer der kommenden internationalen Ausstellung Pflanzen. Über die Natur des Menschen des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, stellen scheinbar unberührte Natur einer „kultivierten“ Natur gegenüber. Sie problematisieren die menschlichen Eingriffe, durch die Natur, Tiere und Pflanzen „künstlich am Leben gehalten“ werden. Sie zeigen eindrücklich, wie Natur in gestaltete (oder verunstaltete?) Landschaft transformiert wird (zu den Bildern von Michael Wang: Thom van Dooren → �3). In den ersten beiden Textbeiträgen wird die gegenwärtig medial befeuerte Liebe zum Land analysiert. Der Historiker Valentin Groebner untersucht Klischees und Sehnsüchte, die vor allem die Stadtmenschen mit dem Land verbinden: Das Bild, das sie sich als Touristen von ihm machen, hat wenig mit der Alltagsrealität zu tun (→ 02). Das Land wird imaginiert als Herkunftsraum, als Chiffre von Heimat. Dass es das Land nicht gibt, dafür aber jede Menge medial konstruierter, komplexer Bilder von „Landschaft“, in denen unterschiedliche Zeitebenen miteinander verschmelzen, wird auch im Gespräch des Literaturwissenschaftlers Nils Plath mit dem Filmemacher Robert Bramkamp deutlich. Unsere Wahrnehmung und unsere Darstellung von Landschaft verändern sich nicht zuletzt dadurch, dass diese mehr und mehr ein Gegenbild zu Games und virtueller Realität darstellt (→ 04). Die Reportage von Sarah Khan führt ins Oderbruch, eine der Modellregionen des TRAFO-Programms, die die Schriftstellerin immer wieder aufgesucht hat. Wenn man sie liest, wird die örtliche Bevölkerung vor dem inneren Auge geradezu lebendig. Ihre
Ca Barranc de Sa Vall, Menorca, Balearische Inseln. Früherer Lebensraum des menorquinischen Gilbweiderich (Lysimachia minoricensis). Cb Menorquinischer Gilbweiderich (Lysimachia minoricensis). Jardí Botànic de Sóller, Mallorca, Balearische Inseln.
Geschichten verbinden sich zu einem Panorama, das in eine zeitgemäße Erzählung von der Kultur auf dem Land gehört, die zu erzählen sich das umgestaltete Oderbruch Museum Altranft zur Aufgabe gemacht hat (→ 07 ). Die Dichterin Carolin Callies, die sich längst über ihre schwäbische Heimat hinaus einen Namen als eine bemerkenswerte junge Lyrikerin gemacht hat, besuchte für uns mehrfach eine weitere TRAFO-Region, die Schwäbische Alb, und hat ihre Eindrücke von dort in Gedichten festgehalten (→ �6). Anlässlich der Münchner Literaturausstellung Ins Blaue!, die die Natur in der Literatur zum Thema hat, haben wir den Philosophen Jürgen Goldstein gebeten, sich mit dem Begriff des Nature Writing auseinanderzusetzen, der derzeit Konjunktur in den literarischen Szenen hat. Goldstein verteidigt das Nature Writing gegen seine Liebhaber, zumal wenn sie es für ein neues eigenständiges literarisches Genre halten. Die Frage ist, ob das Nature Writing zu einem modernen Verhältnis zwischen Kultur und Natur beiträgt, das nicht länger von Ausbeutung und Zerstörung gekennzeichnet ist, sondern den Eigenwert der Natur respektiert (→ �4). Heike Gfrereis, Literaturwissenschaftlerin und Kuratorin für Literaturausstellungen – übrigens auch der Ausstellung Ins Blaue! –, bereitet derzeit die große Fontane-Ausstellung zu dessen 200. Geburtstag 20�9 in Neuruppin vor. Im Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Jan Söffner zeigt sie, wie leichtfüßig man mit Theodor Fontane, dem „Goethe der Mark Brandenburg“, als inspirierte Zeitgenossin über Land und durch sein Werk wandern kann (→ �0). Tobias Asmuth erzählt eine jüngere Episode aus der Geschichte des kleinen Dorfs Blessey in der französischen Provinz nach, wie die Zusammenarbeit mit dem weltbekannten Schweizer Künstler Rémy Zaugg das Dorf und das Selbstbewusstsein seiner Bewohner verändert hat. Es ist ein herausragendes Beispiel dafür, welche nachhaltigen Wirkungen Die neuen Auftraggeber, die nun durch die Kulturstiftung des Bundes auch in Deutschland gefördert werden, zeitigen können (→ �8). Das Gespräch zwischen dem Direktor der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, Volker Heller, und Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, anlässlich der bevorstehenden Next Library ℗ Conference vom �2. bis �5. September 20�8, auf der sich Bibliothekare aus aller Welt in Berlin treffen, weist auf die außerordentliche Bedeutung hin, die öffentliche Bibliotheken in der Stadtgesellschaft erlangen können, wenn es ihnen gelingt, sich in sogenannte Dritte Orte zu transformieren. Ausdrücklich unterstreichen beide deren herausgehobene Rolle für die Ausbildung eines demokratischen Gemeinsinns in den entsprechenden Einrichtungen abseits der größeren Städte (→ 20). Unser Magazin hat ein neues Layout, das vom Leipziger Studio Bureau David Voss gestaltet wurde. Wir sind gespannt, ob es Ihnen gefällt. Neu ist auch die Rubrik #gefördert am Ende des Heftes. Dort berichten wir nun regelmäßig über aktuelle Förderentscheidungen und neue Entwicklungen in den Programmen. Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz Vorstand der Kulturstiftung des Bundes
Da Ginkgo (Ginkgo biloba), Yangjiagou, Dalou-Berge, Chongqing, China. Das hohe Maß an genetischer Variation unter Ginkgo-Arten in den Dalou-Bergen deutet darauf hin, dass diese Arten nur noch hier in freier Natur vorkommen. Db Ginkgo (Ginkgo biloba), Tianfu New Area, Chengdu, China.
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Retourk utschieren: E ine Landp artie V alentin Groebner Wer mit dem Auto aufs Land fährt, hinaus ins Grüne, passiert hinter dem Autobahnzubringer zuerst Abhol- und Möbelmärkte, die mit den geräumigen großen Parkplätzen. Dann Wohnsiedlungen. Dann noch einmal Möbelmärkte. Dann endlich Felder und Wälder, Teiche und Alleen. „Schön ist es hier!“ Schließlich erscheint am Rand der gut befahrenen Bundesstraße das große Schild neben dem alten Bauernhaus. Es zeigt dem Ausflügler, dass er es nun wirklich erreicht hat, das Land: „Antiquitäten“ steht darauf.
Das Land ist kein Ort, sondern ein innerer Zustand, die Sehnsucht nach Rückkehr in eine Vergangenheit, in der alles vermeintlich authentisch war. Über den rücksichtslosen imaginären Landraub von Stadtbewohnern.
Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts waren alle dermaßen jung, dass sie – abgesehen von cash und Kanonen – nichts dringender brauchten als eine lokale Vergangenheit. Sie brachten das Ländliche in der Form hervor, wie wir es heute kennen. Bunt und pittoresk muss es sein, dabei ganz natürlich – so wie seine Bewohner, ihre Kleider und Gewohnheiten. (Es steckt ziemlich viel Rousseau in dem Konzept.) Erscheinen muss es in vertrauten Formen, reproduzierbar, bildfähig. Der erste Band von Heinrich Riehls Naturgeschichte des deutschen Volkes von 1854 hieß Denn die auf dem Land haben noch so viel nicht umsonst Land und Leute. Gefördert hat altes Zeug von früher, dass sie es uns, den ihn derselbe bayrische König, der EisenbahStadtbewohnern, gerne verkaufen. Wir sind nen und Bildungsanstalten baute und anordkreativ, die sind Archiv. Das Land ist das nete, überall lokale Trachten akribisch zu Territorium der stillgestellten Zeit. Wer aufs dokumentieren. (So sind sie entstanden; denn Land fährt, fährt in ein geträumtes Gestern, vorher gab es an den meisten Orten keine.) in dem es noch ein bisschen so ist wie früher, Wandern ging Ihre Majestät auch. mit alten Autos, alten Obstsorten (wo kommen denn die neuen her? – egal), alten Mö- Land ist deswegen in seiner reinsten Form beln, alten Bräuchen. Alles Neue kommt aus in den Köpfen von Stadtmenschen zu finder Stadt, in Sachen Kultur sowieso: Das ist den, vor Kontamination durch Empirie gedie Botschaft des erfolgreichen und seit sei- schützt. Es ist weniger ein Ort als ein innenem Erscheinen 2002 beharrlich wiederge- rer Zustand, ein Bilderbogen zur kollektiven käuten Buchs des Soziologen Richard Florida: Selbstidentifikation: So ursprünglich, naturThe Rise of the Creative Class. Das Alte, Ur- verbunden und echt sind wir selber. Nachsprüngliche, Authentische dagegen kommt satz: Wenn man uns nur ließe. Denn „Land“ vom Land. Oder genauer: Dorthin fahren die ist in seinen unterschiedlichen sozialromanStädter, um es einzukaufen. tischen Aufladungen immer verbunden mit dem Konzept von Widerstand gegen AuswärDas ist so selbstverständlich, weil das „Land“ tiges, Unechtes, Künstliches, gegen die Verals Begriff in dem uns vertrauten Sinn un- lockungen der industriellen Metropolen. Es gefähr so alt ist wie die Eisenbahn, die Fo- geht gegen die Römer, um es mit dem Vokatografie, der Tourismus und der moderne bular von René Goscinny zu sagen, dem AuNationalstaat, etwas mehr als 150 Jahre. tor von Asterix. Der Comic spielt ja nicht umSeither ist Land nicht nur eine Gegend, son- sonst in einem abgelegenen gallischen Dorf, dern auch das, was Émile Durkheim ein To- dessen Bewohner ihre lokalen Eigenarten tem genannt hat: Ein wirkmächtiges Em- mit Hilfe eines Zaubertranks nach geheimem blem, das ein Kollektiv repräsentiert. Die Rezept erfolgreich verteidigen – der erste
Band erschien 1959, auf dem Höhepunkt des Algerienkriegs. Weder dort noch in einem der seither erschienenen 36 Fortsetzungsbände kommt auch nur ein einziger Araber vor. In Deutschland hat „Land“ schon lange vor der erfolgreichen Zeitschrift Landliebe eine Erfolgsgeschichte als emphatischer Ganzheitsbegriff. Genutzt wurde er von ganz unterschiedlichen Enden des politischen Spektrums – von der rechtsnationalen „Landvolkbewegung“ der späten 1920er, von völkisch angehauchten Wissenschaftlern der 1930er Jahre wie Otto Brunner und der konservativen „Landesgeschichte“ der Nachkriegszeit bis zu den Grünen und der linken Alternativbewegung der 1970er und 1980er Jahre mit ihrem „Dreyeckland“ in Südbaden und dem „Wendland“ in Niedersachsen: geträumte Territorien – oder gallische Dörfer – erdverbundener Gegenkultur. Land ist also nicht nur eine räumliche Kategorie, sondern der Wunsch, mit dem Ausflug ins Grüne in die Vergangenheit zurückreisen zu können. Mit realen Verhältnissen von früher haben diese Bilderbögen antiindustrieller Idyllen ungefähr so viel zu tun wie die bayrischen Trachten Maximilians II. oder Goscinnys tapfere Krieger. Wenn von Land und Landleben die Rede ist, geht es nicht um konkrete Lebens- und Arbeitsverhältnisse, sondern um Bilder. Es sind Passepartouts einer Vergangenheit, die funktionieren, weil man sie mit den eigenen Wünschen ausfüllen kann. Ihre Wirksamkeit beruht darauf, dass sie wie anthropologische Gewissheiten scheinbar zeitlose Gültigkeit beanspruchen. Der Begriff vom „Land“, der in Deutschland so zuverlässig Imaginationen von gut möblierten Herrensitzen und
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glücklichen Kühen, Deichkaten und Lederhosen, rotwangigen Bauernfamilien und Streuobstwiesen hervorzurufen vermag, ist deswegen eine Bedürfnisanstalt für kollektive Träume von der eigenen Herkunft. Im 21. Jahrhundert haben Tourismus, Immobilienagenturen und Erlebnisgastronomie das Erbe von Heinrich Riehls Naturgeschichte des deutschen Volkes und seinen Kollegen angetreten. Wie die Inszenierung „historischer Identität“ soll diejenige vom Land als idyllische Vorzeit eine schlichte Tatsache zum Verschwinden bringen: dass die Vergangenheit nie traditionell gewesen ist. Die Agrarproduktion war überall zahlreichen heftigen und einschneidenden technischen Umbrüchen unterworfen und an überregionale Märkte angeschlossen; Migration war der Normalfall. Ein still gestelltes, in sich ruhendes oder autarkes Landleben hat es in den letzten drei Jahrhunderten nirgendwo in Europa gegeben. Dafür entsteht es heute – dank der einschlägigen Fachleute. „Patrimonialisierung“ haben die französischen Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre diesen Vorgang genannt: Die Erzeugung kultureller Intensitätszonen, in denen die Vergangenheit eines Ortes besonders gut sichtbar und leicht konsumierbar wird. Das Land, so zeigen sie, wird deswegen seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts immer ländlicher: Der lukrative Markt für Wochenend- und Zweitwohnsitze gehört ebenso dazu wie der Gastrobereich mit seiner demonstrativen Vermarktung „authentischer“ und „traditioneller“ lokaler Spezialitäten.
Diese Besonderheiten waren nicht immer schon da, sondern müssen erst einmal hergestellt werden unter Berufung auf Lokales, Historisches, Kultur. Gleichzeitig mit „le patrimoine“ ist deswegen der neue Berufsstand der Kognitionsingenieure des Kulturtourismus entstanden, wie Boltanski und Esquerre sie etwas boshaft nennen: Die „attracteurs“, die neue Sehenswürdigkeiten herstellen. Abgelegene Orte und Gegenstände von früher werden mit Geschichte und Geschichten aufgeladen, mit kultureller Bedeutung und erhöhtem Wiederverkaufswert. Denn von der touristischen Entwicklung einer Region profitieren in erster Linie, wie die beiden Autoren nüchtern vorrechnen, deren Grundstücksbesitzer. 1 Wie beim Land ist die Bedingung dafür der feste Glaube an eine jahrhundertealte Tradition, auch wenn sie neu erfunden ist. Im pittoresken Städtchen Laguiole im südfranzösischen Departement Aveyron lässt sich besonders eindrucksvoll besichtigen, wie ein Ort in der Provinz nachträglich mit einer besonders wirkungsvollen Vergangenheit nachgerüstet werden kann. Die Restauration alter Häuser, um ihr Bruchsteinmauerwerk sichtbar werden zu lassen, gehört ebenso dazu wie jährlich wiederholte „traditionelle“ Feste (im Jahr 2000 zum ersten Mal abgehalten, aber altehrwürdig, „ancestrale“), Luxusgastronomie (ein Restaurant mit drei Michelin-Sternen) und ein neu eingerichteter Naturpark. Den Namen des Ortes kennen Sie aber vermutlich anderswoher. Die Messerherstellung in Laguiole, die 1896 als unbedeutend und klein
Eine Bedürfnisanstalt für kollektive Träume von der eigenen Herkunft jahrhundertelang in verkitschten erotisierten Stereotypen dargestellt haben – nicht obwohl, sondern weil sie sehr genau wussten, dass Bauern und Hirten unter ganz anderen Bedingungen lebten. Denn auch das zeigt der Gebrauch des Begriffs vom Land: So schnell wird man die Vergangenheit nicht los. Der Traum von der Ständegesellschaft spukt weiterhin durch die touristischen Bilderbögen vom Leben auf dem Land, ebenso wie sein romantisches Gegenstück: Die Vision, sich selber in eine belesenere und kultiviertere Version jenes kernigen Landbewohners, jener entzückenden Landfrau zu verwandeln, die man am Ziel der eigenen Sehnsucht vermutet. Beide beruhen darauf, dass die Leute, die auf dem Land wohnen, sehr viel weniger Geld verdienen als diejenigen, die es aus der Stadt dort hinzieht. Es ist diese Differenz, die alle städtischen Besucher wie durch Zauberhand in vergleichsweise reiche Leute verwandelt, wenn nicht sogar in die Nachfolger jener Adeligen von früher, die jetzt eine geträumte Vergangenheit ihrer Wahl besichtigen und bewohnen können. Und die Anwohner in ihr Dienstpersonal verwandeln, wenigstens ein bisschen.
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Die Berufung auf lokale kulturelle Tradition schließt selbstverständlich den Wunsch ein, von der wirklichen (und meist gar nicht pittoresken) Vergangenheit nichts wissen zu wollen. Es ist nicht allzu kompliziert, deutsche Gegenstücke für solche Inszenierungen lokaler ländlicher Idyllen ausfindig zu machen. Wo fahren denn Sie gerne hin für ein verlängertes Wochenende im Grünen, Holsteinische Schweiz, Spreewald, Allgäu oder lieber in die Reiche-Rentner-Freigehege in Oberbayern und am Bodensee? Wer als Besucher auftreten und authentische lokale Kultur von früher konsumieren kann, hat nichts mit der eigenen Herkunft zu tun. Es ist eine Frage der Reisekasse. Die Inszenierungen vom heilen Landleben in Ferienhäusern und Wellnesshotels sind tatsächlich historisch. Es sind die modernen Äquivalente zu den Schäferidyllen der Vormoderne, in denen Dichter und Theaterautoren das Leben der arbeitenden Landbevölkerung
Wenn das Land – von wohlhabenden Stadtbewohnern, versteht sich – zum vermeintlichen Hort der Tradition und zum Reservoir für das Schöne von früher gemacht wird, bebisschen arg zugespitzt sein, wenn es um kommen seine Bewohner keine Chance, dort die Rhön oder die Uckermark geht, aber selber etwas Neues anzufangen. Wer die Beso ganz freiwillig ist das Landleben für die wahrung und Rettung des „Traditionellen“ Landbewohner nicht. Seine Wahrnehmung über alles stellt, verwandelt die Leute, die und Aneignung durch die Städter beruht auf dort leben, in abhängiges Personal fürs Pithandfester Ungleichheit in Sachen finan- toreske – in Parkwächter und Putzfrauen, zielle Möglichkeiten – gewöhnlich in Idylle Museumsangestellte und Gartenzwerge. verpackt. Denn natürlich mögen es gutverdienende Besucher, wenn die Antiquitäten, Offenbar halten wir es schlecht aus, dass die die rotwangigen Äpfel und die Stundenlöh- Vergangenheit ein für immer unbetretbane für Handwerker schön billig sind. Touris- res Land ist, unwiderruflich verschwunden, mus ist als Phänomen davon bestimmt, was futsch. Souveräner wäre es, das Vergangener ausschließt: bezahlte regelmäßige Ar- Sein der Vergangenheit zu akzeptieren, die beit. Überall dort, wo das Schöne von frü- Verluste inbegriffen. Und nicht mehr nach her besonders gut erhalten ist, sind gut be- Antiquitäten zu suchen. Sondern nach den zahlte und hoch qualifizierte Jobs extreme Freiräumen und Chancen zu fragen, die sich Mangelware. Deswegen ziehen sie ja in die aus dem Verschwinden des Alten ergeben, Städte, all die Mobilen und Ehrgeizigen, die also nach dem Platz für das Neue – gerade zwischen Kühen, Obstbäumen und Natur- am Arsch der Welt. schutzgebieten aufgewachsen sind.
Vermutlich ist es an der Zeit, sich von der Vorstellung vom Land als kultureller Wiedergutmachungszone und historischer Beruhigungstablette zu verabschieden. Der Soziologe Richard Florida, von dessen „Creative Class“ zu Beginn die Rede war, hat 2017 ein neues Buch herausgebracht: The New Urban Crisis. Die großen Städte als kulturelle Wirtschaftsmotoren würden von ihrem eiSensible Kulturanalytiker wie die Sex Pis- genen Erfolg bedroht, schreibt er, der extols haben das schon 1976 in Holiday in the treme soziale Ungleichgewichte und unkonSun auf den Begriff gebracht: „I wanna see trollierbare Immobilienblasen produziere. some of history / now that I got a reason Und davor soll uns das Land als Idylle von out of economy.“ Die nächste Zeile, „cheap früher beschützen, entschädigen, trösten? holidays in other people’s misery“, mag ein Das wird nicht funktionieren.
1 Luc Boltanksi und Arnaud Esquerre� Enrichissement. Une critique de la marchandise, Paris 2017, S. 103, 76, 91 2 Ebd. S. 425 ff. und 449
beschrieben wurde und spätestens in den 1920er Jahren aufgehört hatte zu existieren, wurde in den 1980ern als „handwerkliche“ Herstellung neu gestartet, mit der Produktion teurer Sammlerstücke und erfolgreicher Selbstmusealisierung: Die beiden lokalen Produktionsfirmen der Taschenmesser werden jährlich von mehr als einer Viertelmillion Besuchern besichtigt. Die heute dort hergestellten Messer haben mit denen, die im 19. Jahrhundert als typisch für die Region beschrieben wurden, überhaupt nichts gemeinsam. Das Horn, aus dem ihre Griffe gefertigt werden, kommt aus Afrika und Südostasien, der Stahl aus Schweden. Und die modernen Schnellstraßen, auf denen man diese Idylle erreicht, wurden von Arbeitsmigranten aus Nordafrika gebaut. 2
Valentin Groebner (*�962 in Wien) lehrt Geschichte an der Universität Luzern. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählt Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine (S. Fischer, 20�5). Im September 20�8 erscheint sein Buch Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen im S. Fischer Verlag.
Doppelbe oder:
Welche Bilder vom Land vermitteln uns die Medien? In die Darstellung des Landes, das, was uns dort als Landschaft präsentiert wird, sind verschiedene Zeiten eingeschrieben – des Mythos, des Politischen, der Technik und des Digitalen. Der Literaturwissenschaftler Nils Plath und der Filmemacher Robert Bramkamp im Gespräch darüber, wie das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren gezeigt werden kann.
04 Nils Plath Schon in den einfachsten Erscheinungsformen der Landschaft, schreibt der Kunsthistoriker Martin Warnke in seiner Abhandlung Politische Landschaft, zeigen sich die Ergebnisse politischer Entscheidungen: „Über Flurbereinigungen, Grüne Pläne, Agrarsubventionen und Marktlenkung werden Größe, Ordnung und Bepflanzung der Felder und die Lage der Höfe bestimmt. Die Felder, die Waldinseln, die Wasserführung, die Weiden und Wiesen entsprechen einem agrarpolitischen Gestaltungswillen.“ Daneben wird die Landschaft als eine ästhetische Erscheinung betrachtet – ist das Land attraktiv als Anziehungspunkt für Stadtflüchtige und wird als ein Raum genutzt, in dem Auszeiten und Freizeitvergnügungen jenseits der verstädterten Leben gesucht werden. Robert Bramkamp Landwirtschaftliche Nutzung bestimmt weiterhin das, was Land ist. Auch wenn heute eigentlich die Games die aktuelle virtuelle Landschaftsgestaltung darstellen. Schon Mitte der achtziger Jahre begann auf dem Land das, was heute das Internet der Dinge ist. Im Schweinestall. Der gesamte Ablauf wurde erstmals digitalisiert. Nur der Industriefilm zeigte diese Vorgänge. Da unterhielt sich dann Regen mit Pflanze mit Schwein und mit dem Inhalt eines Silos. Entwicklungen, deren Folgen wir heute überall erkennen und in anderer Geschwindigkeit wahrnehmen, nahmen ihren Anfang. NP Davon handelte schon dein 1985 bis 1987 entstandener Film Gelbe Sorte. Gegenwärtig scheint die Landschaft in verschiedenen Funktionen wieder ins Bewusstsein zu rücken ... als Landlust-Idyll, als Erscheinung in abgehängten Regionen, als touristisches Versprechen, als Fixpunkt für Heimatgefühle ... also als eine Metapher für imaginierte wie imaginative Wirklichkeitsvorstellungen. RB Es ist tatsächlich heute vielleicht ein guter Zeitpunkt, um bestimmte Dinge zusammen-
zubringen, die in den letzten Jahrzehnten aufgrund gewisser Entwicklungen so nicht möglich waren. Die deutsche Wiedervereinigung war ein bestimmendes Element, auf die nämlich ein durch die erfolgreiche Verschmelzung von Tatort und Polizeiruf entstandener Retrorealismus folgte, welcher die Darstellung von Landschaften und Wirklichkeiten im Film bestimmte und keine Alternativen ließ. Die ersten sechzehn Jahre einer Digitalisierung durch wenige globale Konzerne wäre etwas Zweites. Weil Landschaft sich auch dadurch verändert, dass sie in eben diesen Jahren zu einer Alternative zu Games und virtueller Realität geworden ist – und nun ein komplementäres Szenario darstellt. Diese Verwandlung der Landschaft über die Zeit und in der Zeit zu verstehen, erscheint mir gegenwärtig sehr interessant. NP Es geht darum, eigene und kollektive Zeitwahrnehmungen vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen und sich ändernder Ästhetiken zu überprüfen. Hartmut Bitomsky zeigte in seinem Film Reichsautobahn, wie der Bau des Fernstraßennetzes das Land ästhetisieren sollte und Perspektiven in die Landschaften eintrug, die die Sichtweisen bis heute bestimmen. RB Auf der Autobahn bewegt sich zudem noch heute die Autoschlange als jenes mythische Wesen, das Friedrich Kittler in seiner ersten Ausformung als Gottheit des 20. Jahrhunderts beschrieben hat: eine endlose Kolonne von Militärlastern mit roten Rücklichtern zur Zeit des Ersten Weltkriegs, die sich durch die Landschaft nach Westen bewegt und die als Schlange die Konstruktion von Landschaft durch den Straßenbau sichtbar werden lässt. Heute könnte man auch an den ICE denken, der das Land durchzieht. Es ist ein Hinweis darauf, dass auf dem Land eben nicht nur die Flurbereinigung aktiv ist und die agrarische Bewirtschaftung das Bewusstsein bestimmt, sondern dass auch bestimmte
lichtungen Hinter jeder Hecke ein C omputerprogramm
05 mythische Gottheiten weiter präsent sind. Die Autobahnschlange wäre eine davon. NP So sind verschiedene Zeiten – die eines technizistischen Modernismus und die des Mythos – in der Landschaft zugleich eingeschrieben. Man muss sie nur zu sehen verstehen. Um nicht nur einem planen Abbildrealismus das Wort zu reden, wenn man Land und Landschaft betrachtet. RB Genau. Wenn wir vom Film sprechen, sind für ein solches Erkennen die Doppelbelichtungen ganz entscheidend. Solche filmischen Bilder, die gleichzeitig verschiedenen Zeiten angehören können. Erstaunlicherweise scheint mir die Berliner Schule da nun auch angekommen, wenn ich in Christian Petzolds aktuellem Film Transit das Schiff sehe, das da in Marseille wegfährt – in einem jetzigen Raum. Dabei handelt es sich, wenn ich es richtig sehe, um ein Bild, das zur Gegenwart gehört – und gleichzeitig auch in die Vergangenheit oder in eine parallele Sphäre. Ich war froh, als ich das sah. Denn diesen Effekt der nötigen Doppelbelichtung halte ich für zentral, wenn man die zeitgenössische Landschaft als ein kulturelles Entwicklungsprojekt betrachten will. Das eröffnet neuen Raum für andere Perspektiven und abweichende Ansichten auf Landschaften, für deren Mythisierung und auch De-Mythisierung. Wie in Aron Sekeljs aktuellem Film Landschaften des Krieges, Landschaften des Friedens, einem dokumentarischen Film über Kriegsschauplätze in Serbien. Der zeigt Ausschnitte mit Landschaftsbildern aus der medialen Berichterstattung über den Jugoslawienkrieg, in denen alles Kriegswerkzeug herausgeschnitten ist. Da wird die Darstellung von Landschaft mit der Frage verbunden, inwieweit diese geschichtlich ist – und medial vermittelt. Zugleich leistet der Film eine gewisse Trauerarbeit: indem er versucht, die Landschaft selbst zum Sprechen zu bringen ... als eine der Doppelbelichtungen.
NP Als eine vielschichtige Spurensuche, auch eine Heimatkunde ... Wie Du aufgewachsen in Münster, erinnere ich mich, wie mir mein Vater beim Spazierengehen in den Bauernschaften der westfälischen Landschaft erklärte, was die Panzersilhouetten auf den Schildern an den Brücken zu bedeuten hatten: dass sie die Traglast der Brücken anzeigten, über die Panzer rollen konnten. Das war die Zeit des Kalten Kriegs in den siebziger Jahren. Auf unfertigen Umgehungsstraßen landeten bei Manövern die Starfighter. Das Land war ein Ort für Kinderspiele, ein Außen zur wiederaufgebauten Innenstadt – und zugleich erfuhr ich, dass die Gegend als möglicher Kriegsschauplatz betrachtet und vorbereitet wurde. Davon erzählt auch eindrücklich einer der wichtigsten deutschen Landschaftsfilme aus den Achtzigern, Rüdiger Neumanns Meridian oder das Theater vom Frieden. Diese Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Zeitdifferenzen, die einen das Land anders als die Stadt in ihrer permanenten Veränderung und ihrer immerwährenden Unfertigkeit erfahren lässt, kann man speichern. Für später. RB Das ist das, was mit den gegenwärtigen Ansichten von Land auch zurückkommen kann. NP In seiner Textsammlung Amorbach, die 1966 in der Süddeutschen Zeitung erschien, beschreibt Theodor W. Adorno den Ort gleichen Namens im fränkischen Odenwald, an dem er die Sommer seiner Kindheit verbrachte und den er nach der Rückkehr aus dem Exil oft besuchte, als einen, der ihm in der Kindheit noch unvergleichlich erschien. Wie als ein Städtchen auf dem Land, an dem er Differenzen ablesen kann. Sein Amorbach ist für ihn der Ort, an dem sich etwas machen lässt, was er die „Erfahrung des Glücks“ nennt: „die des Unaustauschbaren, selbst wenn nachträglich sich erweist, dass es nicht einzig war.“ Selbst wenn auch dort die Standardisierung und der normierende Zwang nicht Halt gemacht haben, wie er ergänzt.
Mir scheint, er beschreibt hier ein Residuum, das heute noch entscheidender geworden ist. Der Ort auf dem Land bewahrt die kindlichen Reste an Erfahrungen und Wahrnehmungen auf und aktiviert sie Jahre später – als etwas, das in der Gegenwart gegen Differenzlosigkeit imprägniert. Dieses Festhalten an Erinnerungen an Landschaft birgt Widerstandspotenziale – oder auch die Gefahr, sich als selbststilisierte Autochthone in einem regressiven Idealbild einzurichten, das man sich nicht nehmen lassen will. Das scheint mir ganz aktuell zu sein, auch hinsichtlich der Landnahmen und Entwicklungen in den Landschaften der damaligen DDR. RB Adorno beschreibt da wohl einen Ort, von dem man weiß, dass er fiktiv ist, dessen Existenz man sich vorstellt und dessen Gefährdung man in gewisser Weise leugnet. Weil die Verleugnung auch ein Widerstandpotenzial hat. Das ist die beste Methode des Widerstands, der auch eine gewisse Nachhaltigkeit hat. Zum Beispiel auch sechzehn Jahren Digitalisierung zu widerstehen, wie wir sie jetzt erlebt haben und erleben: als eine Kolonialisierung. Die Orte auf dem Land bleiben dennoch real. So dringlich das postkoloniale Engagement ist, argumentiert Martin Burckhardt in Alles und Nichts. Ein Pandämonium digitaler Weltvernichtung, dass es wichtig ist, über die präkoloniale Situation nachzudenken. Weil wir selbst gerade digital umfangreich kolonialisiert werden. Mit allen Konsequenzen, die das Wort bedeutet: Wir verlieren unsere Freiheit. Diese Kolonialisierung überschreibt auch das Land und macht es zunehmend zu einem digitalen Raum. Dabei ist die Landschaft unsere analoge Reserve schlechthin. NP So müsste man die Grenze zwischen Digitalem und Analogem deutlicher als ein Vermögen herausstellen. Gerade wenn man sieht, dass Nachhaltigkeit heute primär die Speicherung und Zurschaustellung im Internet bedeutet.
RB Schon die agrarische Monokultur hat ganz viele klassifikatorische Grenzen beseitigt. Das findet jetzt mit der Digitalisierung potenziert statt. Dabei ist die klassifikatorische Ordnung durch Unterschiede eigentlich so wichtig, weil sie den in der Landschaft handelnden Figuren einen Raum verleiht. Wenn es keine Grenze mehr gibt, die sich überschreiten lässt, um eine bewegliche Figur zu werden, hat das Folgen für den Einzelnen und das Kollektiv. So bleiben sie in ihrer
Landschaft ist unsere analoge Reserve. sie festlegenden Umwelt ganz statisch. Also wird die Suggestion eines Komplementärortes zum eigenen Umfeld geschaffen, indem man Fernreisen unternimmt und mit GoPro das eigene Erleben an anderen Orten und in anderen, spektakulären Landschaften aufzeichnet. Um eben diese entscheidende Grenze wieder imaginieren zu können, durch die man sich selbst in Bewegung erscheinen lässt. NP In seiner Fontane-Preisrede von 1979 spricht Alexander Kluge von einem Antirealismus der Gefühle, einer Leugnung des reinen Realitätsprinzips, die es überhaupt erlaube, jenseits von Ideologie aufmerksam →
hinzusehen. Er illustriert das bezeichnenderweise an der Erfahrung eines Fußbreit Bodens auf dem Land, den Hölderlin anders beschreibt, als es das Biologiebuch und die Statistik tun. Und er unterscheidet zwischen unmittelbarem Nähesinn und einem Fernsinn. Den Nähesinn bildet das Kind aus, dem es erscheint, als werde die Welt durch konkrete Menschen vor Ort reguliert. Doch in der Nähe, die uns erfahrbar ist, werden die Entscheidungen gar nicht getroffen. In der Ferne aber, die uns nicht erfahrbar ist, finden die wirklich großen Schläge statt. Beides, so Kluge, kommt aber nicht zusammen. Wenn man damit heute auf das Land geht und nimmt diese Intensität alltäglicher Gefühle ernst, die dieser Dialektik widersteht und die Kluge als politisch stark machen will, was kann man dann dort angesichts der Landschaften sehen oder erfahren?
zu richten, die bis heute ungebremst laufen und gravierende Auswirkungen für uns haben – ökologisch und kulturell. So geht es darum, sich klarzumachen, dass größere Teile dessen, was sichtbar wird, eigentlich von unsichtbaren Kräften bestimmt sind: dass hinter dem Standort jeder Hecke eine Excel-Tabelle steht oder ein CompuNP Kann er zurückgewonnen werden? terprogramm, das auch den Preis des DieRB Er kommt nur wieder, wenn man sich selkraftstoffs gegenrechnet mit dem Aktidarüber im Klaren ist, dass der nicht einfach enkurs der BASF, weil davon abhängt, wie wiederkommt, sondern hergestellt werden teuer die ihren Kunstdünger machen wird ... muss. Maßgeblich durch die Gegenbewe- Das liegt wie eine zweite Matrix, als ein gegung zum Zeitbild. Man muss auf eine be- schlossenes System, unter der sichtbaren stimmte Weise der Landschaft Erzählungen Landschaft. Um darauf mit den Möglichkeiwieder hinzufügen. Sonst übernehmen das ten des Kinos zu reagieren – also genauer allein die Social-Media-Kanäle. hinzusehen und Situationen durchzuspielen und Gefühle in einer nicht falschen Weise zu NP Das heißt, zeitbezogene Narrationen zu zeigen –, musste etwas hinzugefügt werden, entwerfen, in denen Gegenwart und Vergan- was da normalerweise nicht ist. Mit unbegenheit in ein sich bedingendes Verhältnis dingter Verknüpfungslust. RB Es geht darum, nicht die immer gleichen gesetzt werden. Fragen und Antworten zu wiederholen, die NP Peter Kurzeck hat seinem großen Buch auf die arme Landschaft projiziert werden ... RB Das damals aktuelle Sterben der Bau- Vorabend, in dem er das Leben im großstädIm Falle der ehemaligen DDR sind das Fragen ernhöfe im Münsterland nicht in einer sen- tischen Raum mit einer Erinnerung an die wie: „Das sieht ja noch aus wie in der DDR, timentalen oder klischeehaften Weise zu sich dem Wandel ausgesetzte Dörflichkeit der wird sich das denn jemals ändern?“, „Wie zeigen, darum ging es mir bei Gelbe Sorte. Kindertage kontrastiert, ein Motto vorangelebt es sich hier, wo der Weg mit dem Bus zur Dafür habe ich mir gesagt, man muss das stellt: „Die ganze Gegend erzählen, die Zeit!“ Schule so endlos ist?“, „Was hat sich nach banale Scheitern zeitlich und geografisch der Wende getan?“ Egal wo man die Kame- so lange verschieben, bis es in einem neuen RB Wenn man heute im Film solche Schichra hingestellt hätte, musste ich als Filme- Zusammenhang wieder brisant wird. In an- ten, Möglichkeiten oder Doppellesbarkeimacher erfahren, man hätte wie von selbst deren Filmen sah es so aus: Landschaft, Vor- ten bewusst hinzufügt, ohne dass es zu eiAntworten auf diese Fragen bekommen. Die urteil und Sentiment verschmelzen im Idyll. ner Selbstverkitschung oder einem PartiziDas Idyll aber ist bedroht. Das ist die For- pationszwang kommt, dann wird klar: Sprachmel, mit der viele Fernsehfilme mit Blick auf liche Dialekte, kollektive Akzente und indiviLandschaften weiterhin operieren. Der Ge- duelle Dialekte oder visuelle Dialekte besitgenentwurf dazu sollte zeigen, dass der Nie- zen für sich alle nur einen immer besonderen dergang eines münsterländischen Hofs im und begrenzten Zugriff. Wie in Gelbe Sorte Schweinezyklus – der bis heute aktiv ist und der Industriefilm oder die chinesischen Prodazu geführt hat, dass ganz Norddeutsch- pagandafilme. Sobald da zwei zusammentreland eine Maisanbaufläche ist, in der es keine ten, wird deutlich, dass es dazwischen groBienen und keine klassifikatorischen Gren- ße Lücken gibt. Durch diese Lücken spürt zen mehr gibt – in Wirklichkeit gar nicht ba- man den Papiertiger-Charakter der Realität, nal ist. So gab es nur die Möglichkeit, den wie es Kluge nannte. Das wäre auch das GegenBlick auf die folgeschweren Entwicklungen teil von Immersion. Immersion bedeutet, dass
Der ländliche Raum ist zum Asset für fiktiv erzeugtes Geld geworden.
Landschaften waren geschlagen mit den immer gleichen Fragen, die in Fernsehdokumentationen und Filmen standardmäßig an sie gerichtet wurden. Man merkte, dass der eigentliche mediale Raum für andere Sichtweisen verschwunden ist.
06 klassifikatorischen Raster und über die Eigentumsnischen hinaus kein Kollektivismus möglich ist. Davon lassen sich auch ganz schlecht Geschichten erzählen. Höchstens schräge Nachbarschaftsgeschichten. Auch die aber überschreibt die Baumarktrealität. Eine Kollektivierung von Erfahrung ist kaum noch möglich. Und umso wichtiger, wie wir – Susanne Weirich und ich – bei der Arbeit zu unserem Film Der Bootgott vom Seesportclub und dem gemeinsamen Erzählprojekt Die 100 Me in Wendisch-Rietz in der Nähe von Berlin erleben durften. Mit beidem haben wir etwas Kollektives auf Zeit versucht, indem wir eine narrative Schicht – 100 göttliche Fähigkeiten aus dem sumerischen Enki-Mythos – über das ganze Gebiet gelegt haben, in der die Leute vor Ort beteiligt waren und Rollen übernahmen. Wie wir selbst auch, um glaubwürdige Protagonisten zu sein. Aber es hört schnell auf, wirklich nachhaltig zu sein, wenn man den Ort dann wieder verlässt.
man in eine Ganzheit eintauchen kann. Und die ist heute auf dem Siegeszug. Sie verbindet sich umfassend mit einer gewissen technologischen Sucht, die auf dem Land tagtäglich gegen die Nähesinne kämpft. Die sprichwörtlichen schönen Dinge wiederum, die es noch gibt, die der Katalog oder die Landlust anpreisen, führen nicht zu den Praxisformen, an denen der Nähesinn mit einer Verknüpfungslust andocken kann. Sie funktionieren nur in einem bestimmten Idyll, das verbunden mit Ganzheitsphantasien konsumistisch reanimiert wird. NP Nachhaltigkeit bedarf großer Anstrengungen, die gegen das gehen, was auf dem NP Draußen vor der Stadt erneuert der Land von vielen gesucht wird: EigentumsStädter in der Landschaft sein Bild von sich idylle oder Anlagemöglichkeiten in Bauerwarund seiner Urbanität, hat Michael Rutschky tungsland, Investorenmodelle oder Agrareinmal festgestellt. Während der ländliche industrie-Anlagen. Raum aus dem Baumarkt ausgestattet wird. Das Unterscheidungsvermögen vor Ort geht RB Der ländliche Raum ist tatsächlich zu einach und nach verloren. nem Asset für fiktiv erzeugtes Geld geworden. Entsprechend gering ist das Interesse, RB Je weniger Leute auf den Feldern sind, etwas Lebenswertes zu entwickeln oder eidesto mehr Leute gehen in die Baumärk- nen Kulturtext zu befördern. Man müsste te und gestalten das Land. Den kreativen schon grundsätzlich umsteuern und sagen, Möglichkeiten sind damit extreme Gren- verschiedene kulturierende Praktiken, die zen gesetzt. Heinz Emigholz würde sagen, mit der wirtschaftlich agrarischen Nutzung wir leben in einem Verhau: in einer zusam- der Landschaft verbunden sind, dürfen nicht mengekloppten Umwelt. Geschaffen haben nur auf einen Naherholungswert getrimmt die Baumärkte einen Restfiktionsrealis- werden. Sondern müssen ausgerichtet wermus. Das Anderssein-Wollen und der Indi- den auf eine narrative Regionalentwicklung vidualismus sind verwirklicht, dabei sieht unter Einbeziehung der Digitalisierung unalles gleich aus. Das Aussehen der Land- ter besonderer Berücksichtigung der analoschaft zeigt, dass innerhalb der gegebenen gen Reserven, der lokalen Bevölkerung ...
NP ... um eine kollektive Erzählung entstehen zu lassen. RB Unter Einbeziehung verschiedenster Bilddialekte, durchaus auch der BaumarktÄsthetik. Als ein Gegenbild zu einer Monokultur. Das wäre eine andere Art der Kulturtextförderung, die vom Land ausginge, aus lokalen Traditionen heraus vor Ort zu entwickeln wäre. Man sollte eine erweiterte regionale Landschaftspolitik fördern, die bei den Bildproduktionen ansetzt. NP Heute müsste man dazu vielleicht, wie Alexander Kluge seinerzeit beim Heraufziehen des Privatfernsehens, kulturelle Inhalte für die Bespielung von Augmented-Reality-Angeboten entwickeln und bereithalten, die eben nicht nur Kaufversprechen und Werbeangebote liefern. Sondern im Sinne der Doppelbelichtungen andere Perspektiven auf die Landschaften zulassen und Wirklichkeiten modulieren. RB Daraus könnte man direkt die Forderung ableiten, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten eine Online-Produktions-Instanz schaffen, die dann solches Material produziert – und auch die Nutzer produzieren lässt. Zugleich müsste das komplette archivierte Material in das Angebot integriert werden. Um so das gesamte digitale Sensorium für das Ansprechen von Gefühlen zu aktivieren – mit historischem Bewusstsein. NP Interessant würde es dann, wenn einen diese Angebote so erreichten, dass sie in der eigenen von Algorithmen erzeugten Echo-Kammer überraschende Verknüpfungen herstellen und nicht zu einer Selbstbestätigung oder alleinigen Erfüllung von Suchbefehlen führen. Das wäre auch dann eine vielversprechende neue Form von Heimatkunde mit einem Versprechen auf Zukunft.
Nils Plath ist Literaturwissenschaftler am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt, lebt und schreibt in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen unter anderem zu Dokumentarfilm und Realismus, zu Bild und Schrift, zu Pop und aktueller Kunst wie zu Landschaft in Literatur und Bildern. Zuletzt erschienen: Hier und anderswo. Zum Stellenlesen bei Franz Kafka, Samuel Beckett, Theodor W. Adorno und Jacques Derrida (Kadmos Kulturverlag Berlin, 20�7) Robert Bramkamp ist Filmemacher und dreht seit �983 erzählende Filme, in denen sich Fakten und Fiktionen zu neuen Perspektiven kombinieren, darunter das Agrar-Film-Experiment Gelbe Sorte (�987), die Raketenstudie Prüfstand 7 (2000) und der filmpolitische Kollektivfilm Dazu den Satan zwingen (20�7). Er lehrte Spielfilmregie an der HFF Konrad Wolf und ist seit 2008 Professor für Experimentellen Film an der HFBK Hamburg.
Hohe
Wir haben die Schriftstellerin und Ethnologin Sarah Khan gebeten, das Oderbruch, eine d er TRAFO-Modellregionen, zu bereisen und von ihren Begegnungen zu erzählen. Im Archiv des Oderbruch Museums Altranft entdeckte sie eine verschollen geglaubte Akte, die ihre Reiseroute durch das Oderbruch bestimmen sollte.
Maß nahmen Der Schatz Beim ersten Besuch im Schloss und Museum von Altranft entdeckte ich eine verschlossene Tür, dahinter lag ein ungeordnetes Archiv, eine Altlast, sagte man. Den Mitarbeitern schien der Raum unangenehm, es brauchte einiges Bitten, bis ich hineindurfte. Der Raum roch nach DDR-Fußbodenbelag. Unsystematisch zog ich Akten aus den Schränken, die voller Broschüren über Korbflechtkurse und Vorträgen aus der vergangenen Ära des Oderbruch Museums waren. Nach zwanzig Minuten fiel mir ein Schatz in die Hände, eine Akte mit der Aufschrift „INTERVIEW’S – Geschichten und Gedichte. VFBQ Bad Freienwalde“. Auf der ersten Seite, in Klarsichtfolie verpackt, war ein Vorwort zu lesen, das vier Frauen namentlich unterzeichnet hatten. Vor zwanzig Jahren, �998, hatten sie mit einer Arbeitsmaßnahme begonnen – ABM genannt –, deren Zweck es war, Menschen im Oderbruch zu interviewen. Das Ergebnis waren 7� Lebensgeschichten, im Inhaltsverzeichnis nach Berufsgruppen sortiert: Lehrer, Fleischer, Uhrmacher, Pfarrer, Senioren usw. Das Vorwort pflegte einen interessant vorwurfsvollen Ton, der sich bis in unsere Zeit frisch gehalten hat. Die Frauen klagten, sie hätten zu wenige Vorgaben gehabt, und ein geplantes Büchlein habe nicht produziert werden können. Die finale Beschwerde lautete, sie hätten „zwangsweise private Kontakte“ einsetzen müssen, um überhaupt an Gesprächspartner zu gelangen. Ich musste sehr grinsen, denn diese Eigenheit der Oral-History-Methode ist durchaus bekannt. Mit der Akte unterm Arm verließ ich das Archiv, um beim Kustos einen Leihschein zu beantragen.
07
Beschäftigungstherapie oder die Kunst des Zuhörens Es ist �999, das schönste Jahr im Leben von Rosemarie Arendt geht zu Ende. Die gelernte technische Zeichnerin und dreifache Mutter aus Bad Freienwalde, die nach der Abwicklung ihrer Firma keine Arbeit mehr findet und sich von einer Maßnahme zur nächsten hangelt, beendet mit zwölf Kolleginnen die einjährige ABM „Wiederentdeckung und Darstellung regionaler Kunst und Geschichten“. Sie treffen sich ein letztes Mal am Weidendamm, wo der „Verein zur Beschäftigung und Qualifizierung“ seinen Sitz hat. Sie tüten letzte Texte in Klarsichtfolien. Nicht alle konnten noch abgetippt werden, aber die Frauen bestätigen sich gegenseitig, dass ihre Handschriften gut lesbar sind, obwohl sie es nicht sind. Niemand wird noch einmal draufschauen, niemand Rechtschreibfehler korrigieren, niemand mahnen, dass die Damen ihre Gespräche mit Datum und Ort versehen müssen. Wird überhaupt jemand diese Geschichten über Zwischenkrieg, Krieg, Flucht und Wiederaufbau jemals lesen? Sie übergeben die Akte der Vereinschefin Dr. Irmgard Roth, die noch viele tausend Maßnahmen im Oderbruch durchführen wird, wenn es auch nie wieder „derartig hohe Maßnahmen“ sind, wie sie es später ausdrückt, „von so hohem inhaltlichen Wert.“ Es ist der hohe Wert einer Geschichte wie die aus dem Mund von Frau Fuhrmann, die mit 86 Jahren erzählte, wie sie mit ihrer Familie als Bedienstete auf der „Sonnenburg“ lebte, dem Wochenendrefugium von Hitlers Außenminister Ribbentrop. Und wie Frau Ribbentrop ihr einen Volksempfänger und ein Führerbild schenkte;
und wie Herr Ribbentrop seinen Weinkeller evakuieren ließ, als „der Russe“ im April �945 über die Oder setzte. Es ist der Wert einer Geschichte wie die von Frau Göttel, geboren �929 in Schiffmühle, die als Kind sah, wie die Synagoge in Bad Freienwalde brannte, und sich erinnert, wie das Textilkaufhaus Max Keilson verwüstet wurde. Bevor die Akte dem Verein übergeben wird, setzen sich die Frauen Arendt, Koch, Stahl und Lau ein letztes Mal zusammen um den Computer, um ein Vorwort zu verfassen, das mit der Akte zusammen für zwanzig Jahre verschwinden würde, weil niemand sie systematisch archiviert und um ihren Verbleib weiß. Vor einem Jahr waren sie sich noch nicht grün gewesen und verzweifelt. „Beschäftigungstherapie“ nannten sie ihre blöde Maßnahme. Aber es gab keine Arbeit in Bad Freienwalde. Mit der einst vornehmen Kurstadt und ihren eleganten Villen und Kuranlagen, die auf Hügeln über dem Oderbruch thront, ging es bergab. Die Betriebe machten dicht. „Bald kann der Bürgermeister einen Zaun ziehen und abschließen“, meinten sie damals. Sie hatten Mühe, ihre neue Aufgabe zu fassen zu kriegen, bei der sie von 7.30 bis �5.30 Uhr Geschichten sammeln sollten, ohne Aufnahmegeräte, nur mit Stift und Papier ausgerüstet. Geschichten von wem? In welcher Länge? Was fragen? Es dauerte lange, bis sich die alten Leute öffneten, Rosemarie Arendt musste mehrfach vorsprechen und in den Stuben mit den Alten Kaffee trinken, bis sie mitschreiben durfte. Das lag nicht an der maulfaulen DDR-Sozialisation, sagt sie heute, als wir in ihrer Wohnung im Scheunenberg-Viertel von Bad Freienwalde sitzen und sie die verschollen geglaubte →
08 Akte in Händen hält. „Es lag daran, dass viele als Flüchtlinge aus Polen kamen. Die sagten oft ‚Wir wurden verbannt‘, und ‚Verbannung‘ nannten sie ihr Leben.“ Vier private Pkw standen den Frauen zur Verfügung, um auf die Dörfer zu gelangen. Mittagspause machten sie nur heimlich, weil sie nicht wussten, ob sie das durften. Mit ihren Schuldgefühlen kamen sie sich fast wie Betrügerinnen vor. Als Anleiterin setzte man ihnen die Keramikkünstlerin Anka Goll aus dem entlegenen Güstebieser Loose vor die Nase, die ihnen im Stuhlkreis erklärte, „was Kunst ist“. Worauf eine Frau störrisch wurde: „Ich weiß genau, was Kunst ist, Künstler stehen erst um �2 Uhr mittags auf!“ Nachdem die Vorurteile überwunden waren, rief Anka Goll das erlösende Motto aus: „Wir erkunden unsere Heimat!“ Diese Frauen kannten zwar in Hohenwutzen die Markthalle und waren auf Rügen oder in der Tschechoslowakei gewesen, aber nie ins Oderbruch gefahren, obwohl es vor der Haustür lag. Deshalb wird Rosemarie Arendt, die später als Hauswirtschafterin in einem Altenheim ihre berufliche Heimat findet und sich im Seniorenbeirat für Altenpolitik engagiert, aus vollstem Herzen sagen: „Diese Geschichten aus dem Oderbruch haben mich ungeheuer fasziniert. Es war das schönste Jahr meines Lebens.“
Schlossdach und füllt in halb gespielter Bürokratenmanier einen zweiseitigen Leihschein für die Akte aus. Dabei erzählt er von seiner Liebsten, der sorbischen Künstlerin Sophie Natuschke, mit der er nahe der polnischen Grenze auf einem über hundertjährigen Hof lebt, dem Schwanz-Hof, benannt nach einem Fuhrunternehmer Schwanz. Er empfiehlt mir einen Mittagstisch in Altranft, „wo es zu jedwedem Gericht die echte, undefinierbare DDR-Soße gibt“, sagt er und schüttelt sich wohlig. Er deutet den denkbar umständlichsten Weg zum Bahnhof, damit ich schauen kann, ob die Kantine noch offen hat. Aber es ist schon nach �3 Uhr, da hat das Oderbruch längst aufgegessen und das Besteck weicht in den bereitgestellten Wassereimerchen ein. Später dämmert mir, dass Peter Herbert ein Signal aussenden wollte: „Hey, ich bin auch interessant!“ Er ist interessant, untertrieben gesagt. Er ist der Beweis, dass man im spärlich bevölkerten Oderbruch mehrere Leben führen muss, damit was passiert. Er war mal in dem VEB Datenverarbeitung in Ost-Berlin angestellt und erlangte DDR-weit Berühmtheit durch die Fernsehsendung „Außenseiter, Spitzenreiter“, wo er eine streng wissenschaftlich kategorisierte Sammlung von Streichhölzern präsentierte, die nicht dem volkswirtschaftlichen Ideal entsprachen – „Lumomonster“. Die exzentrische Sammlung wird bis zum heutigen Tag von SachkulturDer Herr über Senfkristall Der Kustos des Oderbruch Museums Altranft, museen angefragt. Er ist nebenerwerblicher Peter Herbert, sitzt in einer Kammer unterm Senf-Unternehmer (Looser Senf), sammelt
Lungenwurst im Fachwerkdorf Der lustigste Bericht in der Akte stammt von Malermeister Balke aus Neutrebbin. Er wusste viel über die ersten Kolonisten im Oderbruch. Aus allen Teilen des Reiches warb Friedrich der Große, König in Preußen, Menschen an, damit sie das Oderbruch urbar machten. Er versprach ihnen Land und Religionsfreiheit, und �753 bezogen die ersten Familien sogenannte Kolonistendörfer. Die Rheinländer mit ihren Karnevalsvereinen, die Friesen mit ihrem Platt oder die Österreicher, sie blieben lange unter sich, und die Dörfer waren wie nach Haarfarben sortiert. Es lässt sich schwer über das heutige Oderbruch sprechen, ohne so weit zurückzublicken. Malermeister Balke starb vor einigen Jahren, aber man sieht ihn noch in Gaststätten auf Fotografien, verkleidet als Alter Fritz, so sammelte er Spenden für ein Denkmal, das man in Neutrebbin zu Ehren des Preußenkönigs wieder aufstellte, mit dem verbürgten Spruch: „Hier habe ich im Frieden eine Provinz erobert, die mir keine Soldaten gekostet hat.“ Balkes Bericht öffnete mir die Augen für die kleinen Seltsamkeiten im Oderbruch. Durch die Enten- und Gänsemast kam der Landstrich zu Geld, dass aber die Manieren und der Geschmack nicht Stand hielten, darüber klagten schon Fontanes Zeitgenossen. Die feinen Berliner und der Landadel meldeten ästhetische Probleme mit den Neureichen an. Die waren freie Bauern und wussten nicht, wohin mit ihrem vielen Geld. So gibt es einstöckige Häuser mit kunstvoll geschmiedeten Balkonen, und auf den Friedhöfen stehen prachtvolle Grabanlagen aus schwarzem Marmor, mit mannshohen Skulpturen. Als es endlich die ersten Kraftfahrzeuge zu kaufen gab, kannten sie kein Halten mehr und meldeten mehr Kfz pro Kopf an als alle anderen Landesteile. An den Bushaltestellen in Wriezen sind es Alte, Behinderte, Schulkinder und Flüchtlinge,
rheinische Senfgefäße (780 Exponate) und ist ein passionierter Käferkundler, der unbekannte Arten fürs Oderbruch nachgewiesen hat. Damit nicht genug, ist er Mitglied im Verein „Hofgesellschaft“, der überforderten Besitzern maroder Häuser bei der Instandhaltung hilft. Er weiß, wie Schwamm riecht und wie Käferbefall im Kaltdach zu beurteilen ist, das kann harmlos sein, wenn die Viecher im Winter eh erfrieren. Vom Schwanzhof aus liegt das nächste Anwesen einen halben Kilometer entfernt. Dort, auf dem Uhlenhof, lebt seit vierzig Jahren die Keramikerin Anka Goll. Hohe Ulmen umsäumen ihr Land, solche Ulmen gibt es in Europa kaum noch. Dass es seine Nachbarin ist, die die Leiterin der Maßnahme von �998 war, wissen wir beide nicht, als Peter Herbert mir die Akte als Leihgabe übergibt. Das Arbeitsamt in Seelow bot ihr den Job an, erinnert sie sich. „Ich war aber kein Cheftyp, es war schwierig für mich, mit Frauen umzugehen, die aus völlig anderen Bereichen kamen.“ Sie glaubte zunächst nicht, dass es eine gute Idee sei, von Frauen, die die meiste Zeit ihres Lebens als Arbeiterinnen gefristet hatten, zu verlangen, dass sie die Lebensgeschichten anderer Menschen aufs Papier bringen. „Aber ich habe dann unheimlich von diesen Frauen profitiert. Ich hatte ja sonst immer nur zu Künstlern Kontakt. Durch diese Frauen lernte ich, dass Künstler sich nicht so wichtig nehmen sollten.“
die warten. Der freundliche Busfahrer begrüßt jeden Fahrgast einzeln und bringt die arabischen Mädchen zum Kichern. „Hat er wirklich yalla gesagt?“, giggeln sie. Ein älterer Herr aus Altreetz soll mir die Gegend erklären, bestimmt der Busfahrer, als er erfährt, dass ich das erste Mal die Strecke fahre. „Im Sommer ist es hier sehr schön, aber im Winter ist tote Hose“, erklärt der Herr. Er schwärmt vom Zoo in Altreetz, weil er neben einheimischen Arten auch Affen, Kamele und Kängurus hat. Ich steige in Neulietzegöricke aus, dem ältesten Kolonistendorf, das mit seinem Fachwerkbestand vollständig unter Denkmalschutz steht. Das langgestreckte Dorf besteht aus zwei parallelen Straßen, grün und blühend gesäumt. In der Mitte verläuft ein Graben, auf dessen Aushub man die Häuser stellte. Es gibt Federzeichnungen, die die Trockenlegung des Oderbruchs illustrieren, und gerne setzten die Zeichner den Alten Fritz in diese Szenerien, wie er die Arbeiten inspizierte. Man könnte meinen, dass die Kolonisten gleichzeitig den Acker bestellten und ihre Häuser bauten, aber gebaut wurden die Häuser von sogenannten Entrepreneurs. Heute wirkt Neulietzegöricke wie eine Schau zum Thema „herrlich saniertes Fachwerk“, doch es war ein langer Weg dorthin. Das Ehepaar Ramona und Thomas Schubert betreibt eine Pension, die sie mit unendlicher Geduld nach allen Regeln des Denkmalschutzes saniert haben, ein Schmuckstück des Dorfes. Herr Schubert rät mir, Bürgermeister Horst Wilke zu treffen, der seit der Wende nicht ruht, Familien und Handwerker ins Dorf zu holen, Neukolonisten, die den Verfall der historischen Dörfer stoppen. Ich rufe ihn an und schnell sind wir für den Abend in der Gaststätte „Zum Feuchten Willi“ verabredet. Den lustigen Namen hat sie aus dem Film „Salz und Brot und gute Laune“ (DDR �980), den man
hier in Realkulisse drehte. Das Schild nahm man nach den Dreharbeiten nicht mehr ab. Im Schankraum trifft sich die Gegend. Ein gelbstichiger Nackedei-Kalender ziert den Bereich hinter dem Tresen. Wenn auch viele Kneipen im Oderbruch dicht gemacht haben, hoffen alle, dass Wirt Pübke noch ein bisschen durchhält. Die Gespräche, die alle mit allen führen, selbst wenn sie an verschiedenen Tischen sitzen, drehen sich um die Nachwuchssorgen des Angelvereins und um die Andersartigkeit des Lebens in Berlin. Schlachter Kaminski bringt gerade frische Ware. Die kleine Karte ist auf das Wesentliche reduziert; Wurst, Buletten, Kartoffelsalat. Ich bestelle eine heiße Lungenwurst, die rauchig und gut gewürzt ist, dazu schmeckt böhmisches Bier. Wilke kommt, er gibt allen die Hand. Seit 28 Jahren ist der pensionierte Bahner Bürgermeister der Gemeinde Neulewin, zu der Neulietzegöricke und Güstebieser Loose gehören. Ich lese ihm aus der Akte eine Anekdote vor, die Malermeister Balke wohl selbst nur vom Hörensagen kannte, und vermutlich spielt sie in der Zeit zwischen den Weltkriegen: Einer hat die anderen Bauern eingeladen zum Besäufnis, da kamen alle angelaufen, direkt vom Acker, mit ihren Holztiffeln, und sind in die Kneipe gegangen. Dann hat er gesagt, er würde sie mit dem Auto nach Hause fahren. Als alle besoffen waren, hat er sie aber an den Alexanderplatz gefahren. Und da rausgelassen. Solche Schoten sollen passiert sein. Aber ansonsten wurde nur gerackert. Wilke wird nachdenklich und sagt, er hätte Balke viel zu verdanken. „Er hat mir so manches beigebracht, was ich heute noch mache.“ Zusammen waren sie auf der Grünen Woche in Berlin gewesen, Balke, wieder als Alter Fritz verkleidet, rief dem Ministerpräsidenten Platzeck zu: „Kerl, schere er sich her, sorge er dafür, dass die Gemeinden und Kommunen immer mit ordentlich Talers versorgt sind.“ „Heute liege die Arbeitslosigkeit nur noch bei sieben Prozent“, sagt Wilke.
D ie schönen Männer vom Oderbruch Die Tage in Neulietzegöricke erweckten den seltsamen Eindruck, dass im Oderbruch ausgesprochen schöne Männer leben, freundliche Männer, mit denen man gut ins Gespräch kommt. An einem launigen Abend in Berlin-Mitte erzählte ich zwei Freundinnen davon. Wir saßen in einem gut gefüllten Lokal, und vielleicht hörten auch ein paar mehr Ohren zu. Keine sechs Wochen später berichtet Peter Herbert, Zeuge eines ungewöhnlichen Spektakels geworden zu sein: „Da kamen ein Dutzend Motorräder ins Oderbruch geknattert, martialischer Anblick, viele Harleys dabei, und sie hielten direkt vor mir. Als sie ihre Helme abnahmen, sah ich, dass es alles Frauen waren. „Wir haben gehört, dass es hier so schöne Männer geben soll, da wollten wir selbst mal gucken.“ Gemeinsam sind wir lieber langsam Schloss Sonnenburg, südlich von Bad Freienwalde im Wald gelegen, gehört mit seinen eingefallenen Nebengelassen und einem seltsamen Hügel direkt vor dem Haupthaus – Relikt eines gesprengten Bunkers – seit wenigen Jahren Werner Gerber, einem Theatermann aus der Schweiz, der Ostdeutschland gut kennt. Ich bringe ihm den Bericht der alten Emma Fuhrmann, die schon unter Ribbentrop hier arbeitete und bis zu ihrem Lebensende hier wohnte. Er habe von ihr gehört, sagt Gerber, er wolle auch diesen Teil der Geschichte aufarbeiten. Mit den Uchtenhagens, einem Raubrittergeschlecht, das Sonnenburg gründete, kennt er sich prächtig aus. Er glaube aber nicht, dass Ribbentrop den Hitler-Stalin-Pakt hier im Garten austüftelte, sagt er. Es gebe viele Nazi-Legenden im Oderbruch. Manch einer glaube ja auch, dass Arno Breker, Hitlers Lieblingsbildhauer, der auf einem Gut bei Wriezen lebte, Skulpturen im Sumpf versenkt habe. Wir sitzen in einer runden, nach allen Seiten offenen Holzhütte, die Gerber als Gemeinschaftsküche bauen ließ. Die wild ausschlagenden Robinien wachsen fast hinein. „Hier hat schon Kochen mit Syrern stattgefunden“, sagt er. Er will das Gelände langsam und mit vielen Gruppen gemeinsam entwickeln. Langsamkeit und Lastenverteilung sind sein Schlüssel zum Gelingen eines solchen Vorhabens, an dem andere scheitern, weil sie sich finanziell übernehmen und die Einnahmen aus dem Tourismus und durch Berliner Hochzeitsgesellschaften überschätzen. Bislang haben
ein bäuerliches Projekt und ein alternatives Wohnprojekt angedockt. In die Speichermühle sollen später einmal Räume für Seminare und Therapien. Wer Ideen hat, kann sich über Erbpacht beteiligen. „Vielleicht erlebe ich es nicht mehr, wenn alles fertig ist“, sagt Gerber. Man habe sich bei einem deutsch-polnischen Förderprogramm beworben, nun warte man auf den Bescheid. „Hauptsache, es gibt hier keine Vereinzelung durch Privathäuser mit Vorgarten und Garage.“ Odergott vs. Moormännchen Lebt eine böse Nixe im Baasee, die Badende in die Tiefe zieht? Niemand schwimmt dort, die Leute warnen sich. Wandelt Viadrus, der Gott der Oder, auf der Suche nach seinen verlorenen Fischgründen durch das Bruch, auf stämmigen Beinen, mit einem Dreizack in der Hand? Er soll ein schwermütiger Gestaltenwandler sein, dessen Reich nun die Grenze zwischen Polen und Deutschland markiert. An einen Flussgott wird kaum jemand denken, der zum Tanken nach Polen rübermacht, oder zum Arbeiten in Richtung Berlin muss. Und doch steht an der Oderfähre seit wenigen Jahren eine rot gestrichene, metallene Viadrus-Skulptur auf der deutschen Seite, damit doch mal jemand an ihn denkt; nicht nur Dr. Denk, der Augenarzt und Heimatchronist aus Bad Freienwalde. Dr. Denk setzt sich für die Figur des Viadrus in jeder Hinsicht ein – publizistisch und mäzenatisch. Aber der Mann mit dem großen Bürgersinn hat es nicht immer leicht, zumal in Bad Freienwalde gerade kleine, grau-braune Moormännchen in Mode sind. Es sind Keramik-Männlein im mittelalterlichen Gewand. Sie flankieren offene Tongefäße, das sollen wohl Badezuber sein, und preisen die Kraft des Moorbades an, so auch auf der offiziellen Kurbroschüre. Moormännchen scheinen Verwandte der ostdeutschen Abrafaxe und der westdeutschen Gartenzwerge zu sein, damit gehören die zu der Familie der Hausgeister, die dem Menschen dienstbar sind, wenn man sie nicht verärgert. Mit so etwas Vulgärem wie einer Schlammbad-Werbung gibt sich ein Flussgott natürlich nicht ab. Aber was ein Odergott ist, der wird über die Jahre auch ein Kleinvolk aus dem Moor dulden lernen. Und was die Moormännchen sind, die werden Spaß daran finden, einen alten, weißen Gott ärgern zu dürfen. Nur die Nixe zieht ihre Bahnen, bis ein Strudel entsteht, und dann schauen die Menschen in den Baasee, und es bewegt alle die große Frage: Wo in diesem Oderbruch lässt sich vernünftig baden?
Sarah Khan, 1971 mit pakistanischen Wurzeln in Hamburg geboren, studierte Volkskunde und Germanistik, bevor sie 1999 mit ihrem Roman Gogo-Girl debutierte. Sie schreibt ebenfalls für Theater und Film sowie für mehrere große Tageszeitungen, was ihr unter anderen den Michael-Althen-Preis einbrachte. Nach mehreren Romanen erschien zuletzt von ihr im Suhrkamp Verlag Das Stammeln der Wahrsagerin. Unglaubliche Geschichten hinter Kleinanzeigen (2017).
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Ideenkongress
zu Kultur, Alltag und Politik auf dem Land Das TRAFO-Programm veranstaltet vom 19. bis 21. September 2018 einen bundesweiten Ideenkongress in Halle an der Saale. Der Kongress wendet sich an Akteurinnen und Akteure aus Kunst und Kultur, Politik, Wissenschaft, Verwaltungen und Verbänden, die den Wandel in ländlichen Regionen gestalten und Verantwortung für die Kultureinrichtungen auf dem Land tragen. Im Austausch unterschiedlicher Perspektiven soll diskutiert werden, wie lebendige Kulturorte auf dem Land aussehen, welche Unterstützung sie benötigen und welche neue Rolle sie zukünftig spielen können. Das Tagungsprogramm wird ergänzt durch künstlerische Perspektiven, Erfahrungen aus der Praxis und Berichte aus den Regionen, in denen das TRAFO-Programm Projekte fördert. Details zum Programm und zur Anmeldung: → www.trafo-programm.de/ ideenkongress
T RAFO 2015 initiierte die Kulturstiftung des Bundes das Programm „TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel“, das die Transformation von Kultureinrichtungen in bislang vier ländlichen Regionen unterstützt. Die beteiligten Regionen stellen sich der Frage, wie Kultureinrichtungen auf die gesellschaftlichen Veränderungen in ihren Regionen reagieren müssen: Was wird von ihnen in Zukunft erwartet? Welche neuen Aufgaben kommen auf sie zu? Und wie lassen sich die Kulturorte weiterentwickeln, damit ein zukunftsweisendes kulturelles Angebot für die Region entsteht? In der ersten Förderphase sind die Regionen Oderbruch, Südniedersachsen, die Saarpfalz und die Schwäbische Alb beteiligt. Dort stellen sich Theater, Stadtbüchereien, Museen, Kulturzentren, Literaturhäuser sowie zwei Festivals neu auf, gehen Allianzen ein und entwickeln Angebote mit Künstlern und Bürgerinnen vor Ort. Im Jahr 2018 hat sich das Programm mit TRAFO 2 für weitere neun Bundesländer geöffnet. Derzeit erarbeiten dort 18 Regionen in einer einjährigen Entwicklungsphase ein Transformationsvorhaben für ihre Kulturorte. Aus diesen wählt dann eine Fachjury bis zu fünf Regionen aus, die eine Förderung für die Umsetzung ihres Projektes in den Jahren 2019 bis 2023 erhalten. Für das Programm stellt die Kulturstiftung des Bundes insgesamt 22,8 Mio. Euro bereit. → www.trafo-programm.de
D er Zauber steckt ım D etail Jan Söffner Meine Großmutter, eine 1902 geborene, aus einem Dorf in Brandenburg stammende Berlinerin, las die Wanderungen durch die Mark Brandenburg immer und immer wieder. Es war ihr völlig egal, ob sie ein Lesezeichen verlor; sie fing einfach irgendwo wieder zu lesen an. Sie tat das, soviel ich weiß, bis zu ihrem Tod. Und ich frage mich heute, ob das, was sie in Fontane fand (und von dem ich mir nicht ganz sicher bin, was es war), überhaupt noch in ihm zu finden ist – und wenn ja, auf welche Weise.
2019 ist Fontane-Jahr. Zum 200. Geburtstag des Schriftstellers entsteht in Neuruppin eine große FontaneAusstellung, gefördert v on der Kulturstiftung des Bundes. Die Kuratorin Heike Gfrereis und der Kulturwissenschaftler Jan Söffner tauschen sich über den „märkischen Goethe“ (Kurt Tucholsky) aus. Mit dem Ergebnis, dass man ihn lieben muss – und (neu) lesen will.
1997 umfassen die Wanderungen 5.175 Seiten mit Kommentar. Solche Bücher werden eher selbst zur Landschaft und dann vielleicht irgendwann, als Lebensbuch, zur Heimat. Man leiht als Leser hier in der Imagination dem ganzen Land Seele und Körper, vor allem den Leerstellen, von denen Fontane erzählt: den halb verfallenen Klöstern, Herrenhäusern und Naturruinen, den zweifelhaften Dingen, verlorenen Wörtern und gestorbenen eigenwilligen Menschen. Und man tut das offenbar in einem unverbindlichen Wechselspiel aus Lesen und Nicht-LeHeike Gfrereis Der Vater des Schriftstellers sen, poetischem Spiel und Realitätsüberund Verlegers Michael Krüger hat jeden prüfung. Vielleicht hält man überhaupt nur Abend im Bett drei Seiten Fontane gelesen, die Lektüre aus, wenn man die Wanderundavon immer zwei vom Vorabend, um den gen als Tagesausflug versteht. Sie verlangen Anschluss zur neuen Seite zu haben. Viel- gerade nicht, was die Liebes- und Kriminalleicht kann man darauf antworten, ohne Ge- romane tun: Lesen bis zur Erschöpfung. danken lesen zu können. Was macht ein Buch mit uns, das so dick ist, dass wir es ohne- JS Fontane schreibt niemals monumenhin nicht in einem Zug durchlesen könnten? tal, er sorgt eher dafür, dass die Geschichte Und in dem auch noch das fehlt, was wir vom seine Leser so anfliegen kann wie eine ErinLiebes- und Kriminalroman gewohnt sind – nerung, die einen beim Anblick eines Ortes eine Story, bei der eine einzige Frage die trei- überkommt. Das kam meiner Großmutter bende Kraft bis zum Ende ist: Kommen zwei sehr entgegen. Sie lebte in West-Berlin und Liebende zusammen? Wer ist der Täter? kam an die Orte ihrer Kindheit kaum je physisch zurück. Die Lektüre half ihr, Wurzeln JS Ja, so eine Spannung fehlt in dem Text; zu schlagen. Ist Fontane also eher ein Autor hier wird Heimat erzählt. Fontane konstru- der feinen Töne und der Unterschwelligkeit iert einen Geschichtenteppich als Land- als der Handlung und Spannung? schaft. Die Wanderungen sind Streifzüge durch Zeit und Raum. Darin steckt auch HG Ganz sicher. Wir ahnen immer schon bei eine Form der Körperlichkeit. Dieses Ver- den ersten Seiten seiner Romane, dass sie fahren entfaltet vielleicht dann einen ganz nicht gut ausgehen werden. Fontane nutzt besonderen Effekt, wenn man diese Land- die Elemente des Aberglaubens und des Verschaft auch physisch durchwandert. Fonta- brechens. Er streut Vorzeichen und Spuren ne macht sie durch diesen Geschichtentep- aus, die so banal und selbstverständlich erpich anders bewohnbar. Vielleicht ist eine zählt sind, dass sie vollkommen glaubhaft Leserin, die das Buch immer bei sich trägt, werden. Wir können als Leser zuschaudie ideale Fontane-Leserin? en, wie sich das erfüllt, was wir schon ahnen. Viele seiner Geschichten lassen sich HG Die Wanderungen sind nicht wirklich ein auf kleinste Verschiebungen reduzieren. Mitnahmebuch. Der erste Band hatte, als er Letztlich passiert in Effi Briest nichts ande1862 erschien, beinahe 500 Seiten. In der res, als dass die Sonnenuhr, die wir am Angroßen historischen Fontane-Ausgabe von fang sehen und die im Sprichwort nur die
glücklichen Stunden zählt, am Ende durch den Grabstein der Titelheldin ersetzt wird. Das ist nicht im herkömmlichen Sinn spannend, aber in einem, wenn man so will, magischen, materialistischen oder eben poetischen oder manchmal sogar humoristischen Sinn. Die Dinge, die zum halb abgelebten modischen Landschafts- und Zimmereinrichtungsapparat dieser Zeit gehören, unterwandern die Geschichten und werden zu den eigentlichen Mächten unsres Lebens. Und sei es nur in unserem Unbewussten. JS Die Wanderungen sind aber keine solchen Verschiebungen, oder? Sie haben nicht in diesem Sinne Anfang und Ende. HG Nein, mir kommen sie vor wie die riesige Beweisführung eines einzigen Satzes: Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Oder, um noch eine Variante hinzuzufügen: Wer die Kröte liebt, der hält die Kröte für Diana. Such nicht immer nur die spektakulären Dinge. Lass den geilen Blick aufs große und doch immer klebrig-schmierige Ganze. Verzichte auf die hehren letzten Ziele, die für die theologische Dogmatik wie die politisch-militärische Strategie so wichtig sind. Komm ab vom Weg. Freu Dich an den Augenblicken. JS Ja, das ist einerseits eine vom Text selbst mitgegebene Gebrauchsanweisung zur Lektüre; andererseits aber auch eine Gebrauchsanweisung für eine Lebenshaltung, einen Blick fürs Unscheinbare, den Fontane seinen Lesern vermitteln will. Das treibt ihn in eine merkwürdige Form der Detailverliebtheit. So erzählen einerseits die Wanderungen Dinge, von denen man denken würde, dass sie für eine Wanderung zu ausufernd wären. Und umgekehrt nutzt er die auktoriale Erzählweise seiner Romane für Details, die auf den ersten Blick so wirken, als würden sie weder für die Handlung noch für die Charakterisierung der Figuren noch
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für die soziologische Analyse einer Zeit allzu viel bringen. Sie sind noch nicht einmal immer besonders stimmungshaft. Es sind einfach Details. Punkt. Auf sie soll man sich um ihrer selbst willen einlassen. Fontanes Wette ist, dass einem das dann etwas bringt – und das für mich Erstaunliche ist, dass er diese Wette ziemlich häufig gewinnt. HG Fontanes Imperativ ist: „Der Zauber steckt immer im Detail.“ Im Volksmund ist es der Teufel, bei Aby Warburg der liebe Gott. JS Aber es ist nicht allein der Blick, oder? Es geht auch um eine besondere Zeiterfahrung bei einem so langen Text. HG Man darf nicht vergessen, dass nahezu alles, was Fontane schrieb, nicht gleich als Buch erschienen ist, sondern zuerst in Zeitungen und Zeitschriften, als Fortsetzungsgeschichte wie Effi Briest oder Aufsatzfolge wie die Wanderungen. Diese Texte sind daraufhin berechnet, dass die Leser während der Lektüre noch ein Leben außerhalb haben und ab und zu unaufmerksam sind oder ein Stück verpassen. Darin einer Fernsehserie nicht unähnlich. Werden solche Texte zum Buch gebunden, gewinnen sie ein Eigenleben, eben weil wir sie nicht verschlingen, sondern sie liegen lassen, ab und zu darin blättern und uns dann darin verlesen. Sie sind da wie beste Freunde, lassen uns alle Freiheiten, verwirren uns nicht die Sinne. Wir brennen nicht mit ihnen durch. In der Weltliteratur kennen wir solche Bücher. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust, Der bleiche König von David Forster Wallace, J. J. Voskuils Das Büro, Thomas Pynchons Die Enden der Parabel, Adalbert Stifters Nachsommer.
Besonderes erlaubt: dass man mit seinen Texten lebt. Dieses Leben mit den Geschichten scheint mir ein ganz entscheidender Aspekt unserer heutigen Zeit zu sein, in der zwar alle darüber klagen, dass sie keine Zeit haben und dass ihr Leben zu sprunghaft zwischen vielen verschiedenen Formen der mehr oder weniger durchdigitalisierten Welt wechselt, sich aber gleichzeitig Langerzählungen durchsetzen: HBO- und Netflix-Serien, Computerspiele über zig Levels, die gut und gerne mal fünfzig Stunden brauchen, dicke Romane. Vielleicht aus Sehnsucht nach dem Stabilen, dem Andauernden, wobei ich mir da nicht sicher bin. Sicher bin ich mir aber, dass man diese Geschichten immer mit ins Leben nimmt: Sie kosten derart viel Zeit, dass sie nichts für eine bloße Auszeit sind, sondern ins Leben hineinragen. Sie wirken – zumal dann, wenn sie nicht abgeschlossen sind – wie Ohrwürmer, die einen durch den Tag begleiten. Sie vermitteln auf unterschwellige Weise Haltung und Orientierung – und genau das leisten schnelle und sprunghafte Informationen eben nicht. Wer würde aber leugnen, dass Haltungen (und auch das Bewahren von ‚Haltung‘ im engeren Sinne) ein entscheidender Fokus von Fontanes Blick auf Figuren und Charaktere sind. Ich glaube, das überträgt sich auf die Leser. Vielleicht gilt – auf andere Weise – so etwas auch für die Landschaft, die Fontane so am Herzen lag – also mit dem Habitat, in dem ein Habitus sich ausbildet?
HG Ich habe jetzt eine Seite der Wanderungen aufgeschlagen: „Auf dem Plateau des Teltow, ziemlich halben Weges zwischen Trebbin und Zossen, liegt das Dörfchen Saalow. Elsbruch, Kiefernwald und sandige Höhen fassen es ein, und die letzteren, die den grotesken Namen der ‚HöllenberJS Da haben wir offenbar ein ähnliches ge‘ führen, bilden neben einem benachbarVerständnis von Fontane als einem Autor, ten See, der ‚Sprotter Lache‘, so ziemlich der es auf eine Zeitlichkeit anlegt, die etwas die ganze Poesie des Orts.“ Hier wird die
11 Vater zurück: „Er sagte nicht gern ‚auf Erden‘, sondern bevorzugte die Wendung ‚auf dieser sublunarischen Welt‘. Was ihn dazu bestimmte, war lediglich ein Klangbedürfnis und jede Sprache, die dazu mithalf, war ihm gleich willkommen.“ Der Stechlin ist ein Romanheld, der sich selbst permanent in Klammern widerspricht und zudem seinen Namen mit einem See, einem Dorf und einem Schloss teilt. „Ich, das sind viele“, das gibt es hier schon, wobei bei Fontane ein nicht geringer Teil unserer Identität in der Landschaft liegt, die um uns ist, ebenso wie in den Dingen und den Wörtern, über die wir verfügen. Wir sind das, was wir sagen können. Auch wenn wir es nicht ganz verstehen und nur eine Ahnung haben, eben ein Gefühl. JS Zum Beispiel? HG Der alte Stechlin liebt die vieldeutigen Wörter: „Die Stechline haben immer alles verurscht“ – „Ich bitte dich, wähle doch andere Worte.“ – „Warum? Verurscht ist ein ganz gutes Wort. Und außerdem, schon der alte Kortschädel sagte mir mal, man müsse gegen Wörter nicht so streng sein und gegen Namen erst recht nicht, da sitze manch einer in einem Glashause.“ Oder: „Früher würd’ ich gesagt haben zeitgemäß; jetzt sagt man ‚opportun‘. Hast du schon mal davon gehört?“ – „Ja, gnädiger Herr, gehört hab’ ich schon mal davon.“ – „Aber nich verstanden. Na, ich eigentlich auch nich. Wenigstens nicht so recht.“ JS Das Nichtverstehen, genauer vielleicht das Innehalten vor dem Verstehen, ist hier Grundbedingung. Fontanes Charaktere sind zum Handeln und Entscheiden gezwungen, ohne dass sie eigentlich verstanden haben, worin sie handeln und worüber sie entscheiden. Fontane entwickelt darin eine besondere Meisterschaft, indem er sie in seinen Stil, in seine Sprache auf teils sehr eigenwillige
Weise hineinholt. Wie sieht dieses Hineinholen in der Praxis aus, beim Schreiben? HG In seinen Notizbüchern sieht man aufs Schönste, wie beweglich Fontane mit dem umgeht, was er notiert. Fontane sammelt und kompiliert Stoff. Ein aufgeschnapptes Wort, ein erwischtes Landschaftsbild, eine gehörte Spukgeschichte, ein gelesener Kriminalfall können Teil eines Romans werden, einer Theaterkritik oder eines Gedichts. Fontanes Wege sind krumm, seine Felder wie Kraut und Rüben. Zum Glück für jeden Ausstellungskurator. JS Das heißt: Man kann diese Texte ausstellen, aber nicht im klassischen Sinne edieren, also als geordnete Sammlung zwischen zwei Buchdeckel bringen?
beschriebene Welt plötzlich in all ihrer Einfachheit und Kargheit dicht gefügt. Allein durch den Klang und die Bildlichkeit der beiden zitierten Namen. Höllenberge und Sprotter Lache. Bei Fontane kippen die Wörter und Buchstaben immer wieder aus dem Satz heraus. Sie verselbständigen sich und werden lose und eben auch dinglicher. Die Sprache und das Sprechen, unsere sprachliche Haltung zur Welt, die uns bestimmte Wahrnehmungen und Empfindungen ermöglicht und diese Welt im Grunde erst erzeugt, werden dabei die eigentlichen Gegenstände dieser Texte. JS Die Detailverliebtheit, über die wir schon gesprochen haben, überträgt sich eben auch auf die Wörter. Und das Menschliche wandert genau in sie hinein: Es sind Wörter, die sich manchmal in Form von Haltung und Gespür besser erschließen als in Form von Bedeutungen. Es geht dabei nicht um das Spiel von Bedeutungen, sondern darum, welche emotionale Haltung man zu den Wörtern eingeübt hat. Fontanes Wörter spielen nicht, sie gehen direkt in die gefühlte Haltung ein. HG Fontane selbst führt dieses Ineinsgehen von Wort, Gefühl und Haltung mitsamt aller Doppeldeutigkeiten auf seinen
Such nicht immer nur die spektakulären Dinge. Lass den geilen Blick aufs große Ganze. Verzichte auf die hehren Ziele.
mehr alles lesen kann), dass wir dieses Buchstabengewimmel und Zeichenchaos nicht restlos in etwas Drittes überführen können, wie wir es so gern ausgerechnet bei der Literatur machen. In einen Sinn, eine höhere HG Können schon. Die Frage ist: Was muss Bedeutung, so etwas wie den in alle Formen man wegschneiden, damit sie hineinpassen? und Sprachen übersetzbaren „Gehalt“ oder Und: Was verschenkt man an Erkenntnis- eine „Aussage“. möglichkeiten, wenn man darauf fixiert ist, dass Texte etwas sind, was wir von vorne JS Ging Fontane eigentlich ins Museum? bis nach hinten lesen, um einen eindeutigen und einfachen Sinn herauszuinterpre- HG Er ist ein Liebhaber der flüchtigen Biltieren? Fontane ist ein Kreuz- und Querar- der, auch im Museum. Einen Besuch im Kobeiter. Da geht einer immer wieder durch penhagener Thorvaldsen-Museum resüden Geschichtenteppich seiner Aufschriebe, miert er: „Dieses flüchtige Sehen hat mir bis sich etwas herauskristallisiert, dass er einen Eindruck geschaffen, den mir ein Stuerzählen kann, von Punkt zu Punkt, trotz dium nicht hätte geben können. Die Wirkung aller Auslassungen dazwischen. Fontanes auf mein Gemüt würde bei häufigerem SeRomane verschweigen ja mindestens die hen sich allgemach vermindert haben.“ FonHälfte, gerade weil ihre Figuren so viel re- tane gibt sich mit Stückwerk und Oberfläden. Über unangenehme Stellen wird hin- chen zufrieden, mit einem unverbindlichen weggeplappert. Diese blinden Flecken sind ästhetischen Eindruck. Voraussetzung dafür sichtbarer als der Rest. Das, was noch mit- ist jene Langeweile, wie sie nicht nur aus zu ten im Schreiben steckt und damit irgend- viel Zeit, sondern auch aus zu wenig resulwo zwischen Finden und Erfinden, Dikti- tieren kann. Sie ist substanziell für jede Eron und Fiktion, Paratext und Text, Papier, fahrung von Kunst und Poesie. Ich empfand Bleistift und Tinte, ist eigensinniger, wider- es als Kind immer als etwas Schönes, wenn ständiger, sichtbarer, begreifbarer und da- es im Museum langweilig war. mit realer und gegenwärtiger als der geglättete, ausgefeilte Text. Es ist von vornherein JS Die Akzeptanz der Langeweile scheint klar (auch für den Autor, der oft selbst nicht mir etwas zu sein, das man mitbringen →
fontane.200 Aus Anlass des 200. Geburtstags von Theodor Fontane 20�9 fördert die Kulturstiftung des Bundes zwei zentrale Projekte im umfänglichen Jubiläumsprogramm. Die Leitausstellung fontane.200/Autor im Museum Neuruppin, kuratiert von Heike Gfrereis, wird die Vielseitigkeit Fontanes und die Modernität seines künstlerischen Schaffens aufzeigen. Die vielstimmige, interaktiv angelegte Schau stellt Theodor Fontane in drei Kapiteln u.a. als Wortsampler, Schreibdenker und Textprogrammierer vor. Dabei kommen Materialien aus dem Nachlass ebenso zum Einsatz wie abstrakte Visualisierungen von Literatur. Im Rahmen des Vermittlungsprojekts Word & Play! entwickeln Jugendliche eigene Geschichten und überführen diese in eine digitale Form. In Game-Workshops können sie eigene Computerspiele entwerfen, die in das Medienangebot der Leitausstellung einfließen werden. → www.fontane-200.de
HG Zumal es in Wahrheit eben meist ein Fahren ist und damit ein schneller Systemwechsel. „Wie undeutschgermanisch bin ich doch!“, notiert Fontane zu Beginn seiner Italienreise und nach einigen Tagen: „Ich komme preußischer zurück denn je. Freiheit und weiter nichts, ist etwas ziemlich Elendes.“ Fontanes Spaziergänger, Wanderer und Beobachter sind weder romantische Taugenichtse noch Baudelairsche Flaneure. Sie brauchen nicht notwendig die Großstadt und es trifft sie beim Anblick einer Vorübergehenden auch nicht der Schlag, aber sie werden mit der Sehnsucht nach einem anderen Leben infiziert. Als Fontanes Cécile das erste Mal ihrem späteren (vermutlichen) Liebhaber begegnet, kommentiert das der Erzähler: „Wie HG Das ist das Drama der Effi Briest: Sie hält belebt und erheitert, nahm diese plötzdie Möglichkeiten nicht aus, die die Lange- lich ihres Begleiters Arm.“ Bei Fontane ist weile eröffnet, sie flieht vor der Zeit, die sie die ästhetische Kategorie der Plötzlichkeit am Ende einholt. Wir spüren, dass die Zeit weit entfernt von jener der Erhabenheit. relativ ist, sie kann wahnsinnig zäh sein und Er ist spießiger als Baudelaire, aber auch dann doch zu einem Raum werden, in dem menschlicher. wir uns vollkommen verlieren. Auch Museen setzen uns dem Raum dieser zähen Zeit aus, JS Ist Spießigkeit fünfzig Jahre nach 1968 dieser trägen Stimmung. Ihr Kreativitäts- eigentlich noch eine Kategorie? Und inwieund Präsenzdruck auf uns ist enorm. Mu- fern ist seine Spießigkeit vielleicht politisch? seen sind die institutionalisierte „Sonntags- Hat die Form, die Fontane dem Politischen extralangeweile“, um ein Fontane-Wort zu gibt, uns vielleicht sogar gerade jetzt etwas verwenden. Fontane ist in diesem Sinn ein zu sagen? musealer Autor. Für Fontane ist die Langeweile, neben dem Zwang, mit dem Schreiben HG 1919 schrieb Kurt Tucholsky über ThoGeld verdienen zu müssen (und also neben mas Manns Fontane-Buch, es zeige den der Existenzangst), das Hauptantriebsmittel. Spießer auf, der keiner war: „In seinen Au„Die Langeweile ist kolossal und wäre noch gen lag immer das gewisse leichte Zwinkern, kolossaler, wenn ich nicht das Menschen- der kleine Berliner ,Plinzler‘, der die Mögbeobachten hätte“, berichtete er aus einem lichkeit zum Rückzug offenläßt und der desSommerurlaub seiner Frau. halb jedes Pathos erträglich macht – weil man weiß: der bullert keinen TheaterdonJS Urlaube waren sowieso nicht so sei- ner.“ Dieser Blinzler passt weder zum Spießne Sache, oder? Nicht, dass er nicht gereist bürger noch zum radikalen Revolutionär. Er wäre, aber man hat immer das Gefühl, dass stünde uns aber allen gut an. Ohne Humor er seine Heimat mitnimmt, das Fremde nur wird’s auch nicht besser. Schon gar nicht in nutzt, um das Eigene besser zu verstehen. der Politik. muss, um Fontane wirklich lieben zu können. Es kann einem ab und zu ziemlich langweilig werden, wenn man ihn liest. Aber es ist eine besondere Form der Langeweile. Martin Heidegger hat das Menschsein an der Langeweile festgemacht, weil nur dann, wenn man sich langweilt, die Welt einen nicht in Beschlag nimmt. Man erlebt sich selbst als offenes Wesen, das vielen Möglichkeiten gegenübersteht. Fontane scheint mir, avant la lettre, aus dieser Erkenntnis poetischen Gewinn zu schlagen: Wer ihn genau liest, dem tritt das, was er erzählt, immer gerade deshalb in seiner ungeheuren Präsenz entgegen, weil er sich beim Lesen langweilt. Und das macht die Langeweile paradoxerweise äußerst spannend.
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Heike Gfrereis (*�968 in Stuttgart-Bad Cannstatt) ist Literaturwissenschaftlerin und eine der renommiertesten Kuratorinnen für Literaturausstellungen. Über �20 Ausstellungen hat sie selbst oder mitkuratiert, u.a. zu Harry Graf Kessler, Walter Benjamin, Peter Handke, immer wieder zum Werk Franz Kafkas und jüngst „Ins Blaue“ zum Verhältnis von Literatur und Natur, noch bis Oktober 20�8 zu sehen im Literaturhaus München. Seit 200� ist Heike Gfrereis Leiterin der Museumsabteilung des Deutschen Literaturarchivs Marbach (derzeit freigestellt für andere Projekte). Der Romanist und Literaturwissenschaftler Jan Söffner (*�97� in Bonn) ist Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen. Das Spektrum der Themen, zu denen er publiziert hat, reicht von Boccaccios Decamerone über Metaphern und Partizipation bis zur Anthropologie des 3D-Drucks. Sein jüngstes Buch Nachdenken über „Game of Thrones“. George R.R. Martins „A Song of Ice and Fire“ erschien 20�7 im Wilhelm Fink Verlag.
JS Damit diese Leichtigkeit ihre Funktion erfüllen kann, braucht es auch ein Gegengewicht, etwas Schweres, über den der Blinzler sich erhebt. Sonst schreibt man irgendwann über gar nichts mehr. Ohne Pathos kein guter Blinzler. Darin liegt sogar eine Asymmetrie, denn ohne Blinzler kann es durchaus gutes Pathos geben. Bei Fontane, so scheint mir, gibt es beides – und man weiß oft nicht so genau, wann und wo der Blinzler wirklich greift. Manchmal habe ich den Eindruck, das hängt damit zusammen, dass Fontane in einer Zeit lebte, in der das Erzählen als Form der Wissensgewinnung noch nicht so sehr in Verruf gekommen war wie in unserer Zeit, wo man, überspitzt gesagt, hinter jeder Erzählung einen ideologischen Mythos wittert, den es zu kritisieren, zu demaskieren oder zu dekonstruieren gilt. Das Erzählen hatte zu Fontanes Zeit noch einen ganz anderen Stellenwert für die Wissensgewinnung. Es war auch noch nicht so konsequent aus den Wissenschaften verbannt wie heute – umso größer war umgekehrt das epistemologische Selbstbewusstsein literarischer Erzähler. Wenn man etwa die Vorrede zur Menschlichen Komödie liest, dann wird man zum Beispiel den Verdacht nicht los, dass Balzac mit seinem Werk en passant die Sozialwissenschaften erfinden wollte. Erzählen sollte leisten, was er Analyse und Theoriebildung nicht zutraute. Wer, wie Fontane, in einer solchen Tradition steht, schreibt dem Erzählen vielleicht einen ganz anderen Wert
zu, als man es heute gewohnt ist. Oder dominiert bei ihm längst der Blinzler über solche Ansprüche? HG Wer Scherze macht, dem ist es mit seiner Sache nicht automatisch weniger ernst. Gut erzählt ist nicht gleich gefaket, erfunden nicht gleich unwahr. Fontane ist fasziniert von seismographischen Geräten, Psychographen und Telegraphen, unmittelbar aufgezeichneten Schwingungen, übertragenen Nachrichten, historischen, vermeintlich kleinen, lokalen und bedeutungslosen Spuren, von Konversationslexika. Erzählen ist für ihn eine Erfahrung der sprachlichen Bedingungen, unter denen Gefühle und dann auch Realitäten entstehen. Sein artistic research-Projekt ist die Diskurs- und Nebensächlichkeitswissenschaft, wenn er das auch mit dem alten Stechlin anders nennen würde: „Wer am meisten red’t, ist der reinste Mensch.“ JS Wer erzählt, hat immer einen Adressaten. Man mag zwar für sich selbst erzählen, für einen kleinen Kreis von Bekannten, oder für ein großes Publikum. Aber man erzählt nicht ins Blaue hinein: Wird das Publikum zu groß und zu abstrakt, dann schließt sich der Kreis und man erzählt wieder für sich selbst. Zum Schluss daher die Frage: Für wen hat Fontane erzählt? Wer ist sein Adressat? HG Der zurückblinzelt.
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(a/b) Extinct in the Wild: Lebende Organismen, Leuchten, Substrate, Aluminium und Glasgehäuse in der Fondazione Prada, �. �. – �. �. 20�7
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N atur kuratieren Zu den Bildern von Michael Wang
Der in New York lebende US-amerikanische Künstler Michael Wang ( * 1981) setzt sich in seinen Werken in vielfältiger Form mit globalen Prozessen wie der Interdependenz zwischen Natur und Technologie auseinander, den Folgen der Industrialisierung, dem Klimawandel oder dem Artensterben. Michael Wang nimmt an der von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Ausstellung Pflanzen. Über die Natur des Menschen im Deutschen HygieneMuseum Dresden teil. Zuletzt hat er durch seine Arbeit The Drowned World für die manifesta 12 in Palermo (2018) und seine Ausstellung Extinct in the Wild in der Fondazione Prada in Venedig (2017) für internationale Aufmerksamkeit gesorgt. Hieraus stammen die Fotos in diesem Magazin. Der australische Kulturwissenschaftler Thom van Dooren von der University of Sydney, der zur kulturellen Dimension von Biodiversität und Artensterben forscht, hat sich die Ausstellung angeschaut. Extinct in the Wild versammelt eine Auswahl an Tieren und Pflanzen – in Fleisch und Blut, in Bildern und Geschichten – und geht den Verbindungslinien und Netzen des Verstehens, der Ausbeutung und der Fürsorge nach, die viele Arten heute in der Welt halten. Manche Arten sind akut vom Aussterben bedroht, sie bevölkern die bekannten Konservierungsarchitekturen: Samenbänke, Zoos und Botanische Gärten. Bei anderen verhält es sich ganz anders. Arten wie der Gingko oder das Axolotl sind überreichlich vertreten, sie werden weltweit gehandelt, dennoch findet man sie heutzutage fast ausschließlich oder hauptsächlich innerhalb der Sphäre menschlicher Kontrolle, vom Tierhandel über Gärten bis zu Laboren. Auch sie sind, das übersieht man leicht, in freier Wildbahn ausgestorben. Der Künstler Michael Wang führt diese Geschichten von Seltenheit und Fülle zusammen und erinnert uns dadurch daran, dass all diese Lebewesen heute nur durch gezieltes menschliches Handeln existieren, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, in verschiedenem Maße und aus unterschiedlichen Gründen. Darüber hinaus – und darin liegt die eigentliche Provokation des Projekts – ist diese Existenz nicht mehr die Ausnahme, sondern vielmehr zur neuen Normalität geworden. Das Leben, so wie es sich auf diesem Planeten entwickelt, ist zunehmend ein Projekt, kuratiert durch den Menschen. Natürlich gilt dies nicht für alle Spezies: Viele Arten überleben ohne und sogar trotz menschlicher Eingriffe, aber eine wachsende Zahl verdankt ihren Fortbestand menschlicher Zuwendung und Pflege. Indem es Lebewesen im Ausstellungsraum unterbringt – in Becken, Gewächshäusern, Töpfen und Petrischalen – stellt das Projekt die Arbeit des Kuratierens selbst
in den Mittelpunkt und macht sie sichtbar. Wang lenkt unseren Blick bewusst auf die Herkunft des Begriffs „kuratieren“ aus dem Lateinischen cura – Fürsorge, Sorgfalt, Pflege. Er erinnert uns daran, dass Kuratieren einerseits bedeutet, eine Auswahl zu treffen, Dinge zusammenzustellen, aber auch, sie zu pflegen. Um dies zu tun, muss ein Wissen, müssen Techniken, Vertrautheiten und Praktiken kultiviert werden, die man braucht, um sich um andere zu kümmern. Und genau diese Fähigkeiten sind unverzichtbar, wenn das Projekt gezeigt wird; für den Aufbau und die Dauer jeder Ausstellung muss auf die Expertise von Tierpflegern und Gärtnern vor Ort zurückgegriffen werden. Doch indem es unsere Aufmerksamkeit auf das Kuratieren als Akt der Fürsorge lenkt, konfrontiert uns das Projekt mit einer ganzen Reihe ethischer und politischer Fragen. Wer entscheidet, welche Formen des Lebens bewahrt werden und unter welchen Bedingungen, wenn immer mehr Arten in dieses Beziehungsgeflecht hineingezogen werden? In vielerlei Hinsicht ist das Kuratieren des Lebens auf der Erde alles andere als ein humanes Unterfangen. Es ist ein Mischmasch aus den Anstrengungen, Begierden und Projekten derer, die die nötigen Ressourcen haben und den Wunsch, sich auf diese Weise zu betätigen. Diese Fürsorge in ihren verschiedenen Ausprägungen, vom Artenschutz bis zu den globalen Netzen landwirtschaftlicher Produktion, ist den größeren Strukturen von Konsum, Nutzung und Kolonisierung, die das sechste Massensterben vorantreiben, teils vollkommen entgegengesetzt, teils ist es deren integraler Bestandteil. Achtsames Kuratieren darf diesen schwierigen Fragen nicht ausweichen: Was wird hier mit Fürsorge bedacht, warum, und wer muss dafür bezahlen?
P flanzen.
Über die Natur des Menschen
Deutsches Hygiene-Museum, Dresden 12. 4. 2019— 23. 2. 2020 Die Anthropozän-These, derzufolge Menschen das Leben auf der Erde in kurzer Zeit stärker verändert haben als natürliche Prozesse, bildet die Grundlage für die von Kathrin Meyer kuratierte Ausstellung, die am konkreten Beispiel der Erforschung, der Nutzung und des Schutzes von Pflanzen nach den Konsequenzen der Anthropozän-Erkenntnisse fragt. Im Spannungsfeld von Natur als Produktionsfaktor und als Sehnsuchtsort geht es in der Ausstellung um die kulturelle, ökologische und ökonomische Bedeutung der Flora. Erstmals in der europäischen Museumslandschaft nimmt eine Ausstellung das Verhältnis zwischen Menschen und Pflanzen aus dieser vernetzen Perspektive in den Blick. In drei Kapiteln untersucht die Ausstellung, wie Künstler, Architekten, Autoren und Wissenschaftler die Pflanze im Verhältnis zum Menschen positionieren. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit den Nutzungsbedingungen der Pflanze als Material und Rohstoff auf dem Feld und im Wald. Schließlich beleuchtet sie die Rolle des Menschen als Gestalter seiner Umwelt und präsentiert Ansätze, die Koexistenz von Pflanze und Mensch über den Status Quo hinaus zu denken. Neben zahlreichen künstlerischen Positionen thematisiert die interdisziplinäre Schau im Hygiene-Museum auch die Geschichte der Landnutzung und der Gestaltung der Erde, sie befasst sich mit globalen Ernährungsfragen, der genetischen Veränderung von Pflanzen und hinterfragt die Rolle des Menschen als Wandler und Gestalter der Biosphäre.
Ebenso fordert uns Extinct in the Wild auf, genau hinzusehen, mit welcher Art von Überleben wir es zu tun haben. Indem es uns Lebewesen isoliert in einzelnen Becken, Töpfen und Schalen präsentiert – den „technologischen Apparat mit ausstellt“, wie Wang es formuliert – zeigt uns das Projekt eine hochkünstliche, eine extrem gesteuerte Umwelt. Hier werden keine natürlichen Bedingungen vorgetäuscht. Stattdessen begegnen wir einer Umwelt, die – so schön und bezaubernd sie auch ist – für ihre Bewohner zwangsläufig und unverkennbar verarmt ist. Die so zur Schau gestellten Leben wurden herausgetrennt aus dem Netz ökologischer, sozialer und kultureller Beziehungen, die einst sie und eine viel größere, nicht-menschliche Welt getragen haben. Sie sind, wie Wang es nennt, „obdachlose Kreaturen“ geworden. Denn auch, wenn „in freier Wildbahn ausgestorben“ bedeutet, auf irgendeine Weise fortzubestehen, so gibt es doch einschneidende Abwesenheiten und gekappte Verbindungen. Schutz und Pflege lösen das Problem nicht, oft genug sind sie nur ein Kompromiss, der neue Spannungen erzeugt. Extinct in the Wild konfrontiert uns mit diesem Dilemma. Es fordert uns auf, den vielen Lebensformen Beachtung zu schenken, die inzwischen, mit allen Vor- und Nachteilen, nur durch menschliches Eingreifen fortbestehen. Gleichzeitig ist es eine Reflexion über die umfassende Transformation unserer Welt in eine, in der die ExistenzbedinKünstlerische Leitung: Kathrin Meyer gungen so vieler Arten von den Zielen und Künstler/innen: Karl Blossfeldt, Roald Dahl (GB), Jasmin Huber (CH), Charles Jones (GB), Volker Begierden (eines Teils) der Menschheit abKreidler, Liisa Lounila (FI), Siobhán McDonald (IRL), hängen. Vor diesem Hintergrund erinnert Uriel Orlow (CH), Dan Rees (GB), Åsa Sonjasdotter und Elske Rosenfeld (SWE/DE), Michael Wang (US) uns das Projekt daran, achtsam zu kuratie → www.dhmd.de ren, nicht als rein technisches Unterfangen, sondern als schöpferische, fantasievolle, kritische Intervention in dieser Welt voller RisiÜbersetzung aus dem ausken und Möglichkeiten, die sich Tag für Tag tralischen Englisch von Therese Teutsch vor uns entfaltet.
Literarische Wegweiser in dıe Natur
Im Anthropozän dominiert der Mensch die Erde. Wie das Nature Writing die Natur im Wechselspiel des Lebens halten will, erläutert Jürgen Goldstein.
Um die Natur in ihrer ganzen erhabenen Größe zu schildern, darf man nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen; die Natur muß auch dargestellt werden, wie sie sich im Inneren des Menschen abspiegelt … Alexander von Humboldt
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MODERNE ZEITEN. Am ��. Juni �844 hielt die Moderne Einzug in ein kleines amerikanisches Städtchen namens Concord in Massachusetts. Feierlich wurde eine Eisenbahnlinie in Betrieb genommen, die viermal täglich die Strecke von Boston über Concord nach Fitchburg und zurück befuhr. Der heutige Blick auf die mit Dampflokomotiven betriebenen Züge mag ein nostalgischer sein, damals bot er einen Blick in die Zukunft. Die amerikanische Eisenbahn in der Mitte des �9. Jahrhunderts markierte in einem noch nahezu unerschlossenen Land von schier unbegrenzter Weite den Beginn der dortigen industriellen Revolution. In dieser Geschichte des Heraufziehens der modernen Welt wäre Concord kaum eine Fußnote wert, wenn nicht die neue Bahntrasse an einem See namens Walden vorbeiführte, jenem See, der nahe bei Concord gelegen Henry David Thoreau für gut zwei Jahre eine Heimstätte geboten hat. An dem Ufer des Sees hatte sich der Eigenbrötler �845 eine Hütte gezimmert, während seines Aufenthaltes Tagebuch geführt und später mit Hilfe der Notizen sein bahnbrechendes Buch Walden,. or, Life in the Woods verfasst. Das Genre des „Nature Writing“ war geboren: eine nicht-fiktionale, erzählerische Literatur, die sich den Erfahrungen in der Natur verdankt und diese in einer genauen und empfindsamen Sprache auszudrücken sucht; eine deutsche Bezeichnung für diese Naturliteratur ist nicht zur Hand. Generationen von Lesern diente Thoreaus Walden als ein literarischer Wegweiser in die emphatisch erlebte Natur. Dabei wird gerne vergessen, dass die Bahnlinie unmittelbar am Ufer des Sees vorbeiführte. Sie war von fast jedem Standort am Waldensee aus zu sehen, weithin waren die Dampflokomotiven zu hören. Thoreau hat diesen Einbruch der neuen Zeit nicht verschwiegen und empfand ihn als
verheerend. Bereits der Bau der Eisenbahnlinie symbolisierte für ihn ein Vorrücken der modernen Welt auf Kosten einer unberührten Natur: „Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen, dass wir eine Eisenbahn haben. Alle unsere sogenannten Fortschritte und Verbesserungen haben die Tendenz, das Landleben städtisch zu machen. Ich sehe jedoch nichts, das uns für den damit verbundenen Verlust entschädigt.“ Die Ausbreitung der Zivilisation auf Kosten einer wilden Natur ist Folge jener Globalisierung, die auch vor Thoreaus Haustür nicht Halt machte, denn die „Eisenbahn rund um die Welt der ganzen Menschheit zugänglich zu machen, bedeutet nichts anderes, als die Oberfläche des Planeten einzuebnen“. Die Natur ist uns seitdem als ein bestimmendes Erfahrungsmoment des Lebens entrückt. Längst wird diskutiert, ob unser menschengemachtes Zeitalter der Technik den Namen Anthropozän verdient. Dabei fing es mit den Eisenbahnen harmlos an. Entsetzt registrierte Thoreau, wie Sägemühlen die Wälder von Maine in Bauholz verwandelten. Zweihundertfünfzig Sägewerke, berichtet er, habe es in der Region gegeben. Die dort arbeitenden Männer schienen damit beschäftigt, „so schnell wie möglich alle Wälder aus dem Land, aus jedem einsamen Bibersumpf und von jedem Berghang zu vertreiben“. Fassungslos malte sich Thoreau aus, wie eine Weißkiefer, deren Zweige in den vier Winden rauschten und deren einzelne Nadeln in der Sonne zitterten, an eine Streichholzfabrik in Neuengland verkauft werden würde. Die Nutzung der Natur als ökonomische Ressource setzte sich schneller durch, als es Thoreau hat voraussehen können. Am ��. August �859 gelang es, in der Nähe von Titusville in Pennsylvania Erdöl zu fördern. Damit nahm endgültig ein neues Industriezeitalter seinen Lauf. Die Natur wurde vorrangig als zu erschließendes Kapital begriffen. Die Begleitfolgen sind dramatisch. Hans Joachim Schellnhuber spricht gegenwärtig von der „Selbstverbrennung“ unseres Planeten aufgrund der ungehemmten Emissionen und des durch sie eingeleiteten Treibhauseffektes.
DIE FUNKTION DER SPRACHE. Erst die Härte der rational-ökonomischen Moderne hat das Nature Writing als eine neue Sprachform von hoher Ausdruckskraft hervorgebracht. Als Widerstand gegen eine enggeführte rational-ökonomische Moderne ist Nature Writing vom Selbstanspruch her mehr als lediglich ein weiteres literarisches Genre. Es begnügt sich nicht damit, ein Trostpflaster für sinnentleerte Großstädter zu sein, die in einer idealisierten Natur jene Ursprünglichkeit und Wildheit wiederzufinden suchen, die ihrem Leben abhandengekommen sind. Das Medium für diesen Versuch, Modernitätspathologien zu therapieren, ist die Sprache. Seit der Antike wird um die Funktion der Sprache gerungen. Dient sie vorrangig der Kommunikation als einem Austausch von Informationen? Dann käme ihr eine instrumentelle Funktion zu. Moderne Philosophien haben in diesem Sinne ihren rationalistischen Charakter betont: Worte und Sätze haben Wirkliches möglichst exakt zu bezeichnen. Dieser Wille zur Eindeutigkeit hat die Sprache zu disziplinieren versucht und alle subjektiven Einschlüsse, metaphorischen Ausdrücke und den ästhetischen Wohlklang unter Generalverdacht gestellt. Poesie, das mehrdeutige Wort, ein Ausdruck der Empfindung angesichts der wahrgenommenen Natur wurden zu etwas Privatem und zu einer in der Öffentlichkeit lediglich tolerierten, schöngeistigen Nische. Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt dagegen haben den expressiven Charakter der Sprache herausgestellt. Sprache ist für sie das zentrale Ausdrucksmittel des Menschen. Dabei hat sie eine welterschließende und weltkonstituierende Funktion: Sprechen und Denken sind für Humboldt unauflösbar miteinander verbunden. Wie wir über die Welt sprechen, hat Einfluss darauf, mit welcher Wirklichkeit wir es zu tun haben. Für Humboldt ist die Sprache daher kein bloßes Verständigungsmittel, sondern eine „Weltansicht“: Das sprachlich geformte Denken bietet eine Perspektive auf die Welt. Die atemberaubende Konsequenz:
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Verschiedene Sprachen eröffnen unterschiedliche Weltansichten. Das gilt zunächst für Nationalsprachen: Chinesen und Franzosen, Amerikaner und Inder leben nicht in ganz und gar identischen, sondern in verschiedenen, durch ihre Sprachen zum Ausdruck gebrachten und voneinander abweichenden Welten. Dennoch kommt es nicht zu einer babylonischen Sprachverwirrung: Es gibt eine Einheit in der Vielfalt. Davon zeugt die prinzipielle Übersetzbarkeit von Sprachen. Aber auch innerhalb einer Nationalsprache lassen sich verschiedene Sprachformen kultivieren: eine naturwissenschaftlich-rationale, eine ökonomische oder eine poetische. Diese verschiedenen Sprachkulturen prägen unsere Wahrnehmungen, Erfahrungen und Empfindungen auf unterschiedliche Weise. Charles Taylor hat wie kein anderer Philosoph der Gegenwart auf die konstituierende Kraft der Sprache hingewiesen und subtilere Sprachformen für unser Wirklichkeitsverhältnis eingefordert. Ein wesentliches Moment ist dabei für ihn das Zulassen einer Resonanzerfahrung: Wir sind keine neutralen Beobachter, sondern vielmehr eingebunden in einen bedeutungsvollen Erlebnisprozess, der durch den sprachlichen Ausdruck seine Formung erfährt. Erst vor diesem Hintergrund gewinnt das Projekt des Nature Writing an epochalem Gewicht. Wenn die Art und Weise, wie wir über etwas sprechen, unser Bewusstsein darüber bestimmt, ist es nicht länger unerheblich, welche Ausdrucksweise wir für die Natur wählen. Diesem Zusammenklang von Sprache und Naturerfahrung geht das Nature Writing nach. „Das Sehen ist natürlich weitgehend eine Sache der Verbalisierung“, schreibt Annie Dillard in ihrem �974 erschienenen Buch Pilgrim at Tinker Creek. „Wenn ich nicht bewusst meine Aufmerksamkeit auf das richte, was vor meinen Augen geschieht, werde ich es schlicht nicht sehen.“ Sprache ist dabei ein Mittel der Aufmerksamkeitssteigerung: „Ich muss die Worte dazu sagen, beschreiben, was ich sehe.“ Die Natur ist dann aber nicht länger ein wertfreier Gegenstand des rationalen Denkens. Vielmehr verlangt sie nach einer Bereitschaft, sich in unserem Inneren abspiegeln zu lassen. Dazu aber bedarf es einer Sprache, die selbst zum Resonanzraum wird, zu einem Erscheinungsraum der Natur. John Muir hat in seinem �894 erschienenen Buch The
Mountains of California die wunderbare Landschaft des späteren Yosemite-Nationalparks mit seinen überwältigenden Bäumen beschrieben. Edward Abbey setzte sich in den �950er Jahren der Einsamkeit in der Wüste Utahs aus und suchte die Erfahrungen in seinem Buch Désert solitaire einzufangen. Roger Deakin fasste den Entschluss, die Gewässer Großbritanniens zu durchschwimmen. Sein Logbuch eines Schwimmers: Waterlog aus dem Jahr �999 ist ein Zeugnis des Versuches, sich in einer zersiedelten Kulturlandschaft Enklaven des Unerwarteten zurückzuerobern. Robert Macfarlane hat in The Wild Places jüngst eine Kartographierung der verborgenen Wildnis in der zersiedelten Kulturlandschaft vorgelegt – ein Thoreau unserer Tage. Auch wenn es für die Bezeichnung Nature Writing keine deutsche Entsprechung gibt, finden sich auch in der deutschsprachigen Literatur Autoren, die sich mit dem unternommenen Versuch einig wissen, durch ekstatische Sprachformen entsprechende Naturzugänge zu verteidigen. So etwa Werner Herzog: Am 23. November �974 brach er auf, um zu Fuß von München nach Paris zu gehen. Lotte Eisner, die Integrationsfigur des deutschen Films, lag in einem Pariser Krankenhaus im Sterben. Herzog wollte ihr Überleben erzwingen. „Ich nahm eine Jacke, einen Kompass und einen Matchsack mit dem Nötigsten. Meine Stiefel waren so fest und neu, dass ich Vertrauen in sie hatte. Ich ging auf dem geradesten Weg nach Paris, in dem sicheren Glauben, sie werde am Leben bleiben, wenn ich zu Fuß käme.“ So beginnt das während seiner magischen Pilgerreise geführte Tagebuch, das Herzog später unter dem Titel Vom Gehen im Eis veröffentlicht hat. Darin schildert Herzog, wie er der Kälte und dem Schnee, dem Wind und der Nässe trotzte, wie er sich der winterlichen Einöde aussetzte, um mit sich allein zu sein und sein Ziel zu erreichen. Seine Beschreibungen der nassen Äcker, des an seinen Stiefeln haftenden Bodens, des in sein Gesicht schneidenden eiskalten Windes und des peinigenden Schneetreibens sind von präziser Klarheit und in einer schlackenfreien Prosa verfasst. Herzogs Text enthält alles, was das Nature Writing ausmacht: eine Beschreibung der Natur und eine Entblößung der eigenen Empfindungen angesichts der Natur.
NATURE WRITING — GEGEN SEINE LIEBHABER VERTEIDIGT. Die neue Begeisterung für die Natur treibt derzeit wilde Blüten. Tierbände haben in den Buchhandlungen ebenso Hochkonjunktur wie jene Literatur, die uns in das Geheimnis des Waldes oder in die vermeintliche Sprache der Bäume und Tiere einzuweisen sucht. So fragwürdig vieles von dem Dargebotenen auch ist, offenbart es doch das tiefe Bedürfnis des modernen Menschen, es mit einer Natur zu tun zu haben, die für die Frage, wie ein gutes Leben gelingen kann, nicht gleichgültig ist. In der anschwellenden Woge an Naturliteratur drückt sich ein Unbehagen an einer rein zweckrationalen Beherrschung unserer Welt aus. Dabei drohen sich Sentimentalität und ungefilterter Subjektivismus in das Schreiben über Natur einzuschleichen, um mit dem Rücken zur Moderne ungestillte Sinnbedürfnisse zu befriedigen. Doch es gibt kein Zurück-zur-Natur, das unsere Imprägnierungen mit den Errungenschaften und Verstörungen der westlichen Kultur zu entfernen vermag. Nur im Spannungsfeld von Natur und moderner Kultur behauptet das Nature Writing seine Aktualität und entfaltet sein diagnostisches und therapeutisches Potenzial. Wird die Spannung, in die dieses Schreiben hineingestellt ist, preisgegeben, droht es zu Naturkitsch zu verkommen, wenn es der Versuchung erliegt, wohlfeil unser Bedürfnis nach einer heilen Natur zu befriedigen. Daher gilt es, das Projekt des Nature Writing gegen seine Liebhaber zu verteidigen. Denn im Kern geht es um die Frage, ob es einen Beitrag zu dem Versuch zu leisten vermag, ein modernes Kulturverhältnis zur Natur zu stiften, das nicht länger von Ausbeutung und Zerstörung bestimmt ist. Thoreau hat von der „Würde der Natur“ gesprochen. Vielleicht ist es mehr denn je an der Zeit, diesen eher formulierten als eingelösten Gedanken einer Eigenwertigkeit der Natur ernst zu nehmen. Lässt sich aber für die Würde der Natur auf der Höhe unserer Zeit – ohne nostalgischen Rückgriff auf vormoderne Weltbilder – eine Begründung finden, die dem Säurebad der Kritik standhält? Vermag sie die Praxis unserer Konsum- und Nutzenverliebtheit in vernünftigere Bahnen zu lenken? Es mag dafür nicht unerheblich sein, in alternativen Formen über Natur zu sprechen, um sie andersartig erfahren und denken zu können.
Jürgen Goldstein (*1962) lehrt als Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau. 2013 erschien von ihm Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte. Für sein Buch Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt erhielt er 2015 den Gleim-Literaturpreis und 2016 den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch/Essayistik. Sein Buch Blau. Eine Wunderkammer seiner Bedeutungen war 2017 für den Bayerischen Buchpreis in der Kategorie Sachbuch nominiert. Im Herbst 2019 erscheint von Jürgen Goldstein Nature Writing. Sprache als Erscheinungsraum der Natur, wie die vorherigen Bücher bei Matthes & Seitz.
Ins Blaue! Natur in der Literatur Literaturhaus München 22. 3.— 7. 10. 2018 Seit Menschen schreiben, schreiben sie auch über Natur, in der Natur oder ist die Natur Teil ihrer Geschichten. In jüngster Zeit scheint das literarische Interesse an ihr wieder zu wachsen: Das Literatur- und Ausstellungsprojekt „Ins Blaue!“ geht davon aus, dass die moderne Gegenwartsliteratur ohne ihren Bezug zur Welt der Natur als Erfahrungsraum für Utopien kaum verständlich
wird. Deshalb sei es umso erstaunlicher, dass eine „Literaturgeschichte der Natur“ noch nicht geschrieben wurde. „Ins Blaue!“ will sich der Bedeutung der Natur für unsere literarische Kreativität auf dreifache Weise nähern: als Zivilisationsgeschichte, als Fundus der Stilmittel und Motive sowie als Raum der kreativen Selbsterfahrung. In der Ausstellung im Literaturhaus München werden namhafte und neu zu entdeckende Künstler/ innen zeigen, wie sich Naturerfahrungen jenseits des Gewohnten durch Literatur geradezu provozieren lassen. Dazu wollen sie Fundstücke aus der Natur sprachlich neu erschließen. Als „Kunst- und Wunderkammer“ soll die Präsentation außerdem zu neuen Assoziationen und zum sensorischen Selbstversuch einladen und so eingeübte Vorstellungen des Wechselverhältnisses von Literatur und
Natur in Bewegung bringen. Dabei steht stets der globale Bezug zu dem – oft fragwürdigen – Umgang des Menschen mit der Natur im Mittelpunkt. Die Ausstellung soll nach München in weiteren Städten gezeigt werden. Ein Begleitprogramm wird unter anderem ein „Nature Writing Seminar“ in Zusammenarbeit mit dem British Council sowie Dialogveranstaltungen und Exkursionen umfassen. Ein Katalog begleitet die Ausstellung. Leitung Literaturhaus: Tanja Graf Projektleitung: Karolina Kühn Kuratorin: Heike Gfrereis Künstlerische Beratung: Judith Schalansky Künstler/innen, Autor/innen: Z ora del Buono (CH), Michael Fehr (CH), Arno Geiger (AT), Eva Menasse (AT), Martin Mosebach, Marion Poschmann, T eresa Präauer (AT), Josef H. Reichholf, J an Wagner, Judith Z ander u.a. → www.literaturhaus-muenchen.de
wo die alb anfängt, dort schöne ware feil ich trag knochen auf den berg & hab nen bündel bäume auf dem rücken, auf dem weh. hab nen krämerladen schulterns, hab die bürsten, miederwaren, dreißig samen, zugekauftes. dort geh ich hausieren: sensen, wetzstein, puppenfein & bring die feldfrucht, ellenware, landverlesen. ich trag schutt & weichgelaibtes, trag finstere funzeln hinauf & kann den gipfel kaum mehr finden: du bist das erste graue stück, das ich seh. trage tüten voll moos & voll flechten aus dem tiefen, tiefen tal, trage blumen, trage wölfe hinauf. hab kartoffeln in den äckern meiner westentasche, schau. hab den flachs auf meinem kopf, hab den berg auf meiner schulter, hab die erde in meim strumpf & die glocken der fabrik in meinen beinen. das laub ist mein schuh (was kann ich denn dazu?), das laub ist mein maul & ich hängs in den wind, bin finster darin, jeder zahn finsterwald & ich nähr mich von beeren, kühles blatt unter riemen, kenn's weglein, die kräh, kenn die blumen & mär. hab die mücken im aug, hab die füßler im ohr, mein haar ist mit stämmen bedeckt. hab am wegrand, den vielen, hab den teufel gesehen, & mein kreuz auf dem rücken, mein pfeifchen mit kräutern, trag's kreuz für den gipfel, trag den rosenkranz rauf & den teufel trag ich samt knochen im korb.
myriaden aus karten maßstab: 1 zu rechne’s dir schön nichts hindert haut auf karten & beeren, meerestiefen & die nüsse unter deiner haut. gib mir irgendjemand, bitte, der die karte lesen kann & die haut in falten legt. sind's die schönsten flechten hier, sind's die teile aus dem gras, gassen drin, besiedelt nicht, nur inschriften aus fleisch. paläste hab ich viere, doch will sie nicht kartieren & dich nicht mit, die beeren nicht verzärteln. an kartenrändern wuchst du auf & bist am rand verwachsen,
benanntes gefilde schlag die karte ins land. geh die linien, geh den feldern nach. benenn's & hol den fluß bei &s moos & die flechten & trotte dich aus. benenn es dir ort. niemand im wald, aber ein ungemach & ein vogelsang. als käm ein tier aus dem unterholz, nenn's: kommt es nicht. das moos ist ein fremder im berg & hellichter tann & nenn es ast, elefantös, nenn's bronzen. ich nenn's dir nass. komm vom eis, komm vom moos & nenn dich das mütterlein mit dem reisig, kartographiert & beseelt.
die imkerei lässt mich nicht los: bienen, sie halten's chirurgenbesteck & operieren fliegen im fluge, dazwischen äste & ein verfrühtes einsargen von bienenleibern & bienenkleider tragen am busen. wir summen den nestern ein ständlein & summen ist finster. wir teilen die waben & kirschgeschöpfe & honigtöpfe als horror vacui aus wachs.
unbewohnt ist dein verflochtnes haar & gerüchte eilen über dein gebiet & dauerhaft ist da kein gebäude draus zu machen, nur vages terrain & knochentief im dorf stehen & gefilden beim trocknen zusehen & die stadt schließt, auf geweih & verderb & wir haben die karten nicht gefunden. nur legenden & nüsse zwischen den taschen.
Carolin Callies
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hört der zug auf
angstloch I. fall ins loch, ins seichte loch. ja, fall hinein. fall ins loch, als ob ein fall ein loch wär. fall ins loch, als ob ein loch ein fall wär II. & fällt ein loch ins grob gewebe, fällt ein loch ins erdenreich, fällt ein loch ins weichgewordne, hält das loch den kehrvers aus,
das verschwimmen der linien zwischen drinnen & draußen I. ich häng den wald in mein zimmer, ein prachtvolles dickicht & häng mir ein tuch in den raum. der rapport geht weiter, er geht ewig fort. so lang wär mein haus, zigtausende meter. der faun & die flora beziehen mein liegen, steh betreten darin & begrünt. die bäume wachsen dem vorhang heraus: gespinste aus flecht & ich häng meine wände, ich häng meine wäsche, die rohstoffe auch: der flachs & die wolle & das stück zum verdunkln habn alle hände voll zu tun. all das kleine dunkel. II. die falsche tür für den falschen schlüssel & die farbküche, in der ich wohne. ich hab die farbe nicht gekocht & male der köchin nen flachs auf die brust, ein tuch ist's aus kohlen. der fahrbare barwagen steht in den nischen & mein nierentisch steht auch dabei.
hält das loch sich für kein loch, & hebt das loch im loch sich auf, & hält ein loch im loch sich auf, & hält ein loch sich auf & fällt. III. hält ein loch sich trotz des fadens, hab den vogel in meim ohr, hab dich drin im loch gesehen & wo's loch ist, sag's mir bald! denn ich hab's heut zugemacht. IV. lösch das loch & lösch es nicht. es war das loch, das ich dir hub, drum war es gut, das loch & tief, es war dir gut, das loch, ich hub's, es hob sich aus, es war ein loch, darein ich ging, jetzt kommt die flut, das kleine loch es lag da gut, ich hob es aus,
III. die stoffe im keller & die leichen darin. was bin ich so knöchern, verwachsen im baum & der keller verwächst & siehst du mich nicht: bin im tischtuch bestickt & will das hier flicken, doch die bahnen vom stoff liegn gehäutet, geschichtet & ich hänge die haut in mein fenster.
es war dir gut, das loch, die brut, das loch, das war ein gutes loch, das dehnt sich aus, die brut hört still. sie ruht sich aus, die brut. im loch.
blindtext
das schrumpfen der welt auf wenige mm
saugen & neigen. steigen & augen, die blinden finden in den nüssen die rinden. am augapfel saugen, sich aug um aug, sich blickdicht, sich morgens & abends besaufen & schinden.
sei ein gelehriges ding. sei ein gelehriges bum. stell-dich-nicht-&-hab-dich-nicht-&
nichts ist zu sehn & nüsse & eckern, die schwinden vom baumhain, erfinden sich neu & wir lerchen erblinden, wir aßen davon & holen uns nun aus den finsteren gassen ’n paar eßbare fohlen, was bleibt uns?, die binden sich an die ställe, verstecke, verrecken oder rinden sich selbst für uns lerchen ein magres stück fleisch aus den rippen & unter uns blinden: mich erfinden, dich erfinden, blinde fische in den tannen, linden & hainen
halt den rücken frei für ratschläge & sammelbände aus immergrüner sprache. sonderwo. die welt ist schmück. komm-auf-nen-zweig, ding, halt-dich-fromm-&-sei-nicht-bum, & racker dich an beulen ab, die dich ein ganzes stück vom schmück gekostet haben.
& die risse müssen schließen & flüsse müssen fließen & wir lerchen müssen allerlei getier aufspießen & pferde fressen. was bleibt auch? & wenns schön wird im dunkeln, bist du's & wenns derb wird im hell, bist du's auch, lerchenboy, soweit ist's gekommen. du isst mir die feigen, die blinden & alles ist blind hier, wir steigen aus aus dem reigen, wir schweigen ob des übrigen essens, wir halten den kopf schief, wir neigen & saugen den honig, wir neigen & saugen an augen der fohlen.
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Carolin Callies, 1980 in Mannheim geboren und heute in Ladenburg ansässig, debutierte 2015 mit ihrem Gedichtband fünf sinne & nur ein besteckkasten so erfolgreich, dass sie noch im selben Jahr für den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt nominiert wurde und den Thaddäus-Troll-Preis sowie das Jahresliteraturstipendium des Landes Baden-Württemberg erhielt. Wir haben die Dichterin gebeten, die Schwäbische Alb, TRAFOModellregion in Baden-Württemberg, zu erkunden und ihre Eindrücke von dort lyrisch zu verarbeiten.
I hr Auftrag bitte! Neue Auftraggeber �990 schrieb der Künstler François Hers in Paris das Protokoll der Neuen Auftraggeber. Es wurde die Gründungsakte einer zunächst französischen, später europäischen und heute internationalen Bewegung, bei der Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft die Nachfolge privater und öffentlicher Patrone antreten und die Entstehung zeitgenössischer Kultur zu ihrer eigenen Sache machen. Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber schafft den Rahmen für diesen Prozess in Deutschland und unterstützt Bürgerinnen, Künstler und Kooperationspartner bei der Beauftragung, Finanzierung und Ausführung der Projekte. Seit 20�7 fördert die Kulturstiftung des Bundes eine fünfjährige Pilotphase, um dieses neue Modell zeitgenössischer Kunst im Bürgerauftrag in Deutschland zu etablieren. In zwei Modellregionen – der Flächenlandregion Mecklenburg-Vorpommern/Brandenburg und der Industrieregion Rheinland/Ruhrgebiet – haben die Neuen Auftraggeber regionale Einrichtungen aus Kunst und Kultur als Ankerpunkte zur Umsetzung von Projekten gewonnen. Gemeinsam mit ausgewählten Mediatoren stellen diese das Modell der Neuen Auftraggeber den Menschen in den Regionen vor und beraten die Bürger bei der Beauftragung und Produktion eines Werkes. Die Kulturstiftung des Bundes fördert maximal 20 Vorhaben bis zur Erarbeitung eines konkreten künstlerischen Entwurfs. Insgesamt erhalten die Neuen Auftraggeber von 20�7 bis 2020 2 Mio. Euro.
Die Kulturstiftung des Bundes fördert Die neuen Auftrag geber. Die Grundidee des Programms: Ganz normale Bürgerinnen und Bürger können für ihr Lebensumfeld Kunst bei international bekannten Künstlern in Auftrag geben und werden dabei von versierten Mediatoren unterstützt. Das Programm orientiert sich an dem in Frankreich von François Hers 1990 gegründeten, inzwischen in mehreren Ländern sehr erfolgreichen Programm Les Nouveaux Commanditaires. Tobias Asmuth stellt ein beispielhaftes Projekt in einem kleinen Dorf in Frankreich vor, das dem Ort – und dem Programm – große öffentliche Aufmerksamkeit beschert hat.
→ www.neueauftraggeber.de
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Tobias Asmuth schreibt Reportagen und Porträts, vor allem aus dem Ausland. Seine Texte erscheinen in Zeitungen wie der Neuen Zürcher Zeitung, der Berliner Zeitung, dem Tagesanzeiger und in Magazinen wie brand eins, annabelle, Brigitte, Terra Mater oder Monopol.
Sie wollten etwas tun gegen das langsame Sterben ihres Dorfes und hatten sich das so schön vorgestellt. Sie, die nur noch knapp dreißig Einwohner des Fleckens Blessey im Burgund, in der tiefsten Provinz von La France profonde, hatten über den Verfall geredet, waren sich einig, dass sich etwas ändern müsse, hatten darüber gestritten, wie das passieren sollte, und hatten am Ende doch alle zusammen angepackt. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung sanierten sie das alte Waschhaus, früher neben der Kirche der zweite soziale Mittelpunkt eines burgundischen Dorfes, setzten die Mauern instand, reparierten das Dach, räumten den Platz davor frei für einen schönen Brunnen oder ein beeindruckendes Denkmal. Am Ende fehlte also nur noch ein Künstler. Und da traf es sich gut, dass in Dijon Xavier Douroux als Mediator für die Nouveaux Commanditaires (Neue Auftraggeber) arbeitete und natürlich, dass einer in Blessey gehört hatte, dass diese Organisation Privatleute und Vereine dabei unterstützt, mit hervorragenden Künstlern in Kontakt zu treten. Die Menschen von Blessey riefen also Xavier Douroux an, und der wiederum lud den Schweizer Künstler Rémy Zaugg ein, zusammen mit ihm Blessey zu besuchen, nicht weil das Werk des Künstlers zu schönen Brunnen und beeindruckenden Denkmälern passte, sondern weil er wusste, dass Rémy Zaugg in einem kleinen Dorf aufgewachsen war und dass er so vielleicht die Sprache und das Denken auf dem Land verstehen würde. Alles schien auf einem guten Weg zu sein, da kam ein paar Tage nach dem Besuch ein Brief von Rémy Zaugg, der so beginnt: „Heute hat man seine Waschmaschine. Man wäscht seine schmutzige Wäsche allein, jeder für sich. Restauriert, gaukelt das Waschhaus eine neue Zukunft vor – die aber eine Illusion ist. Die Bäuerinnen werden den Weg vom Dorf zum Waschhaus nie wieder hinabschreiten, werden dort nicht mehr zusammenfinden, werden sich nicht mehr austauschen ...“ Weiter schreibt Zaugg: „Restauriert, ist das Waschhaus lächerlich, grotesk. Seine wiedergewonnene alte Würde ist karnevalesk. Widersinnig sogar. Absurd. Man spürt es. Man ruft nach dem Künstler. Erwartete man von ihm, er würde ein Fresko im Halbkreis malen wie Leonardo da Vinci? Oder er würde gleich neben oder vor dem Waschhaus eine nackte Frau in Bronze kleiden à la Maillol?“ Und noch weiter: „Die selektive, einseitige Restaurierung des Waschhauses offenbart den physischen und vielleicht psychischen, sicher aber den kulturellen Verfall von allem ringsumher ... In der gegenwärtigen Situation ist die Restaurierung ein kostspieliger Luxus. Sie ist ungerechtfertigt, unnütz, asozial, gewissenlos, ja schädlich.“ Die Menschen von Blessey waren wütend, aber einige fühlten sich auch ertappt, und so begannen sie wieder zu reden und zu streiten, denn am Ende seines Briefes hatte Rémy Zaugg auch noch Folgendes geschrieben: „Dieser Restaurierung einen Sinn zu geben, das könnte die Arbeit eines Künstlers sein. Da man offenbar in selektiver Wahrnehmung besessen ist von dem restaurierten Waschhaus, betrachten wir es also von nun an als Mittelpunkt der Welt, und geben wir der Welt von diesem neuen Zentrum aus eine neue Ordnung, so dass der aberwitzige Akt der Restaurierung zu einer Normalität werden kann.“ Schließlich riefen die Menschen von Blessey wieder bei Xavier Douroux an: „Okay, vielleicht hat er ja Recht, dein Künstler. Kommt doch noch einmal vorbei.“ Douroux und Zaugg kamen und es entwickelte sich zwischen 1997 und 2006 eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Mediator Xavier Douroux, dem Künstler Rémy Zaugg und den Menschen von Blessey.
Wie unter einem Brennglas bündelt Blessey die Ideen des in Paris lebenden belgischen Fotografen François Hers, dem Gründer der Nouveaux Commanditaires. Hers hatte das Gefühl, dass der Kunst ihr großes historisches Projekt abhandengekommen war, die Verteidigung der Autonomie des Subjektes, eine über Jahrhunderte verfolgte historische, politische, philosophische Großtat, an der die Künstler als Role Models maßgeblichen Anteil hatten. Wenn Demokratien auf freien Menschen aufbauen, wie können sie dann noch Gemeinschaft schaffen?, fragte sich Hers. Und welche Rolle könnten Künstler dabei spielen? Seine Forderung lautete: „In der Vergangenheit haben wir Künstler uns den Kopf zerbrochen, was die Gesellschaft braucht. Jetzt soll uns doch die Gesellschaft einmal sagen, was sie braucht.“ Wie aber könnten die Menschen den Künstlern sagen, was sie wollen? François Hers’ Antwort war das Protokoll der Neuen Auftraggeber, das er 1990 veröffentlichte. Es beschreibt auf zwei DIN-A4-Blättern die Rollen der Akteure und ihre Verantwortung in einem Prozess, der die Entstehung von Kunstwerken jedweder Art zum Ziel hat: Die Rolle der Auftraggeber, Menschen von jedem Ort und aus jeder Klasse, die sich über die Notwendigkeit von Kunst klar werden sollen. Denn schließlich müssen sie begründen, warum die Gemeinschaft in sie investieren soll. Die Rolle der Künstler, die ohne ästhetische Einschränkungen auf die Bedürfnisse der Gesellschaft antworten sollen – und die damit akzeptieren müssen, dass künstlerisches Schaffen eine kollektive Dimension besitzt. Vor allem aber umreißt das Protokoll die Rolle des Mediators. Er ist eine neue Figur in der Kunstwelt, kein Kurator, eher Vermittler, der in die Gesellschaft hineinlauscht und ansprechbar ist für Leute, die ein Thema und ein Anliegen haben. Ihre Leistung besteht darin, Kunstwerke und Öffentlichkeit miteinander zu verbinden. Der Mediator ist in François Hers’ Protokoll von zentraler Bedeutung, denn er organisiert die Zusammenarbeit, garantiert, dass alle gleichberechtigt Verantwortung übernehmen und Konflikte durch Verhandlungen gelöst werden.
„In der Vergangenheit haben wir Künstler uns den Kopf zerbrochen, was die Gesellschaft braucht. Jetzt soll uns doch die Gesellschaft einmal sagen, was sie braucht.“ François Hers
Rémy Zaugg – den ursprünglichen Auftrag auch harsch zurückweisen. Die Künstler behalten ihre Autonomie, die Bürger ihre sowieso, und wenn es nicht zusammen klappt, dann hat die Beziehung eben nicht funktioniert. Nur wenige Aufträge aber platzen tatsächlich, denn nicht nur sind da die Mediatoren, die im Notfall vermitteln, vielmehr schätzen die meisten Künstler zu sehr das Engagement und die Sorgfalt ihrer Auftraggeber, ihren Eifer und ihre Ausdauer. Und so kommt es oft zu unwahrscheinlichen Konstellationen wie der zwischen dem Schweizer Konzeptkünstler Rémy Zaugg und den Menschen in Blessey. In vielen Besuchen entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis und Rémy Zaugg veränderte den Blick der Menschen auf ihr Dorf und schließlich Stück für Stück den Ort selbst. Alte Gebäude wurden abgerissen, Wege verlegt, Mauern verschoben, es entstanden neue Räume, freigelegte Sichtachsen, der Horizont um Blessey öffnete sich. Am Ende wünschte sich Rémy Zaugg einen See hinter dem Waschhaus. Und obwohl dafür Bauern Land opfern mussten, In Frankreich fördert die Foundation de entstand schließlich dieser See, eingefasst France seit den 90er Jahren die Nouveaux von einer eleganten Betonmauer, auf der in Commanditaires. Auslöser vieler Projekte regelmäßigen Abständen Worte schimmern, sind soziale, politische und kulturelle The- wie ein konkretes Gedicht an die Landschaft: men, die andere gesellschaftliche Institutio- arbre, murmure, cailloux, reflet, sauvanen außer Acht lassen, die für die Menschen gine – Baum, Rauschen, Kiesel, Spiegelbild, von Bedeutung sind. Das Ziel ist Auftrags- Wasservogel. kunst aus und für die Gesellschaft. Dabei sollen die Künstler nicht zu Dienstleistern Alles scheint auf einem guten Weg. Die Menwerden, sie treten mit ihren Auftraggebern schen in Blessey sagen, dass sie sich früher in einen Dialog. Dabei können sie – siehe nichts zugetraut hätten und heute alles. Für den Soziologen und Philosophen Bruno Latour haben die Nouveaux Commanditaires ein neues Kapitel der Kunst- und der Sozialgeschichte in Frankreich aufgeschlagen. Es ist ein kulturpolitisches Novum, dass Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft die Nachfolge privater und öffentlicher Patrone antreten und das Entstehen zeitgenössischer Kultur zu ihrer eigenen Sache machen. Man kann es auch so sagen: Nicht mehr Napoleon oder die Medici, sondern Jean-Louis Bornier oder Christine Lacombe aus Blessey können nun Kunst in Auftrag geben. In gemeinsamer Verantwortung werden kulturelle Güter geschaffen, die im Alltag der Menschen verankert sind. In François Hers’ Protokoll heißt es am Ende: „Das Kunstwerk wird zum Gemeinschaftseigentum. Sein Wert entspricht nicht mehr dem Marktwert, sondern liegt in dem Gebrauch, den die Gemeinschaft von ihm macht, und in der symbolischen Relevanz, die sie ihm beimisst.“
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Zur Next Library ℗ Conference werden Bibliotheksfachleute aus aller Welt erwartet, die zukünftige Entwicklungen in ihrem Metier und ihren Häusern diskutieren. Öffentliche Bibliotheken sind dabei, ihr Selbstverständnis zu überdenken, ihre Rolle in der Stadtgesellschaft neu zu definieren und ihre Position innerhalb der Kulturinstitutionen zu justieren. Als sogenannte Dritte Orte bergen sie ein erhebliches Potenzial zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, die durch demografischen und technologischen Wandel herausgefordert wird. Die Kulturstiftung des Bundes veranstaltet zusammen mit der Zentral- und Landesbibliothek Berlin die Next Library ℗ Conference. Darüber hinaus hat sie ein mehrjähriges und bundesweites Programm zur Entwicklung von Stadt- und Gemeindebibliotheken aufgelegt: Für hochdrei stellt sie 5,6 Mio. Euro zur Verfügung.
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Wahlverwandte Volker Heller im Gespräch mit Thomas Krüger über Bibliotheken als Orte der Demokratie
Volker Heller ist Direktor der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Thomas Krüger ist Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und Mitglied im Beirat der Next Library ℗ Conference.
Thomas Krüger Wir verstehen Bibliotheken als Orte, in denen das Teilen von Wissen im Vordergrund steht. Es geht nicht (mehr) nur darum, Wissen zu akkumulieren und Wissen zu transferieren, sondern Bibliotheken bieten den Nutzenden heute auch die Möglichkeit, Ko-Akteur oder auch Ko-Produzent zu werden. Deshalb finde ich die Bibliotheken interessant, die Aufenthaltsqualität und Vernetzungsmöglichkeiten gewähren. Bibliotheken sind hinsichtlich ihres Images unterschätzt, obwohl sie eigentlich vom kulturellen Transfer her auf Augenhöhe mit Theatern und Opernhäusern zu sehen sind. Sie sind ökonomisch sogar viel zugänglicher. Volker Heller Es gibt keinen anderen öffentlichen, von der Stadt getragenen Ort, der so stark frequentiert wird wie Öffentliche Bibliotheken. Die Reichweite der Bibliotheken zeigt sich sowohl quantitativ in der unglaublich hohen Anzahl der Besuche als auch qualitativ, nämlich im Abbild der Diversität von Stadtgesellschaft. Aber die städtische Politik ist sich dieser enormen Reichweite oft wenig bewusst, die Potenziale der Bibliotheksinfrastruktur werden dort oft massiv unterschätzt. TK Ich glaube, dass ein physischer Ort für Bibliotheken immens wichtig ist. Angesichts der zahlreichen Nutzungsmöglichkeiten muss eigentlich im öffentlichen Diskurs stärker betont werden, dass Bibliotheken Teil öffentlicher Daseinsvorsorge sind bzw. sein sollten. Artikel 72 Grundgesetz spricht von gleichwertigen Lebensverhältnissen, das heißt, geteilte Wissensbestände müssen überall zugänglich sein. Eine ganz klare Adresse an die politische Wertschätzung von Bibliothek gerade im ländlichen Raum. VH Ich möchte noch ein Stückchen weiter gehen. Angesichts der immensen Besuchsfrequenz und ihrer Reichweite in die jeweiligen
ökonomien zu werden? Das aktive Kuratieren ist für Bibliothekarinnen aus dem traditionellen Berufsbild heraus eine neue Herausforderung. Und die wird noch größer, wenn es darum geht, interessiertes Publikum in das Kuratieren einzubeziehen.
lokalen Gesellschaften kann die Öffentliche Bibliothek ein den Werten von Aufklärung und liberaler Demokratie verpflichteter Resonanzraum für kommunale Themen und Diskurse sein. Immer angereichert natürlich über die Wissenszugänge, die wir in Bibliotheken bieten, um sich im Sinne eines Faktenchecks zu vergewissern. So bietet Bibliothek ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen Orten, an denen Menschen miteinander kommunizieren. Wissen kann geteilt, aber eben auch überprüft werden. Das „sharing knowledge“ macht den Reiz lebendiger Bibliotheksarbeit aus. TK Die Kulturtechniken, mit Wissen umzugehen, haben sich durch die Digitalisierung dramatisch verändert. Eine Riesenherausforderung für die klassische Bibliothek. Bibliothekare arbeiten heute nicht nur als Lektoren, sondern zugleich als Kuratoren, nicht nur als diejenigen, die Medien verwalten, ordnen, katalogisieren; sondern sie beraten, sind Ansprechpersonen für das Auffinden von Wissen, sind Navigatorinnen. Das Berufsbild muss dieser Bewegung folgen und Fertigkeiten und Selbstverständnis auf mobil gewordenes Wissen anwenden sowie die Kreativität von Bibliothek noch einmal komplett neu definieren und die Potenziale, die in diesen Wissensbeständen schlummern, auf- und zum Leben erwecken. Die demokratische Qualität von Bibliotheken macht ihren Reiz und Wert aus. Der Bürger, die Bürgerin von heute sind eben nicht unmündig, sondern sie sind aufgeklärte Teilhabende an den öffentlichen Ressourcen, ja, sie steuern als Produzenten ständig neues Wissen bei. Sie nehmen teil an dem, was wir Wissensallmende nennen. Wissensallmende ohne aktive Nutzende ist überhaupt nicht vorstellbar. Es geht also um eine Infrastruktur, die an jedem Ort da sein muss, wo Menschen leben und gemeinsam kommunizieren, ihr Leben gestalten, streiten, Interessen verfolgen. Biblio-
Institutionen als Stabilisatoren globaler demokratischer heterogener Gesellschaften können ein Gewinn sein. Der Fluch ist, dass Institutionen in ihren Hamsterrädern, in ihrer eigenen Routine sehr oft wie eine „Monade“ funktionieren, eine fensterlose Monade nach Leibniz. Sie sehen nicht, was außen um TK Wir reden hier über Bibliotheken auch vor sie herum passiert und setzen sich trotzdem dem Hintergrund des Programms „hochdrei“, in Beziehung. Institutionen kommen dann als mit dem die Kulturstiftung des Bundes breit unbeweglich, als innovationsfeindlich in den angelegt Stadtbibliotheken fördert, unter Blick. Daran muss man arbeiten. anderem durch Exkursionen in andere europäische Länder. Da stellen sich die Fragen VH Also alles eine besondere Frage der Bavon Diskurs, von Benchmarking im positiven lance. Wie viel des institutionellen KatechisSinne. Wir lernen mehr über Wissenskultu- mus’ ist unverzichtbar für das Fundament ren in Dänemark oder in den Niederlanden unserer Arbeit, und wie viel Reformation oder in den Vereinigten Staaten oder in Ka- braucht es, um die gesellschaftliche Relevanz nada. Das kann sehr impulsreich sein und in einer sich rapide verändernden Welt zu beunsere Blicke öffnen. halten? Wie balanciere ich all das am Ende so aus, dass einer der wesentlichsten Grund VH Wobei ich mich frage, warum die Deut- werte von Bibliothek erhalten bleibt, nämlich schen sich im internationalen Vergleich das Vertrauen unserer Nutzerinnen in das eher schwertun damit, neue, auch experi- Nichtmanipulative unserer Arbeit? Man liest mentelle Formen der Wissensvermittlung viel über „Lügenpresse“ und viele öffentliche in Bibliotheken zuzulassen und voranzu- Institutionen werden aus demokratiefeindtreiben. Auch deshalb machen wir gemein- licher Perspektive angegriffen. Bibliotheken sam mit der Kulturstiftung des Bundes im gehören interessanterweise kaum dazu. September diesen Jahres die Next Library ℗ Conference. TK Wobei jede Fake News auch in Bibliotheken zu finden ist … ist richtig. Die Bibliothek ist in Deutsch TK Das land viel institutionsträchtiger als in ande- VH Das sicherlich, aber es ist sofort auch ren Ländern, wo oftmals eine viel größere Vo- ein Gegengewicht, eine Gegenposition dazu latilität und Experimentierfreude und Krea- zu finden. Diese Heterogenität von Wissenstivität vorhanden ist, Wissen zu arrangieren zugängen, die wir bieten, und vielleicht auch und zugänglich zu machen. Das ist Fluch und die Unaufgeregtheit, mit der wir das präsenSegen zugleich. Wir unterschätzen, wie wich- tieren, ist etwas Besonderes. Die Verlässtig verlässliche Institutionsinfrastruktur ist. lichkeit, die wir als Institution ausstrahlen,
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thek kann ein Ort der Verhandlung, der Wissensgenerierung, des Wissenteilens sein. Deshalb glaube ich an die innovative Bibliothek im ländlichen Raum als den Ernstfall der Zukunft der Bibliothek. Wenn Wissen mobil wird und nicht mehr nur als Artefakt physisch aufbewahrt wird, dann ist die Verständigung darüber, was das ausmacht, mit dieser Debatte unmittelbar verknüpft. Die Leute kommen trotzdem weiter in die Bibliothek. Meine Hypothese ist, dass sich das Internet heute zu großen Teilen als eine Affektmaschine zeigt. Wissen tritt im Kampf um Sichtbarkeit hinter affektive Inhalte zurück. Wir bestimmen nicht mehr selbst, was wir suchen, was uns empfohlen wird. Das heißt, wir werden nicht über unsere eigenen Kontexte durchs Internet geführt, sondern über Kulturalisierung, Effekte der Ästhetisierung, die an uns herangetragen werden. Und übrigens: Wir sprechen so viel über Wissen. Es geht auch um Literatur als Kunstgattung, die aufgrund der Urheberrechtssituation keinesfalls uneingeschränkt digital zugänglich ist. Bibliotheken machen auch Literatur für diejenigen zugänglich, für die monatliche Bücherkäufe nicht denkbar sind. Dies betrifft auch Kinder und Jugendliche. Gute Literatur eröffnet alternative Denkund Gefühlswelten, wodurch in einer pluralistischen Gesellschaft Verständnis und Empathie für andere geweckt wird. Das ist ein wichtiger Beitrag zu politischer Bildung. VH Bibliotheken unterstützen ja auch das Serendipitätsprinzip, wenn ich durch vielfältige Wissenszugänge mäandere und zu neuen, ungeahnten Erkenntnissen und Inspirationen getragen werde. Und daraus erwächst auch besondere Verantwortung: Welches Buch stelle ich neben ein anderes? Wie kuratiere ich einen Themenzusammenhang? Wie arrangiere ich Wissen? Und wie geht die Bibliothek mit dem Risiko um, selber Teil dieser Kulturalisierungs- und Affekt-
ist ein enorm hohes Gut in aufgeregten überaffektierten Zeiten. TK Das ist ein bemerkenswerter Befund. Wenn man sich klar macht, dass die klassischen Kulturalisierungsmaschinen von Theatern über Tageszeitungen bis hin zu Meinungsbildungsmaschinen im politischen Raum fast alle unter Verdacht geraten sind, aber die Bibliothek eben nicht. Da wird es interessant einmal durchzudeklinieren, ob es hier noch Geschwister gibt, die ebenfalls nicht unter Verdacht geraten. Im Sinne der Wahlverwandten bei Goethe. Zentral ist, dass sich die Bibliotheken an den Metadiskursen der anderen Kultureinrichtungen weiter beteiligen. Da geht es beispielsweise seit einigen Jahren um Öffnung, Partizipation und Einbeziehung von Bürgerinnen in Konzeption und Auswahl von Angeboten. Dort, wo frühere „Zielgruppen“ oder Adressaten mitkuratieren, wird die Verantwortung deutlich, die in der Präsentation von Wissen steckt. Solche Verantwortung gründet auf Vertrauen und einer gesellschaftlichen Solidarität in dem Sinne, dass wir gesellschaftlich nur dann weiterkommen, wenn wir kooperativ und ko-kreativ füreinander und nicht gegeneinander arbeiten. Umgekehrt stärkt es die Akteure, wenn sie zu Ko-Kuratorinnen und Ko-Produzenten von Kultur werden. Wenn dies schon für Schüler mitgedacht wird, hat die Bibliothek nicht nur eine diskursive, sondern auch eine soziale Funktion, denn sie kann auch unterschiedliche Zugangschancen zu Kultur besser ausgleichen als die hochkarätigen Musentempel.
hochdrei
Stadtbibliotheken verändern Öffentliche Bibliotheken des ��. Jahrhunderts sind mehr als Orte des Lesens und der Ausleihe von Büchern. Sie sind zunehmend Umschlagpunkte für offene Fragen, provozierende Erkenntnisse, ungewöhnliche Einfälle – auf Augenhöhe mit Theatern, Museen, Konzertsälen und Galerien. Wie kaum ein anderer Ort machen sie kulturelle, soziale und digitale Teilhabe gemeinwohlorientiert und generationenübergreifend möglich. Mit ihrem neuen Förderprogramm „hochdrei“ will die Kulturstiftung des Bundes diese neue Handlungsrolle von Stadtbibliotheken in Deutschland würdigen. Ein antragsoffener Fonds wird innovative Projekte von Stadtbibliotheken fördern, die dazu beitragen, diese als offene Orte der Begegnung zu etablieren. Zudem wird „hochdrei“ mit Werkstätten, Exkursionen, einer Akademie und einem Online-Tool die Wissensweitergabe sowie die Vernetzung und den internationalen Erfahrungsaustausch zwischen den Bibliotheken befördern. Die Kulturstiftung desBundes fördert das Programm für Stadtbibliotheken in den Jahren 20�8 bis 2022 mit 5,6 Mio. Euro. → www.kulturstiftung-bund.de/ hochdrei
Next Library ℗ Conference Amerika-Gedenkbibliothek, Berlin 12.— 15. 9. 2018 Die Next Library ℗ Conference war 2009 Ausgangspunkt der Neugestaltung der innovativen Stadtbibliothek Aarhus und ist seitdem eine der wichtigsten internationalen Konferenzen für Öffentliche Bibliotheken. Unter dem Motto „Encourage the unexpected“ findet sie im September 20�8 zum ersten und einzigen Mal in Berlin statt, gemeinsam durchgeführt von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) und der Kulturstiftung des Bundes. Zentrales Thema ist die neue Rolle von Bibliotheken als Motoren gesellschaftlichen Wandels und Orte der Vermittlung städtischer Vielfalt. Die interdisziplinäre Konferenz wird den Entwicklungsstand zeitgemäßer Bibliotheksarbeit aufzeigen und bietet internationalen Akteuren Gelegenheit zur Vernetzung. Ein Bibliothekscampus an der Amerika-Gedenkbibliothek mit mobilen Bauten unterstützt den Werkstattcharakter der Konferenz und lädt die Stadtbevölkerung zur Beteiligung ein. Next Library ℗ Conference – Internationale Zukunftskonferenz für Öffentliche Bibliotheken ist eine Veranstaltung der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) und der Kulturstiftung des Bundes in Kooperation mit Kulturprojekte Berlin GmbH und Aarhus Public Libraries. Next Library ℗ Berlin ist eine Sonderveranstaltung von Next Library ℗ Aarhus. → www.kulturstiftung-bund.de/ nlc
#gefördert as ist neu W in der Stiftung ? V om Stiftungsrat in seiner jüngsten Sitzung am 20. Juni 2018 bewilligt Kultur digital Das Programm Kultur digital fördert die Entwicklung und Umsetzung digitaler Vorhaben in den Bereichen digitales Kuratieren, künstlerische Produktion, Vermittlung und Kommunikation in Kulturinstitutionen jeglicher Sparten. Die Häuser arbeiten im projektbezogenen Verbund von mindestens zwei Kultureinrichtungen sowie mit Expertinnen für Digitales zusammen, um sich neue Kompetenzen anzueignen, Wissen und Inhalte auszutauschen und in offenen Netzwerken zu veröffentlichen. Ab Herbst 2018 können dafür Anträge für bis zu 880.000 Euro pro Verbund im Fonds digital gestellt werden. Außerdem wird bis 2022 achtmal der Kultur-Hackathon Coding da Vinci bundesweit an wechselnden Standorten ausgerichtet, um weniger erfahrenen Kultureinrichtungen Einblicke in die Möglichkeiten digitaler Technologien zu geben. Als drittes Vorhaben im Rahmen des Programms Kultur digital werden in den Jahren 2019 bis 2021 insgesamt 54 Künstlerstipendien für Theaterschaffende an der in Gründung befindlichen Akademie für Digitalität und Theater, einer gemeinsamen Initiative des Theater Dortmund, des Landes NRW und der Stadt Dortmund, gefördert. Für das Programm Kultur digital stellt die Kulturstiftung des Bundes bis 2024 insgesamt 18 Mio. Euro bereit. → www.kulturstiftung-bund.de/ kulturdigital
Musik des Globalen Südens
Atlas der Sternenhimmel
Aufstockung Fonds Doppelpass
Aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Donaueschinger Musiktage im Jahr 2021 fördert die Kulturstiftung des Bundes ein drei Jahre währendes umfängliches Konzertprojekt zur Musik des Globalen Südens. Von Ländern auf dem afrikanischen Kontinent, der Region Südostasien oder dem iberoamerikanischen Raum gehen zahlreiche Impulse für die Neue Musik aus, die in den deutschen Musikszenen relativ wenig Beachtung finden. Nach intensiver Recherche sollen zehn Kompositionsaufträge vergeben und drei Ensembles aus diesen Weltgegenden zum Jubiläum nach Donaueschingen eingeladen werden. Die Donaueschinger Musiktage erhalten dafür 385.000 Euro.
Das Projekt Atlas der Sternenhimmel widmet sich der Erforschung, Dokumentation und digitalen Präsentation der Sternenhimmel und ihrer Deutung in den verschiedenen Kulturen. Die von dem Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott aus aller Welt zusammengetragenen Erzählungen bilden die Grundlage für die Entwicklung eines digitalen Erzählformats für sphärische Kuppelprojektionen, das weltweit in Planetarien gezeigt werden kann. Die Kooperation der Stiftung Planetarium Berlin mit der auf Medieninszenierungen spezialisierten Agentur TRIAD garantieren Full-Dome-Präsentationen auf dem neuesten Stand der als Open Source frei zugänglichen Technologie von Planetarien. Für dieses Projekt stellt die Kulturstiftung des Bundes im Zeitraum 2018 bis 2023 insgesamt 955.000 Euro zur Verfügung.
Die Nachfrage nach Förderungen im 2011 gegründeten Fonds Doppelpass für Kooperationen im Theater zwischen festen Häusern und freier Szene ist durch die Erweiterung um internationale Partnerschaften im Jahr 2016 noch einmal enorm gestiegen. Deshalb wird der Fonds um 3,3 Mio. Euro bis 2022 aufgestockt. Bisher wurden bereits 85 Kooperationen in diesem Fonds gefördert. Insgesamt wurden damit nun 22,1 Mio. Euro für den Theaterfonds bereitgestellt.
→ www.kulturstiftung-bund.de/ musikglobalersueden
→ www.kulturstiftung-bund.de/ doppelpass
→ www.kulturstiftung-bund.de/ sternenhimmel
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Die neuesten Entscheidungen der Fachjurys in den Fonds Fonds Bauhaus heute Unter den 14 neuen Projekten der zweiten und letzten Antragsrunde im Fonds Bauhaus heute sind ein Ausstellungsvorhaben des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg und des Museums für Konkrete Kunst Ingolstadt, ein Forschungsprojekt von The White City Center, Israel, Festivals der Folkwang Universität der Künste und des Deutschen Schauspielhaus Hamburg sowie ein Performance-Projekt des Berliner Ensembles mit Nico and the Navigators. Damit werden in dem 2016 eingerichteten Fonds Bauhaus heute insgesamt 23 Vorhaben zur zeitgenössischen Relevanz des Bauhaus mit insgesamt 4,2 Mio. Euro gefördert.
Stadtgefährten
D oppelpass
Auch in der dritten und letzten Förderrunde des Fonds Stadtgefährten sind Vorhaben aus ganz Deutschland dabei, mit beteiligten Museen u.a. in Esslingen, Halle, Schwerin, Aschersleben, Hameln und Recklinghausen. Die Jury empfahl 19 neue Projekte, die gemeinsam mit Partnern Themen bearbeiten und Perspektiven ins Museum bringen, die dort bisher kaum vorkamen. Damit fördert der Fonds insgesamt 39 Vorhaben von Stadt- und Regionalmuseen seit seinem Start im Jahr 2015. Der Fonds wurde mit insgesamt 6,5 Mio. Euro ausgestattet.
Ein breites Spektrum an Vorhaben aus allen Sparten und Partnerschaften unterschiedlicher Größenordnungen wurde von der Doppelpass-Jury auf ihrer jüngsten Sitzung zur Förderung empfohlen. Unter den mit insgesamt 6 Mio. Euro geförderten 26 neuen Projekten sind eine Kooperation zwischen suite42, dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg und dem Zoukak Studio Theatre (Beirut, Libanon), ein Projekt der Gruppe CyberRäuber mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe und dem Landestheater Linz (Österreich) sowie ein gemeinsames Vorhaben der Tanzkompanie backsteinhaus produktion mit dem Theater Rampe Stuttgart und dem Theater Lübeck.
Fonds für Stadtmuseen
→ www.kulturstiftung-bund.de/ stadtmuseum
→ www.kulturstiftung-bund.de/ bauhaus/20�9
TURN
Fonds für künstlerische Kooperationen zwischen Deutschland und afrikanischen Ländern
In seiner siebten und letzten Förderrunde hat die Jury des Fonds TURN 16 neue künstlerische Kooperationsprojekte zwischen deutschen Einrichtungen und Partnern aus afrikanischen Ländern zur Förderung empfohlen. Unter den geförderten Kooperationen aus verschiedenen Sparten sind u.a. vertreten das Thalia Theater Hamburg mit dem College of the Arts in Windhoek (Namibia), das Literaturhaus Stuttgart mit dem Espace Culturel Gambidi in Ouagadougou (Burkina Faso), das Podium Festival Esslingen mit den Studios Kabako in Kisangani (DRC), SAVVY Contemporary in Berlin mit Picha in Lubumbashi (DRC) sowie das Kunstgewerbemuseum in Berlin mit Wakh’Art in Dakar (Senegal). Seit seiner Einrichtung im Jahr 2012 hat der Fonds TURN damit insgesamt 101 Projekte gefördert, wofür er mit insgesamt 14,2 Mio Euro ausgestattet wurde. → www.kulturstiftung-bund.de/ afrika/turn
Fonds für Kooperationen im Theater
→ www.kulturstiftung-bund.de/ doppelpass
Fonds Neue Länder Bereits im Jahr ihrer Gründung 2002 richtete die Kulturstiftung des Bundes den „Fonds zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements für die Kultur in den neuen Bundesländern“ (kurz: Fonds Neue Länder) ein. Die Unterstützung im Fonds erfolgt auf dem Wege einer „aufsuchenden Förderung“ und gründet auf umfänglichen Recherchen vor Ort. Bislang wurden im Fonds Neue Länder rund 230 Initiativen gefördert, die sich auf lokaler und regionaler Ebene kulturell engagieren. Zu den zuletzt ausgewählten Förderprojekten zählen Vorhaben der Essenzen-Fabrik Zerbst sowie der Kulturvereine Ribbeck, hr.fleischer aus Halle, re:form aus Oranienburg und interaction Leipzig.
Einreichtermine für antragsgebundene Förderung 15. 11. 2018 D oppelpass
Fonds für Kooperationen im Theater
ochdrei 30. 11.2018 h
→ www.kulturstiftung-bund.de/ fnl
Stadtbibliotheken verändern
31. 1.2019 Allgemeine Projektförderung
Nachrichten aus den Programmen RomArchive Das digitale Archiv der Sinti und Roma präsentiert ab Januar 2019 Künste und Kulturen von Sinti und Roma und veranschaulicht ihren Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte. Die ArchivWebseite schafft durch von Roma und Sinti selbst erzählte Gegengeschichten eine verlässliche Wissensquelle, die Stereotypen und Vorurteilen mit Fakten begegnet und den Reichtum der Künste sichtbar macht. Vom 24. bis 27. Januar wird der Start von RomArchive mit einem Eröffnungsfestival in der Berliner Akademie der Künste gefeiert. Bis dahin begleitet der Projektblog die Arbeit der Projektbeteiligten. Die Kulturstiftung des Bundes fördert RomArchive mit insgesamt 3,7 Mio. Euro. → blog.romarchive.eu
hochdrei
Stadtbibliotheken verändern Mit ihrem neuen Förderprogramm hochdrei verändern will die Kulturstiftung des Bundes die Bibliotheken in ihrer Rolle als kooperationsfreudige und teilhabeorientierte Kulturorte stärken. Neben vier weiteren Programmmodulen wird ein antragsoffener Fonds innovative Projekte von Stadtbibliotheken fördern, die dazu beitragen, diese als offene Orte der Begegnung zu etablieren. Antragsschluss der ersten Förderrunde ist der 30. November 2018. Die Förderkriterien sind auf unserer Website einzusehen. Die Kulturstiftung des Bundes fördert das Programm hochdrei in den Jahren 2018 bis 2022 mit insgesamt 5,6 Mio. Euro. → www.kulturstiftung-bund.de/ hochdrei
lab.Bode
Initiative zur Stärkung der Vermittlungsarbeit in Museen Nach der letzten Antragsrunde stehen nun 23 Museen fest, die am Volontärsprogramm von lab.Bode teilnehmen. Auf Empfehlung der Fachjury erhalten u.a. das Lindenau-Museum Altenburg, die Kunsthalle Bremen, das Brücke-Museum Berlin, das Folkwang Museum Essen und die Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig eine Förderung für wissenschaftliche Volontariate im Bereich Bildung und Vermittlung. lab.Bode läuft bis 2020 und erhält insgesamt 5,6 Mio. Euro. → www.kulturstiftung-bund.de/ lab.bode
Kulturstiftung des Bundes
Stiftungsrat
Stiftungsbeirat
Die Stiftung
Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kulturstiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre.
Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungstätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten.
Vorstand Hortensia Völckers Künstlerische Direktorin Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor
Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts, Vorsitzender des Stiftungsbeirats
Sekretariate Beatrix Kluge, Beate Ollesch (Büro Berlin), Christine Werner
Vorsitzende des Stiftungsrates Prof. Monika Grütters Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
Prof. Markus Hilgert Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder
Referent des Vorstands Dr. Lutz Nitsche
für das Auswärtige Amt Michelle Müntefering Staatsministerin für internationale Kulturpolitik für das Bundesministerium der Finanzen Bettina Hagedorn Parlamentarische Staatssekretärin
Prof. Ulrich Khuon Präsident des Deutschen Bühnenvereins Prof. Dr. Eckart Köhne Präsident des Deutschen Museumsbunds Prof. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats Dr. Franziska Nentwig Geschäftsführerin des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI
für den Deutschen Bundestag Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident a.D. Burkhard Blienert Entsandter des Deutschen Bundestags Marco Wanderwitz Bundestagsabgeordneter
Regula Venske Präsidentin PEN-Zentrum Deutschland
als Vertreter der Länder Rainer Robra Staats- und Kulturminister, Chef der Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt Dr. Eva-Maria Stange Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen
Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di Olaf Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats
Jurys und Kuratorien
als Vertreter der Kommunen Klaus Hebborn Beigeordneter, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund
Rund 50 Experten aus Wissenschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstiftung des Bundes in verschiedenen fach- und themenspezifischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter www.kulturstiftung-bund.de bei den entsprechenden Projekten.
als Vorsitzender des Stiftungsrates der Kulturstiftung der Länder Tobias Hans Ministerpräsident des Saarlandes
Justitiariat / Vertragsabteilung Christian Plodeck (Justitiar), Anja Petzold Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel (Leitung), Tinatin Eppmann, Simone Henninger, Bijan Kafi, Bosse Klama, Juliane Köber, Julia Mai, Anja Piske, Christoph Sauerbrey, Arite Studier, Therese Teutsch Förderung und Programme Kirsten Haß (Leitung), Dr. Marie Cathleen Haff (Leitung Allgemeine Projektförderung), Dr. Sebastian Brünger, Teresa Darian, Anne Fleckstein, Antonia Lahmé, Oliver Luckner, Carl Philipp Nies, Uta Schnell, Hassan Soilihi Mzé, Max Upravitelev, Friederike Zobel, Anna Zosik Programm-Management und Evaluation Ursula Bongaerts (Leitung), Marius Bunk, Lucie Chwaszcza, Marcel Gärtner, Katrin Gayda, Bärbel Hejkal, Sarah Holstein, Constanze Kaplick, Steffi Khazhueva, Dörte Koch, Anja Lehmann, Richard Sachse, Saskia Seidel, Antje Wagner Projektprüfung Steffen Schille (Leitung), Franziska Gollub, Frank Lehmann, Fabian Märtin Verwaltung Andreas Heimann (Leitung), Margit Ducke, Maik Jacob, Steffen Rothe Auszubildender Basel Khadir Omar
als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur Prof. Dr. Bénédicte Savoy Professorin für Kunstgeschichte Dr. Hartwig Fischer Direktor des British Museum Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe
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Impressum
Wenn Sie dieses Magazin regelmäßig beziehen möchten, können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website unter www.kulturstiftung-bund.de/ magazinbestellung aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, erreichen Sie uns auch telefonisch unter +49 (0) 345 2997 131. Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf!
Herausgeber Kulturstiftung des Bundes Franckeplatz 2 / 06110 Halle an der Saale Tel. +49 (0) 345 2997 0 / Fax +49 (0) 345 2997 333 info @ kulturstiftung-bund.de www.kulturstiftung-bund.de
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Die Kulturstiftung des Bundes wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes – alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes. Vorstand Hortensia Völckers / Alexander Farenholtz (verantwortlich für den Inhalt) Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Schlussredaktion Christoph Sauerbrey
Einzelne Beiträge des Magazins Nr. 31 können Sie auch in englischer Sprache abrufen unter www.kulturstiftung-bund.de/magazine.
Gestaltung Bureau David Voss Schriften Dialogue von Manuel von Gebhardi, Oracle von Dinamo
online Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Programme der Stiftung, die Förderanträge und geförderten Projekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns unter
Lithografie Marius Brüggen Druck Mundschenk Druck+Medien
Redaktionsschluss 9. Juli 2018
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Bildnachweis Michael Wang, außer 01a: Delfino Sisto Legnani & Marco Cappelletti Auflage 26.000
Michael Wang Extinct in the Wild Mehr zur Bildstrecke → ��
Ea U.S. Route �0�, Presidio-Park, San Francisco, USA. Letzter natürlicher Lebensraum von Arctostaphylos franciscana. Eb Arctostaphylos franciscana. Regional Parks Botanic Garden, Berkeley Hills, Kalifornien, USA
Fa
Kahanahāiki, Wai’anae-Gebirge, Hawaii, USA. Kultivierte Cyanea superba wurden von der US-Armee dort gepflanzt, wo diese einst natürlich vorkamen. Fb Cyanea superba, Pahole Rare Plant Facility, Hawaii, USA.
Ga Nanhaizi Park, Peking, China. An diesem Ort wurde die letzte freilebende Herde Davidshirsche (Elaphurus davidianus) während des Boxeraufstands im Jahr �900 geschossen. Gb Davidshirsch (Elaphurus davidianus), Nanhaizi Milu Yuan, Peking, China.
Ha Pia Tal, Honolulu, Hawaii, USA. Die letzten freilebenden Hawaiianischen Baumschnecken wurden hier nach einem Erdrutsch in ein Zuchtprogramm aufgenommen. Hb Achatinella fulgens, Zuchtlabor für Hawaiianische Baumschnecken, Kailua, Hawaii, USA.
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Die interdisziplinäre Jury der Allgemeinen Projektförderung hat auf ihrer letzten Sitzung im Frühjahr 2018 25 neue Förderprojekte ausgewählt. Die Fördersumme beträgt insgesamt 4 Mio. Euro. Ausführlichere Informationen zu den einzelnen Projekten finden Sie auf unserer Webseite www.kulturstiftung-bund.de oder auf den Webseiten der geförderten Projekte.
John Heartfield FLORAPHILIA Photographie plus Dynamit
Der Grafikdesigner, Typograf, Trickfilmkünstler und Bühnenbildner John Heartfield (1891– 1968) war Begründer und Wegbereiter des Prinzips der Montage. Seine Arbeiten stellten Die Mitglieder der Jury sind: Dr. Manuel Gogos (Autor die Initialzündung für die Entwicklung dieund Ausstellungsmacher), Björn Gottstein (Leiter der Donaueschinger Musiktage), Bart van der Heide ses wirkmächtigen bildrhetorischen Verfah(Chef-Kurator des Stedelijk Museums in Amsterdam), rens dar, das heute in Form digital bearbeiteSabine Himmelsbach (Leiterin Haus für elektronische Künste Basel), Wolfgang Hörner (Leiter des ter Fotos und Meme eine Renaissance erfährt. Verlags Galiani Berlin), Prof. Dr. Gerald Siegmund Insbesondere Heartfields satirische, den Na(Direktor des Instituts für Angewandte Theatertionalsozialismus entlarvende Fotomontawissenschaft der Universität Gießen), Susanne Titz (Direktorin des Museums Abteiberg in Mönchengen haben nichts von ihrer künstlerischen gladbach), Almut Wagner (Geschäftsführende DraSprengkraft eingebüßt, sie sind – wie es der maturgin Schauspiel am Theater Basel) Kritiker Adolf Behne formulierte – „Photographie plus Dynamit“. Die Ausstellung in der Akademie der Künste greift auf das digital erfasste bildkünstlerische Werk Heartfields zurück und untersucht die Bildmontage als ästhetisches Modellverfahren. Inwiefern hat sich die Montagetechnik für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität etabliert? Welche „Wahrheit“ transportieren Bilder im Zeitalter von „networked“ und „algorithmic images“? Vor dem Hintergrund dieser Fragen möchte die Ausstellung die „revolutionäre Schönheit“ (Louis Aragon) und katalysatorische Wirkung seines Œuvres sowie sein persönliches Lebensumfeld vorstellen. Denn Heartfields Kunst entstand selten im Alleingang; zu seinen Weggefährtinnen und Arbeitskollegen gehören u.a. Hannah Höch, George Grosz, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky und Erwin Piscator. Auch ästhetische Bezüge zwischen John Heartfield, Aby Warburg oder Jeff Wall werden untersucht. Neben Schlüsselwerken präsentiert die Schau dabei überraschende Archivfunde wie noch nicht publizierte Interviews, Fotografien und Filmsequenzen. Begleitet und ergänzt wird das Projekt durch Die Psyche als Schauplatz des die virtuelle Ausstellung „Kosmos Heartfield“, Politischen einen Onlinekatalog und ein umfangreiches Im Zentrum der international ausgerichteten Vermittlungsprogramm. Ausstellung „Mentale Modelle“ steht die The www.adk.de se, dass sich die politische Lebenswirklich- → Künstlerische Leitung: Rosa von der Schulenburg keit in der Psyche jedes Einzelnen widerspieKurator/innen: Angela Lammert, Rosa von der Schulengelt. Künstler verarbeiten demnach – auch burg, Anna Schultz Komponistin: Anda Kryeziu (AL) Michael Krejsa, Stephan Dörschel, unbewusst – einschneidende politische Er- Katalogautor/innen: Erdmut Wizisla, Heiko Hübner, Vera Chiquet (CH), eignisse, die in ihren Arbeiten einen indivi- David Evans (GB), Andrés Mario Zervignon (US), Piotr Rypson (PL), Judith Joos (CH), Siegfried Lokatis, duell-ästhetischen Ausdruck finden. Uwe Sonnenberg u.a. Akademie der Künste, Berlin: Die Schau der Staatlichen Kunsthalle Ba- ��. �. – 23. �. 20�9 den-Baden versammelt Positionen amerikanischer und afrikanischer, asiatischer, arabischer und europäischer Künstlerinnen, in deren Skulpturen und Zeichnungen, Installationen, Fotografien und Videos sich solche Modelle des Mentalen abzeichnen. Die US-amerikanische Künstlerin Audrey Wollen beispielsweise reflektiert in ihren Arbeiten Pflanzenfantasien zwischen Symbodie psychischen Auswirkungen sozialer Melismus und Outsider Art – ein dien. Der chinesische Künstler Zhang Qing interdisziplinäres und inklusives thematisiert die psychosozialen Folgen, die Kooperationsprojekt die traumatischen Erfahrungen der Kulturrevolution noch bis in die jüngste Vergangenheit zeitigen. Der französische Künstler Ka- Pflanzen stehen metaphorisch für Sinnlichder Attia problematisiert in seinem Werk die keit, Sexualität und Liebe, für GrenzüberAnnahme, allen Kulturen lägen ähnliche psy- schreitendes, aber auch für Sehnsucht, chische Strukturen zugrunde. Exemplarisch Reinheit oder Heimat. Ob Pflanzen eine Seezeigt er, wie bedenklich es ist, westliche Vor- le haben und man mit ihnen kommuniziestellungen von Psychologie auf Bewohner af- ren kann, wird immer wieder diskutiert. In rikanischer Länder zu übertragen, und dass der Outsider Art, d.h. Werken, die außerhalb geopolitische Verwerfungen teils konträre der anerkannten Kunstproduktion entstehen Auswirkungen auf psychische Verfassthei- und die nicht selten auf psychische Ausnahten haben können. Eine Reihe lokaler und in- meerfahrungen zurückgehen, findet sich ein ternationaler Kooperationen lässt auch wis- breites Spektrum an Pflanzenbildern, von der senschaftliche und klinische Aspekte in das beseelten Pflanze bis zu Pflanzen-Tier-Wesen. Ausstellungsprojekt einfließen, die das The- Die Pflanze als Symbol und Projektionsfigur der Psyche findet sich aber auch in der klasma multiperspektivisch beleuchten. sischen Kunstgeschichte, insbesondere im → www.kunsthalle-baden-baden.de Symbolismus und Surrealismus. Künstlerische Leitung: Johan Holten (DK) Kuratorin: Das Projekt „Gewächse der Seele“ widLuisa Heese Künstler/innen: Kader Attia (FR), Dan Finsel (US), Pedro Gomez-Egana (CO), Leigh Ledare (US), Basim met sich den verschiedenen „PflanzenfanMagdy (EG), Zhang Qing (CN), Javier Tellez (VE), Kaari tasien“ zwischen Symbolismus und OutsiUpson (US), Audrey Wollen (US) u.a. Staatliche Kunstder Art. Verschiedene Kultureinrichtungen halle Baden-Baden: 23. �. – 23. �. 20�9 in der Metropolregion Rhein-Neckar präsentieren Ausstellungen sowie Tanz- und Theaterperformances zum Thema: Das Wilhelm-Hack-Museum (Ludwigshafen) und die Sammlung Prinzhorn (Heidelberg) zeigen die historische Dimension des Pflanzenmotivs. Stücke aus den eigenen Sammlungen sowie internationale Leihgaben machen die Parallelen zwischen Werken des Symbolismus, Feminismen: Wir sind viele des Surrealismus und der Outsider Art deutDer Schinkel Pavillon ist ein junger Berliner lich. Die Ausstellungen hinterfragen die DifKunstverein mit einem international ausge- ferenzierung zwischen In- und Outsider Art richteten Programm. Mit der aktuellen Aus- und unterstreichen die fließenden Übergänstellung präsentiert die Künstlerische Leiterin ge in der Kunstproduktion unter ganz unterNina Pohl eine Auswahl feministischer künst- schiedlichen Voraussetzungen. Die Malwerklerischer Positionen. Diese zeitgenössischen statt / Galerie Alte Turnhalle (Bad Dürkheim) Ansätze der sogenannten vierten Welle des Fe- und das Museum Haus Cajeth (Heidelberg) beminismus stellt sie den radikalen Werken der leuchten die Bedeutung der Pflanze in aktuellen Werken der Outsider Art. zeitraumexit 1960er und 1970er Jahre gegenüber. Im Zentrum der Schau steht die Frage, (Mannheim) zeigt inklusive Performance-Prowelche Rolle Technologien in unserem Leben duktionen mit deutschen, italienischen und spielen und wie sie sich auf unsere Körper aus- österreichischen Partnern, bei denen Pflanwirken. Die feministischen Künstlerinnen der zen und Pflanzenwesen als Vorbild dienen. 1960er und 1970er Jahre waren zugleich auch Ein Vermittlungsprogramm mit dialogischen Wegbereiterinnen in den noch jungen Gattun- Führungen und Workshops soll das Projekt gen Performance, Video und digitale Medi- einem breiten Publikum erschließen und zur en. Wie untersucht nun eine mit dem Internet Beteiligung ermutigen. Eine internationale großgewordene Generation Themen wie Kör- Tagung zur Bestimmung und Verortung akper und Geschlecht? Wie hat sich der feminis- tueller Outsider Art rundet das Programm ab. tische Diskurs im digitalen Zeitalter verändert, → www.wilhelmhack.museum gerade im Hinblick auf Selbst-Performance, → prinzhorn.ukl-hd.de www.zeitraumexit.de Produktion und Reproduktion? Welche Kohä- → → www.wennallesanders.de renzen und Verbindungen gibt es mit den Posi- Künstlerische Leitung: Thomas Röske, Wolfgang Sautertionen der 1960er und 1970er Jahre und worin meister, René Zechlin Künstler/innen: Irene und Christine Hohenbüchler (AT), Luca Santiago Mora, Atelier bestehen die Unterschiede? dell’Errore (IT), Dorothea Rust (CH), Marc Steene (GB), Im Rahmen von zwei begleitenden inter- Theater Thikwa Berlin, Doris Uhlich (AT) Kurator/innen: disziplinären Gesprächsrunden diskutieren Astrid Ihle, Julia Nebenführ, Ingrid von Beyme AusKünstlerinnen und Theoretikerinnen über stellungen: Galerie Alte Turnhalle, Bad Dürkheim; Museum Haus Cajeth, Heidelberg; Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigsdie Möglichkeit und die Bedeutung eines Fe- hafen; Sammlung Prinzhorn, Heidelberg: 30. �. – �. �. 20�9 Performances / Theater / Tanz: zeitraumexit Mannheim minismus prä- und post-Internet. Ein Filmprogramm mit zahlreichen historischen Ar- sowie Heidelberg, Bad Dürkheim, Ludwigshafen: April–Juli 20�9 beiten sowie zeitgenössische Performances ergänzen die Ausstellung.
Bild & Raum
Mentale Modelle
Gewächse der Seele
I, Me, He, She, You, They, Us ...
→ www.schinkelpavillon.de Künstlerische Leitung: Nina Pohl Künstler/innen: Judith Bernstein (US), Jenna Bliss (US), Lynn Hershman Leeson (US), Zanele Muholi (ZA), Ulrike Müller (AT), Senga Nengudi (US), Cindy Sherman (US), A. L. Steiner (US), Cathy Wilkes (GB), Women’s History Museum (US) u.a. Architekt/in: ZAK Group (GB) Schinkel Pavillon, Berlin: �. �. – 28. �. 20��
W alking Through Walls Thematische Gruppenausstellung anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Berliner Mauerfalls Im Jahr 2019 feiert Berlin den 30. Jahrestag des Mauerfalls und der Grenzöffnung. Als Symbol für das friedliche Ende der Deutschen Teilung zirkulieren die Bilder des Mauerfalls weltweit und haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Der Martin-Gropius-Bau befindet sich in Berlin in direkter Nähe des ehemaligen Mauerstreifens, noch heute stehen Reste der Mauer in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Mit Bezug auf die eigene Geschichte und geografische Lage will der Martin-Gropius-Bau mit einer umfangreichen thematischen Gruppenausstellung der Grenzöffnung gedenken. Die Ausstellung „Walking Through Walls“ zeigt Werke von 32 Künstlern und Künstlerkollektiven aus 16 verschiedenen Ländern. Anhand künstlerischer Positionen aus Fotografie, Film, Malerei, Installation und Performance untersucht die Schau Mauern in ihrer Materialität, ihrer architektonischen Struktur und Funktionalität sowie in ihrer emotionalen Wirkung. Im Zentrum steht die Frage nach den Utopien der Überwindung von Mauern, also dem „Walking Through Walls“. Mit zahlreichen ortsspezifischen Auftragsarbeiten bespielt die Ausstellung sowohl den Innenraum des Martin-Gropius-Baus als auch die Fassade und die umliegenden Freiflächen. Zur Ausstellung erscheint ein zweisprachiger Katalog; ein breites Rahmenprogramm in Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern vor Ort ergänzt die Schau. → www.gropiusbau.de Kuratoren: Till Fellrath, Sam Bardaouil Künstler/innen: Melvin Edwards (US), Nadia Kaabi-Linke (TN), Christian Odzuck, Fred Sandback (US), Regina Silveira (US), Wang Wei (CN), Samson Young (HK), Yuan Yuan (CN) u.a. Martin-Gropius-Bau, Berlin: 20. 9. 20�9 – �2. �. 2020
V ictor Papanek The Politics of Design Der Designer und Philosoph Victor Papanek ist seit den 1960er Jahren einer der bekanntesten Vordenker sozial und ökologisch orientierter industrieller Gestaltung. Sein Hauptwerk Design für die reale Welt gilt seit 1970 als das am weitesten verbreitete Buch zum Thema. Papanek plädiert darin für ein „Design for need“ anstelle eines „Design for desire“: Anstatt sich in den Dienst von Massenkonsum zu stellen, sollten Designer gesellschaftliche Herausforderungen stärker thematisieren, etwa Inklusion, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit. Was Papanek noch zum Pionier machte, ist heute allgemein anerkannt: Design ist mehr als Formgebung. Es ist ebenso Werkzeug für gesellschaftlichen Wandel und deshalb auch unter ethischen Gesichtspunkten zu betrachten. Im Herbst 2018 präsentiert das Vitra Design Museum mit „Victor Papanek: The Politics of Design“ einen Überblick über Papaneks Leben und Werk, der darüber hinaus die Bedeutung von Design als politisches Werkzeug grundsätzlich thematisieren will. Papaneks Werk wird so erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Für die interaktiv konzipierte Ausstellung in vier Teilen arbeitet das Museum mit der Victor J. Papanek Stiftung zusammen. Die Präsentation umfasst rund 400 teils nie gezeigte Exponate. Sie ist nicht nur als Retrospektive angelegt, sondern thematisiert auch die Wechselbeziehungen von Design mit Popkultur, Konsumkritik und Medientheorie. So kommen auch Zeitgenossen Papaneks wie Frank Lloyd Wright, Richard Buckminster Fuller oder Marshall McLuhan zu Wort. Die Ausstellung wird von einem Veranstaltungsprogramm begleitet und ab Herbst 2018 zuerst im Vitra Design Museum und dann in drei weiteren europäischen Museen gezeigt. → www.design-museum.de Künstlerische Leitung: Amelie Klein, Alison J. Clarke (AT) Beratender Kurator: Jan Boelen (BE) Künstler/innen und Beteiligte: Maria Benktzon (SE), Flui Coletivo (BR), Forensic Architecture (GB), Richard Buckminster Fuller (US), Frank Gehry (CA), Global Tools (IT), Susanne Koefoed (DK), Sheila Levrant de Bretteville (US), Marshall McLuhan (CA), Maya Jay Varadaraj (IN/US) u.a. Vitra Design Museum, Weil am Rhein: 29. �. 20�8 – �0. �. 20�9
Europa Ensemble
Über die Verflechtungen von Pflanzenwelt, Botanik und Kolonialismus In der Geschichte des Kolonialismus spielt der Handel mit Pflanzen eine Schlüsselrolle. Ihr Transport aus und in die Kolonien war eine Quelle enormer finanzieller Gewinne. Staaten profitierten von der Monopolisierung des Handels mit bestimmten tropischen Heilpflanzen und Gewürzen. Die Kolonien dienten als fruchtbarer Boden für den Anbau von Nutzpflanzen, die in Europa nicht gediehen. Welche Bedeutung Pflanzen für globale politische und gesellschaftliche Prozesse haben und welche Rolle sie für den Kolonialismus spielten, untersucht die Akademie der Künste in Köln im Rahmen ihres geplanten Forschungsund Ausstellungsprojektes „Floraphilia“. Um das Thema künstlerisch und wissenschaftlich aufzubereiten und einem breiten Publikum zu präsentieren, hat sich die Akademie der Künste mit zahlreichen Partnerinstitutionen zusammengeschlossen, unter ihnen die Botanischen Gärten in Wuppertal und Berlin. Die erste von drei geplanten Ausstellungen findet in Köln und im Botanischen Garten in Wuppertal statt. Ausgangspunkt der Kölner Schau ist das indische Springkraut (Impatiens glandulifera), das im 19. Jahrhundert als Zierpflanze nach Europa gelangte und nun vielerorts als invasiver Neophyt bekämpft wird. Die Ausstellungsstation zeigt Positionen von Künstlern wie Maria Theresa Alves, Alberto Baraya oder Otobong Nkanga, die sich mit globalem Handel, ökologischen Themen oder Kolonialgeschichte auseinandersetzen. Ein Auftragswerk der Künstlerin Karolina Grzywnowicz wird sich mit der Abbildung von Pflanzen auf Banknoten beschäftigen. Die Ausstellungen im polnischen Krakau und im Botanischen Garten in Berlin werden ausgewählte Werke präsentieren, die bereits in Köln und Wuppertal gezeigt wurden, und sie durch ortsspezifische Themen und Beiträge erweitern. In Berlin soll beispielsweise die Geschichte der Botanischen Zentralstelle für Deutsche Kolonien eine wichtige Rolle spielen. Zum Auftakt der Kölner Ausstellung findet ein Symposium statt, zahlreiche weitere Gesprächsformate, Filme und Performances ergänzen das Projekt. → www.academycologne.org Künstlerische Leitung: Aneta Rostkowska Künstler/innen: Maria Theresa Alves (BR), Alberto Baraya (CO), Karolina Grzywnowicz (PL), Dagna Jakubowska (PL), Candice Lin (US), Uriel Orlow (IL), Judith Westerveld (NL) Ausstellung, Symposium, Perfomances, Talks, Diskussionen; diverse Orte in Köln, Berlin, Paris, Brüssel und Krakau: �. �. 20�8 – 30. ��. 20�9
Brisante Träume Die Kunst der Weltausstellung Weltausstellungen entstanden ursprünglich im Zuge der Industrialisierung und des wachsenden Welthandels, um die jeweils aktuellen technischen und kunsthandwerklichen Errungenschaften der Menschheit einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Von 1851 bis heute fanden mehr als 50 Ausstellungen statt, auf denen die teilnehmenden Länder mit ihren Leistungen wetteiferten. Für die Vermittlung der nationalen Identität spielten dabei stets auch die Künste eine herausragende Rolle. Einige Werke, wie Picassos Wandbild „Guernica“ (Paris 1937), haben die Kulturgeschichte nachhaltig geprägt. Zeitgleich an zwei Museen in Ahlen und Herford widmet sich das Ausstellungsprojekt „Brisante Träume: Die Kunst der Weltausstellung“ den Kunstwerken der Weltausstellungen und ihrer Bedeutung für die nationale Selbstdarstellung. Während die rund 400 Exponate im Kunstmuseum Ahlen dazu einladen, themenbezogene Streifzüge durch die Geschichte der „Expo“ zu unternehmen, werden im Museum Marta Herford zehn zeitgenössische Künstler in einen Dialog mit ausgewählten Kunstwerken der Weltausstellungen treten und mit ihnen verbundene gesellschaftliche Themen durch eigene Arbeiten neu interpretieren. Die beiden Teile des Projekts stellen die Ausstellungen von 1937 bis 1970 in Paris, New York, Brüssel, Montreal und Osaka in den Mittelpunkt. Jede Weltausstellung wird unter einem von fünf Leitmotiven präsentiert: „Ingenieure des Lebens“ (Paris 1937) oder „Demokratie und Zerstörung“ (New York 1939/40), „Der mikroskopische Blick“ (Brüssel 1958), „Aufbruch zu den Sinnen“ (Montreal 1967) und „Träume von einer anderen Zukunft“ (Osaka 1970). Beide Teile erhalten Leihgaben aus aller Welt und werden von einem umfassenden Veranstaltungsprogramm begleitet.
„Songs of Work and Protest Across the Globe“ bringt internationale Stimmen aus Wissenschaft, Musikjournalismus und Musik miteinander ins Gespräch. Das Songposium ist ein besonderes Aufführungsformat des Rudolstadt-Festivals, das szenische und musikalische Elemente, Film und wissenschaftlichen Vortrag verbindet. Das Songposium zum TheVisionen eines zukünftigen Theaters ma Arbeiterlied schlägt einen Bogen von den Gesängen aus der Zeit der industriellen Revo- Das Staatsschauspiel Stuttgart plant mit dem lution bis zur Verdrängung des Menschen aus Nowy Teatr in Warschau und dem Zagreb der Arbeitswelt durch moderne Elektronik. Youth Theatre die Gründung eines gemeinsamen europäischen Ensembles: Das „Europa → www.rudolstadt.de Ensemble“ soll in den festen Strukturen des Künstlerische Leitung: Bernhard Hanneken, Steffen Mensching Kurator: Matthias Harder Künstler/innen Stadttheaters hinreichend Raum und Zeit beund Beteiligte: Dieter Beckert, Bella Ciao (IT), Ramy Essam kommen, um sich als eigenständiges Ensemb(EG), Mark Gregory (AU), Hań ba! (PL), Eckhard John, Lankum (IR), Richard MacKinnon (CA), Jan Raabe, Stahlle zu finden. Schauspieler und Regisseure aus quartett, Wenzel & Band, Jürgen B. Wolff Ausstellung Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Polen, – Heidecksburg, Rudolstadt: 29. �. – 29. �. 20�8; FachGriechenland und Deutschland werden über konferenz – Bibliothek, Rudolstadt: �. �. 20�8; Songposium – Landestheater, Rudolstadt: �. �. 20�8; Workshops und zwei Jahre hinweg als Ensemble zusammenVorträge – Bibliothek, Altes Rathaus u.a., Rudolstadt: arbeiten und gemeinsam Theater machen. �. – �. �. 20�8; Konzert – Heidecksburg, Rudolstadt: �. �. 20�8 Thematischer Schwerpunkt der Produktionen wird die Frage sein, wie Europa neu gedacht werden kann und welche gesellschaftspolitischen Utopien das europäische Projekt stärken könnten: Lässt sich der Demokratiemüdigkeit zahlreicher westlicher Gesellschaften künstlerisch begegnen? Wie lässt sich das in die Krise geratene europäische Projekt wieder beflügeln? Die künstlerische Leitung des Europa Ensembles liegt in den Händen des Regisseurs und Autors Oliver Frljić, der für seinen kriPorträt Georges Aperghis tischen Blick auf gesellschaftliche Zustände und eine provokante Bildsprache bekannt „ACHT BRÜCKEN / Musik für Köln“ ist seit ist. In seinen häufig kontrovers diskutierten 2011 Kölns Festival für zeitgenössische Musik. Theaterstücken weist Frljić auf blinde Flecken Für zehn Tage wird Köln Anfang Mai zur Fes- und unverarbeitete Wunden der europäischen tivalstadt mit zahlreichen Konzerten in gro- Gesellschaft hin und nimmt dabei häufig die ßen Konzertsälen und an ungewöhnlichen neuen Länder Ex-Jugoslawiens in den Fokus. Orten, welche die internationale Vielfalt mo- Jedes der beteiligten Theater wird zwei derner Musik in verschiedenen Genres prä- Inszenierungen produzieren und die beiden sentieren. Die Konzerte wenden sich an ein anderen Regiearbeiten als Gastspiele zeigen. breites Publikum bewusst jenseits des Krei- Im ersten Jahr wird das Ensemble u.a. mit den ses derer, die der zeitgenössischen Musik be- Regisseuren Oliver Frljić und Anna Smolar, im zweiten Jahr mit Anestis Azas Inszenierunreits verbunden sind. „ACHT BRÜCKEN“ widmet sich 2019 dem gen erarbeiten. Begleitet werden die AuffühPorträt des zeitgenössischen griechisch-fran- rungen des Europa Ensembles in Stuttgart zösischen Komponisten Georges Aperghis. von einem groß angelegten Symposium. Sein Werk zeichnet sich durch ein breites → www.schauspiel-stuttgart.de Interesse an vielerlei Kunstformen und am Künstlerische Leitung: Oliver Frljić (HR) Regie: Anna Wechselverhältnis von Musik mit wissen- Smolar (PL), Anestis Azas (GR) Theaterinszenierungen und Gastspiele; Schauspiel Stuttgart, Nowy Teatr, schaftlichen und gesellschaftlichen Themen Warschau und Youth Theatre, Zagreb: 20�8-202� aus. Georges Aperghis hat viele Preise erhalten, darunter den Goldenen Löwen der Musikbiennale Venedig 2015. Das Festival wird elf Kompositionen des Künstlers aus allen Schaffensperioden zur Aufführung bringen. An der Realisierung der Konzerte wirken die Partner Klangforum Wien, das Ensemble Ein Festival zu den Chancen und Asko|Schönberg, das nieuw ensemble und das Gefahren Künstlicher Intelligenz SWR Vokalensemble mit. Das WDR Sinfonieorchester Köln und das Gürzenich-Orches- Künstliche Intelligenz im Sinne lernender und ter Köln tragen eigenständige Produktionen sich selbst optimierender Algorithmen steubei. Das Festival möchte zudem junge Musi- ert heute zentrale digitale Prozesse unseres ker anregen, sich der zeitgenössischen MuAlltags. Zunehmend gestalten Mikrobiologen sik zu widmen und dazu Nachwuchsmusiker neue Moleküle, während Programmierer zu der Hochschule der Künste Bern und des EnSchöpfern selbständiger Systeme werden. Wo sembles der Jungen Oper Stuttgart für Beiträge einladen. Mehrere Hörfunkmitschnitte der Mensch die eigene Schaffenskraft an seiwerden die Veranstaltungen einer breiten Öf- ne Geschöpfe weitergibt, wird er zum „Homo Deus“. Besonders in Deutschland findet diese fentlichkeit zugänglich machen. wissenschaftliche und technische Weiterent→ www.achtbruecken.de wicklung weitestgehend unter Ausschluss eiKünstlerische Leitung: Louwrens Langevoort Musiker/ ner kritischen Öffentlichkeit statt. innen: Klangforum Wien (AT), Asko|Schönberg Ensemble (NL), nieuw ensemble (NL), Junge Oper Stuttgart Sänger/ Zum internationalen Festival „Homo innen: SWR Vokalensemble u.a. Philharmonie, Köln: Deus“ laden die Münchner Kammerspiele 30. �. – ��. �. 20�9; WDR Funkhaus, Köln: �. – �. �. 20�9 2019 Technologieexperten, Sozial- und Kulturwissenschaftlerinnen sowie Künstler aus ganz Europa ein, um Chancen und Risiken Künstlicher Intelligenz öffentlich zu diskutieren. Als Parcours aus Theater, Performance, Bildender Kunst und Musik angelegt, sollen Sound and Medicine in Modernity auf insgesamt fünf Bühnen diese Entwicklungen gemeinsam reflektiert und die bisMit ihrem Projekt „Musica Sanae“ untersucht herige ästhetische Auseinandersetzung dadie polnische In Situ Foundation den Einfluss mit konzentriert präsentiert werden – unter von Klängen auf die menschliche Gesundheit. anderem mit Beiträgen von Alexandra Pirici, Im historischen Rückblick sucht sie Antwor- Susanne Kennedy, Markus Selg, Christiane ten auf Fragen wie: Auf welche Weise vermö- Kühl und Christoph Kondek sowie Anta Hegen Töne unser Wohlbefinden zu steuern? lena Recke. Welche Techniken lassen sich daraus für den → www.muenchner-kammerspiele.de medizinischen Einsatz von Klängen ableiten? Von und mit: Marco Donnarumma (IT), Susanne Kennedy Und welche Rolle spielt in diesem Zusammen- (D/US), Jisun Kim (KR), Christoph Kondek & Christiane (D/US), Alexandra Pirici (RO), Dennis Pohl, Anta Helena hang der wissenschaftlich-technologische Kühl Recke, Markus Selg u.a. Münchner Kammerspiele: Fortschritt? ��. – ��. �. 20�� Vor dieser Fragestellung unternimmt ein internationales Team von Künstlerinnen und Experten unterschiedlichster Disziplinen eine Recherche zur Geschichte akustisch-medizinischer Instrumente und Therapien. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden mit zeitgenössischen Formen des (Zu-)hörens und heutigen Konzepten von Gesundheit und Wohlbefinden konfrontiert. In Konzerten und Vorträgen, Lecture Performances, Installationen, Lesungen und Filmvorführungen werden sie anschließend an Orten mit thematischem Bezug präsentiert: in ausgedienten Krankenhäusern und Sanatorien in Neapel, Sokołowsko und Berlin. Eine Publikation dokumentiert das Projekt. Sichtbarkeit und Re-Integration von Künstlerische Leitung: Michal Libera (PL) Kurator/innen: internationalen Entwicklungen des Mimmo Napolitano (IT), Farah Hatam Künstler/innen: Felicia Atkinson (FR), Luciano Chessa (US), Hacklander realistischen und emanzipatorischen / Hatam, Carl Michael von Hauswolff (SE), Inconsolable Kinderund Jugendtheaters Ghost, Okkyung Lee (KR), Les Énervés (IT), Barbara Kinga
Wort & Wissen
Akademie zur Lyrikkritik Die Kunst der Kritik Während die Lyrik in Deutschland derzeit so lebendig und produktiv wie lange nicht ist – so die Ausgangsthese des Projektes –, hinkt die Lyrikkritik als Kunstform und Brücke zwischen Lyrik und Publikum dieser Entwicklung inhaltlich wie formal eklatant hinterher. In den Printmedien marginalisiert, beschränke sie sich zumeist auf bloße Beschreibung, statt als eigene Kunstform ihren Gegenstand adäquat zu spiegeln. Diesem Missverhältnis widmet sich die Literaturbrücke Berlin mit ihrer Akademie zur Lyrikkritik, um der Kunst der Kritik im Spannungsfeld zwischen Kunst und Rezension, Poetik und Öffentlichkeit wieder einen neuen Impuls zu geben: Wie kann qualitativ hochwertige Kritik zur Lyrik verfasst und dabei die Kritik selbst als Kunstwerk kenntlich werden? Wie kann dafür Öffentlichkeit hergestellt werden? Die Akademie wendet sich teils in geschlossenen Seminaren, teils in öffentlichen Veranstaltungen insbesondere an Autorinnen und Journalisten mit dem Ziel, der Lyrikkritik neue Aufmerksamkeit zu verschaffen und sie als (Kunst-)Instrument neu aufzubauen. → www.haus-fuer-poesie.org Künstlerische Leitung: Hendrik Jackson Autor/innen: Michael Braun, Julietta Fix, Franz Josef Czernin (AT), Gerhard Falkner, Paul Jandl (AT), Christian Metz, Daniela Strigl (AT), Insa Wilke, Martin Zingg (CH) Aufführungen, Workshops – Haus für Poesie, Berlin: �. �. 20�8 – 30. �. 2020
Musik & Klang
DER FALL BABEL Eine Musiktheaterproduktion
Im Mythos von Babel wird die Menschheit von Gott mit der Sprachvielfalt bestraft, da sie ihn durch den Bau des Turmes herausgefordert hat. Die sprachliche Homogenität – die im Mythos als Paradies dargestellt wird – transportiert der Schriftsteller Fabio Morábito in seinem Essay „Por qué traducimos“ in die Zukunft und entwirft mit schneidender Ironie die Vision einer kulturell verarmten Welt, in der nur noch eine Sprache gesprochen wird. Morábito kehrt damit den Mythos um und macht deutlich, dass nur sprachliche und kulturelle Vielfalt trotz aller einhergehenden Konflikte als das einzig mögliche Paradies gelten könne. Morábitos Essay bildet die Folie für die Musiktheaterproduktion „Der Fall Babel“, die die Räume erkundet, die zwischen dem Sprechen verschiedener Sprachen entstehen, wie z.B. beim Übersetzen oder durch den Verlust der Muttersprache. Drei Erzählungen der zeitgenössischen Autorinnen Cécile Wajsbrot (Frankreich), Yoko Tawada (Japan/Deutschland) und Fabio Morábito (Italien/Mexiko) werden hierfür sprachlich und szenisch miteinander verknüpft. Die Bühne fungiert als → www.marta-herford.de große „Sprachmaschine“: In jedem Winkel Künstlerische Leitung: Roland Nachtigäller mit Burkhard Leismann (Kunstmuseum Ahlen) Kuratoriwird übersetzt, geschrieben, gedruckt und sches Team: Friederike Fast, Ann Kristin Kreisel, Thomas unterrichtet. Die Klänge der Aktionen und Schriefers, Eva Wolpers Künstler/innen: Tim Berresheim, Robert Breer (US), Salvador Dalí (ES), Robert Delaunay (FR), Objekte werden zum Ausgangsmaterial der Angela Fette, Nikolaus Gansterer (AT), Konsortium, Hugo Komposition und mischen sich mit dem GeKükelhaus, Le Corbusier / Iannis Xenakis (FR), Katja wirr der Stimmen zu einem babylonischen Novitskova (EE), Yvonne Roeb, Rob Voerman (NL) u.a. Marta Herford, Herford: �3. �0. 20�8 – �0. �. 20�9; Durcheinander. Kunstmuseum Ahlen: �3. �0. 20�8 – �0. �. 20�9 Aufgeführt wird das Werk von dem Vokalensemble Schola Heidelberg, zwei Schauspielern und drei Schlagzeugern. Anliegen des Projekts ist der Versuch, mit Mitteln des Musiktheaters eine eigenständige Erzählform zu entwickeln, in der Text, Musik und Szene miteinander interagieren. Die traditionelle Abfolge Libretto – Komposition – InszenieZeitgeschichtliches Objekt, rung wird zugunsten einer durchlässigeren Inspirationsquelle, Politikum Verbindung von Konzeption, Komposition und Regie außer Kraft gesetzt. Die Uraufführung Die Kunsthalle Rostock ist der einzige Neu- ist zur Eröffnung der Schwetzinger Festspiebau eines Kunstmuseums in der DDR. Mit le 2019 geplant. der letzten Ausstellung vor ihrer Sanie→ www.schwetzinger-swrfestspiele.de rung widmet sie sich dem wohl bekanntes- Künstlerische Leitung: Heike Hoffmann Komponistin / ten Kulturbau der DDR: dem Palast der Re- Ko-Regie: Elena Mendoza (ES) Regie / Kompositorische Mitarbeit: Matthias Rebstock Musikalische Leitung: publik, errichtet zwischen 1973 und 1976 auf Walter Nussbaum Compagnie / Ensemble / Orchester: dem Gelände des ehemaligen Berliner Stadt- Schola Heidelberg Elektronik: SWR Experimentalstudio Musiker/innen: Almut Lustig, Tobias Dutschke, schlosses. Der Palast der Republik war zuMartin Homann Schauspieler: David Luque (ES) u.a. gleich Sitz der Volkskammer und öffentliches Schwetzinger Festspiele, Rokokotheater, Schwetzingen: Kulturhaus mit einer Vielzahl von Veranstal- 26. – 29. �. 20�9; Musiktheater Paris, La Gaité Lyrique, Paris: Saison 2020/202� tungsräumen und gastronomischen Angeboten. 1990 wurde er wegen Emission krebserregender Asbestfasern geschlossen, von 2006 bis 2008 wurde das Bauwerk abgerissen. 2019 soll an diesem Ort das neu errichtete Berliner Schloss mit dem Kulturzentrum Humboldtforum eröffnet werden. Die in der Kunsthalle Rostock geplante Ausstellung zum Palast der Republik umfasst vier Teilbereiche: Zum einen soll Kunst gezeigt werden, die eigens für den Palast entstand. Wolfgang Mattheuer, Matthias Wegehaupt, Walter Womacka und viele andeArbeiterlieder: Vom Kampfgesang re schufen Werke für Foyer, Restaurants und zum Protestsong Sitzungssäle des Palastes. Der zweite Teil der Ausstellung soll Werke versammeln, die die Im Jahr 2018 beschäftigt sich das RudolBedeutung des Gebäudes im kulturellen Le- stadt-Festival mit Tradition und Aktualität ben der DDR und Ost-Berlins künstlerisch des Arbeiterliedes. Der thematische Schwerspiegeln. Der dritte Teil zeigt zeitgenössische punkt des bekannten Folk- und Weltmusikkünstlerische Reaktionen auf den Abriss des festivals verknüpft das klassische ArbeiterGebäudes. Ein vierter Ausstellungsbereich lied mit dem heutigen Protest- und Politsong. wird das Interieur des Palastes z.B. durch his- Zum Programm gehören u.a. eine Aussteltorische Einrichtungsgegenstände und ein in- lung und ein Konzert auf Schloss Heidecksszeniertes Café erlebbar machen. Zudem soll burg, eine Konferenz in der Stadtbibliothek die Außenfassade der Kunsthalle Rostock mit Rudolstadt und ein sogenanntes „Songposider Arbeit „Echo“ von Bettina Pousttchi über- um“ mit internationalen Künstlern im Lanformt werden, welche die Fassade des Palas- destheater Thüringen. tes der Republik reinszeniert. In der gesamten Das Konzert bringt sehr unterschiedliche Schau wird Kunst, die das staatliche Symbol Ensembles und Musiker aus Italien, Ägypstützte, derjenigen gegenüberstehen, welche ten, Polen, Irland, USA und Deutschland zustaatliche Entscheidungen kritisch hinter- sammen, die ihre Kunst als politisches Ausfragte und hinterfragt: Kunst als Gegenüber drucksmittel verstehen: Der Ägypter Ramy und zugleich Teil der Politik in der DDR und Essam hat mit seinem Lied „Irhal“ eine Hymder Bundesrepublik. ne des Arabischen Frühlings geschrieben. Ein Vortragsprogramm zur Ausstellung Das Ensemble Bella Ciao aus Italien tritt mit soll die Verbindungen zwischen Kunst und alten Partisanen- und Arbeiterinnenliedern Gebäuden der Macht beleuchten. Das inter- auf, deren Botschaften sehr aktuell klingen. nationale Symposium „Volkspaläste“ fragt Auch das Akustik-Punk-Quartett Hańba! aus nach dem Umgang mit politisch bedeut- Polen singt Lieder, die in den 1930er Jahren samer Architektur nach geschichtlichen geschrieben wurden und eine erstaunliche Umbrüchen. Brisanz besitzen. → www.kunsthallerostock.de Die Ausstellung auf Schloss HeidecksKünstlerische Leitung: Elke Neumann Künstler/inburg widmet sich dem Kulturerbe des Arnen: Sibylle Bergemann, Günter Brendel, Thomas beiterliedes in der Zeit zwischen 1848 und Florschuetz, Harald Hauswald, Wolfgang Mattheuer, Karl Erich Müller, Gertraude Pohl, Bettina Pousttchi, 1933. Im Fokus stehen Aspekte wie MetaChristoph Rokitta, Matthias Wegehaupt, Walter phorik, Kampfphrasen oder die ThematisieWomacka (CZ) u.a. Kunsthalle Rostock: 3�. �. – 28. �. 20�9 rung von Machtverhältnissen. Die Konferenz
Palast der Republik
Nie kämpft es sich schlecht für Freiheit und Recht
PROJEKTE 1 ⁄ 2018
ACHT BRUCKEN – Musik für Köln 2019
Homo Deus
Musica Sanae
Neufassung von „Balle, Malle, Hupe und Artur – Ruhestörung durch Phantasie“
Majewska & Tony Di Napoli (PL/FR), Anthony Pateras (AU), Ziúr u.a. Scugnizzo Liberato, Neapel (IT): �9. – 20. �. 20�9; Brehmer-Sanatorium, Sokol�owsko (PL): �6. – �7. �. 20�9; Museum Kesselhaus, Berlin: ��. – �2. �0. 20�9
B ühne & Bewegung
The Future is Female Ejaculation 20 Years of Peaches Die Musikerin, Producerin und Performerin Peaches besitzt Kultstatus. Mit ihrer radikalen und subversiven Arbeit findet sie in der Subkultur und der internationalen Kunstwelt genauso Anklang wie im Mainstream-Pop. Ihre Konzerte sind immersive Gesamtkunstwerke aus Musik, Performance, Kostümen, selbstgebauten Objekten und Musikinstrumenten. Das Kulturzentrum Kampnagel Hamburg richtet in Kooperation mit dem Kunstverein Hamburg die erste Einzelausstellung der Künstlerin aus, die einen Überblick über deren umfangreiches Schaffen gibt und es wissenschaftlich kontextualisiert. Teil der Ausstellung ist ein performatives Programm aus einer großformatigen Bühnenshow der Künstlerin sowie weiteren Performances und Konzerten im Rahmen des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel. Das Projekt spiegelt die Vielseitigkeit von Peaches experimentellen Bühnenwerken. Neben musikalischen Produktionen und Live-Performances umfasst es auch ihre skulpturalen Kostüme, ihre Fotos, Texte und Filme. Peaches pflegt ein sehr besonderes Verhältnis zu ihrer Community: Ihre Fans zählen zu den produktivsten und kreativsten im Feld der Pop-Musik und die Künstlerin ermächtigt sie dazu, aktiv an ihrer Kunst teilzuhaben. Daher ist die Ausstellung als interaktiver Raum angelegt, in dem die Besucherinnen das Werk der Künstlerin entdecken und selbst performen können. Künstlerinnen und Theoretikerinnen aus Peaches internationalem Umfeld – etwa die Choreografin Florentina Holzinger, der Choreograf und Tänzer Ivo Dimchev oder der Musiker Chilly Gonzales – sind im Rahmen der Ausstellung eingeladen, die Musik, Videos, Performances oder Bühnenshows der Künstlerin neu zu interpretieren. → www.kampnagel.de/de/sommerfestival Künstlerische Leitung: Bettina Steinbrügge, Merrill Nisker aka Peaches (CA) Künstler/innen: Ivo Dimchev (BG), Chilly Gonzales (CA), Florentina Holzinger (AT) Ausstellung – Kunstverein in Hamburg: �. �. –20. �0. 20�9; Live-Programm – Internationales Sommerfestival Kampnagel, Hamburg: �. – 25. �. 20�9; Vorstellungen – Internationales Sommerfestival Kampnagel, Hamburg: �. – �2. �. 20�8
Seit bald fünfzig Jahren zeigt das GRIPS Theater Stücke, die sich auf den jeweils aktuellen Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen beziehen. Auf diese Weise möchte es seine jungen Zuschauer darin bestärken, ihre Bedürfnisse zu erkennen und ihre Rechte einzufordern. Dieser gleichermaßen realistische wie emanzipatorische Ansatz fand bis heute international viel Beifall und Nachahmer. Anlässlich seines 50-jährigen Bestehens befasst sich das Berliner Kinder- und Jugendtheater mit der Frage, was das emanzipatorische Theater des 21. Jahrhunderts kennzeichnen sollte. Das 1971 uraufgeführte Stück „Balle, Malle Hupe und Artur – Ruhestörung durch Phantasie“ dient zugleich als Folie und Gegenstand für diese Untersuchung: Zunächst unternimmt das Produktionsteam gemeinsam mit Jugendlichen eine Recherche, die Aufschluss darüber geben soll, inwieweit das Stück in seiner ursprünglichen Fassung heute noch zeitgemäß ist. Die Ergebnisse fließen in eine deutsch-griechische Neufassung ein, die der heutigen Situation von Kindern und Jugendlichen in postmigrantischen Gesellschaften Rechnung trägt. Zur Premiere des Stückes findet 2019 ein internationales Symposium über Kinderrechte im Rahmen der Jubiläums-Feierlichkeiten des GRIPS-Theaters statt. Anschließend geht es auf Gastspieltour durch Deutschland und Griechenland. → www.grips-theater.de Künstlerische Leitung: Philipp Harpain Dramaturgie: Ute Volknant Regie: Vassilis Koukalani (GR) Autor: Mehdi Moradpour Premiere – GRIPS Theater, Berlin: �. �. 20�9; Internationales Symposium „Kinderrechte im Kinder- und Jugendtheater“ – Berlin: ��. – �5. �. 20�9; Gastspiel – Apo Mixanis Theatro, Athen: im Zeitraum �5. �. – 30. �. 2020; Gastspiel – Brandenburg Theater, Brandenburg a.d. Havel: im Zeitraum �5. �. – 30. �. 2020
Entangled Histories Festival Theaterformen 2019 Das Festival Theaterformen ist eines der größten Festivals für internationales Theater in Deutschland. Für 2019 gibt das Festival Theaterarbeiten bei Regisseurinnen aus Argentinien, Ägypten, Belgien, Großbritannien und Russland in Auftrag. Die ausgewählten Künstler sind mit ihren dokumentarischen sowie partizipativen Ansätzen in der internationalen Theaterlandschaft erfolgreich, in Deutschland jedoch noch kaum bekannt. Die Produktion „Lichtgeschwindigkeit“ widmet sich den Stadtvierteln, die in Vergessenheit geraten sind, wie auch dem menschlichen Vergessen. Der argentinische Regisseur Marco Canale entwickelt das Stück mit Seniorinnen aus Hannover; ihre vielfältigen kulturellen Hintergründe sowie Erzählungen, Stimmen und die Musik ihrer Herkunftsorte fließen in die Inszenierung ein. Die Regisseure Laila Soliman aus Kairo und Ruud Gielens aus Antwerpen erarbeiten ihre Produktion „Superheroes“ mit Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Herkunft aus Hannover. Das Stück der beiden britischen Regisseure Selina Thompson und Scottee entsteht ebenfalls mit Mitwirkenden vor Ort. Ausgehend von autobiografischen Fragen – Was bedeutet es, als schwarzes Kind bei weißen Eltern aufzuwachsen oder als gleichgeschlechtliches Paar ein Kind zu adoptieren? –, ist die Produktion ein Parcours durch das europäische Adoptionssystem. Der russische
Theaterregisseur Semion Aleksandrovskiy aus Sankt Petersburg entwirft ein Museum menschlicher Beziehungen, in dem das Publikum verschiedenen Dialogen zwischen einem Vater und seinem erwachsenen Kind zuhören kann. Diese Familiengeschichten zwischen Vater und Tochter bzw. Vater und Sohn werden vor Ort in Hannover recherchiert und auch in ihnen wird die kulturelle Diversität der Bevölkerung thematisiert. Ein mehrteiliges Rahmenprogramm ergänzt das Festival mit zahlreichen theaterpädagogischen Formaten, Masterclasses sowie einer Fachtagung, welche die Bezüge zur geschichtswissenschaftlichen Forschung der „Entangled History“ untersucht. Das Institut für diskriminierungsfreie Bildung begleitet und berät das Projekt im Hinblick auf Zugänglichkeit und Antidiskriminierungsstrategien im Theater und stellt die Ergebnisse anderen Kulturinstitutionen zur Verfügung. → www.theaterformen.de Künstlerische Leitung: Martine Dennewald Künstler/innen: Semion Aleksandrovskiy (RU), Marco Canale (AR), Ruud Gielens (BE), Scottee (GB), Laila Soliman (EG), Selina Thompson (GB) Staatstheater Hannover: 20. – 30. �. 20�9
AZIMUT Dekoloniale Kursbestimmungen Hajusom ist ein vielfach ausgezeichnetes Performancekollektiv aus Hamburg, das seit 1999 mit Künstlerinnen unterschiedlicher Genres innovative szenische und installative Formate entwickelt. Es versteht sich als transkulturelles Ensemble von Künstlern und Künstlerinnen aus Ländern wie z.B. Burkina Faso, Iran, Afghanistan, Nigeria, Chile oder Mali. Als Auftakt eines dreijährigen Themenzyklus beschäftigt sich Hajusoms neue Produktion AZIMUT mit den Themen Kolonialismus und Erinnerung sowie der kritischen Untersuchung postkolonialer Verstrickungen. Die Performance setzt bei den persönlichen Erinnerungen der Performerinnen und ihren von Migration und Flucht geprägten Lebensgeschichten an. In der größten Halle auf Kampnagel entsteht eine raumgreifende Installation, in der individuelle und kollektive Erinnerungsräume sicht- und hörbar werden: von der Inszenierung eines Objekts in einem schlichten Zimmer über hyperrealistische Szenarien bis zu unwirklichen Traum-Räumen wie elastischen Zimmern, nebligen Kammern und Räumen, die auf dem Kopf stehen. Die Performer von Hajusom bespielen den Parcours, durch den sich der Zuschauer frei bewegen kann, mit musikalischen und performativen Soli, Reenactments oder choreografierten Sequenzen. Ein begleitendes Symposium in Kooperation mit dem ehemaligen Museum für Völkerkunde Hamburg diskutiert den Umgang mit dem kolonialen Erbe der Hansestadt und versteht sich auch als Beitrag zur angestrebten inhaltlichen Neupositionierung des Hauses. → www.hajusom.de Eine Koproduktion von Hajusom, Kampnagel Hamburg, Sophiensaele Berlin, Theater im Pumpenhaus Münster und FFT Düsseldorf, in Kooperation mit OTHNI-Laboratoire (CM) und Latai Taumoepeau (TO), Museum für Völkerkunde Hamburg Künstlerische Leitung, Regie: Dorothea Reinicke, Ella Huck Mitarbeit Konzept, Co-Regie: Latai Taumoepeau (TO), Martin Ambara (CM) Performer, Autoren: Hajusom Transnationales Ensemble (AF, BJ, BU, CL, EG, GH, IR, ML, NG) Rauminstallation, Kostüm: Michael Böhler, Markus Lohmann Video: Adnan Softic (BA) Choreografie: Josep Caballero Garcia (ES), Jochen Roller Musik-Konzept, Komposition: Viktor Marek Kampnagel k6, Hamburg: 27. – ��. �. 20�9; Theater im Pumpenhaus, Münster: �7. – �8. �. 20�9; Forum Freies Theater, Düsseldorf: ��. �. – �. �. 20�9; Symposium – Museum für Völkerkunde, Hamburg: �. – �0. �. 20�9 und Sophiensaele, Berlin: �0. – �3. �0. 20�9
Körper 2.0 – Expanding Bodies Festival, Ausstellung, Konferenz und Filmprogramm zum Wandel der Ideen von Körperlichkeit
Prinzip Provinz – Metropole Meiningen Internationales Theaterfestival Der Weltruhm des Meininger Theaters verdankt sich in erster Linie dem Engagement eines kunstbegeisterten Herzogs. Dank der Reformen des Herzogs Georg II. von Sachsen-Meiningen (1826–1914), wurde das Haus finanziell und ästhetisch zum internationalen Vorbild für ein neues „Regietheater“. Damals entstanden die „Meininger Prinzipien“, ein Kanon zur werkgetreuen Aufführung literarischer und musikalischer Vorlagen. Durch Gastspiele des Meininger Theaters in 38 Städten verbreiteten sich diese Prinzipien im 19. Jahrhundert in ganz Europa und schließlich weltweit. Meiningen kehrt die Vorzeichen nun um: Fast 150 Jahre später will das Staatstheater Meiningen das Welttheater ins eigene Haus einladen und sich wieder stärker international vernetzen. Dazu plant das Theater ein neues Festival in Meiningen mit zeitgenössischen Neuinszenierungen des klassischen Theaterrepertoires. Bei der ersten Ausgabe des Festivals im Jahr 2019 liegt der Fokus auf Produktionen aus Frankreich. Gemeinsam mit dem Théâtre National de Toulouse entwickelt das Meininger Staatstheater eine Neuinszenierung von Goethes „Stella“. Regie führt der Intendant des Théâtre National de Toulouse, der bulgarische Regisseur Galin Stoev. Mit Jean-Michel Rabeux und Jacques Osinski sind zwei weitere wichtige Theaterkünstler aus Frankreich eingeladen, die beide zum ersten Mal in Deutschland zu Gast sind. In der Stadt findet ein vielseitiges Rahmenprogramm statt: Eine Ausstellung von Bühnenbildmodellen, Kostümen, Fotografien und Projektionen im Theatermuseum stellt historische und zeitgenössische Konzeptionen gegenüber. Festivalbegleitend sollen großformatig aufgezogene Werke der französischen Fotografin und Bühnenbildnerin Noémie Goudal im Stadtraum von Meiningen präsentiert werden. Im Rahmen eines Symposiums befragen Regisseure, Autorinnen und weitere Theaterexperten die Meininger Prinzipien auf ihre Zukunftsfähigkeit. → www.meininger-staatstheater.de Projekt- und Künstlerische Leitung: Christa Mittelsteiner (FR) Kooperationsprojekt: Théâtre National de Toulouse Midi-Pyrénées Regie: Victor Bodo, Declan Donnellan (GB), Oskaras Korsunovas (LT), Jacques Osinski (FR), JeanMichel Rabeux (FR), Galin Stoev (FR) Künstlerin: Noémie Goudal (FR) Internationales Theaterfestival und Symposium – Staatstheater Meiningen: �. – �4. �. 20�9; Ausstellung Staatstheater Meiningen: �. – 28. �. 20�9
GLOBAL FAMILY Tales of Gerontological Colonialism Die Costa Compagnie widmet sich in ihrer neuen Produktion „Global Family“ dem Outsourcing von Altenpflege, insbesondere der Pflege demenzkranker Menschen aus Europa, in den Globalen Süden. Gemeinsam mit Wissenschaftlerinnen der Universitäten Vancouver, Newcastle, Mainz und Zürich recherchieren die Künstler der Costa Compagnie in Deutschland, Nordengland und Nordthailand, wo das Phänomen sich bereits etabliert hat. Sie interviewen Angehörige, Pflegekräfte, Pflegebedürftige sowie Unternehmerinnen. Dabei untersuchen sie zum einen die ökonomischen Strukturen im Zusammenhang mit dem Verständnis von Familie: Inwiefern gilt das Konzept von Familie als Ort von Zusammenhalt und Fürsorge in europäischen Gesellschaften noch? Zum anderen geht es um Demenz und Alter, um Fragen in Bezug auf Intimität und Verlassenheit, Erinnern und Vergessen: Was bedeutet es für einen Demenzkranken, dass er sich in einem Umfeld befindet, an das er keinerlei Bindung und Erinnerung hat? Als Ziel des gemeinsamen Forschungsprozesses entsteht ein Archiv von Interviews sowie 360º-Video- und Audiomaterial. Aus den Aufnahmen entwickeln die Künstlerinnen der Costa Compagnie eine immersive 360º-Bühnenprojektion, in der die Schauspieler und Musiker auftreten und mit dem Publikum interagieren. Die Aufführungen finden im Ballhaus Ost in Berlin, in Newcastle und in Bangkok statt. Das Material soll später in eine Installation überführt werden, die sowohl in den Partneruniversitäten präsentiert werden kann wie auch als Virtual Reality im Internet abrufbar sein soll.
Die Möglichkeiten, den menschlichen Körper zu erweitern und zu verbessern, haben durch den technischen und medizinischen Fortschritt der letzten Jahre eine neue Dimension erreicht, die sich auch auf veränderte Körperbilder in den Künsten auswirkt. Wie reagieren diese darauf, dass die Imagination von Körpern zunehmend in Labore und Wirtschaftsunternehmen wandert? Gemeinsam mit Tänzern, Choreografinnen und Partnern aus Bildender Kunst, Computerdesign, Film und Wissenschaft widmet sich das tanzhaus nrw dem Körper der Zukunft. Ein internationales Festival und zwei Ausstellungsprojekte erkunden tradierte Körperverständnisse ebenso wie längst in der Wirklichkeit ange→ www.costacompagnie.org/de kommene Science-Fiction-Vorstellungen. Wie Künstlerische Leitung: Felix Meyer-Christian Künstler/ können Kunst und Technologie zukünftig in- innen: Philine von Düszeln, Caleb Johnston (GB), Geraldine (CA), Zahava Rodrigo, Marcus Thomas, Maria Walser, teragieren und sich inspirieren, wenn es da- Pratt Costa Compagnie Proben und Premiere – Ballhaus rum geht, Visionen für den Körper von mor- Ost, Berlin: 29. �. – 26. �. 20�9; Aufführung und Konferenz gen zu entwerfen? Aus der Perspektive des – Ballhaus Ost, Berlin: 27. – 30. �. 20�9; Aufführungen Bangkok: Herbst 20�9; Aufführung Northern Stage, Tanzes experimentieren die Festivalteil- Newcastle: Herbst 20�9; Aufführung Zürich: Winter 20�9 nehmer mit körperlichen Ausdrucksformen, Transformationen und neuen Körperentwürfen. Die Ausstellungen legen ihren Fokus auf die zeitgenössische künstlerische Auseinandersetzung mit den technischen, chemischen und virtuellen Körpererweiterungen vom Bio-Hacking über den Einsatz von Prothesen Interdisziplinäres Projekt zwischen Tanz, bis hin zum Phantomschmerz. Ein FilmproBildender Kunst und Wissenschaft gramm und ein Symposium runden die Annäherung an den „Homo Protheticus“ ab. Wie nehmen choreografische Strukturen und deren digitalisierte Darstellung Einfluss auf → www.tanzhaus-nrw.de die Bildende Kunst? Was lässt sich aus den Künstlerische Leitung: Bettina Masuch, Stefan Schwarz Kurator/innen: Cis Bierinckx (BE), Alain Bieber, Karin Übertragungsprozessen ins Digitale und den Harrasser (AT), Florian Deterding Künstler/innen: Eric möglichen Übersetzungsfehlern lernen? Für Minh Cuong Castaing (FR), Daito Manabe (JP), Hiroshi Ishiguro (JP), Doris Uhlich (AT) Filmmuseum Düsseldorf: dieses Forschungs- und Ausstellungsprojekt �. – ��. �. 20�9; Gastspiele – tanzhaus nrw, Düsseldorf: kooperieren das tanzmainz Ensemble des 7.– ��. �. 20�9, Konferenz & Robolab – NRW Forum, Staatstheater Mainz, die Kunsthalle Mainz Düsseldorf: �5. – �7. �. 20�9, Ausstellung – NRW Forum, Düsseldorf: �5. �. – �5. �. 20�9 und das Forschungsprojekt Motion Bank der Hochschule Mainz. In drei Disziplinen und unterschiedlichen ästhetischen Formaten beschäftigt sich „Between Us“ mit Übertragungs- und Übersetzungsprozessen und führt zeitgenössische Positionen des Tanzes, des Creative Coding und der Bildenden Kunst zusammen. Die Grundlage des Projektes bildet eine neue Arbeit des finnischen Choreografen Taneli Törmä. Die Choreografie und die daraus entstehende Digitalisierung des Tanzes dienen als Ausgangspunkt für die ErforEine Trilogie von Trajal Harrell schung von Tanzerfassung und Vermittlung. Im Rahmen des Forschungsprojektes finden Die Performancereihe „Porca Miseria“ des zwei Workshops als sogenannte „Coding Labs“ New Yorker Choreografen Trajal Harrell por- statt, in denen Akteure der Creative-Coträtiert drei Frauenfiguren und ihre sozia- ding-Szene mit dem Datenmaterial experilen Milieus. mentieren können. Im ersten Teil geht es um die Protagonis- Zur finalen Ausstellung in die Kunsthaltin Maggie aus Tennessee Williams’ Theater- le Mainz sind bildende Künstler eingeladen – stück „Die Katze auf dem heißen Blechdach“, Tim Etchells, Ryan Gander, Sissel Tolaas u.a. die sich von ihrem alkoholkranken und mögli- –, die allesamt Grenzgänger zwischen den cherweise homosexuellen Mann nicht geliebt Disziplinen sind. Das Ausgangsmaterial ihrer fühlt. Der zweite Teil stellt mit Medea eine installativen Arbeiten wird der Tanz und das Frauenfigur ins Zentrum, die auf tragische darauf basierende Datenmaterial sein. Auch Weise aus dem ihr zugewiesenen Rollenbild die Choreografie selbst wird im Rahmen der ausbricht, indem sie nach dem Ehebruch ih- Ausstellung aufgeführt und ihre per Video, res Mannes Rache nimmt und die gemeinsa- Annotation und Motion-Capturing erfassten men Kinder tötet. Der dritte Teil der Trilogie Tanzdaten werden als Open Source zur Verbasiert auf Trajal Harrells Besuch am Sterbe- fügung gestellt. Offene Schnittstellen in den bett von Katherine Dunham. Er thematisiert Ausstellungsräumen laden Besucherinnen darin Fragen, die er der Anthropologin, Cho- zum Experimentieren vor Ort ein. reografin und Aktivistin Dunham gerne noch → www.hs-mainz.de gestellt hätte. Die einzelnen Produktionen → www.kunsthalle-mainz.de www.staatstheater-mainz.com sind ästhetisch durch einen von Harrell ent- → Künstlerische Leitung: Stefanie Böttcher, Honne Dohrworfenen Soundtrack verbunden, der unter- mann, Florian Jenett Choreografie: Taneli Törmä (FI) schiedliche Genres und Instrumentierungen Komponist: Søren Lyngsø Knudsen (DK) Bildende Künstkreuzt. Thematisch setzt sich Harrell in allen ler/innen: Tim Etchells (GB), Ryan Gander (GB), Sissel Tolaas (NO) u.a. Choreographic Coding Lab – Kunsthalle drei Stücken intensiv mit den Themen Fami- Mainz: 24. – 28. �. 20�8 & 22. – 26. �. 20�9; Ausstellungslie und Gewalt sowie mit der Frage auseinan- eröffnung und Vorstellungen – Kunsthalle Mainz: der, wie eine Gesellschaft Menschen einbe- �4. �. – �6. �. 20�9 zieht und ausgrenzt. Der afroamerikanische Tänzer und Choreograf Trajal Harrell erhielt zahlreiche inAbbildung → Michael Wang Kanarischer Hornklee. ternationale Auszeichnungen und wird derExtinct in the Wild, 20�7. zeit als einer der wichtigsten Choreografen betrachtet. Seine Arbeiten waren bisher nur selten in Deutschland zu sehen. Mit der Trilogie knüpft Harrell an seine künstlerische Forschung zum Tanzstil des Voguing, zum japanischen Butoh-Tanz und dem griechischen Theater an.
Between Us
PORCA MISERIA – (misery, you bitch!)
→ www.kampnagel.de Choreografie: Trajal Harrell (US) Performer: Ondrej Vidlar (CZ), Camille Durif Bonis (FR), Perle Palombe (FR), Songhay Tolden (GB), Vania Doutel Vaz (PT), Rob Fordeyn (BE), Chris Matthews (US), Trajal Harrell (US), Nesheeka Nedsreal (US), Tiran Willemse (ZA), Stefanie Amurao (CA) u.a. Aufführungen Kampnagel, Hamburg – The Deathbed of Katherine Dunham: �. – ��. �. 20�9, Medea: ��. – 22. �. 2020; Maggie the Cat: Oktober 2020