Magazin #34 der Kulturstiftung des Bundes

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34 Nr.

Magazin

Frühling  ⁄ Sommer 2020

Dilemmata


Stephan Lessenich Milo Rau Till Briegleb María Berríos Rita Segato Senthuran Varatharajah Alexander Koch Lyn Gardner José Leonilson Cathrin Mayer

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Text im Einleger

José Leonilson, The pure and hard, 1991 Stickerei und Assemblage / Faden, Halbedelsteine, Steine und Kupferdraht auf Voile, 26 × 21 × 1,7 cm   ⟵


Editorial

Wie werden Sie dieses Heft lesen? Als Schrift gewordenes Echo aus einer anderen Zeit? Wir wissen es nicht. Unter dem Namen Coronakrise verspricht die Jetztzeit als historische Zäsur in die Geschichte einzugehen. Angesichts der anhaltenden Auswirkungen der Coronakrise und der Wahrscheinlichkeit weiterer Pandemien wird es eine Rückkehr zum Status quo ante ebenso wenig geben wie ein Weiterso. Nicht von ungefähr spüren Kulturschaffende und auch viele Kulturinstitutionen die Folgen des unumgänglichen social distancing als besonders schmerzhaft, als eine existenzielle Gefährdung unbekannten Ausmaßes. Begreift man die Coronakrise als eine so gravierende Zäsur, dass sie die Geschichte in ein Vorher und ein Nachher einteilt, ist einer ihrer einschneidendsten kulturellen Effekte womöglich die Herausforderung an ein neues Verhältnis zur Dimension der Zeit. Man könnte von einem Perspektivwechsel mit erheblichen Folgen für die kulturelle Produktion sprechen: Das „Vorher“ war im Horizont von Digitalisierung und Globalisierung durch die Dominanz des Denkens in räumlichen Dimensionen geprägt. Der Fokus vieler Kulturschaffender und entsprechend auch der von Kulturförderern lag auf der Erweiterung von Raum und Radius kultureller Aktivitäten, auf dem forcierten internationalen und interkontinentalen Austausch, der Aneignung des digitalen Raums bis hin zur Forderung nach mehr Kultur „in der Fläche“. Als würde die Dimension der Zeit auf ihre gesellschaftliche Rehabilitation pochen, meldet sie sich nun mit dem full stop im Gefolge des Coronavirus zurück — und zwar global. Die Coronakrise zwingt allen eine andere Zeitrechnung auf, die bisherige gesellschaftliche Sicherheiten und individuelle Gewohnund Gewissheiten in Frage stellt. Wahrscheinlich erzeugt Corona sogar ein neues Zeitmaß, dessen Grundeinheit neuerdings „auf Sicht Fahren“ heißt. In die Sprache der Kultur übersetzt: Wir führen ein Leben auf Probe. Welche Herausforderungen das für den Kulturbetrieb darstellt, ist bisher erst schemenhaft zu erahnen. Das „Nachher“ wird durch die Einsicht geprägt sein, dass auch die Zeit — und nicht nur der Raum — Gestaltung erfordert. Die gerade für Kulturschaffende wichtige Ressource Planbarkeit ist jetzt schon für viele auf unabsehbare Zeit zu einem knappen Gut geworden, die Halbwertszeit von Ideen und Projekten im Horizont der unbestimmten Pandemie-Zeit kaum noch kalkulierbar, die Geltungsdauer von Vorhersagen auf Tage geschrumpft. Die Produktion dieses Heftes ist unmittelbar von jener Zäsur betroffen: Innerhalb weniger Wochen erscheint vieles von dem, was wir vor Ausbruch der Coronakrise beauftragt haben, als überholt, zumindest in seiner Aktualität und Dringlichkeit. Wenn es um das Überleben des Kulturbetriebs und die

Existenzsicherung freischaffender Künstlerinnen geht, darf man dann noch Fragen nachgehen, die vor der Coronakrise vordringlich erschienen? So weitermachen wie ursprünglich geplant? Oder verwerfen und ein Heft über die coronabedingten Kalamitäten der Kulturschaffenden nachproduzieren? Mit welcher Halbwertszeit? Wir haben uns für die Beibehaltung des Themenschwerpunkts „Dilemmata“ entschieden. Es erscheint uns wie die Signatur der Gegenwart. Ganz gleich, um welchen gesellschaftlichen Bereich es geht, überall ist festzustellen, dass Entscheidungen schwieriger geworden sind, dass sie in subjektiv empfundene Dilemmata führen. Dass sich Gründe „dafür“ mit denen „dagegen“ die Waagschale halten, unzweifelhafte Lösungen und einfache Auswege nicht in Sicht sind. Sich in einem Dilemma wähnen, bedeutet in heutiger Zeit nicht mehr und nicht weniger als ein „wir wissen (noch) nicht, wo es langgehen soll“. Vielleicht ist es aber auch ganz anders: Vielleicht ist die Wahrnehmung eines Dilemmas in Wahrheit eine Konstruktion, ein Schutzschild, eine Entschuldigung für Bequemlichkeiten, für die Vermeidung der Unannehmlichkeiten zeitraubenden Umdenkens. Darauf macht Till Briegleb in seinem Artikel Konsequenzlähmung Seite 6 angelegentlich seiner Überlegungen zum Dilemma zwischen dem Postulat internationalen kulturellen Austausches und den Auflagen des Klimaschutzes aufmerksam. Das Heft beginnt mit dem im westlichen Diskurs womöglich größtmöglichen Dilemma: Ist die Rettung des Planeten nur um den Preis der Einschränkung demokratisch verbriefter sozialer Teilhabe möglich, haben wir den Soziologen Stephan Lessenich Seite 2 gefragt. Er mutet einem mit seiner Analyse, die Demokratie sei ökologisch nicht unschuldig, einiges zu. Der Theatermacher Milo Rau hat sich damit einen Namen gemacht, auf der Bühne und in Filmen sein Publikum mit kapitalistisch und kriegerisch erzeugtem Elend zu verstören, den humanitären Katastrophen im Kongo, in Mossul und aktuell mit der verzweifelten Lage der Landlosen im Amazonas. Wir haben ihn um einen Beitrag zum Dilemma zwischen Ethik und Ästhetik gebeten: Sind es mehr als die laut Andy Warhol berühmten �5 Minuten, in denen jeder ein Künstler sein darf, wenn die Entrechteten in einem Theaterstück tragende Rollen bekommen? Milo Rau spricht bezeichnenderweise nicht von einem Dilemma, sondern von gesellschaftlichen Widersprüchen, Seite 4 die sich in der Kunst notwendig widerspiegeln. María Berríos, eine der Kuratorinnen der ��. Berlin Biennale, und die in Lateinamerika prominente feministische Anthropologin Rita Segato haben wir gefragt, wie sie das Dilemma einschätzen, wenn die postkoloniale Strategie zur Überwindung eurozentristischer Perspektiven darin besteht, „anderen eine Stimme zu geben“. Sie halten auf

unterschiedliche Art dagegen. „Nehmen statt geben“ ist das Motto von Berríos. Seite 8 Indigene Kulturgüter vor dem neokolonialen Zugriff schützen, den Europäern die Illusion rauben, sie könnten ihrer in ihrer ursprünglichen Bedeutung jemals habhaft werden, damit trotzt Segato Seite 9 der freundlichen Übernahme. Nicht von ungefähr haben wir den Einleger mit Bildern des brasilianischen Ausnahmekünstlers Leonilson zwischen diese beiden Beiträge aus dem lateinamerikanischen Kontext eingefügt. In seiner Auseinandersetzung mit identitätspolitischen Fragen sowie dem Zusammenhang von Körper und Politik war der �993 verstorbene Künstler Wegbereiter für eine Kunst, die den gesellschaftspolitischen Zurichtungen der brasilianischen Militärdiktatur auf unbeugsame und höchst fantasievolle Weise Widerstand leistete. Sein vielschichtiges Schaffen soll erstmals in Europa in einer umfassenden Werkschau in den Berliner KW Institute for Contemporary Art in diesem Herbst gezeigt werden. Die Kunsthistorikerin Cathrin Mayer stellt den hierzulande noch weitgehend unbekannten Künstler auf der Rückseite des Einlegers vor. Im unabsehbaren Horizont der Coronakrise denkt man unwillkürlich an Bertolt Brechts Verse aus der Dreigroschenoper: „Ja, mach nur einen Plan / sei nur ein großes Licht / und mach dann noch 'nen zweiten Plan / gehn tun sie beide nicht.“ Mögen die Kuratoren durch eine kluge Lösung Brechts düstere Prognose widerlegen! Das Dilemma der Repräsentation behandelt Alexander Koch Seite 12 am Beispiel der Neuen Auftraggeber. Eine vergleichsweise kleine Gruppe von zivilgesellschaftlich engagierten Menschen sorgt für Veränderungen in ihrem sozialen Umfeld, von denen alle betroffen sind. Woher nimmt sie, wie organisiert sie ihre Legitimation? Und Lyn Gardner Seite 14 stellt die nicht nur in der Theaterszene virulente Frage, wie man dem circulus vitiosus entgehen kann, dass bewusstseinsverändernde Kunst vielfach nur das Publikum anspricht, das ohnehin schon das „richtige“ Bewusstsein hat. Der literarische Beitrag dieses Heftes von Senthuran Varatharajah ist dem grundlegenden Dilemma, dem existenziellen Drama der Liebe gewidmet. In der Sprache der Liebe wird es in Metaphern des Einverleibens manifest. Der Wunsch nach maximaler Nähe, dem identischen Aufgehobensein im anderen, schlägt um in kannibalistische Vernichtung. Seite 10 Was ist, wenn Sie dieses Heft in den Händen halten? Wir wissen es nicht. Wird dieses Editorial von den Ereignissen und Entwicklungen überholt worden sein? Das alte Denken manifestiert sich offensichtlich im Plusquamperfekt. Was wir brauchen ist eine Sprache im Tempus der Zukunft. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. Hortensia Völckers, Kirsten Haß Vorstand der Kulturstiftung des Bundes

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Die Demokra ökologisch n unschuldig Ansprüche auf soziale Teilhabe werden im „Demokratozän“ über die Ankurbelung der ökonomisch-ökologischen Verwertungsmaschinerie, über eine noch intensivere Ausbeutung der natürlichen Ressourcen befriedigt. Der Soziologe Stephan Lessenich geht dem Dilemma zwischen Demokratie und Ökologie auf den Grund. Wie kann man sich einen Ausweg vorstellen, wollten wir wissen.

Zum Selbstverständnis moderner Gesellschaften gehört, dass Demokratie als Regierungsform alternativlos ist. Sie nennen Demokratie einen „Hochwertbegriff“, mit dem sich auch jene schmücken, die sie aushöhlen. „Gelenkte“ oder „illiberale“ Demokratie…, auf das Label demokratisch will niemand verzichten. Signalisiert diese Widersprüchlichkeit, dass die Demokratie mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts — Klimawandel, Digitalisierung, Migration — an eine historische Grenze stößt? In Ihrem neuen Buch beschäftigen Sie sich mit den „Grenzen der Demokratie“. Zum einen seien es welche, mit denen die Demokratie selbst operiere: Die Dynamik von Öffnung und Schließung gehört zu ihrer flexiblen Funktionslogik. Sie hat der Demokratie bisher das Fortleben gesichert. Es scheint, als könnten wir uns darauf immer weniger verlassen. „Grenzen der Demokratie“ ist eine doppel­ sinnige Wendung. Anders als es die Selbstbe­ schreibung der Demokratie suggeriert — „glei­ ches Recht für alle“ —, zieht sie doch immer wieder Grenzen. Mehr noch, ihr Berechti­ gungsversprechen lebt geradezu von seinen Grenzziehungen, also davon, dass eben kei­ neswegs „alle“ die gleichen Rechte genießen. Das gilt am offensichtlichsten nach außen, also gegenüber all denjenigen, die keine Bür­ gerinnen, keine anerkannten Mitglieder des politischen Gemeinwesens sind — die nach Europa Geflüchteten der letzten Jahre kön­ nen ein Lied davon singen. Aber ebenso schon lange hier ansässige Nicht­Staatsbürger, de­ nen das Recht auf demokratische Mit wir­ kung und politische Mitbestimmung wie selbstverständlich verwehrt wird. Dass die­ ses Grenzregime seinerseits Grenzen hat, dass seine Effektivität und auch Legitimität im Schwinden begriffen sind, scheint mir

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offenkundig zu sein: In ethnisch und kulturell heterogenen Gemeinwesen sind die Grenzen demokratischer Grenzziehungen erreicht, ja überschritten. Und diese gesellschaftliche Heterogenität wird im Zeitalter der Migrati­ on absehbar und unweigerlich weiter zuneh­ men. Unter diesen Umständen werden die exklusiven Demokratien der westlichen Ge­ sellschaften ihre äußeren Grenzen nur mehr durch offene Gewaltausübung, durch Polizei und Militär, ziehen können. Das aber trifft das demokratische Selbst verständnis ins Herz: Dass die Rechte der einen — und letzt­ lich wenigen — scheinbar nur durch Entrech­ tung der anderen — der Vielen — zu gewähr­ leisten sind.

Sie machen in Ihrem Buch eine bisher wenig diskutierte Bedrohung der Demokratie aus, eine, wie Sie sagen, „fundamentale“ Grenze. Der kürzlich verstorbene Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat bereits 1964 ein fundamentales Dilemma der Demokratie identifiziert: „Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Es klingt wie ein aktuelles Palimpsest dieses Satzes, wenn Sie feststellen, dass die gegenwärtigen Demokratien sich gegen die natürliche Umwelt einer sozialen Welt richten, „deren Existenz und Lebensfähigkeit von stofflichen Voraussetzungen abhängt, die sie selbst nicht garantieren kann, sondern von denen sie ganz im Gegenteil material und praktisch zehrt“. Ist das wirklich ein Dilemma der Demokratie oder nicht vielmehr eines des Kapitalismus? Wenn er funktioniert, zerstört er seine Grundlagen, die Natur (und den Arbeiter), würde er demokratisch begrenzt werden können, kann er nicht mehr funktionieren. Die ökologischen Verwüstungen der Welt, deren Ausmaß uns — wenn überhaupt — erst ganz allmählich bewusst zu wer­ den beginnt, sind nicht allein dem Kapita­ lismus zuzuschreiben. Zweifelsohne: Ei­ ne Produktionsweise, die von der ewigen

Akkumulation von Wert lebt, von der neu­ erlichen Steigerung der wirtschaftlichen Wertschöpfung in jeder neuen Periode; die selbst noch unter Bedingungen der Höchst­ produktivität in der nächsten Runde eine weitere Schippe drauf legen muss — eine solche Produktionsweise liegt in der Tat an der Wurzel der hemmungslosen Aneig­ nung, Ausbeutung und „Verwertung“ natür­ licher Ressourcen. Es gibt daher gute Grün­ de dafür, statt einigermaßen unverfäng­ lich vom „Anthropozän“ zu reden, also vom „menschengemachten“ Gestaltwandel der Erde, die Dinge beim Namen zu nennen und vom „Kapitalozän“ nicht zu schweigen: Es ist der kapitalistische Akkumulations­ und Profitabilitätszwang, der es seit nunmehr zwei Jahrhunderten notwendig macht, die Erde im wahrsten Sinne des Wortes zu ver­ heizen. Allerdings ist das Wissen um diesen Zusammenhang beinahe schon Allgemein­ gut — jedenfalls im Vergleich zu dem Un­ wissen bzw. dem verbreiteten Nicht­Wis­ sen­Wollen um die Rolle der Demokratie als Co­Produzentin der modernen Umweltzer­ störung. Die Demokratie hat den Kapitalis­ mus gezähmt — aber um den Preis, dass die Vernichtung der menschlichen Lebens­ grundlagen auch noch eine allgemein akzep­ tierte Rechtfertigung erhalten hat. Denn die materiellen Teilhaberechte, die sich breite Bevölkerungsmehrheiten in den westlichen Demokratien erstritten und erkämpft ha­ ben, ruhen nun mal auf jenen ökonomisch wertschöpfenden — und ökologisch wert­ vernichtenden — Potentialen der kapitalis­ tischen Produktionsweise, deren Erträge mit dem Aufstieg des demokratischen Wohlfahrtsstaats wenigstens ansatzweise auch den Nicht­Besitzenden zugutegekom­ men sind. Fatalerweise haben seither nicht mehr nur die Kapitaleigner, sondern auch die Lohnabhängigen ein Interesse an der Aufrechterhaltung eines ökonomischen Sys­ tems, das zwar die natürlichen Lebensgrund­ lagen ruiniert, andererseits aber eben so­ ziale Teilhabeansprüche bedient. So gese­ hen, könnte man von der welthistorischen

Ära, in welcher der Mensch sich die Erde wahrhaft untertan gemacht hat, mit Fug und Recht auch als „Demokratozän“ spre­ chen. Und die Widersprüche reichen noch weiter: Zwar war es auch die Demokratie, die über die neuen sozialen Bewegungen Umweltschutzinteressen politisch hat wirk­ sam werden lassen, so dass man heute im Rhein wieder baden kann und der Him­ mel über der Ruhr tatsächlich blau ist. Dies jedoch um den Preis einer, wie Ingolfur Blühdorn und andere es ausdrücken, syste­ mischen Nicht­Nachhaltigkeit der westli­ chen Produktions­ und Lebensweise. Anders­ wo nämlich kann man (oder sollte man tunlichst) im örtlichen Rinnsal nicht ein­ mal seine Kleider waschen, und den blauen Himmeln hierzulande korrespondieren die schwarzen Himmel in all jenen Metropol­ regionen der Welt, in die der Westen in den vergangenen Jahrzehnten seine schmutzi­ ge Produktion ausgelagert hat. Wie man es also dreht und wendet: Die Demokratie ist ökologisch nicht unschuldig.

Es gibt Forderungen, auch der Natur (Wasser, Erden, Luft, Flüssen, Bergen etc.) analog zu den Menschenrechten ein Recht auf Unversehrtheit zu verleihen, ihr „subjektive Rechte“ zur Wahrung ihrer „Würde“ einzuräumen. Einige lateinamerikanische Staaten haben die Natur unter dem Namen Pacha Mama als Rechtssubjekt in ihren Verfassungen verankert. Das hat weitreichende Auswirkungen auf Freiheit und Selbstbestimmung menschlicher Individuen, auf das gesamte Rechtssystem. Droht da ein „crash of civilization“? Der „crash of civilization“ ist schon längst eingetreten. Oder anders: Die westli­ che Zivilisation leidet nicht erst seit der Auf­ klärung und der durch sie geleisteten phi­ losophischen Selbstrechtfertigung der Mo­ derne unter einer strukturellen Selbstüber­ schätzung, einer schamlosen Selbstüberhö­ hung. Was hat sie uns nicht alles gebracht, die westliche Zivilisation — fast ist man ver­ sucht, das entsprechende Brainstorming der


atie ist icht judäischen Freiheitskämpfer in Das Leben des Brian, ihre den römischen Besatzern zu verdankenden Errungenschaften betref­ fend, zu wiederholen: Ja, von der Kanalisa­ tion bis zum angstfreien nächtlichen Fla­ nieren in der Großstadt, von ungeahnten persönlichen Handlungsspielräumen bis zu einem nie dagewesenen allgemeinen Le­ bensstandard hat uns die westliche Zivili­ sation — die gute alte Kombination von „freedom and democracy“ — viel Gutes ge­ bracht. Mit der Betonung auf: uns. Von An­ fang an haben sich die Aufklärungsphilo­ sophie und die westliche Zivilisation nämlich um all das, was ihnen minderwertig — weil unaufgeklärt und nicht­westlich — erschien, einen (mit Verlaub, verzeihen Sie die unfei­ ne Wendung) feuchten Dreck geschert: Um „Schwarze“ und „Wilde“, um Frauen und die Natur. Um das Andere und die Anderen der männlich­weißen­westlichen Herrschafts­ und Erfahrungswelt des vermeintlichen „Zivilisiert­Seins“ eben. Der Doyen der soziolo­ gischen Theorie des demokratischen Wohl­ fahrtsstaats, Thomas H. Marshall, zitiert unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem bahnbrechenden Text Citizenship and social class seinen Namensvetter, den Ökonomen Alfred Marshall, mit der zivilisa­ torischen Utopie, dass es der modernen De­ mokratie via Bildung und Sozialschutz ge­ lingen möge „to enable every man to be a gentleman“. Man darf und muss davon aus­ gehen, dass diese programmatische Vision nicht nur ernst, sondern auch wörtlich ge­ meint war: Die Welt — eine Welt der „gen­ tlemen“, wie wir sie kennen. Beziehungs­ weise wie wir selbst welche sind: Die Welt, geformt — in jedem Sinne: gebildet — nach unserem Ebenbild. Was die Anderen davon halten dürften, hat in einer kolportierten Wendung Mahatma Gandhi zum Ausdruck gebracht. „What do you think of Western civilization?“ soll er einmal von einem weißen Journalisten gefragt worden sein — seine überlieferte Antwort, ob nun historisch kor­ rekt oder nur gut erfunden, bringt die Sa­ che zeitlos auf den Punkt: „I think it would be a good idea.“

Sie plädieren für eine „Demokratisierung der Demokratie“ durch Solidarität auch unter Ungleichen. Sie bestünde in einer sozialen Entgrenzung (mehr Teilhabe) und einer ökologischen Begrenzung (weniger „Anteil“ an den natürlichen Ressourcen). Ein Dilemma, wie Sie selbst sagen, weil Emanzipationsbewegungen einerseits gestärkt und im Gegenzug beschnitten werden müssen. Wie umgehen mit der Tatsache, dass es die Demokratie in der Gegenwart mit gleich zwei Dilemmata zu tun hat, dem Böckenförde-Dilemma und, nennen wir es hier: dem Lessenich-Dilemma? In der Tat, wie man das Ding auch nen­ nen mag: Die Demokratie der Gegenwart, oder genauer — weil die Demokratie selbst ja kein Subjekt und handelnder Akteur ist — die Bürgerinnen demokratischer Ge­ meinwesen der Gegenwart befinden sich in einem veritablen Dilemma. Wollten sie die Demokratie sozial entgrenzen, also den ge­ sellschaftlichen Berechtigungsraum öff­ nen für bislang ausgeschlossene Gruppen,

Milieus und Klassen, dann könnten sie dies — demokratiepolitisch korrekt — gerade nicht auf die Weise tun, wie in real existie­ renden Demokratien zeitlebens mit Auswei­ tungen der Berechtigungszone umgegan­ gen worden ist: Nämlich derart, dass für die Erweiterung materieller Berechtigun­ gen ein erweiterter Zugriff auf natürliche Ressourcen praktiziert wurde. Wir wollen zusätzliche Ansprüche auf soziale Teilha­ be befriedigen? Na dann müssen wir eben die ökonomisch­ökologische Verwertungs­ maschinerie eine Stufe höher drehen lassen. Das Problem ist, dass die moderne Demokra­ tie durch und durch eine Output­Demokratie geworden ist: Entscheidend ist, was hinten rauskommt — mehr Wohlfahrt, mehr Kon­ sum, Wohlstand für vermeintlich „alle“. Egal hingegen ist, was dafür vorne rein muss: Fos­ sile Energie, stoffliche Ressourcen, natür­ liche Senken? Alles doch im Überfluss vor­ handen und billig zu haben! Persönliches Engagement, öffentliches Interesse, politi­ sche Mitsprache? Viel zu anstrengend, zu aufwändig, zu sinnlos! „Demokratie“ ist zur Worthülse verkommen, zur Floskel in Sonntagsreden und zur Metapher für freie Fahrt für freie Bürger. All dies als Dilemma zu adressieren, hieße zunächst genau das: Es überhaupt zum Thema zu machen, zum Gegenstand öffentlich­sozialer Diskussion, Verwunderung und — vielleicht — Empö­ rung. Das Dilemma aber auch politisch­prak­ tisch anzugehen, käme wahrhaft einem Münchhausen­Akt gleich: Die Bürger des politischen Gemeinwesens müssten über­ einkommen, die Gestaltung ihrer gesell­ schaftlichen Lebensverhältnisse tatsäch­ lich — und gemeinsam — in die eigene Hand nehmen zu wollen. Nach Lage der Dinge wird dies aber nur unter äußerstem öko­ nomisch­ökologischem Druck geschehen: Wenn nämlich unweigerlich klar wird, dass das bisherige Modell der Solange­das­ Ergebnis­stimmt­soll­uns­egal­sein­wie­ es­zustandekommt­Demokratie nicht län­ ger funktioniert.

Wie dem Klimawandel zu begegnen sei, beschäftigt auch viele Kulturschaffende. Wie sehen Sie deren Rolle im Prozess „Demokratisierung der Demokratie“? In der künstlerischen Praxis stecken viele von ihnen in einem Dilemma: Einerseits Solidarität mit Emanzipationsbewegungen gegenüber den sogenannten Mehrheitsgesellschaften, andererseits die aktuell offenbar notwendige Begrenzung auch von deren Ansprüchen im Namen allgemeiner Überlebenschancen auf diesem Planeten. Einerseits internationale Kooperationen, anderseits die Vermeidung von internationalen Flugreisen... Kulturschaffende stecken grundsätz­ lich in keinem anderen Dilemma als „normale“ Bürgerinnen. Aber womöglich stellt sich für sie die Frage noch dringlicher und begrün­ deter, was eigentlich die Voraussetzungen der eigenen Freiheit sind und welche Konse­ quenzen ihre Inanspruchnahme zeitigt. Zu­ gleich sind sie aus verschiedenen Gründen besser als andere positioniert, eben die­ se Fragen zu stellen und ihre Antworten öf­ fentlich zu machen. Genau hier sehe ich die politische Aufgabe kultureller Produktion:

Die Bedingungen der Möglichkeit des eige­ nen Tuns — und Lassens — zum Thema der kritischen Auseinandersetzung werden zu lassen. Wie kann mir selbstverständlich er­ scheinen, was für andere außerhalb ihrer Vorstellungskraft, geschweige denn ihrer Handlungsmacht liegt? Die Möglichkeiten der Selbstverständigung dafür zu nutzen, Selbstverständnisse zu befragen und Selbst­ verständlichkeiten zu erschüttern — darin sind sich Kulturschaffende und Wissens­ arbeiter (im Idealfall) durchaus ähnlich. Wenn sie dafür auch mal über den Atlantik fliegen müssen oder wollen — nun ja. Unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen sollte als Entscheidungshilfe dafür das gu­ te alte Fritz­Teufel­Kriterium in Anschlag gebracht werden: Wenn’s der Wahrheitsfin­ dung dient…

Welche Chancen geben Sie dem Prinzip Solidarität unter dem Druck der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts? Zurzeit sieht es ja mehr nach Spaltungen, nach Entsolidarisierung aus. Ist Solidarität (zumal unter sozial Ungleichen!) vielleicht nicht doch nur eine alte Utopie aus dem Köcher der Geschichte idealistischer weißer Männer? Verbirgt sich hinter dem sozialgeschichtlichen Hochwertbegriff „Solidarität“ Angst vor der unpopulären Forderung nach (eigenem) Verzicht? Aus einer ökonomisch und sozial privi­ legierten Position heraus argumentierend — also aus Sicht des oberen Fünftels un­ serer Gesellschaft oder auch des reichsten Fünftels der Weltgesellschaft — sind „Soli­ darität“ und „Verzicht“ heute keineswegs logische Gegensätze, sondern vielmehr ge­

radezu Synonyme. Die Soziologie hat es sich zur Regel werden lassen, unter Solidarität das wechselseitige füreinander Einstehen von Menschen zu verstehen, die sich als ei­ nander bzw. einer gemeinsamen Gruppe zugehörig fühlen. Einer solchen sozialen In­ zest­Solidarität möchte ich die soziologi­ sche Idee — und wenn Sie so wollen auch das gesellschaftliche Ideal — einer politi­ schen Queer­Solidarität entgegensetzen: Das nicht für­, sondern miteinander Han­ deln der Verschiedenen, also derjenigen, die wenig bis nichts miteinander teilen als das bloße Menschsein. Die Demokratie, die wir kannten und in den Zeiten der west­ lich­postkolonialen Nachkriegsprosperität zwar nicht lieben, aber doch schätzen lern­ ten, war Fundament und Effekt der sozialen Inzest­Solidarität westlicher Staatsbürger­ gesellschaften. Die kommende Demokratie wird Fundament und Effekt einer politi­ schen Queer­Solidarität sein, inner­ wie zwi­ schengesellschaftlich. Oder aber, so düster stehen die Dinge nun einmal, sie wird nicht sein. Das einzig Gute ist: Gerade wir, die (so steht angesichts der Leserinnenschaft dieser Publikation zu vermuten) doppelten Angehörigen des oberen Fünftels, haben noch die Wahl. Die Wahl, auf die soziale Be­ grenzung und ökologische Entgrenzung der Demokratie zu verzichten. Denn jeder „Ver­ zicht“, der gesellschaftlich relevant und de­ mokratisch der Rede wert sein soll, ist nicht individuell, sondern kollektiv; keine Politik mit dem Einkaufskorb, sondern eine Politik ohne Maulkorb. Es ist der gemeinsam orga­ nisierte Verzicht, an einer Demokratie teil­ haben zu wollen, die andere ausschließen muss, damit wir teilhaben können. Die Fragen stellte Friederike Tappe­Hornbostel

Stephan Lessenich ist Soziologe und Professor für Soziale Entwicklungen und Strukturen an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Viel diskutiert wurde in Fachkreisen, aber auch in einer breiteren Öffentlichkeit sein 20�6 bei Hanser Berlin erschienenes Buch Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. In jüngster Zeit beschäftigen ihn Fragen der Demokratie und ihren Funktionsbedingungen, z.B. in dem Band Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, 2019 herausgegeben von Hanna Ketterer und Karina Becker bei Suhrkamp. Im selben Jahr erschien von ihm Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem bei Reclam.

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Try again. Faıl again. Fail better. Aufgewachsen in Zuständen globaler Ausbeutung, können wir uns interkulturelle Zusammenarbeit nur als Fortsetzung dieser Ausbeutung ­ ­­vorstellen. Solidarität gilt dem westlichen Mainstream als Übergriffigkeit, das Aushalten von Widersprüchen — und oft leider auch das Zerbrechen daran — als Unverantwortlichkeit. Wie können wir aber trotzdem eine extreme, revolutionäre „globale Kunst“ wagen, fragt Milo Rau. Vergangenes Jahr drehten wir in Süditalien mit ehemaligen Darstellern der Jesus-Filme von Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson sowie einem Cast aus italienischen Kleinbauern und afrikanischen Plantagenarbeitern und Aktivistinnen ein Neues Evangelium. In der Region um Matera, europäische Kulturhauptstadt 2019 sowie Drehort des Evangeliums nach Matthäus und der Passion Christi, stecken geschätzt um die 500.000 Flüchtlinge aus Afrika fest. Sie leben in Baracken oder behelfsmäßigen Zelten, können wegen der Dubliner Verträge weder vor noch zurück und müssen sich auf den Tomaten- und Orangenplantagen zu Niedrigstpreisen verdingen. Mit den Billigprodukten überschwemmen die Hersteller die Herkunftsstaaten der Flüchtlinge und zerstören die dortige Landwirtschaft: ein in seinem unerbittlichen Zynismus perfekter neoliberaler Wirtschaftskreislauf. Was wäre einleuchtender, als hier den sozialrevolutionären Mythos der Jesusbewegung ins 21. Jahrhundert zu holen? Wenn wir also den Jesus-Darsteller unseres Neuen Evangeliums, den ehemaligen Plantagenarbeiter und heutigen Aktivisten Yvan Sagnet, durch die Lager begleiteten, um die Flüchtlinge zu Demonstrationen gegen ihre Illegalisierung aufzurufen, dann war das eine offene — und durchaus gefährliche — Revolte gegen die herrschenden Zustände. Denn die süditalienische Agrarindustrie wird beherrscht von der italienischen und nigerianischen Mafia, die wiederum mit den großen Nahrungsmittelkonzernen kooperieren. Die verschiedenen nationalen Flüchtlingsgruppen werden vom Staat und den Unternehmern gegeneinander ausgespielt. Sagnets Revolte aber bestand gerade darin, die verschiedenen betroffenen Gruppen in ihrem Kampf um Rechte und Würde zu vereinen: afrikanische und italienische Landarbeiter, Sexarbeiterinnen und klassische Gewerkschaften, Kleinbauern und international agierende NGOs. Parallel zum Filmdreh — der Jesusfilm Das Neue Evangelium kommt im Herbst 2020 in die Kinos — führte die Revolte der

Würde so unter anderem — vor allem auf Betreiben unserer Dramaturgin Eva-Maria Bertschy und Yvan Sagnets — zur Gründung der Häuser der Würde: bis anhin 50 der bisher obdachlosen und illegalen Darsteller des Neuen Evangeliums haben einen festen Wohnsitz und damit Papiere, bis Ende des Jahres sollen es 1350 sein. Wie ein paar Jahre zuvor das Kongo Tribunal, in dessen Rahmen ein transnationaler Gerichtshof für Wirtschaftsverbrechen westlicher Firmen im Ostkongo entstand, ist das Neue Evangelium so mehr als ein Kunstprojekt, etwas anderes als ein Film: Es ist ein Akt ziviler Selbstermächtigung. Es schafft Lebens- und Aktionsräume, die im globalen Wirtschaftssystem nicht vorgesehen waren. „Wo   die Politik versagt, hilft nur die Kunst“, schrieb DIE ZEIT zum Kongo Tribunal. Denn es gibt, paradoxerweise, nur eine globale Wirtschaft, ein globales Klima, globale Informations- und Flüchtlingsströme. Eine globale Zivilgesellschaft oder gar eine globale Gesetzgebung aber gibt es nicht. Sie muss — von unserer Generation — geschaffen werden, projekthaft, utopisch, unfertig. Womit sich bei allen Projekten dieser Art — aktuell etwa bei Antigone im Amazonas, für die wir im brasilianischen Amazonas mit indigenen Aktivistinnen und der Landlosenbewegung zusammenarbeiten — die Frage stellt: Welche Nebenwirkungen bringt diese Selbstermächtigung für die Beteiligten mit sich? Birgt der sogenannte „globale Realismus“ nicht die Gefahr in sich, dass die ohnehin bereits Ausgebeuteten, die Rechtlosen und ihrer Würde Beraubten im künstlerischen Überbau des globalen Kapitalismus einfach noch einmal in ihrer Rolle als Ausgebeutete wiederkehren? Ich denke, dieses Problem besteht tatsächlich. Ich denke, dass globale Solidarität

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oder Kunst mehr oder weniger daran gemessen werden sollten, wie sie mit diesen Widersprüchen umgehen: wie sie thematisiert, aber — was noch wichtiger ist — nicht in der Thematisierung und den damit verbundenen narzisstischen Überreaktionen (White Guilt etc.) steckenbleiben, sondern sie bei aller Widersprüchlichkeit versuchen zu bearbeiten. Ja, ich denke sogar, dass der Begriff der „Kunst“, wie wir Europäer ihn seit der Romantik verwenden, hier nicht mehr funktioniert — weshalb ich vor über zehn Jahren den Begriff der „Unst“ vorschlug: eine „Kunst“, die nicht nur im Produkt, sondern vor allem auch im solidarischen Akt der Kunstproduktion selbst besteht. Oder anders ausgedrückt: In Wahrheit ist die Bezeichnung von Projekten wie Das Neue Evangelium als Kunst im bürgerlichen Sinn — also als Einladung zu einem „Werk“ oder einer „Ausstellung“, einer „Publikation“ oder einer „Premiere“ — bloß ein Trick, um einen Möglichkeitsraum für zivilgesellschaftliche Selbstermächtigung zu schaffen. Genauso entscheidend wie die Bilderpolitik des Films (ein schwarzer Jesus, weibliche Apostelinnen etc.) war uns beim Neuen Evangelium, dass eben nicht nur ein Film, eine Ausstellung, ein Passionsspektakel und eine Politkampagne entstand, sondern dass die in Italien erste von Migranten selbst geführte Plantage unterstützt wurde (und weiterhin wird). Dass für die Teilnehmer am Projekt, die aktuell noch in Baracken leben, eine Reihe von Häusern ausgebaut wurden, dass sie selbst Papiere bekommen. Dass dieses Neue Evangelium ein — bei aller Begrenzung — revolutionäres Beispiel postkapitalistischer Landnahme ist, ein realpolitischer Entwurf, der die aktuell identitätspolitisch gegeneinander ausgespielten Konzepte von Migration und Heimat miteinander zu versöhnen versucht. Und was auch immer davon gelingt und was scheitert: Ich glaube, globale Kunst öffnet Möglichkeitsräume, sie bringt das Entfernte, das scheinbar ­Unverbundene zusammen, in diesem Fall einen weißen europäisch-

nahöstlichen Mythos und einen schwarzen Erlöser, Religion und Revolution, „weiche“ Bilder- und „harte“ Realpolitik. „Lieber gute Sozialarbeit als schlechte Kunst“, hat Matthias Lilienthal einmal gesagt; im globalen Realismus aber gehört ästhetische und soziale Phantasie zusammen, hierarchiefrei. Mnouchkine, Brecht, Schlingensief oder Beuys: Waren das Sozialrevolutionäre, Politikerinnen oder Künstler? Oder Simone de Beauvoir? Oder Che Guevara? Oder Pussy Riot? Sind das Selbstverwirklicherinnen oder Universalisten? Haben sie nicht beides vereint — und sich damit, wie Srećko Horvat in Die Radikalität der Liebe schreibt, in letztlich unauflösbare Widersprüche verwickelt? Denn ein Effekt der Globalisierung ist es, dass Ursache und Folge von kriegerischer ökonomischer, ökologischer oder auch einfach psychologischer Machtanwendung voneinander getrennt sind. Wir konsumieren Bilder und Rohstoffe, die in Weltgegenden produziert werden, die wir nicht kennen. Der Soziologe Stephan Lessenich hat in Bezug auf die europäischen Industrienationen von „Externalisierungsgesellschaften“ gesprochen: die sozialen und ökologischen Folgen unserer Lebensform werden nach Afrika, in den Nahen Osten oder in die Camps an der Peripherie Europas ausgelagert — wie in früheren Jahrhunderten in die düsteren Vorstädte. Der globale Realismus versucht nun diese Externalisierungsleistung im Rahmen von Projekten umzudrehen. Ich glaube, bürgerliche Kunst, die — so avantgardistisch sie sein mag — immer identitäre Kunst bleibt, macht im globalen Kapitalismus keinen Sinn mehr, da es die Außenposition nicht mehr gibt. Erst wenn man scheinbar fremde, entfernte Konflikte als die eigenen begreift, begibt man sich auf die Ebene der globalen Kapital- und Bewusstseinsströme. Jesus kehrt zurück nach Europa — aber er kommt aus Kamerun und seine Apostel sind Flüchtlinge, Land- und Sexarbeiterinnen, Anarchisten, Philosophinnen — aber eben auch Polizisten, einfache italienische


Bürgerinnen, Schauspieler. Das Problem einer solcherart inklusiv und global gedachten Ästhetik ist natürlich, dass die in ein imperiales Außen ausgelagerten Probleme plötzlich zu internen und künstlerischen werden. Wo der Staat abwesend ist, ist man manchmal zur Zusammenarbeit mit lokalen mafiösen Machtstrukturen oder mit korrupten Eliten gezwungen, immerhin momentweise. Oder man mischt sich in interkulturelle Debatten ein, deren reales Gewaltpotential sich erst im Projekt selbst enthüllen (Orestes in Mossul). Kurzum: Arbeitet man außerhalb der sicheren Grenzen des westlichen Diskurses, so setzt man sich der Wahrheit der Verhältnisse aus. Es kehrt projektintern jene von Marx „in den Kolonien“ lokalisierte „Nacktheit“ des Kapitalismus wieder, auf der der westliche Wohlfahrtsstaat und damit unsere Demokratie gründen. Der globale Künstler wird, wie ich vor fünf Jahren auf der Tour der Filmfassung des ersten Kongo Tribunals durch den Ostkongo schrieb, zum „Kapitalist des Leidens“: das System und die durch dieses System kontrollierte Empfindlichkeit ist stärker als die Absicht, auch als die Tatsächlichkeit. Was auch immer man tut, es wird in überholte Systeme der Darstellung und der Wahrnehmung eingelesen. Denn globale Kunst geht grundsätzlich und methodisch „zu weit“. Dies gilt — das ist jedenfalls unsere Erfahrung — vor allem für Statusunterschiede und Fragen der Identitätspolitik: externalisierte Widersprüche werden zu geteilten Widersprüchen, theoretische Debatten zu realen Problemen, „kalte“ Tatsachen zu „heißen“ Problemen. Es kommt zum Streit, aber eben auch — wenn man Streit dialektisch versteht — zu gegenseitigen Lern- und vor allem langfristigen Austauschprozessen. Global arbeiten heißt, im aktuellen System nicht vorgesehene Netze der theoretischen Debatte und der praktischen Solidarität zu schaffen. „Dies ist die einzige Kunst, die uns hilft“, sagte Yvan Sagnet auf einem Panel vor einigen Wochen zum Neuen Evangelium und der Revolte der Würde. Denn indem man in Gebieten „ohne kulturelle Infra-

struktur“ arbeitet — wie es im 9. Satz des Genter Manifests heißt — entstehen zwangsläufig neue kulturelle Infrastrukturen: wo es  — wie im Ostkongo — schlichtweg keine Kameramänner oder keinen Theaterraum, wo es  — wie im Irak — keine Auftrittsmöglichkeiten für weibliche oder gar queere Schauspieler gibt, müssen gemeinsam welche geschaffen werden. Gerade weil man auf keine bestehenden Strukturen zurückgreifen kann, keinen Kanon und keinen Kodex — oder diese sogar brechen muss, um die nötigen Freiräume zu schaffen — sind solche Projekte immer extrem zeit- und arbeitsintensiv. Die Arbeit am Kongo Tribunal begann Ende der Nullerjahre, 2015 fand das erste Kongo Tribunal statt und im September 2020, also nochmal fünf Jahre später, wird das zweite über die Bühne gehen, gefilmt von einer örtlichen Produktionsgesellschaft. Orestes in Mossul wiederum ist die Dokumentation eines Orestie-Workshops in Mossul im März 2019, vorläufiger Höhepunkt eines Austauschs, den wir im Nordirak im Sommer 2016 mit Empire begonnen hatten. „Theater ist kein Produkt, sondern ein Produktionsprozess“, wie es im Genter Manifest heißt. Natürlich läuft all dies für eine bezüglich langfristiger Prozesse spekulativ verfahrende Kritik unsichtbar ab. Soziale oder strukturelle Aspekte werden von der klassischen akademischen oder Zeitungs-Kritik meist sogar bewusst ausgeblendet, da es „nur ums Stück“ und „nur um den Künstler“ gehen soll — was dann natürlich als Vorwurf wieder auf die Künstler zurückfällt. Warum etwa griff die Kritik (nicht nur die italienische und nicht nur die rechte) in Bezug auf Yvan Sagnets und anderer Aktivisten getroffene Entscheidung, die Rolle des Jesus oder der Apostelinnen zu spielen, auf Wörter wie „Anmaßung“, „Größenwahn“, „positiver Rassismus“ und „Tokenismus“ zurück? Ich vermute, dass dies eine — weitgehend unbewusste — Erbschaft eines bürgerlichen Kunstbegriffs ist, der an kulturell homogene, von den gesellschaftlichen Kämpfen gereinigte Produktionsstrukturen gewöhnt

ist. Wo die Akteure ohnehin über mehr oder weniger identische Erfahrungshintergründe verfügen, geht es logischerweise „um die Kunst“ und nicht um die Beteiligten, ums Produkt und nicht um den Produktionsprozess. Erbittert geführte interkulturelle Auseinandersetzungen wie in Mossul, im Kongo aber auch in „europäischen“ Projekten wie Lam Gods oder der Europa Trilogie erscheinen nicht als von allen Beteiligten bewusst hergestellter Konflikt, sondern bloß als Skandal, welchen ein professionelleres Team gar nicht erst zugelassen hätte. Kein Wunder, erfährt man — um Brecht zu paraphrasieren — von einer solcherart geschulten Kritik über eine globale Kunstproduktion meist so viel wie von einem Foto der Fassade über die Arbeitszusammenhänge in einer Fabrik: außer den ästhetischen Vorlieben des künstlerischen Teams und des Kritikers, des westlichen moralischen Common Sense und seines Vokabulars und der Übereinstimmung zwischen diesen eher wenig. Ich erinnere mich, wie etwa Schlingensiefs Operndorf als selbstgerechte Selbstverwirklichungssause eines westlichen Künstlers abgetan wurde — das gleiche noch viel härter bei Simone de Beauvoir, als sie sich mit außereuropäischen Freiheitsbewegungen solidarisierte. Das ist verständlich: Aufgewachsen in Zuständen globaler Ausbeutung, können wir uns interkulturelle Zusammenarbeit nur als Fortsetzung dieser Ausbeutung vorstellen. Solidarität gilt dem westlichen Mainstream als Übergriffigkeit, das Aushalten von Widersprüchen — und oft leider auch, das kommt vor, das Zerbrechen daran — als Unverantwortlichkeit. Wir Künstler nehmen an diesem Spiel der Externalisierung teil, indem wir aus Angst, ins Sperrfeuer eines überhitzten Identitätsdiskurses zu geraten, moralisch und politisch gereinigte Fassaden präsentieren oder uns erst gar nicht mehr mit globalen oder überhaupt den Widersprüchen der Kunstproduktion an sich befassen. Deshalb sieht der 2. Satz des Genter Manifests vor, dass alle Proben offen sind und alle Mitarbeiter

jederzeit mit den Medien (oder wem auch immer) sprechen dürfen. Um Widersprüche sichtbar und verhandelbar zu machen, haben wir etwa über die Proben von Lam Gods (meiner Genter Eröffnungsinszenierung) einen Film produziert, genauso über Orestes in Mossul. Diese Filme zeigen, genauso wie es beim Neuen Evangelium der Fall sein wird, eine unvollkommene, sich vorantastende, oft hysterische Suchbewegung. Denn tatsächlich ist jeder Realismus — und der globale insbesondere — vermintes Gelände und zutiefst fragwürdig. Wer stellt was dar? Wer sagt, was gespielt wird? Es bereitet unzählige schlaflose Nächte, im Ostkongo, in den italienischen Flüchtlingslagern oder im Irak zu arbeiten, für die lokalen wie die europäischen Partner. Die auch bei jahrelanger Zusammenarbeit immer als ungenügend empfundene soziale Nachhaltigkeit ist grässlich und lässt viele in meinem Team erschöpft und mutlos werden. Es ist wahnwitzig schwierig, mit Menschen aus unterschiedlichsten Milieus und mit unterschiedlichsten politischen Ansichten zusammenzuarbeiten, in Gent genauso wie in Goma. Man drängt und wird gedrängt, man überredet und wird überredet, man einigt sich — nur damit die Debatte gleich wieder losgeht. So entstehen unwahrscheinliche Solidaritäten, sie zerbrechen aber manchmal auch unter dem ständigen Innen- und Außen-Druck. Jedoch erst die Reibungspunkte — etwa die zugleich schöne, für mich als Atheist aber auch fragwürdige Tatsache, dass die katholische Kirche nun die Häuser der Würde unterstützt oder aktuell die Zusammenarbeit zwischen Schauspielerinnen, Aktivisten der Landlosenbewegung und indigenen Widerstandsbewegungen — machen realistische Kunst im dialektischen Sinne wahr: zu einem komplexen, schmerzhaften Abbild einer globalisierten Welt. Mein Wunsch wäre deshalb eine abenteuerliche, kreative, solidarische Kritik, die Widersprüche aushält. Eine Kritik, die sich Zeit nimmt, die sich in eine Sache versenkt, ohne sich mit ihr gemein zu machen. Die das „Kunstwerk“ als Alibi versteht, um über die darin behandelten Zusammenhänge nachzudenken, und dadurch vielleicht bessere, richtigere, genauere Wege der Wirklichkeitsbeschreibung (und vielleicht sogar ihrer Umgestaltung) zu finden. Gemäß der Devise von Samuel Beckett: „Try again. Fail again. Fail better.“

School of Resistance

G   lobale Kunst geht  grundsätzlich u   nd methodisch „  zu weit“.

Der Schweizer Theaterregisseur, Autor und Essayist Milo Rau ist seit der Spielzeit 20�8/�9 Intendant des NTGent. Mit seiner 2007 gegründeten Theater- und Filmproduktionsgesellschaft IIPM – International Institute of Political Murder entstanden Stücke, die weltweit für Furore sorgten und vielfach ausgezeichnet wurden wie z.B. das Kongo Tribunal oder Five Easy Peaces.

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Milo Rau und sein Team führen mit der Projektreihe School of Resistance ihre Arbeit über die Widersprüche der globalen Wirtschaft fort. Mit den Mitteln der Kunst und des Aktivismus entwickeln sie eine multimediale Geschichte der Strategien des Widerstands. Im süditalienischen Matera, wo Pasolini und Mel Gibson ihre berühmten Jesusfilme drehten, adaptierten sie für Das Neue Evangelium gemeinsam mit Geflüchteten, Prostituierten und arbeitslosen Kleinbauern die sozialrevolutionäre Botschaft der Bibel für das 21. Jahrhundert. Sie dokumentierten gleichzeitig den Versuch einer Revolte für die Rechte der Migranten, die auf den Tomatenplantagen ausgebeutet werden. Mit Antigone im Amazonas erarbeiten sie in dem von Sojamonokulturen geprägten brasilianischen Bundesstaat Pará ein Lehrstück über die gewaltsamen Verwüstungen und Vertreibungen durch den modernen Staat, der den weltweiten Handel und die Spekulation mit Rohstoffen über das traditionelle Recht auf Boden stellt. Anfang 2021 werden die Videoinstallationen zu den beiden Teilprojekten in der Akademie der Künste in Berlin ausgestellt. → www.international-institute.de


Konsequenz lahmung Es gibt kein Dilemma zwischen Klimagerechtigkeit und internationalem Kulturaustausch, meint Till Briegleb.

Die Welt ist nicht zu klein für die Mensch– heit. Sie ist zu klein für ihre Gewohn– heiten.

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Es genügt vermutlich, einen Tag lang alle verfügbaren Nachrichten, Artikel und Studien über den Zustand unseres Planeten und die Ursachen dafür auch nur anzulesen, um eine sehr eindeutige Antwort auf die Frage zu erhalten, was zu tun ist, dringend zu tun ist. Wir müssen sofort aufhören zu fliegen und Tiere zu essen, Auto zu fahren und immer neue Dinge zu kaufen, wir müssen Plastik vermeiden und den exorbitanten Energieverbrauch unseres Lebensstils reduzieren, wir brauchen eine Wirtschaft, die dem Wachstum abschwört und auskömmlich wirtschaftet, anstatt die dem Kapitalismus wesenshafte Gier nach Status, Geld und Besitz exzessiv und gewissenlos zu fördern. Doch leider funktioniert das nicht so. Nicht mal im privaten Bereich, wo alle individuellen Bekenntnisse des schlechten Gewissens, wie weit man bereits sein Verhalten problembewußt geändert habe, durch nackte Statistiken Lügen gestraft werden. Es gibt kein Gespräch über Ernährungs- oder Mobilitätsthemen, in dem nicht die meisten Teilnehmer erklären, kaum noch Fleisch zu essen und eigentlich nur noch Zug zu fahren, während die Fluggastzahlen ständig steigen und Fleischnahrung (ein vielfach schadensintensiverer Konsumzweig als Autofahren und Fliegen) die größte Selbstverständlichkeit bei allen deutschen Mahlzeiten bleibt. Aber Einsicht funktioniert auch nicht im Bereich der Kultur, wo es zum unbeirrbaren Selbstverständnis gehört, sich als eine Avantgarde zu begreifen, die sich kritisch-konstruktiv zur Welt verhält. Auf der Beiratssitzung eines sehr großen deutschen Instituts zum internationalen Kulturaustausch wurde Anfang 2019 intensiv über die Dringlichkeit gesprochen, nachhaltigere Wege speziell im Sektor „Reisen“ zu beschreiten, und das Thema „Ökologie und Nachhaltigkeit“ ist eines der drei aktuellen Kernthemen dieses Global Players. Ein Jahr später ist die Anzahl der Flugkilometer aller Mitarbeiter exakt wie im Vorjahr. Von den Weltreisen der Künstlerinnen und Vermittler,

die hier geplant und als Betriebszweck mit Steuergeldern ermöglicht werden, ganz zu schweigen. Diese „Konsequenzlähmung“ ist kein Spezialfall einer einzelnen Behörde. Es ist Ausdruck einer strukturellen Unfähigkeit unserer Zeit, persönliche Ziele solidarischer Notwendigkeit unterzuordnen. Denn die Welt ist nicht zu klein für die Menschheit. Sie ist zu klein für ihre Gewohnheiten. Doch während die meisten Menschen auf diese Wahrheit einfach mit Ignoranz reagieren, gibt es im Bereich der Kultur eine Entschuldigung, dass man das eine sagt und von anderen fordert, während man selbst keine ernstzunehmenden Alternativen zum bisherigen Verhalten zu finden bereit ist: die mantramäßige Verzeih-Vokabel: „Dilemma“, der Titel dieser Ausgabe. Mit diesem nach Fatalismus und Zwangslage klingenden Wort wird überall in der Kulturindustrie entschuldigt, dass man immer weiter macht, wie bisher, weil man ja „gute“ Absichten und Ziele verfolgt. Und nicht nur das. Die meisten Institute, Festivals, Biennalen und Events im Bereich der Kultur verhalten sich exakt wie ihre kommerziellen Spiegelstrukturen in der Wachstumswirtschaft und agieren in ständiger Konkurrenz gegeneinander um Superlative, expandieren jährlich, um noch bedeutender zu erscheinen, und setzen konsequent darauf, mit vermeintlichen Kurzzeitsensationen möglichst viel möglichst weit herbeigereistes Publikum zu gewinnen. Zwischen der Biennale in Venedig und einem internationalen Reiseveranstalter besteht in puncto Klimaignoranz kein großer Unterschied. Selbst die Verpflegung ist in beiden Organisationen identisch: plastikverpackte Fast-Food-Nahrung tierischen Ursprungs. Leider macht es erwiesenermaßen keinen Sinn, auf die Selbstregulierungskräfte von Einsicht und schlechtem Gewissen zu hoffen, um das aktuelle „Dilemma“ der Kulturindustrie aufzulösen. Schließlich sind die heutigen „Wahrheiten“ über die „Grenzen des Wachstums“ bereits fast 50 Jahre alt, wenn man den 1972 vorgestellten Bericht


— gleichen Namens des Club of Rome als erste umfassende Unterrichtung zum Thema nimmt. Aber Kulturmenschen verhalten sich, wenn es um ihr eigenes Ansehen und den persönlichen Vorteil geht, strukturell kein Deut anders als Jugendliche im Shoppingrausch oder SUV-Fahrer mit Vielflieger-Status. „Weniger!“ ist keine echte Option. Deswegen wird Wandel ohne Wachstum auch hier vermutlich nur über Regeln und Anreize funktionieren, die für alle Marktteilnehmer verbindlich sind. Die vier vordringlichen Stichpunkte für verbindliche Regulierungen zum verantwortungsvollen Handeln, die keineswegs das Ende der Kulturvermittlung bedeuten müssen, könnten sein: Transparenz, Standards, Kooperation und Zeit.

1. Transparenz Solange Kulturereignisse in gleicher Art und Weise ihre Produktionszusammenhänge verschweigen wie jede Kotelettfabrik, handeln sie wie alle anderen Leugner globaler Kettenreaktionen auch. Deswegen wäre ein erster Schritt zu einem ehrlichen Umgang mit den eigenen Klimasünden eine verpflichtende Schadensampel. Eine offen kommunizierte und für jeden Besucher prominent platzierte Kennzeichnungspflicht klima- und umweltrelevanter Faktoren wie Flüge, Energieverbrauch und Konsum tierischer Produkte im Gastronomiebereich, eventuell eine abschließende Bilanz über den generierten Flugverkehr der Besucher eines Events, würde dem Anspruch der Branche, klimakritisch relevant zu sein, endlich die nötige selbstkritische Glaubwürdigkeit verleihen — die nicht nur durch extrem klimafeindliche Veranstaltungen wie die letzte Doppel-documenta in Athen und Kassel schwer leidet.

Reiseverkehr bei Organisatoren wie Publikum. Aber solche Formen von Kollaboration setzen nicht nur eine stark geänderte Einstellung zur Lebensdauer und Erstellung von Kulturprodukten bei den Herstellern, aber auch bei den Politikerinnen voraus, die das bisherige ressourcen- und reiseintensive Markenbewusstsein in der Kultur durch ihre Ideologie der Städtekonkurrenz intensiv befördern. Es stellt auch die Frage nach einer grundsätzlich anderen und vielleicht viel produktiveren Haltung zu Dauer und Intensität von kultureller Versorgung.

4. Zeit Obwohl jeder Mensch aus Erfahrung weiß, dass produktive Auseinandersetzung weniger durch kurze Impulse als durch geduldige Prozesse befördert wird, ist der Event das Nonplusultra der kapitalistischen Kulturproduktion, und zwar völlig unabhängig davon, ob der Inhalt kritisch oder kommerziell verstanden werden will. Auch der internationale Kulturaustausch besteht in seiner überwiegenden Mehrheit aus dem Import und Export von Einmalereignissen, die häufig schon darin versagen, ihren Kontext verständlich zu machen. Deswegen wäre der sanfte Zwang, das kulturelle Jetsetten massiv einzuschränken, vielleicht auch eine Chance, den Wandel zu einer nachhaltigeren Form der Kunst- und Diskursproduktion zu schaffen. Weniger, aber dafür längere und intensivere Aufenthalte von Künstlern, von deren

Ökologisch nachhaltiges Produzieren in der Kultur Was kann man im Kulturbereich tun, um öffentliche Mittel umweltgerecht einzusetzen? Was ist im Rahmen des Zuwendungsrechts erlaubt? Die Kulturstiftung des Bundes hat zu diesen Fragen einen neuen Leitfaden entwickelt. Er hilft ganz praktisch bei der Umsetzung von Projekten und will darüber hinaus Impulse für eine umweltgerechte Transformation von Organisationen vermitteln. Der Kompass für ökologisch nachhaltiges Produzieren im Kulturbereich gibt Informationen zu Themen wie Mobilität, Beschaffung, Vergabe oder Kommunikation und stellt die wichtigsten Links zum Thema zusammen. Er ist auf unserer Website als PDF abrufbar und unter Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-SA) veröffentlicht. Der Kulturstiftung des Bundes wurde im Mai 2012 das EMAS-Zertifikat für ökologisches Wirtschaften verliehen. Seither hat sie sich zu einer fortwährenden Verbesserung ihres Umweltverhaltens verpflichtet. Das Zertifikat gilt als Auszeichnung für Organisationen, die freiwillig die strengen Voraussetzungen der EG-Öko-Audit-Verordnung erfüllen.

2. Standards Auf Basis solch vergleichender Werte ließen sich Standards festlegen, die zumindest für alle staatlich subventionierten Veranstaltungen gelten müssten. Im Verhältnis zum finanziellen Budget wären dann auch ökologische Budgets festzulegen, die bestimmen, wie viele Flüge, Kilowattstunden und Würste eine Veranstaltung nicht überschreiten darf. Wobei die Pflicht, alle umweltdestruktiven Maßnahmen zu kompensieren, davon unberührt bleiben müsste.

3. Kooperation Der massive Wettbewerb in der Kulturbranche um Originalität, Premieren, Alleinstellungsmerkmale, Internationalität und so genannte „Profile“, also der kulturelle Markenwahn, produziert progressiv immer mehr Kurzzeit-Ereignisse, die konsequent als Must-sees beworben werden, aber in ihrer Mehrheit nur an einem einzigen Ort stattfinden. Diese geistig-materielle Verschwendungsprogrammatik, die ebenfalls kaum Unterschiede zum kapitalistischen Warenund Ressourcenverschleiß für sich behaupten kann, gilt nicht nur fälschlich als eine Selbstverständlichkeit. Sie geht auch massiv an den Bedürfnissen von Kulturinteressierten ohne riesiges Reise- und Zeitbudget vorbei, die interessante Produktionen gern in ihrer eigenen Stadt sähen. Sowohl bei der Sichtung und Kuratierung von Kulturereignissen wie bei der nachhaltigen Organisation von Aufführungen und Ausstellungen an verschiedenen Orten wäre eine weniger eitle, um Profil bedachte Form von Kooperation und Kommunikation ein enormes Einsparpotential von

intellektueller Wirkkraft man überzeugt ist, könnten die Qualität von kultureller Verständigung ebenso verbessern und aus dem Status exotischer Erlebnisse befreien, wie die Bevorzugung von Mittlern aus fernen Ländern, die bereits in Europa leben. Künstler mit dem Vorteil, zwei unterschiedliche Kulturen bereits zu kennen und zu verstehen, garantieren einen gewissen Vermittlungsvorsprung gegenüber Gastspielen und Ausstellungsstücken, bei denen man sich häufig nicht des Eindrucks erwehren kann, der primäre Grund ihrer Einladung ist die ferne Herkunft. Wo auch immer die gegenwärtige Kulturgemeinschaft ihre neuen Prioritäten setzen will, um im Kontext sich rasant beschleunigender Umweltzerstörung ihren ernst gemeinten Beitrag zu liefern, sie wird nicht umhin kommen, den heutigen Betrieb grundsätzlich in Frage zu stellen. Dazu wird es kaum genügen, nach politischen Lösungen zu rufen. Kulturermöglicher werden ihre kreative Energie eine Zeit lang auf die eigenen Strukturen anwenden müssen, um unter den neuen Prioritäten klima- und umweltgerechten Handelns gesündere Betriebssysteme zu entwickeln. Und es gibt zunächst keinen Grund auszuschließen, dass bei dieser konstruktiven Suche bessere und nachhaltigere Modelle des Kulturaustausches entstehen. Mit solch einer konstruktiven Absicht im Sinn braucht dann vielleicht auch niemand mehr das Wort „Dilemma“ in den Mund zu nehmen, um eine falsche Ohnmacht vor dem angeblich Faktischen zu erklären.

→ www.kulturstiftung-des-bundes.de/kompass → www.kulturstiftung-des-bundes.de/umweltpolitik

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Till Briegleb ist Autor, Dramaturg und Musiker, der sich mit Architektur, Kunst, Theater, Kulturgeschichte und Klima beschäftigt. Er arbeitet für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung und für das Kunstmagazin art als fester Autor. Als Dramaturg betreute er die Opernproduktion Der Schmied von Gent in Regie von Ersan Mondtag in Antwerpen. Er lebt in Hamburg.


Jemand  Stimme

D   ie Überwindung des Eurozentrismus nach dem María Berríos Wir beobachten, dass viele westliche Kulturinstitutionen und deren Förderer versuchen, ihrer eigenen eurozentrischen Perspektive zu entkommen, indem sie Künstlerinnen und künstlerischen Bewegungen, die im Kunstdiskurs des Westens bislang kaum bekannt sind, „eine Stimme geben“. Inwieweit kann dieser Versuch Ihrer Meinung nach überhaupt gelingen, wenn diese Institutionen selbst „Gatekeeper“ sind (und damit beeinflussen, wer gesehen, gehört oder gelesen werden kann)? Das Problem ist, und zwar schon sehr lange, die erdrückende Dominanz der Stimmen, die tatsächlich glauben, dass es ihnen zusteht und sie die Macht dazu haben, „anderen eine Stimme zu geben“. Selbstgewisse Stimmen, die versichern, dass sie die richtigen Fragen kennen und das Vokabular beherrschen, mit dem sich die dringlichsten Probleme formulieren lassen. Eine Extremversion davon sind Diskurse, die behaupten, sich der inhärenten Unmöglichkeit, anderen eine Stimme zu geben, vollkommen bewusst zu sein: Sie versichern, dass die Institutionen, für die sie sprechen, im Kern eurozentrisch seien und es daher keine andere Möglichkeit gäbe, als kleinere Zugeständnisse zu machen und ansonsten einfach so weiterzumachen. Doch wenn wir diese Institutionen nicht verlassen oder dichtmachen, ist es das Mindeste, auf strukturelle Veränderungen zu drängen. Wer auch immer von uns in diesen Institutionen arbeitet, mit ihnen zusammenarbeitet oder einfach nur mit ihnen interagiert, sollte sich dieser Verantwortung unter allen Umständen bewusst sein. Das gilt umso mehr für diejenigen von uns, die aus jenen Kontexten kommen, die für solche Kulturinstitutionen vorübergehend attraktiv geworden sind. Wir müssen bei ihnen gar nicht angestellt sein, um ihre Methoden zu befördern: Wenn wir unsere Forschung öffentlich machen, wenn wir unsere Arbeiten, die aus diesen „kaum bekannten“ Praktiken (in ihrer Umgebung sind sie ja durchaus bekannt und relevant) hervorgehen oder sich mit ihnen beschäftigen, ausstellen und veröffentlichen, stellen wir diesen Institutionen bereits billige Neuerwerbungen und Archive zur Verfügung, die sie nur anzapfen müssen. Oftmals wird kulturelle Produktion aus jenen prekären Kontexten, in denen sie lebendig verortet ist, in die Schatzkammern und Ausstellungsräume der nördlichen Hemisphäre im Namen der Unterstützung dieser Produktion verfrachtet. Vor ein paar Jahrzehnten haben uns feministische Wissenschaftlerinnen gelehrt, dass Sichtbarkeit keineswegs gleichbedeutend mit automatischer Ermächtigung ist. Diejenigen, die diese „kaum bekannten“ Geschichten weitertragen und erzählen, sind an diesen Entwicklungen nicht unbeteiligt und müssen sich dafür auch verantworten. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass sie dafür sorgen, dass diese Geschichten auch weiterhin in

ihrem ursprünglichen Kontext erzählt werden können, wo sie gebraucht werden und ihre Wirkung entfalten.

Stehen die Ideen der europäischen Aufklärung und der mit ihr verbundene Liberalismus der Dekolonialisierung der Welt entgegen? Ist die Dekolonialisierung nicht selbst ein hegemoniales Projekt? Auf dem Kulturkongress von Havanna 1968, der für Kulturschaffende und Intellektuelle aus der „Dritten Welt“ gedacht war, um dort eine gemeinsame Sprache für ihre Situation und Probleme zu entwickeln, zeigte eine junge Gruppe kubanischer Revolutionäre eine groß angelegte Ausstellung über Kolonialismus und Revolution, die sie Of The Third World nannten. Sie gingen davon aus, dass für die Demontage des imperialen Kolonialismus jedes Mittel erlaubt sei und dass die verhängnisvollste koloniale Strategie darin bestehe, die Leute glauben zu machen, dass selbst ihre persönlichsten Ideen nicht wirklich ihre eigenen wären. Der Kolonialismus ist nicht einfach Geschichte, sondern eine sehr gegenwärtige Haltung ständiger Enteignung. Er wird immer Besitzansprüche erheben, insbesondere gegenüber denen, die versuchen, ihn zu bekämpfen. Welche Rolle spielen kulturelle Identität und Kultur in Emanzipationsbewegungen von kolonialen Machtsystemen? Der Kampf gegen den Kolonialismus, in seinen vielfältigen zeitgenössischen Formen, ist Kultur. Der Kampf gegen die rassistischen Regimes des patriarchalischen Kapitalismus und ihre Polizei ist eine sehr starke und mächtige Kultur, wie man an Aufständen an vielen Orten mit „kaum bekannter Geschichte“ sehen kann. Kultur und Kunst sind weltliche Angelegenheiten, und sie beziehen ihre Macht aus der Aufmerksamkeit für die Welt um sie herum. Könnte Solidarität zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen den globalen Zusammenhalt fördern? Woraus könnte sie, Ihrer Meinung nach, in der Zukunft am wahrscheinlichsten erwachsen? Ich weiß nicht, was die Quellen der Zukunft sein könnten, aber die Solidarität, die mir gegenwärtig nützlich und schön erscheint, ist eine Solidarität von Fragilitäten. Etymologisch gesehen bedeutet Solidarität, ganz zu werden, fest zu werden. Aber was passiert, wenn wir uns gar nicht so stark fühlen, wenn viele das Gefühl haben, sich kaum auf den eigenen Beinen halten zu können? Deshalb ist die Solidarität, die wir derzeit benötigen, für mich nicht der Gedanke, gemeinsam stark zu werden, sondern eine Art emanzipatorische Solidarität der Fragilitäten. Eine Armee von weichen Körpern, im Kampf vereint. Die Fragen stellten Anja Piske und Friederike Tappe-Hornbostel Aus dem Englischen von Cornelius Reiber

María Berríos, �978 in Santiago de Chile geboren, ist Soziologin, Autorin, unabhängige Kuratorin und Mitbegründerin des chilenischen Redaktionskollektivs vaticanochico. Sie arbeitet an den Schnittstellen von Kunst, Kultur und Politik, mit besonderem Inter­­esse an den gemeinschaftlichen Experimenten der „Dritte-Welt-Bewegung“ und den daraus hervorgegangenen Ausstellungsformaten der �960er und �970er Jahre. Berríos hat umfangreich über Kunst und Politik — vor allem in Lateinamerika, aber auch dar­über hinaus — publiziert. Gemeinsam mit Renata Cervetto, Lisette Lagnado und Agustín Pérez Rubio kuratiert María Berríos die ��. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst.

11. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst

Initiative für postkoloniales Erinnern in der Stadt (AT)

Die Kulturstiftung des Bundes fördert die Berlin Biennale seit 2006 als eine der kulturellen Spitzeneinrichtungen in Deutschland. Eine Besonderheit der 11. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst ist, dass sie über den regulären dreimonatigen Ausstellungsturnus im Sommer 2020 hinaus in der Stadt präsent ist. So erproben die vier südamerikanischen Kuratorinnen María Berríos, Renata Cervetto, Lisette Lagnado und Agustín Pérez Rubio bereits seit September 2019 mit den sogenannten „Experiences“ diverse Formate, um von den teilnehmenden Künstlern und Projekten zu lernen und sich mit der Stadtgesellschaft auszutauschen. Die 11. Berlin Biennale sollte schließlich vom 13. Juni bis 13. September 2020 diese Erfahrungen mit einer Vielzahl künstlerischer Positionen zusammenbringen und der von Unruhen und Umbrüchen gezeichneten Welt „die komplexe Schönheit des Lebens“ gegenüberstellen, die sich durch Solidarität, Austausch und Formen des Widerstands erfahren lasse. Die Corona-Pandemie beeinträchtigte die Vorbereitungen für die 11. Berlin Biennale. Derzeit werden neue Termine für die Eröffnung geprüft. Bitte beachten Sie aktuelle Informationen.

Im Januar 2020 ist in Berlin ein stadtweites Kulturprojekt gestartet, das die historische Rolle Berlins als koloniale Metropole beleuchten und sich mit den bis heute reichenden problematischen Nachwirkungen dieser Geschichte auseinandersetzen wird. Das fünfjährige Modellprojekt zur Dekolonialisierung städtischer Erinnerungskultur wird von einem Verbund aus den drei Nichtregierungsorganisationen Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) e.V., Each One Teach One (EOTO) e.V. und Berlin Postkolonial e.V. sowie dem Stadtmuseum Berlin getragen und vom Landesnetzwerk Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (BER) e.V. unterstützt. Zudem ist eine enge Zusammenarbeit mit bezirklichen und städtischen Museen geplant. Die Initiative wird in Berlin bis Ende 2024 mit Ausstellungen und Veranstaltungen intervenieren, die in unterschiedlichen Stadtbezirken die lokale Kolonialgeschichte beleuchten und nach Verbindungen zu aktuellen Ungleichheiten fragen. Jährlich wird ein Kulturfestival zu dekolonialen Perspektiven ausgerichtet. Zudem entwickelt das Projekt eine Online-Kartierung, die koloniale und postkoloniale Erinnerungsorte in Berlin, in Deutschland und in seinen ehemaligen Kolonien sowie deren Verbindungen untereinander dokumentiert. Die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa fördert das Projekt mit 2 Mio. Euro, die Kulturstiftung des Bundes mit 1 Mio. Euro.

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→  www.11.berlinbiennale.de

→  www.kulturstiftung-des-bundes.de/    postkoloniales-erinnern


em eine geben  Münchhausen-Prinzip? Rita Segato Wir beobachten, dass viele westliche Kulturinstitutionen und deren Förderer versuchen, ihrer eigenen eurozentrischen Perspektive zu entkommen, indem sie Künstlerinnen und künstlerischen Bewegungen, die im Kunstdiskurs des Westens bislang kaum bekannt sind, „eine Stimme geben“. Inwieweit kann dieser Versuch Ihrer Meinung nach überhaupt gelingen, wenn diese Institutionen selbst „Gatekeeper“ sind (und damit beeinflussen, wer gesehen, gehört oder gelesen werden kann)? Wenn nicht-westliche Kunstschaffende oder ganze Kunstströmungen eingeladen werden, sich an zentralen Orten des Kunstgeschehens zu präsentieren, kann dies auf zwei Arten geschehen. Die fast ausschließlich praktizierte Art ist die Aneignung oder „Entführung“ einer Stimme, eines Stils, von Themen und Formen, um diese nutzbringend in die westliche Kultur einzuflechten. Ein naheliegendes Beispiel dafür ist der Kubismus und dessen Inspiration durch afrikanische Vorbilder. Im besten Fall findet wie beim Kubismus eine „Transplantation“ von Formen und Themen oder die Kreuzung mit Stilen, Themen und Absichten europäischer Künstler statt, und zwar in einem solchen Maß, dass der außereuropäische Ursprung sogar gänzlich in Vergessenheit gerät. Für die andere, die wohl schmerzvollste und extremste Art der Aneignung steht das Musée du quai Branly. Dessen Exponate versinnbildlichen, was ich gewöhnlich als „eingekerkerte Schönheit“ bezeichne. Lassen wir uns nicht täuschen: Was dort ausgestellt wird, sind keine „ethnografischen Objekte“. Es sind Werke von Künstlern aus anderen Teilen der Welt. Im eurozentristischen Museum erweist sich besagte „Einladung“ als Prozess, in dem das Eingeladene entwurzelt, eingesperrt und zerlegt wird. Gemeinhin wird angenommen, dass allein die Frage nach dem kulturellen Eigentum problematisch ist. Es geht aber nicht nur darum, dass die in die westliche Welt integrierten Objekte Beutegut sind, das dem westlichen Kunst- bzw. Objektverständnis einverleibt wird. Was bei dieser Art der Aneignung über die Dimension des kulturellen Eigentums hinausweist, betrifft die Entfernung eines Werks von dem Ort, an dem es seine historische Bestimmung hätte erfüllen können. Es geht im Kern um eine aus ihrer historischen Wiege und ihrer natürlichen Bahn gerissenen Schönheit, die gestrahlt und gewirkt hätte, bis sie in ihren ursprünglichen Lebenswelten überflüssig geworden und verglüht wäre. Diese Schönheit entfaltet ihre volle Bedeutung nur, wenn sie verwoben bleibt mit dem Netz aus Beziehungen, aus dem sie einst hervorgegangen ist. Parallel zu dieser Aneignung wird Künstlern aus der „anderen Welt“ weisgemacht, dass die Werke ihres Kontinents erst vor dem europäischen Blick vollständig zur Geltung kommen, nur durch ihn Bestand haben. In der

Tat sind es die Kunstkritikerinnen, Museumsdirektoren und Mäzene, die die Tore zur weltweiten Verbreitung der Stimmen und Werke von Künstlerinnen aus der „anderen Welt“ zu öffnen vermögen — oder nicht — und ihnen damit globale Präsenz und Sichtbarkeit garantieren — oder nicht. Wenn das erfolgreich passiert, kommt es bei diesem Übergang und Eintritt in das globale Schema ästhetischen Geschmacks zu Verlusten ursprünglicher Bedeutung und Absichten. Ein gewisses Maß an Entwurzelung ist gar nicht zu verhindern. Denn ab nun vollzieht sich eine unumkehrbare Absorption und Ausrichtung der Werke auf ihr neues Umfeld. Europa bleibt von dieser ideellen Aushöhlung nicht-westlicher Kunstwerke nicht unbeschadet. So erblickt es sich selbst im narzisstischen Spiegel seiner Museen und Ausstellungssäle, während der wahre Spiegel, der Widerstand ausüben und Defizite aufzeigen könnte, fehlt. Denn die ausgestellten Objekte können den Blick schon nicht mehr erwidern. Das „Andere“ wird lediglich in den mehr oder weniger sichtbaren Vitrinen kolonialer Macht ausgestellt. Es gibt nur einen Weg, das Dasein einer „anderen Kunst“ in all seiner Kraft zu garantieren und mithin eines Europas, das seine existenzielle Einsamkeit, seine Langeweile und den Verfall seines kreativen Antriebs zu überwinden vermag. Er besteht darin, ein Verständnis für den Aufbau einer radikal pluralistischen Welt zu entwickeln. Das meint eine Welt, in der es keine Hegemonieansprüche mehr gibt und in der Differenz an sich einen Wert darstellt. Die selten praktizierte Alternative, die zweite Option, ist also ein Dialog auf Augenhöhe zwischen Kulturschaffenden, Ausstellerinnen und Kulturmäzenen der unterschiedlichen Welten, der vergessen lässt, dass der geopolitische Norden den Schlüssel zur weltweiten Verbreitung von Ideen und Kunstwerken in der Hand hält. Ein Dialog, bei dem Europa akzeptieren und verstehen kann, dass sich in „anderen Welten“ kreative Schaffenskraft aus der Verankerung im Lokalen speist und dass diese Welten nach innen gewandt, auf sich selbst ausgerichtet und auf sich selbst bezogen bleiben.

Stehen die Ideen der europäischen Aufklärung und der mit ihr verbundene Liberalismus der Dekolonialisierung der Welt entgegen? Ist die Dekolonialisierung nicht selbst ein hegemoniales Projekt? Kritische Perspektiven auf die Macht des Kolonialismus propagieren keine „Dekolonialisierung“, weil der Begriff eine wiederzugewinnende Ursprünglichkeit impliziert, gewissermaßen den „reinen Indigenen“ extrapoliert. Ein derartiger Kulturalismus nimmt zwangsläufig fundamentalistische Züge an, die auf die Auslöschung des „Anderen“ ausgerichtet sind. Mir geht es stattdessen um historische Projekte, die durch den kolonialen Eingriff in ihrer Entwicklung aufgehalten wurden, die jedoch in ihrer eigenen Zeitlichkeit fortbestehen und immer

in Bewegung sind. Es kommt darauf an, den Weg für ihre zukünftige Umsetzung zu ebnen. Für ein Volk ist das historische Projekt, weiterhin als Volk Bestand zu haben. Statt von Dekolonialisierung spreche ich deshalb davon, nicht-koloniale Breschen und Öffnungen in jene Struktur zu schlagen, die kulturelle Subjektivität unterworfen haben. Das Ziel besteht darin, Lücken und Risse in der hegemonialen Ordnung zu schaffen. Es geht somit nicht um eine Gegenhegemonie, die darauf hinausläuft, den einen hegemonialen Diskurs durch einen anderen, oder ein Existenzmodell durch ein anderes, zu ersetzen. Es geht um ein Konzept, das die Notwendigkeit einer Hegemonie in Frage stellt und darauf abzielt, Hegemonien gar nicht erst wirksam werden zu lassen. Das pluralistische historische Projekt ist auf einen historischen Horizont ausgerichtet und kann vielfältigste Lebensentwürfe und deren neue Ausdrucksformen in sich aufnehmen.

Welche Rolle spielen kulturelle Identität und Kultur in Emanzipationsbewegungen von kolonialen Machtsystemen? Könnte Solidarität zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen den globalen Zusammenhalt fördern? Woraus könnte sie, Ihrer Meinung nach, in der Zukunft am wahrscheinlichsten erwachsen? Solidarität setzt einen interkulturellen Dialog voraus, bei dem die einzelnen Zivilisationen erkennen, was sie und die „Anderen“ jeweils anbieten können und woran es ihnen jeweils mangelt. So können die Grenzen eigener Gewissheiten und der eigener Existenz

bewusst werden. Nur eine grundlegende pluralistische Solidarität, die mit aufrichtiger Neugier und Achtung gegenüber den Ansichten und Vorstellungen des „Anderen“ einhergeht, kann zu einer friedlichen Welt führen. Multikulturalismus meine ich allerdings damit nicht. Hier wurde zwar Vielfalt zumindest oberflächlich erfahr- und sichtbar gemacht, jedoch wurden Identitäten und Kulturen gewissermaßen eingefroren und fetischisiert. Überdies wurden den Menschen schon im Voraus die gleichen Lebensziele unterstellt und Unterschiede in den Vorstellungen von Glück und Zufriedenheit unterschätzt oder einfach ignoriert. So hat der Multikulturalismus zum Beispiel die Kluft zwischen dem historischen Projekt der Verbindungen, mit dem das Leben einer lokalen Gemeinde aufgebaut und fortgeführt wird, und dem historischen Projekt der Dinge vernachlässigt, das auf Zufriedenheit durch Konsum ausgerichtet ist, Individualismus hervorbringt und fördert. Obwohl die meisten von uns im alltäglichen Leben zwischen beiden Polen hin- und herwechseln können, so tendieren Kulturen in ihrer letztendlichen Zielstellung menschlicher Entwicklung zu dem einen oder anderen. Der Multikulturalismus konnte diese gegensätzlichen Zielstellungen nicht integrieren. Daher kann er die Bedürfnisse einer pluralistischen Welt nicht befriedigen und wahrhaftig solidarische Beziehungen über Unterschiede hinweg nicht aufbauen. Die Fragen stellten Anja Piske und Friederike Tappe-Hornbostel Aus dem Spanischen von Stefan Gabriel

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Die argentinische Anthropologin und Feministin Rita Segato ist eine der einflussreichsten Intellektuellen Lateinamerikas. Sie wurde vielfach international ausgezeichnet für ihre Forschungen zu Genderfragen in indigenen und lateinamerikanischen Communities sowie für ihre Untersuchungen zu den Beziehungen zwischen Gender, Rassismus und Kolonialismus. Derzeit unterrichtet sie am CLACSO-Seminar Virtual Reality Race, Gender and Rights from a Decolonial Perspective in Buenos Aires. 20�8 gründete das Museo Reina Sofía in Madrid den Aníbal Quijano-Lehrstuhl und ernannte Segato zu dessen erste Inhaberin. Im Jahr 20�9 richtete die Universidad Nacinal San Martín (UNSAM), Argentinien, den nach ihr benannten Rita-Segato-Lehrstuhl für unbequemes Denken ein (Catédra Rita Segato Pensamiento Incómodo). Von ihren zahlreichen Publikationen erschienen auf Deutsch bisher lediglich zwei Aufsätze: Die Verbrechen des ‚zweiten Staates‘. Die Handschrift auf den Körpern getöteter Frauen in Ciudad Juárez, in: K. Harrasser, T. Macho, B. Wolf (Hgg.): Folter, Politik und Technik des Schmerzes. München 2007, sowie Koloniale / Moderne Geschlechterverhältnisse zwischen Dualität und Binarismus, in: L. Schmidt, S. Schröder (Hgg.): Entwicklungstheorien: Klassiker, Kritik, Alternativen, Wien 20�6.




Jemand  Stimme


em eine geben  Münchhausen-Prinzip? Rita Segato Wir beobachten, dass viele westliche Kulturinstitutionen und deren Förderer versuchen, ihrer eigenen eurozentrischen Perspektive zu entkommen, indem sie Künstlerinnen und künstlerischen Bewegungen, die im Kunstdiskurs des Westens bislang kaum bekannt sind, „eine Stimme geben“. Inwieweit kann dieser Versuch Ihrer Meinung nach überhaupt gelingen, wenn diese Institutionen selbst „Gatekeeper“ sind (und damit beeinflussen, wer gesehen, gehört oder gelesen werden kann)? Wenn nicht-westliche Kunstschaffende oder ganze Kunstströmungen eingeladen werden, sich an zentralen Orten des Kunstgeschehens zu präsentieren, kann dies auf zwei Arten geschehen. Die fast ausschließlich praktizierte Art ist die Aneignung oder „Entführung“ einer Stimme, eines Stils, von Themen und Formen, um diese nutzbringend in die westliche Kultur einzuflechten. Ein naheliegendes Beispiel dafür ist der Kubismus und dessen Inspiration durch afrikanische Vorbilder. Im besten Fall findet wie beim Kubismus eine „Transplantation“ von Formen und Themen oder die Kreuzung mit Stilen, Themen und Absichten europäischer Künstler statt, und zwar in einem solchen Maß, dass der außereuropäische Ursprung sogar gänzlich in Vergessenheit gerät. Für die andere, die wohl schmerzvollste und extremste Art der Aneignung steht das Musée du quai Branly. Dessen Exponate versinnbildlichen, was ich gewöhnlich als „eingekerkerte Schönheit“ bezeichne. Lassen wir uns nicht täuschen: Was dort ausgestellt wird, sind keine „ethnografischen Objekte“. Es sind Werke von Künstlern aus anderen Teilen der Welt. Im eurozentristischen Museum erweist sich besagte „Einladung“ als Prozess, in dem das Eingeladene entwurzelt, eingesperrt und zerlegt wird. Gemeinhin wird angenommen, dass allein die Frage nach dem kulturellen Eigentum problematisch ist. Es geht aber nicht nur darum, dass die in die westliche Welt integrierten Objekte Beutegut sind, das dem westlichen Kunst- bzw. Objektverständnis einverleibt wird. Was bei dieser Art der Aneignung über die Dimension des kulturellen Eigentums hinausweist, betrifft die Entfernung eines Werks von dem Ort, an dem es seine historische Bestimmung hätte erfüllen können. Es geht im Kern um eine aus ihrer historischen Wiege und ihrer natürlichen Bahn gerissenen Schönheit, die gestrahlt und gewirkt hätte, bis sie in ihren ursprünglichen Lebenswelten überflüssig geworden und verglüht wäre. Diese Schönheit entfaltet ihre volle Bedeutung nur, wenn sie verwoben bleibt mit dem Netz aus Beziehungen, aus dem sie einst hervorgegangen ist. Parallel zu dieser Aneignung wird Künstlern aus der „anderen Welt“ weisgemacht, dass die Werke ihres Kontinents erst vor dem europäischen Blick vollständig zur Geltung kommen, nur durch ihn Bestand haben. In der

Tat sind es die Kunstkritikerinnen, Museumsdirektoren und Mäzene, die die Tore zur weltweiten Verbreitung der Stimmen und Werke von Künstlerinnen aus der „anderen Welt“ zu öffnen vermögen — oder nicht — und ihnen damit globale Präsenz und Sichtbarkeit garantieren — oder nicht. Wenn das erfolgreich passiert, kommt es bei diesem Übergang und Eintritt in das globale Schema ästhetischen Geschmacks zu Verlusten ursprünglicher Bedeutung und Absichten. Ein gewisses Maß an Entwurzelung ist gar nicht zu verhindern. Denn ab nun vollzieht sich eine unumkehrbare Absorption und Ausrichtung der Werke auf ihr neues Umfeld. Europa bleibt von dieser ideellen Aushöhlung nicht-westlicher Kunstwerke nicht unbeschadet. So erblickt es sich selbst im narzisstischen Spiegel seiner Museen und Ausstellungssäle, während der wahre Spiegel, der Widerstand ausüben und Defizite aufzeigen könnte, fehlt. Denn die ausgestellten Objekte können den Blick schon nicht mehr erwidern. Das „Andere“ wird lediglich in den mehr oder weniger sichtbaren Vitrinen kolonialer Macht ausgestellt. Es gibt nur einen Weg, das Dasein einer „anderen Kunst“ in all seiner Kraft zu garantieren und mithin eines Europas, das seine existenzielle Einsamkeit, seine Langeweile und den Verfall seines kreativen Antriebs zu überwinden vermag. Er besteht darin, ein Verständnis für den Aufbau einer radikal pluralistischen Welt zu entwickeln. Das meint eine Welt, in der es keine Hegemonieansprüche mehr gibt und in der Differenz an sich einen Wert darstellt. Die selten praktizierte Alternative, die zweite Option, ist also ein Dialog auf Augenhöhe zwischen Kulturschaffenden, Ausstellerinnen und Kulturmäzenen der unterschiedlichen Welten, der vergessen lässt, dass der geopolitische Norden den Schlüssel zur weltweiten Verbreitung von Ideen und Kunstwerken in der Hand hält. Ein Dialog, bei dem Europa akzeptieren und verstehen kann, dass sich in „anderen Welten“ kreative Schaffenskraft aus der Verankerung im Lokalen speist und dass diese Welten nach innen gewandt, auf sich selbst ausgerichtet und auf sich selbst bezogen bleiben.

Stehen die Ideen der europäischen Aufklärung und der mit ihr verbundene Liberalismus der Dekolonialisierung der Welt entgegen? Ist die Dekolonialisierung nicht selbst ein hegemoniales Projekt? Kritische Perspektiven auf die Macht des Kolonialismus propagieren keine „Dekolonialisierung“, weil der Begriff eine wiederzugewinnende Ursprünglichkeit impliziert, gewissermaßen den „reinen Indigenen“ extrapoliert. Ein derartiger Kulturalismus nimmt zwangsläufig fundamentalistische Züge an, die auf die Auslöschung des „Anderen“ ausgerichtet sind. Mir geht es stattdessen um historische Projekte, die durch den kolonialen Eingriff in ihrer Entwicklung aufgehalten wurden, die jedoch in ihrer eigenen Zeitlichkeit fortbestehen und immer

in Bewegung sind. Es kommt darauf an, den Weg für ihre zukünftige Umsetzung zu ebnen. Für ein Volk ist das historische Projekt, weiterhin als Volk Bestand zu haben. Statt von Dekolonialisierung spreche ich deshalb davon, nicht-koloniale Breschen und Öffnungen in jene Struktur zu schlagen, die kulturelle Subjektivität unterworfen haben. Das Ziel besteht darin, Lücken und Risse in der hegemonialen Ordnung zu schaffen. Es geht somit nicht um eine Gegenhegemonie, die darauf hinausläuft, den einen hegemonialen Diskurs durch einen anderen, oder ein Existenzmodell durch ein anderes, zu ersetzen. Es geht um ein Konzept, das die Notwendigkeit einer Hegemonie in Frage stellt und darauf abzielt, Hegemonien gar nicht erst wirksam werden zu lassen. Das pluralistische historische Projekt ist auf einen historischen Horizont ausgerichtet und kann vielfältigste Lebensentwürfe und deren neue Ausdrucksformen in sich aufnehmen.

Welche Rolle spielen kulturelle Identität und Kultur in Emanzipationsbewegungen von kolonialen Machtsystemen? Könnte Solidarität zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen den globalen Zusammenhalt fördern? Woraus könnte sie, Ihrer Meinung nach, in der Zukunft am wahrscheinlichsten erwachsen? Solidarität setzt einen interkulturellen Dialog voraus, bei dem die einzelnen Zivilisationen erkennen, was sie und die „Anderen“ jeweils anbieten können und woran es ihnen jeweils mangelt. So können die Grenzen eigener Gewissheiten und der eigener Existenz

bewusst werden. Nur eine grundlegende pluralistische Solidarität, die mit aufrichtiger Neugier und Achtung gegenüber den Ansichten und Vorstellungen des „Anderen“ einhergeht, kann zu einer friedlichen Welt führen. Multikulturalismus meine ich allerdings damit nicht. Hier wurde zwar Vielfalt zumindest oberflächlich erfahr- und sichtbar gemacht, jedoch wurden Identitäten und Kulturen gewissermaßen eingefroren und fetischisiert. Überdies wurden den Menschen schon im Voraus die gleichen Lebensziele unterstellt und Unterschiede in den Vorstellungen von Glück und Zufriedenheit unterschätzt oder einfach ignoriert. So hat der Multikulturalismus zum Beispiel die Kluft zwischen dem historischen Projekt der Verbindungen, mit dem das Leben einer lokalen Gemeinde aufgebaut und fortgeführt wird, und dem historischen Projekt der Dinge vernachlässigt, das auf Zufriedenheit durch Konsum ausgerichtet ist, Individualismus hervorbringt und fördert. Obwohl die meisten von uns im alltäglichen Leben zwischen beiden Polen hin- und herwechseln können, so tendieren Kulturen in ihrer letztendlichen Zielstellung menschlicher Entwicklung zu dem einen oder anderen. Der Multikulturalismus konnte diese gegensätzlichen Zielstellungen nicht integrieren. Daher kann er die Bedürfnisse einer pluralistischen Welt nicht befriedigen und wahrhaftig solidarische Beziehungen über Unterschiede hinweg nicht aufbauen. Die Fragen stellten Anja Piske und Friederike Tappe-Hornbostel Aus dem Spanischen von Stefan Gabriel

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Die argentinische Anthropologin und Feministin Rita Segato ist eine der einflussreichsten Intellektuellen Lateinamerikas. Sie wurde vielfach international ausgezeichnet für ihre Forschungen zu Genderfragen in indigenen und lateinamerikanischen Communities sowie für ihre Untersuchungen zu den Beziehungen zwischen Gender, Rassismus und Kolonialismus. Derzeit unterrichtet sie am CLACSO-Seminar Virtual Reality Race, Gender and Rights from a Decolonial Perspective in Buenos Aires. 20�8 gründete das Museo Reina Sofía in Madrid den Aníbal Quijano-Lehrstuhl und ernannte Segato zu dessen erste Inhaberin. Im Jahr 20�9 richtete die Universidad Nacinal San Martín (UNSAM), Argentinien, den nach ihr benannten Rita-Segato-Lehrstuhl für unbequemes Denken ein (Catédra Rita Segato Pensamiento Incómodo). Von ihren zahlreichen Publikationen erschienen auf Deutsch bisher lediglich zwei Aufsätze: Die Verbrechen des ‚zweiten Staates‘. Die Handschrift auf den Körpern getöteter Frauen in Ciudad Juárez, in: K. Harrasser, T. Macho, B. Wolf (Hgg.): Folter, Politik und Technik des Schmerzes. München 2007, sowie Koloniale / Moderne Geschlechterverhältnisse zwischen Dualität und Binarismus, in: L. Schmidt, S. Schröder (Hgg.): Entwicklungstheorien: Klassiker, Kritik, Alternativen, Wien 20�6.


Aufgehoben

„Jemanden zum Fressen gern haben“, „jemanden mit den Augen verschlingen“ … Tod und Eros gehen in diesen Bildern des Aufessens eine innige, eine ­kannibalistische Verbindung ein. In seltenen Fällen wie dem spektakulären des „Kannibalen von Rotenburg“ wird die S ­ ehnsucht nach Einverleibung in die Tat umgesetzt. Senthuran Varatharajah nimmt diese reale Begebenheit aus dem Jahr 2001 zum Ausgangspunkt für eine Liebesgeschichte, die im Extrem zeigt, was der Normalfall camoufliert: dass dem Menschen, den man liebt, nicht wirklich beizukommen ist. Die größte denkbare Nähe — durch Inkorporation —  hebt die Einsamkeit des Körpers nicht auf.

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Der Schriftsteller Senthuran Varatharajah wurde �984 in Jaffna (Sri Lanka) geboren. Er studierte Philosophie, Evangelische Theologie und Kulturwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg, der HumboldtUniversität zu Berlin und am King's College London. 20�4 nahm Varatharajah an den 38. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil und erhielt den 3satPreis für Auszüge aus Vor der Zunahme der Zeichen, seinem 20�6 dann im S. Fischer Verlag erschienenen Debütroman. Zahlreiche weitere Auszeichnungen folgten. 202� wird ebenfalls bei S. Fischer sein neuer Roman Rot (Hunger) erscheinen, aus dem wir hier einen Auszug veröffentlichen. Senthuran Varatharajah lebt in Berlin.


Jedem Auftr wohnt  ein Bürger inne mindestens

Wer bestimmt über die Kunst vor Ort? Und was soll sie zeigen? Wen repräsentieren? Im Programm Neue Auftraggeber geht es um grund­sätzliche Fragen im Spannungsfeld von Partizipation und Reprä­sen­tation, wie Alexander Koch erläutert. Das höchste Gut einer Gesellschaft ist ihre Vorstellungskraft. Denn was sie sich nicht vorstellen kann zu sein, das wird sie auch nicht werden. Was sie nicht für möglich hält, wird nicht geschehen — zumindest solange nicht, bis sich das, was vorstellbar ist, verschiebt. Gesellschaftlicher Wandel ist wesentlich eine Entwicklung der kollektiven Einbildungskraft, eine Aus- und Umgestaltung des sozialen Imaginären. Dieses Imaginäre ist ohne die Formen und Stimmen der Kunst und Kultur nicht denkbar, mehr noch: Was ist die kollektive Einbildungskraft einer Gemeinschaft von Menschen anderes als ihre Kultur? Das Programm Neue Auftraggeber schafft Wege, um am Vorstellbaren zu arbeiten und dessen Grenzen verschieben zu können. Indem Bürgerinnen in Dörfern und Städten Künstler damit beauftragen, neue Werke zu entwickeln, die unmittelbar ein Stück ihres Lebensumfeldes verändern oder starke inhaltliche Zeichen setzen, werden neue Dinge möglich, neue Perspektiven denkbar, weitet sich der Raum des Vorstellbaren am konkreten Ort.

Teilhabe führt nicht per se zu Gemeinsinn Kultur und Politik demokratischer Gemeinschaften entspringen der gleichen Fantasie, dass freie und gleichberechtigte Menschen in geteilter Verantwortung ihre Welt zusammen in den Griff kriegen. Augenscheinlich hat diese Fantasie Schaden gelitten und ist mancherorts verschwunden. Die Formen politischer wie auch kultureller Repräsentation können den Glauben, dass Wenige Viele angemessen vertreten, nicht länger mobilisieren. Gleichzeitig entsteht eine ungekannte Vielfalt neuer Formen der individuellen und kollektiven Selbstvertretung, die nach Wegen der eigenen Institutionalisierung (und Macht) sowie nach einem methodischen Upgrade von Mitsprache und Teilhabe suchen und die der demokratischen Fantasie Leben einhauchen — oder auch anderen Fantasien. Ein Dilemma besteht darin, dass der Wunsch nach mehr Mitbestimmung jenseits

gängiger repräsentativer Prozesse Akteure und Methoden quer durch das politische Spektrum antreibt, von weit links bis weit rechts, und damit nicht per se auf mehr Gemeinsinn und demokratischen Esprit hinausläuft. Ein weiteres Dilemma ist, dass sich die legitimen Selbstvertretungsansprüche vieler Einzelner nicht ohne weiteres in eine legitime Politik übersetzen lassen, die letztlich alle betrifft. Hier können künstlerische Auftragsprojekte einzelner Bürgergruppen als demokratische Labore wirken. Hier kann die Kunst Verantwortung übernehmen, um neue Gemeinschaftsfantasien zu mobilisieren. Im Wettbewerb der Mentalitäten müssen sich die Projektinitiativen der öffentlichen Wahrnehmung stellen, ihre Gemeinnützigkeit selbst begründen, Mehrheiten bilden, Nachbarn und Politik überzeugen. Dabei können Projekte der Neuen Auftraggeber selbst in das Dilemma geraten, dem guten Willen Einiger zu entspringen, ohne von einer größeren Gemeinschaft akzeptiert zu werden, geschweige denn repräsentativ zu sein. Wie das Engagement Weniger zum Motor für die Vorstellungskraft Vieler werden kann, müssen die Bürgerprojekte stets aufs Neue zeigen.

Partizipation versus Vertrauen Wir lesen viel darüber, die Menschen würden der Politik bzw. ihren Vertreterinnen nicht mehr vertrauen. Wir lesen weniger darüber, dass Politiker, aber auch viele andere Akteure aus der Kultur-, Behörden-, Stiftungs- und Wirtschaftslandschaft der Bevölkerung nicht vertrauen. Teilhabebegriffe — der Kunstsektor spricht eher von Partizipation — beinhalten oft wenig Umverteilung von Entscheidungsmacht. Böse Zungen sagen, die meisten Partizipationsangebote an Bürgerinnen sind Top-Down abgestellte Mitmachcontainer, in denen Bürger entlang festgelegter Regeln unterhalten, statt ermächtigt werden. Wenn Menschen das spüren, meiden sie solche Container. Schenkt man ihnen mehr Vertrauen und mehr Macht, kann es sein,

dass sie den Container auseinandernehmen. Die Krise der Repräsentation hat einiges mit der Furcht vor den disruptiven Energien zu tun, die sich einstellen können, wenn Bürgerinnen mehr echte Mitsprache erhalten. Ohne diese Mitsprache aber schwindet das Vertrauen in Repräsentationsapparate. Ein Teufelskreis? Die Neuen Auftraggeber versuchen, diesen Kreislauf zu durchbrechen. In moderierten Bottom-up-Prozessen werden Bürgergruppen durch Mediatorinnen dabei unterstützt, künstlerische und politische Ressourcen für ihre Anliegen zu aktivieren und zu nutzen, um den eigenen Vorstellungen, oft auf ungewöhnlichen Pfaden, ungesehene Gestalt zu geben. Glückt das, kann neues Vertrauen zwischen Bürgerschaft und Politik entstehen, zwischen Engagement und Verwaltung sowie zwischen „kulturellen Eliten“ und der Bevölkerung.

Investitionen sind nicht gleich Innovationen Einer der wirksamsten Glaubenssätze von Fortschrittsgesellschaften ist die Forderung nach Innovationen. Märkte brauchen Neues. Aber wenn es um politische und kulturelle Innovationen geht, macht Neues Angst. Das mag nicht gleich einleuchten. Innovationen brauchen Vorabinvestitionen und Zuversicht in den künftigen Nutzen, gleich Erfolg. Aber kultureller Nutzen und Erfolg sind bekanntlich schwer messbar, und im Zweifelsfall kann man sehr verschiedener Meinung sein, was wem nützt und wie. Institutionelle Förderinstrumente im kulturellen Sektor gehen zumeist mit bürokratischen Reglements einher, die das mögliche Engagement vieler Menschen unberücksichtigt lassen. Mit vorgeordneten Zielvorgaben schließen sie praktisch aus, dass Innovationen eine Chance haben, überhaupt zu entstehen. Gerade öffentliche Ausgaben müssen sich vor der Gemeinschaft begründen lassen — aber zugleich sind die methodischen Schritte und Sprünge, die echte Neuerungen benötigen, ohne eine relativ ergebnis-, und prozessoffene Bereitstellung von Ressourcen, kaum zu haben. So folgt viel Kunst

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1   Richard Rorty, Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen, ­Frankfurt am Main, 2000, S. 33


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und Kultur vorgenormten Handlungsmustern und reproduziert Standards, statt neue zu setzen. Die offenen Prozesse in den Bürgeraufträgen der Neuen Auftraggeber können solchen Standards selten folgen. Wo Projektszenarien nicht festgelegt sind, Zeitabläufe nicht fixierbar, ja Künstlerauswahl und Budgetanforderungen lange unbekannt sind, weil all dies erst im Laufe der Projektentwicklung mit den Bürgerinnen entsteht, ist Planungssicherheit ein Fremdwort und öffentliche Unterstützung anfangs schwer zu bekommen. Die Förderung der Neuen Auftraggeber durch die Kulturstiftung des Bundes bildet hier eine Ausnahme von der Regel, die von Innovationsgeist ebenso angetrieben ist wie durch Risikobereitschaft. Ein Blick auf die 500 Projekte, die bislang im internationalen Netzwerk der Neuen Auftraggeber entstanden, zeigt, dass vielen von ihnen tatsächlich innovativer Charakter zukommt, sozial oder ästhetisch, oder beides. Der gleiche Blick zeigt aber auch, dass viele Projekte erst durch ungewöhnliche Allianzen möglich wurden und sich erst im Nachhinein als kluge Investitionen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt erwiesen, über deren Erfolg man zuvor nur hätte spekulieren können. Innovationen sind unabsehbar, sie brauchen Raum und Zeit.

Unbekanntes kennt man nicht Hinter den angesprochenen Problemen liegt ein tieferes, grundlegenderes Dilemma in der Krise der gesellschaftlichen — oder mindestens der demokratischen — Vorstellungskraft. Es ist der simple Umstand, dass man das Unbekannte nun mal nicht kennt, aber braucht, um voranzukommen, während man Angst hat, vielleicht am falschen Ende rauszukommen. Die beste mir bekannte Metapher für diesen Umstand ist Richard Rortys Unterscheidung zwischen dem (politisch) Schönen und dem Erhabenen, das wir getrost mit dem ästhetisch Schönen und Erhabenen verknüpfen können. Als „schön“ bezeichnet Rorty unsere Anstrengungen, innerhalb gegebener Verhältnisse „eine immer bessere, also auf ein

menschenfreundlicheres Leben zielende Umordnung jetzt bestehender menschlicher Beziehungen und Institutionen anzustreben“. Bestrebungen also, in einem gegebenen Ganzen die Dinge so anzuordnen, dass sie besser aussehen als bisher. Demgegenüber bezeichnet Rorty das Erhabene als „die Suche nach Menschen und Institutionen von einer Art, über die wir keinerlei Einzelheiten angeben können, weil sie frei von Bedingungen sind, die wir uns noch nicht wegdenken können.“ 1 Hier scheint das Dilemma offensichtlich und kommt auf einen entscheidenden Punkt: Wenn kulturelle und politische Teilhabe nach Wegen sucht, sich demokratisch zu erneuern, können und sollten diese Wege bestehende Ordnungen überschreiten. Doch die Suche nach Menschen und Institutionen, die frei von Bedingungen sind, die wir uns noch nicht wegdenken können, lässt sich nur schwerlich innerhalb der bestehenden Ordnung vorstellen. So können sich viele auch die Bedingungen noch nicht wegdenken, die Bürger seit Jahrhunderten daran hindern, eine aktive, statt nur passive Rolle in der zeitgenössischen Kulturproduktion zu spielen. Das Handlungsmodell der Neuen Auftraggeber zur Entstehung neuer kultureller Gemeingüter (Commons) schafft die Bedingungen für eine aktive Entscheidungsmacht von Bürgerinnen im kulturellen Prozess — bleibt aber derzeit noch gebunden an politische und finanzielle Rahmenbedingungen, die diese Entscheidungsmacht seit langem begrenzen.

Umordnung der Repräsentation Folgen wir der Rortyschen Metapher, wäre das Erhabene — einst eine Schlüsselkategorie im ästhetischen wie im politischen Diskurs der Moderne — eine innovative Anordnung von Dingen, die wir nicht wirklich verstehen können, innerhalb eines neuen Ganzen, das wir noch nicht kennen. Eine Welt aus Menschen, Institutionen und Beziehungen, die wir uns noch nicht vorstellen können. An dieser Stelle überlagern sich heute politische, kulturelle und ästhetische Diskurse und auch Praktiken, die nach einer

Wenn es um politische und kulturelle Innovªtionen geht, mªcht Neues Angst.

Vorstellungskraft fragen, oder sie hervorzubringen versuchen, die aktuelle Krisen- und Misstrauensgefühle überwinden könnten. Doch da sich das Unbekannte nicht planen, das Unvorstellbare nicht konzipieren und beantragen, das Disruptive nicht kontrollieren und die Zukunft nicht vorwegnehmen lässt, kollidieren an dieser Stelle die Einsicht, dass sich manches ändern muss im repräsentativen Mit- und Nebeneinander demokratischer Verfahrensweisen, mit der Sorge und der institutionellen Vernunft, dass das kollektive Imaginäre eine schwer steuerbare kulturelle Größe ist. Muss Demokratie das aushalten? Freilich. Seit die Neuen Auftraggeber vor 30 Jahren in Frankreich erfunden wurden und seit sie sich nun auch in Deutschland als Kulturtechnik verankern, liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, dem Unbekannten, Disruptiven, ja auch dem Nicht-Repräsentativen eine allgemein verständliche Gestalt zu geben, die zutiefst demokratisch ist. Jedem seine Stimme. Der Gemeinschaft ihre Formen, für die sie sich selbst entscheidet. Und den Künstlerinnen ihre Chance, sich in den gesellschaftlichen Prozess gestaltend einzubringen. Bei den Neuen Auftraggebern werden im Ergebnis internationale Künstler von Rang mit Bürgerinnen kleiner Gemeinden zusammengearbeitet haben. Es ist der Kunst nicht zuzumuten, sehr wohl aber zuzutrauen, eine transformative Rolle auf dem Weg in ein Upgrade demokratischer Methoden und Fantasien zu spielen. Die Kunst im Bürgerauftrag ist heute eine der zahlreichen Spielarten, auf diesem Weg voranzukommen und das breite, reichhaltige Feld bestehender Institutionen, kollektiver Verhaltensweisen und sozialer Einbildungskräfte zu erweitern. Wo Bürger Künstlerinnen ihrer Zeit als Kollaborateure für gemeinsame gesellschaftliche Projekte gewinnen, können sie in immer neuen, individuellen Allianzen gemeinsam der gesellschaftlichen Vorstellungskraft das hinzufügen, was auch immer Menschen in ihren Orten und Situationen denken, wollen, brauchen und wünschenswert finden. Immerhin vorstellbar.

Neue Auftraggeber Der Künstler François Hers schlug 1990 mit seinem Protokoll der Neuen Auftraggeber ein neues Modell der Produktion zeitgenössischer Kunst vor und löste eine internationale Bewegung aus: Unterstützt von ausgewählten Mediatorinnen werden Bürger zu Auftraggebern zeitgenössischer Kunst, die sie gemeinsam mit renommierten Künstlerinnen und Kooperationspartnern für ihr Dorf oder ihre Stadt entwickeln, finanzieren und umsetzen. Seither wurden über 500 Projekte in 15 Ländern realisiert. In Deutschland fördert die Kulturstiftung des Bundes dieses besondere Modell der Beauftragung von Kunst in einer fünfjährigen Pilotphase: In den beiden Modellregionen Mecklenburg-Vorpommern/ Brandenburg und Nordrhein-Westfalen/ Ruhrgebiet hat die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber bereits mit acht Bürgergruppen Aufträge für künstlerische Produktionen entwickelt. Zum 30-jährigen Jubiläum des Protokolls wird der 1. Internationale Kongress der Neuen Auftraggeber erstmals die Bedeutung dieser Bewegung angesichts des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels und den damit verbundenen kulturellen Herausforderungen in den Blick nehmen.   1. Internationaler Kongress   der Neuen Auftraggeber   Herbst 2020 → www.neueauftraggeber.de

Alexander Koch ist Kurator, Autor, Mitbegründer der Galerie KOW und Direktor der Gesellschaft der Neuen Auftraggeber. Diese in Deutschland verankerte Initiative ist Teil des weltweit agierenden Netzwerks der ursprünglich in Frankreich gegründeten Les Nouveaux commanditaires. Er leitet die von der Kulturstiftung des Bundes geförderte fünfjährige Pilotphase in Deutschland.

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Tendenz zum Konsens Gesellschaftspolitisch engagiertes Theater bezieht sich oft auf ein Publikum, das ganz ähnliche Werte und Ansichten wie die Theater­ macherinnen vertritt. Wie kann das Theater dieser Falle entgehen, die im Englischen als „Preaching to the Converted“ bezeichnet wird, fragt sich die britische Theaterkritikerin Lyn Gardner vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in der britischen Theaterszene.

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Wir wiegen uns gern in dem Glauben, dass das Theater etwas bewegt und dass Theatermacher und -künstlerinnen Veränderungen bewirken. In seiner stärksten Form kann es eine Art radikaler Konversation zwischen Bühne und Zuschauerraum sein. Theoretisch sollten und können Theater gefährliche Orte sein; gelegentlich — wenngleich sehr selten — sind sie das auch. Aus diesem Grund haben diktatorische Regimes im Laufe der Jahrhunderte immer wieder versucht, Theater zu schließen und Stücke zu verbieten. Das Belarus Free Theatre und sein Publikum gehen bei jeder Aufführung ein Risiko ein. Niemand im Publikum döst dort jemals weg. Doch ist das eher die Ausnahme als die Regel. Für die meisten von uns bietet das Theater zwar ein Fenster zur Welt, aber allzu oft ist dieses Fenster viel schmaler, als wir wahrhaben wollen. Wann sind Sie das letzte Mal ins Theater gegangen und waren schockiert oder verunsichert, haben etwas gelernt, was Sie vorher wirklich nicht wussten, wann hat es das letzte Mal Ihre Einstellung und Meinungen in Frage gestellt, Ihre Weltsicht erweitert? Wann haben Sie zuletzt ein Theaterstück gesehen, das Sie nicht nur genossen oder als ästhetische Herausforderung empfunden haben, sondern das Sie auch zum Umdenken gebracht oder zum Handeln bewegt hat? Allzu oft rennt das Theater offene Türen ein und bestätigt den Zuschauerinnen ihre Sicht auf die Welt. An vielen Abenden hat man im Theater das Gefühl, dass Autor und Regisseurin von der Kanzel herab zu einer frommen Gemeinde predigen und nicht von der Bühne aus ein echtes Gespräch mit den Zuschauern suchen. Die Leute im Publikum haben bereits die gleichen Werte wie die, die das Stück aufführen. Eine solche Selbstgewissheit erzeugt selten Komplexität, weder formal noch inhaltlich. Theater erzeugt bei uns oft Mitgefühl, was drängende Themen wie Migration und Flüchtlinge oder Sexhandel und Kinderarmut betrifft, und natürlich ist das viel wert. Aber es ist sehr selten, dass Theater tatsäch-

lich etwas verändert. Die meisten Theatermacher sind so sehr mit ihrem Dasein als Künstler beschäftigt, dass sie gar kein Bewusstsein für ihre potenzielle Rolle als Aktivisten oder Akteure des Wandels haben. Ein Theaterabend, an dem das Publikum einfach nur seine liberalen Werte bestätigt bekommt, ist fast immer ein viel zu gemütlicher Abend. Wenn die Lichter wieder angehen, kehren wir unverändert, oder schlimmer noch: selbstgefällig, in unser Leben zurück. Das wirft die Frage auf, warum wir Karten für bestimmte Stücke kaufen, und ob Stücke, die einfach nur das Leben derer auf die Bühne bringen, die weniger Glück als wir haben und schwerer traumatisiert sind als wir selbst, eine Art „Armutsporno“ sind. Natürlich spricht grundsätzlich einiges dafür, das Unsichtbare sichtbarer zu machen, aber reicht es, wenn wir einfach nur Mitgefühl empfinden? Was ist die Ethik von Künstlerinnen, die das Trauma anderer Menschen als Instrument für ihre eigene Arbeit benutzen, anstatt sich anderen als Instrument zur Verfügung zu stellen, mit dem diese die Geschichten erzählen können, die ihnen wichtig sind? An einem Theaterstück wie Fairview der schwarzen amerikanischen Dramatikerin Jackie Sibblies Drury ist das Faszinierende, dass es eigentlich ein Trojanisches Pferd ist. Es teilt dem Publikum nicht von der Bühne herab mit, was es denken soll, sondern nutzt die Bühne und die Strukturen des Theaters selbst, um den überwiegend weißen Blick des Theaters und der Welt außerhalb des Theaters zu hinterfragen und herauszufordern. Es verändert den Blick des Publikums, auch lange nachdem es das Theater verlassen hat. Es konfrontiert die Zuschauerinnen mit der Tatsache, dass ihre liberale Einstellung keinen Schutz bietet, und tut dies auf eine überraschende Weise, die das Publikum unvorbereitet trifft. Als das Stück im Young Vic in London lief, haben Publikum und Kritiker Stillschweigen darüber bewahrt, wie das Stück funktioniert, damit auch die Zuschauer der weiteren Aufführungen vom Gefühl des Unbehagens überrascht werden


konnten. Für die Laufzeit des Stücks war die Theaterbar des Young Vic einer der aufregendsten Orte in London: Nach den Vorstellungen war sie gefüllt mit Leuten, die über das gerade Erlebte diskutierten. Einige weinten, andere waren wütend, aber niemand war ungerührt. Das Theaterstück Fairview gründet auf der Einsicht, dass ein Teil des Problems mit dem Theater darin besteht, dass die Leute, die es machen und die Leute, die es zeigen und die Leute, die die Karten kaufen, oft zu denselben sozioökonomischen Gruppen gehören, aus ähnlichen Verhältnissen stammen und über einen ähnlichen Bildungsgrad verfügen. Wenn die Künstlerinnen, die Theater machen, alle weitgehend gleich aussehen und klingen, und die Zuschauer auch, ist das Ergebnis eine Homogenität der Arbeiten, die bei allen nur noch Zustimmung erzeugt. Wenn auch noch die Kritikerinnen und die Leute in den Kulturverwaltungen aus dem gleichen Umfeld kommen, dann werden unsere Theater zu Echokammern, in denen man immer nur die gleichen Ansichten vernimmt. Diese Tendenz zum Konsens wird noch verschärft durch die Tatsache, dass die Beziehung zwischen denen, die Theater machen, und denen, die es konsumieren, im Wesentlichen eine Transaktionsbeziehung ist, die auf dem Kauf von Eintrittskarten beruht. Sie zähmt das Theater, weil das Gehalt der Künstler und der Betrieb des Gebäudes, in dem sie arbeiten, davon abhängen, dass die Leute auch weiterhin Karten kaufen. Die Menschen bekommen gern ihre eigenen Werte von der Bühne herab gespiegelt, an der Infragestellung dieser Werte liegt ihnen weniger. Aber was ist nun, wenn ihre Sicht nicht die Sicht der meisten anderen Menschen im Land widerspiegelt? Es mag uns vielleicht nicht gefallen, dass einige Leute eine politisch rechte Gesinnung haben und sich eine härtere Migrationspolitik wünschen. Aber sicherlich sollte das Theater auch hinterfragen, warum sie solche Ansichten vertreten, anstatt sie einfach zu ignorieren, weil sie nicht genehm sind. Ich habe einmal ein Interview mit Ruth Mackenzie geführt, die damals das Holland Festival leitete und heute künstlerische Leiterin des Theatre du Châtelet in Paris ist. Sie berichtete schonungslos ehrlich, dass sie im Lauf ihrer Karriere zwar bereits mit mehreren benachteiligten Minderheiten gearbeitet habe. Diese sehr diversen Gruppen fand sie „kulturell interessant“, weil sie sehr divers waren: Und […] „vielleicht war die Tatsache, dass ich sie kulturell interessant fand, auch ein Grund für meine Arbeit mit ihnen, was ich mir aber nicht immer eingestehen wollte.“ Sie fuhr fort mit der Frage, was sie für die weiße Arbeiterklasse getan habe. „Die Antwort ist, dass ich während meiner gesamten Arbeit nichts für sie getan habe. Viele von uns in der Kunst haben nichts getan, und das ist schlecht.“ Nach der Abstimmung Großbritanniens über den Austritt aus der Europäischen Union im Jahr 2016 war Mackenzie nicht die einzige, die die Frage stellte, inwiefern das Theater und seine Künstler versäumt hatten, die Spaltung der Gesellschaft in England zum Thema zu machen. Rufus Norris, der künstlerische Leiter des National Theatre, gestand ein, dass die meisten am Theater Tätigen keinerlei Berührung mit einem Großteil der Bevölkerung hatten. Er schloss daraus, dass „unsere erste Aufgabe jetzt darin besteht, viel mehr zuzuhören und herauszufinden, warum Organisationen wie das National Theatre von der Hälfte der Bevölkerung gar nicht wahrgenommen oder als irrelevant angesehen werden.“ Der Grund ist vielleicht einfach, dass Institutionen wie das National Theatre zu sehr damit beschäftigt sind, ein Theater auf die Bühne zu bringen, dass der anderen Hälfte der Bevölkerung gefällt, aus der sich die Mehrheit der Theaterbesucher rekrutiert. Viele Theater und Kultureinrichtungen sind zu sehr darauf bedacht, das Publikum, das sie bereits haben, nicht zu verärgern oder zu verprellen, wenn es eigentlich darum gehen sollte, bei diesem Publikum die Lust auf Experimente und Überraschungen zu wecken. Das soll nicht heißen, dass die Theater in Großbritannien und Europa jetzt anfangen

sollten, politisch rechte Stücke aufzuführen. Vielmehr sollten Theater und Theatermacherinnen viel aktiver darüber nachdenken, welche zivilgesellschaftliche Rolle sie spielen können und wie sie nicht nur die erreichen, die bereits ins Theater kommen, sondern auch diejenigen, die derzeit nicht im Traum daran denken würden, eine Karte zu kaufen oder das Gebäude zu betreten. Es ist immer von Vorteil für die Kreativität, wenn Theater in ihren Räumen mehr Platz für diejenigen schaffen, die es bisher nicht als einen Ort gesehen haben, an dem sie repräsentiert werden oder der ihnen wirklich gehört. Bei einem subventionierten Theaterbereich sollten die Theater und ihre Arbeit zweifellos die Interessen aller Steuerzahler widerspiegeln, mit deren Abgaben sie finanziert werden, nicht nur die einiger weniger. Aber dafür müssten die Theatermacher und -betreiber ein Stück zur Seite treten, aus dem Weg gehen, weniger reden und mehr zuhören. Nur wenn man die Hierarchien, nach denen die meisten Kunstinstitutionen derzeit geführt werden, in Frage stellt, die Macht an die Gemeinschaft überträgt und fragt: „Was können wir gemeinsam tun?“, werden die Theater noch relevantere Einrichtungen werden und ins Zentrum des politischen und gesellschaftlichen Diskurses rücken. Gegenwärtig geschieht meist das Gegenteil, nämlich dass die Theater eine eigene Agenda haben, die von den Zuschauerinnen übernommen werden soll. Die künstlerische Leitung eines Theaters mag eine Vorstellung davon haben, wie für sie ein künstlerisch tolles Programm aussieht, aber ist es auch für andere Leute toll? Den Wandel zu verweigern ist vergleichbar mit dem Ausschließen von Menschen, deren Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit man nicht wünscht. Ein solcher Wandel erfordert Mut und Demut und ist nicht eine einzelne Handlung, sondern ein Prozess. Einer, bei dem das Theater Vertrauen aufbaut, indem es alle Beteiligten einbezieht, das Publikum und die Spielpläne erweitert und die Künstlerinnen zu mehr Abenteuerlust ermutigt. Er beruht auf der Einsicht, dass das Theater eine zivilgesellschaftliche Verantwortung trägt und dass herausragende Kunst und herausragendes Engagement nicht komplementär zu denken sind, sondern als in komplexen Schichten miteinander verflochten. Theater, die ihre zivilgesellschaftliche Rolle wirklich wahrnehmen, sind nicht mehr sterile Kathedralen der Kunst, sondern das künstlerische Äquivalent städtischer Plätze, zu denen jeder Zugang hat, auf denen jeder willkommen ist und wo jeder sprechen kann. Sie sind Orte, an denen sich Gemeinschaften versammeln können, um sich in einem konstruktiven Forum zu einigen und zu widersprechen und die Geschichten zu erzählen, die ihnen wichtig sind. Hier können sie sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Solch ein Theater ist für alle relevant, nicht nur für einige wenige. Es ist ein Theater, das kraftvoll und lebendig ist, nicht nur ein Ort, an dem alle zustimmend nicken.

Ein Theaterabend, an dem das Publikum einfach nur seine liberalen Werte bestätigt bekommt, ist fast immer ein viel zu gemütlicher Abend.

Aus dem Englischen von Cornelius Reiber

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Lyn Gardner ist eine britische Journalistin, Romanautorin und Mitherausgeberin von The Stage, einer großen wöchentlich erscheinenden Zeitung (print und online) für Kultur mit Schwerpunkt Theater in Großbritannien. Sie schreibt für The Guardian und The Independent über Theater und Performance und war Gründungsmitglied von City Limits, der größten Verlagskooperative Europas. Derzeit schreibt sie eine Reihe von Artikeln für das British Council über Culture After Brexit. Sie erhielt u.a. den Total Theatre Significant Contribution Award 20�7 für ihre Arbeit am Edinburgh Festival Fringe, den UK Theatre Award 20�7 für herausragende Beiträge zum britischen Theater und einen Tonic Award 20�7. Die Tonic Awards würdigen die Leistungen von Frauen, die den Theaterbetrieb verändern, sowie Projekte, Produktionen und Organisationen, die die Rolle der Frau in der darstellenden Kunst neu definieren.


#gefördert Vom Stiftungsrªt in seiner jüngsten Sitzung vom 9. Dezember 2019 bewilligt Initiative für postkoloniales Erinnern in der Stadt Im Januar 2020 startete in Berlin ein fünfjähriges Modellprojekt, das die historische Rolle Berlins als koloniale Metropole beleuchten und sich mit den bis heute reichenden problematischen Nachwirkungen dieser Geschichte auseinandersetzen wird. Die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa fördert das Projekt mit 2 Mio. Euro, die Kulturstiftung des Bundes mit 1 Mio. Euro. → www.kulturstiftung-des-bundes.de/   postkoloniales-erinnern

Weitere Informationen:   Seite 8

Fonds Digital

TRAFO

Für den digitalen Wandel in Kulturinstitutionen

Modelle für Kultur im Wandel

Der Fonds Digital ermöglicht Verbünden von mindestens zwei Kultureinrichtungen aller Sparten, gemeinsam mit Digitalen Partnern modellhafte digitale Angebote zu entwickeln und mit neuen Ästhetiken und Ausdrucksformen zu experimentieren. An den im Fonds Digital geförderten 15 Projekten sind bundesweit 36 Kulturinstitutionen beteiligt, darunter 28 Museen, 5 Theater, 2 Opernhäuser und 1 Gedenkstätte. Drei der Projekte arbeiten mit Partnern in Australien, Brasilien und Schweden zusammen. Das Fördervolumen beträgt insgesamt 13,2 Mio. Euro. Weitere Informationen zu den 15 Vorhaben sind auf unserer Website abrufbar.

Seit 2015 werden mit dem TRAFO-Programm bereits in vier Regionen Wege aufgezeigt, wie Kultureinrichtungen in ländlichen Räumen gestärkt und weiterentwickelt werden können. In der zweiten Phase von TRAFO werden von 2020 bis 2023 sieben weitere Regionen gefördert: Die Regionen Vogelsbergkreis, Uecker-Randow, Mestlin, Westpfalz, Köthen, RendsburgEckernförde sowie das Altenburger Land erhalten jeweils bis zu 1,25 Mio. Euro für die Umsetzung ihrer Konzepte. Eine Fachjury empfahl im Herbst 2019 diese sieben Regionen für eine Förderung, nachdem TRAFO zuvor deutschlandweit 18 Regionen bei der Entwicklung von Transformationskonzepten gefördert und beraten hatte. Die Kulturstiftung des Bundes stellt für das Programm insgesamt Mittel in Höhe von 26,6 Mio. Euro bereit.

→ www.kulturstiftung-bund.de/kulturdigital   #KulturDigital

→ www.trafo-programm.de   #TRAFO

Deutsches Historisches Museum Die documenta war seit ihrer ersten Ausgabe im Jahr 1955 als internationales künstlerisches Großereignis ein bundesrepublikanisches Aushängeschild. 2021 reflektiert das Deutsche Historische Museum mit der Ausstellung Politische Geschichte der documenta die Herausforderungen des kulturpolitischen Neuanfangs nach dem Zweiten Weltkrieg und zeichnet nach, wie die zeitgenössische Kunst im Kalten Krieg instrumentalisiert wurde, um die Westanbindung zu stärken und sich zugleich gegenüber dem Osten abzugrenzen. Eine zweite Ausstellung konterkariert das Bild einer künstlerischen „Stunde Null“ in der Bundesrepublik: Sie wird die Nachkriegskarrieren der NS-Künstler in den Blick nehmen, die auf der sogenannten „Gottbegnadeten-Liste“ von Hitler und Goebbels standen. Das umfangreiche Ausstellungsprojekt wird mit 735.000 Euro gefördert. → www.dhm.de

Nachrichten aus den Programmen Fonds TURN

Kultur Digital

Seit 2012 fördert die Kulturstiftung des Bundes im Fonds TURN künstlerische Kooperationen zwischen Deutschland und afrikanischen Ländern. Welche Projekte sind in dieser Zeit entstanden und welche Erfahrungen haben die Beteiligten gesammelt? Wie hat sich in Deutschland der Stellenwert von kulturellem Schaffen in afrikanischen Ländern verändert? Die interaktive Webdoku TURN stellt beispielhaft einige geförderte TURN-Projekte vor, bietet umfangreiche verlinkte Hintergrundinformationen und lässt Künstler, Kuratorinnen, Regisseurinnen, Performer, Musiker und Expertinnen zu Wort kommen. Diese erzählen von Herausforderungen und Erkenntnissen, aber auch von den Perspektiven und Chancen, die sich durch die Kooperationen eröffnet haben.

Die Kulturstiftung des Bundes fördert zusätzlich zu den acht Ausgaben des Kulturhackathons Coding da Vinci insgesamt 32 Coding da Vinci-Stipendien. Teilnehmern des Hackathons wird so jeweils im Nachgang einer Ausgabe ermöglicht, ihre Projektideen weiterzuentwickeln. Die Stipendiatinnen erhalten drei Monate lang Unterstützung für den Lebensunterhalt und nehmen an Workshops und Coachings teil. Informationen zum Bewerbungsverfahren finden sich auf unserer Website. Der nächste Kulturhackathon Coding da Vinci Saar-Lor-Lux 2020 findet am 30. April (Kick-off) sowie 4. Juli (Preisverleihung) statt.

→ webdoku-turn.kulturstiftung-bund.de → www.kulturstiftung-bund.de/afrika/turn   #FondsTURN

hochdrei

→ www.kulturstiftung-bund.de/kulturdigital   #KulturDigital #CodingdaVinci

Jubiläums­­zyklus Ensemble Modern

Stadtbibliotheken verändern

2020 feiert das Ensemble Modern sein 40-jähriges Gründungsjubiläum. Mit dem ganzjährigen Jubiläumszyklus 1 2 3 4 zig Jahre Ensemble Modern stellt es sein facettenDie Kulturstiftung des Bundes unterstützt mit dem Fonds hochdrei die Weiterent- reiches musikalisches Wirken vor, mit dem es zur treibenden Kraft der jüngeren wicklung Öffentlicher Bibliotheken durch unkonventionelle Konzepte und Koopera- Musikgeschichte wurde. Der siebenteilige Zyklus rückt charakteristische Aspekte tionsansätze. In der zweiten Förderrunde werden die Öffentlichen Bibliotheken des Ensembles in den Vordergrund: Die intensive Zusammenarbeit mit Komponisin Berlin-Mitte, Frankfurt am Main, Gießen, Hanau, Minden, Osnabrück, Penzberg, tinnen und die Suche nach Aufführungsformen, in denen Werk und Ensemble neu erWürzburg sowie die Fahrbibliothek des Landkreises Oder-Spree gefördert. Der Fonds lebbar werden. hochdrei ist ein Baustein des Programms hochdrei — Stadtbibliotheken verändern, → www.kulturstiftung-des-bundes.de/ensemblemodern das die Kulturstiftung des Bundes in den Jahren 2018 bis 2022 mit 5,6 Mio. Euro → www.ensemble-modern.com/de/40-jahre #EnsembleModern ausgestattet hat. → www.kulturstiftung-bund.de/hochdrei   #hochdrei

Einreichtermin für antragsgebundene Förderungen 31. 7. 2020 Allgemeine Projektförderung Coronakrise: Aktuelle Informationen für Projektträger unter www.kulturstiftung-des-bundes.de/coronakrise

Neue Direktorin transmediale 2021 übernimmt Nora O Murchú die künstlerische Leitung der transmediale. Als unabhängige Kuratorin für digitale Kunst kuratierte sie zuvor Ausstellungen und Veranstaltungen u.a. für das ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, The Science Gallery und LABoral Centro de Arte y Creación Industrial. O Murchú folgt auf Kristoffer Gansing, der das Festival für Kunst und digitale Kultur von 2012 bis 2020 erfolgreich leitete.

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→ www.transmediale.de   #transmediale


José Leonilson, The Island one, 1991 Stickerei und Assemblage / Faden und Metall auf Leinwand, 35 × 24 × 0,2 cm   ⟶

Kulturstiftung des Bundes Stiftungsrat

Stiftungsbeirat

Die Stiftung

Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kulturstiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre.

Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungstätigkeit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten.

Vorstand Hortensia Völckers Künstlerische Direktorin

Vorsitzende des Stiftungsrates Prof. Monika Grütters Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien für das Auswärtige Amt Michelle Müntefering Staatsministerin für internationale Kulturpolitik für das Bundesministerium der Finanzen Bettina Hagedorn Parlamentarische Staatssekretärin für den Deutschen Bundestag Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident a.D. Burkhard Blienert Entsandter des Deutschen Bundestages Marco Wanderwitz Bundestagsabgeordneter als Vertreter der Länder Rainer Robra Staats- und Kulturminister, Chef der Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt N.N. als Vertreter der Kommunen Klaus Hebborn Deutscher Städtetag Uwe Lübking Deutscher Städte- und Gemeindebund

Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts, Vorsitzender des Stiftungsbeirats Prof. Markus Hilgert Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder Prof. Ulrich Khuon Präsident des Deutschen Bühnenvereins Prof. Dr. Eckart Köhne Präsident des Deutschen Museumsbunds Prof. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats Dr. Franziska Nentwig Geschäftsführerin des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI e.V. Regula Venske Präsidentin PEN-Zentrum Deutschland Frank Werneke Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di Olaf Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats

Jurys und Kuratorien Rund 60 Experten aus Wissenschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstiftung des Bundes in verschiedenen fach- und themenspezifischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter www.kulturstiftung-bund.de bei den entsprechenden Projekten.

als Vorsitzender des Stiftungsrates der Kulturstiftung der Länder Dr. Markus Söder, Ministerpräsident des Freistaats Bayern

Das Magazin

Impressum

Wenn Sie dieses Magazin regelmäßig beziehen möchten, können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website unter www.kulturstiftung-bund.de/ magazinbestellung aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, erreichen Sie uns auch telefonisch unter +49 (0) 345 2997 131. Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf!

Herausgeber Kulturstiftung des Bundes Franckeplatz 2 / 06110 Halle an der Saale Tel. +49 (0) 345 2997 0  Fax +49 (0) 345 2997 333 info@kulturstiftung-bund.de www.kulturstiftung-bund.de

Um Ihnen den Bezug dieses Magazins zu ermöglichen, verarbeiten wir (Kontakt siehe Impressum) Ihre personenbezogenen Daten auf Grundlage Ihrer in der Vergangenheit erteilten Einwilligung (Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. a DSGVO). Nur unsere Mitarbeiter und am Magazinversand beteiligte Dienstleister haben Zugriff auf Ihre Daten. Weitere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie unter www.kulturstiftung-bund.de/datenschutz und von unserem Datenschutzbeauftragten ( datenschutz@kulturstiftung-bund.de, Postanschrift siehe Impressum).

Vorstand Hortensia Völckers / Kirsten Haß (verantwortlich für den Inhalt)

online Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Programme der Stiftung, die Förderanträge und geförderten Projekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns unter

→ www.kulturstiftung-bund.de → facebook.com/kulturstiftung → twitter.com/kulturstiftung → instagram.com/kulturstiftungdesbundes

Sekretariate Beatrix Kluge, Beate Ollesch (Büro Berlin), Franziska Schöppe, Sabrina Bachmann Referent des Vorstands Dr. Lutz Nitsche Justitiariat, Vertragsabteilung N.N. (Leitung), Anja Petzold, Lina Schaper, Alexandra Kluschke Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel (Leitung), Sabine Eckardt, Tinatin Eppmann, Juliane Köber, Julia Mai, Anja Piske, Arite Studier Förderung und Programme N.N. (Leitung), Dr. Jeanne Bindernagel, Dr. Sebastian Brünger, Teresa Darian, Anne Fleckstein, Dr. Marie Cathleen Haff (Leitung Allgemeine Projektförderung), Emma Hughes, Antonia Lahmé, Marie-Kristin Meier, Uta Schnell, Hassan Soilihi Mzé, Max Upravitelev, Friederike Zobel, Anna Zosik Programm-Management und Evaluation Ursula Bongaerts (Leitung), Anja Bauer, Lucie Chwaszcza, Marcel Gärtner, Katrin Gayda, Bärbel Hejkal, Sarah Holstein, Constanze Kaplick, Laura Klopf, Anja Lehmann, Dörte Koch, Saskia Seidel, Anne-Kathrin Szabó, Antje Wagner Projektprüfung Steffen Schille (Leitung), Franziska Gollub, Frank Lehmann, Fabian Märtin Verwaltung Andreas Heimann (Leitung), Marius Bunk, Margit Ducke, Maik Jacob, Steffen Rothe Auszubildender Basel Khadir Omar

als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur Prof. Dr. Bénédicte Savoy Professorin für Kunstgeschichte Wolfgang Tillmans Künstler Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

Einzelne Beiträge des Magazins Nr. 34 können Sie auch in englischer Sprache abrufen unter www.kulturstiftung-bund.de/magazine.

Kirsten Haß Verwaltungsdirektorin

© Kulturstiftung des Bundes — alle Rechte vor­behalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes. Wir verwenden in unsystematischer Abfolge mal die grammatisch männliche, mal die weibliche Form bei personenbezogenen Substantiven im Plural. Wir legen Wert darauf, dass in allen Fällen Menschen jedweden Geschlechts (m/w/d) gemeint oder angesprochen sind. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Schlussredaktion Anja Piske Gestaltung Bureau David Voss Lisa Petersen, Sebastian A. Schmitt & David Voss Schriften Dialogue von Manuel von Gebhardi Oracle von Dinamo Bildnachweis José Leonilson / Alle Bilder Courtesy Projeto Leonilson Romulo Fialdini: The pure and hard, 1991 / Untitled, 1986 / Fertility, coherence, and silence, 1991 Edouard Fraipont: The Island one, 1991 / Adam, 1988 Sergio Guerini: Man with fire on his hands, 1990 / Untitled, 1992 Eduardo Ortega: Origins, Fantasy, Pleasure, Allegory, 1990 / Inflammable, ca. 1990 Felipe Bartarelli: Untitled, 1992 Rubens Chiri: 3 at the same time (sic), 1990 / Traitor, 1991 Lithografie Print Marius Brüggen Druck Henrich Druck + Medien klimaneutral gedruckt DE–654–952658 www.natureOffice.com Redaktionsschluss 28. Februar 2020

Auflage 26.000

Die Kulturstiftung des Bundes wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.




Bild & Raum

Life on Planet Orsimanirana Ein Versuch einer sozialen, ökologischen und existenziellen Utopie

Forrest Bess Mit dem US-amerikanischen Maler Forrest Bess (1911–1977) stellt das Fridericianum einen im Kunstkanon bisher nicht vertretenen Künstler der amerikanischen Nachkriegskunst einer breiten Öffentlichkeit vor. Als Autodidakt entwickelte Bess in relativer Abgeschiedenheit und zeitlich parallel zum Abstrakten Expressionismus eine sehr individuelle künstlerische Bildsprache: Die meist kleinformatigen Malereien mit symbolischen und abstrakten Formen sind Protokolle seiner Visionen, die er im halbwachen Zustand durchlebte und in denen sich für ihn unterbewusste Erfahrungen der Menschheit zeigten. Seine vielschichtigen Überlegungen dazu mündeten in seine Theorie zum Hermaphroditismus, nach der er die Unsterblichkeit zu erlangen glaubte, wenn er das Männliche und Weibliche in sich vereinen würde. Durch eigene medizinische Eingriffe versuchte er zu einem Pseudo-Hermaphrodit zu werden. Heute gilt Forrest Bess als herausragender und zugleich als einer der ungewöhnlichsten Künstler seiner Zeit. Sein Lebensweg, die in seinem Werk anklingenden genderspezifischen Fragen sowie seine unabhängige Bildsprache inspirierten zahlreiche zeitgenössische Künstlerinnen wie Amy Sillman, Richard Hawkins und James Benning.

Als ganzheitliches Erlebnis einer positiven Utopie konzipiert, will das Ausstellungsprojekt zum Nachdenken über die Gegenwart und Vergangenheit der Erde sowie über Möglichkeiten der gemeinsamen Gestaltung der Welt anregen. Der britisch-kanadische Designer und Künstler Jerszy Seymour wird dafür fantasie- und humorvoll den Planeten Orsimanirana entwerfen: Dort sind gesellschaftliche, ökologische und existenzielle Krisen überwunden und es wird eine post-demokratische Form der Demokratie gelebt. Die Besucher können diesen utopischen Raum mit Leben füllen und ihn schrittweise als eine Art Handbuch der Möglichkeiten für unser Leben → www.fridericianum.org im Hier und Jetzt deuten. Künstlerische Leitung: Moritz Wesseler Künstler: Jerszy Seymour gilt als einer der wich- Forrest Bess Ausstellung, Fridericianum, Kassel: tigsten kritischen Designer der Gegenwart. Zeitraum: 15.2.–3.5.2020 In seinen konzeptionellen und experimentellen Arbeiten verhandelt er politische wie philosophische Fragen. Für diese Ausstellung arbeitet er mit dem britischen Künstlerkollektiv Assemble sowie mit MACAO, einem in Mailand verorteten Zentrum für Kunst, Kultur und Forschung zusammen. In der Ausstellung Art and the Apocalypse wird das Museum mit den Besuchern neue Formen der Interaktion und kritischen Reflexion erproben. Innerhalb einer Generation hat sich der Klimawandel von einer wissenschaftlichen Prognose → www.mkg-hamburg.de in eine spürbare Realität gewandelt: Brände, Künstlerische Leitung: Tulga Beyerle Kurator und Dürreperioden oder Überschwemmungen Künstler: Jerszy Seymour Co-Kuratoren: Emanuele Braga, Dennis Conrad, Amica Dall Projektleiter: sind Gesichter dieser Krise, durch die die gloDennis Conrad Künstlerinnen /Mitwirkende: Assemble, bale soziale Ungerechtigkeit verschärft und MACAO Collective Ausstellung, Museum für Kunst Migrationsbewegungen verstärkt werden. und Gewerbe, Hamburg: 17.12.2020–23.5.2021 Diese neue Eskalation führt weltweit zu einem Ringen um politische Werte, um Gesellschafts-, Wirtschafts- und Lebensmodelle. So wie sich viele Gesellschaften zunehmend polarisieren, so verhärten sich auch politische Diskurse. Die Ausstellung spürt diesen gesellschaftlichen Konfliktlinien im Spiegel der Kunst nach: Sie versammelt Werke von Eine Gruppenausstellung zur Künstlern verschiedener Generationen und sozialen Klasse Herkunft, die sich mit dem Klimawandel und den ihn umrankenden vielschichtigen ÄngsDer britische Theoretiker Mark Fisher stellte ten und Hoffnungen auseinandersetzen und in seinem 2013 erschienenen Buch Exiting the die dabei mitunter gegensätzliche künstleriVampire Castle die These auf, dass die Kate- sche Ansätze verfolgen. Programmatisch ist gorie der „Class“ in linken Diskursen weniger die nachhaltig gestaltete Ausstellungsarchireflektiert wird als die Kategorien „Race“ und tektur des britischen Kollektivs Assemble: „Gender“. Das Ausstellungsprojekt greift sei- Für die Konzeption und die Produktion der ne Beobachtung auf und fragt, warum diese Architektur greifen sie auf lokale UnterTendenz auch in gegenwärtigen Kunstdiskur- nehmen und traditionelle Bauweisen genausen wahrzunehmen ist. Die verschiedenen so zurück wie auf neueste Materialien und künstlerischen Werke, unter ihnen zahlreiche Technologien. Neuproduktionen, das umfangreiche Begleitprogramm im Stadtraum München und die → www.schinkelpavillon.de Künstlerische Leitung: Nina Pohl Kuratorin: Annika daraus resultierende Publikation verhandeln, Kuhlmann Künstlerinnen: Cyprien Gaillard, Hans Haacke, wie sich heute künstlerische Produktion und Lawrence Lek, Gustav Metzger, Wangechi Mutu, Trevor Paglen, Sondra Perry, Rachel Rose, Pamela Rosenkranz, soziale Klasse gegenseitig bedingen. Max Hooper Schneider u. a. Ausstellung: Schinkel Pavillon,

Sun Rise | Sun Set

A Vampire Castle

→ www.kunstverein-muenchen.de Künstlerische Leitung: Maurin Dietrich Künstlerinnen: Ilit Azoulay, Berwick St. Collective, Matt Hilvers, Stephan Janitzky, Josef Kramhöller, Guillaume Maraud, Adrian Paci, Angharad Williams, Laura Ziegler u. a. Kunstverein München e.V., München: 29.5.–28.8.2020

Beyond States Über die Grenzen von Staatlichkeit Anhand der Konzepte Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt thematisiert die transdisziplinäre Ausstellung die aktuelle und zukünftige Bedeutung des Staates. Internationale künstlerische Positionen reflektieren Realitäten und Fantasien zwischen Dystopie und Utopie, von rechtslibertären Ideologien oder Verschwörungstheoretikern, die den demokratisch verfassten Staat bekämpfen, über Whistleblower, die staatliche Ordnungen hinterfragen oder Menschenrechtsverletzungen anprangern, bis hin zur Idee einer flexiblen Staatsbürgerschaft, die sich an Abo- oder Streaming-Portalen orientiert. Das Thema ist für das Zeppelin Museum in Friedrichshafen am Bodensee von besonderer Relevanz, insofern die Luftfahrt in ihren Anfängen eine Erfahrung von Grenzenlosigkeit versprach und eine immer wieder umkämpfte territoriale Grenzüberschreitung praktizierte. Die Überquerung der Grenze zur nahen Schweiz war überdies für als entartet diffamierte Künstlerinnen eine Möglichkeit, sich vor der direkten Verfolgung durch das deutsche NS-Regime zu retten. Die Ausstellung wird durch ein umfangreiches Vermittlungsprogramm mit Workshops, Screenings, einem Floating Campus und einer Tagung begleitet. → www.zeppelin-museum.de Künstlerische Leitung: Claudia Emmert Kuratoren: Jürgen Bleibler, Ina Neddermeyer Künstlerinnen: Nevin Aladağ, Simon Denny, Vera Drebusch & Florian Egermann, Forensic Oceanography, Jacob HurwitzGoodman & Daniel Keller, Christopher Kulendran Thomas, Henrike Naumann, Jonas Staal u. a. Ausstellung Zeppelin Museum, Friedrichshafen: 29.5.–1.11.2020

Frank Walter Eine Retrospektive Frank Walter, der 1926 in der ehemaligen britischen Kolonie Antigua in der Karibik geboren wurde, schuf ein außergewöhnlich vielseitiges Gesamtwerk, das ästhetische Kategorien und Genregrenzen noch heute produktiv in Frage stellt. Diese umfassende Retrospektive ist die erste institutionelle Einzelausstellung weltweit. Walters bildnerische Arbeiten stehen für eine völlig neue Art und Weise der Landschaftsdarstellung im karibischen Raum. Sie widersetzen sich der pittoresken Bildsprache des Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden Tourismus, mit dem in der damals noch britischen Kolonie eine Verdopplung der Fremdbestimmung begann. In seinen Werken stellt Walter Formen der Repräsentation grundlegend in Frage und schafft neue Darstellungsformen. Zugleich ist ihnen die koloniale Geschichte seiner Biografie tief eingeschrieben: Als Nachfahre versklavter Personen und europäischer Sklavenhalter, verkörpert Walters Lebensgeschichte das Trauma des transatlantischen Menschenhandels. Die Ausstellung ist mit dem Anspruch verbunden, die Heterogenität künstlerischen Schaffens in der karibischen Region sichtbar zu machen und die eigene Sammlung abseits europäischer und nordamerikanischer Pfade weiterzuführen.

Berlin: 10.9.–13.12.2020; Diskussionen: Schinkel Pavillon, Berlin: 12.–13.9.2020, 22.10.2020, 27.11.2020

Resist! Die Kunst des Widerstands Im Zentrum dieser partizipativen Ausstellung stehen Widerstandspraktiken und Perspektiven auf Macht sowie die Kunst des Widerstands in ehemalig kolonialisierten Ländern. Erzählungen von bekannten Widerstandskämpferinnen und Widerstandsaktionen stehen neben vielen kleinen, unbekannteren Geschichten in Vergangenheit und Gegenwart. Erstmals gibt ein ethnografisches Museum in Deutschland Künstlern und Aktivistinnen aus dem Globalen Süden so viel Raum, um das Thema aus ihrer Perspektive zu erzählen. Zehn Monate vor der Eröffnung wird zudem ein Diskussionsforum zum Thema Widerstand eingerichtet, durch welches das Museum ins Gespräch kommen will mit Besuchern, Künstlerinnen, Schulen, Hochschulen, Vereinen und Initiativen. Aufbauend auf den dort entstehenden Ideen und Anregungen soll die Ausstellung entwickelt werden. Tanz und Musik werden als Ausdrucksformen des Widerstands einen wichtigen Teil der Ausstellung ausmachen. Daneben werden Objekte aus den historischen Sammlungen zusammengebracht mit Werken zeitgenössischer Künstler. Themen wie „Widerstand gegen die Umweltverschmutzung“ oder „Widerstand von Jugendlichen“ sollen die unterschiedlichen Erzählungen und Zeitebenen miteinander verknüpfen. → www.museenkoeln.de Künstlerische Gesamtleitung: Nanette Snoep Kuratorinnen autonome Räume „It’s Yours!“: Peju Layiwola, Talita Uinuses Bangarah & Esther Utjiua Muinjangue, Timea Junghaus, Elizaveta Khan Künstler: Laboratoire Agit’Art, Bonnie Devine, Omar Viktor Diop, Newsha Tavakolian, Kara Walker, Mohammed Laouli, Ayrson Heráclito, Fatima Mazmouz, Yuki Kihara, Lawrence Paul Yuxweluptun u. a. Ausstellung Rautenstrauch-JoestMuseum — Kulturen der Welt, Köln: Eröffnung: 5.11.2020

Back to Future Technikvisionen zwischen Science-Fiction und Realität Diese Ausstellung widmet sich technischen Utopien aus Vergangenheit und Gegenwart. In besonderem Maße reflektiert sie die Digitalisierung und die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen und zeigt ausgewählte künstlerische Positionen internationaler Künstlerinnen wie Zach Blas, Camille Henrot, Nestor Pestana, Suzanne Treister und Pinar Yoldas gemeinsam mit Exponaten der Technikgeschichte. Die Besucher erleben eine Bilderreise zu den technischen Visionen der Zukunft, die kreative Vordenker im 19. Jahrhundert entwickelt haben. Manche dieser Utopien sind heute selbstverständlicher Alltag, manche gingen auf unterhaltsame Weise am Ziel vorbei. Die künstlerischen Arbeiten schaffen eigene Zugänge zur Wissensgeschichte und ermöglichen andere Perspektiven auf technische Innovationen: Möglichkeitsräume zum Nachdenken über die Optimierung des Menschen bietet beispielsweise die künstlerische Position von Pinar Yoldas. Ihre Designer Babies (2013–2016) spiegeln sowohl die Faszination wie das Unbehagen, die mit Themen wie der Verschmelzung von Mensch und Maschine, Cyborgs und Körpererweiterungen verbunden sind. → www.mfk-frankfurt.de → www.mfk-berlin.de Künstlerische Leitung: Katja Weber, reflekt und Yvonne Zindel Künstler: Zach Blas, ecoLogicStudio, Alex Haw, Camille Henrot, Antonia Hirsch, Nestor Pestana, Suzanne Treister, Pinar Yoldas Ausstellung, Museum für Kommunikation, Frankfurt am Main: 1.10.2020–29.8.2021; Museum für Kommunikation, Berlin: 23.9.2021–28.8.2022

John Akomfrah The Unfinished Conversation Mit dem 1957 in Ghana geborenen britischen Künstler John Akomfrah, dem Mitbegründer des Black Audio Film Collective (London 1982), präsentiert das Museum Kurhaus Kleve eine international vielfach ausgezeichnete Persönlichkeit, die in Deutschland bisher noch vergleichsweise wenig bekannt ist. Seine Installationen, für die die Verwendung von Filmund Videoprojektionen charakteristisch sind, erzeugen episch-assoziative Bilderströme, die den Postkolonialismus und Erfahrungen im Umfeld globaler Migration thematisieren. Mit komplexen simultanen Erzählstrukturen, die den Fundus kollektiver Erinnerungen aufrufen, erzeugt der Künstler durch die Überblendung von Archivmaterial, eigenen Aufnahmen, Naturpanoramen und strukturierenden Soundarbeiten von hoher Wahrnehmungsintensität. Die Ausstellung konzentriert sich auf das Frühwerk des Künstlers und zieht von dort aus Linien zu seinen aktuellen Großprojekten wie der Drei-Kanal-Projektion Four Nocturnes, die 2019 auf der Biennale in Venedig zu sehen war. Die Ausstellung entsteht in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler. → www.museumkurhaus.de Künstlerische Leitung: Harald Kunde Künstler: John Akomfrah Ausstellung, Museum Kurhaus Kleve, Kleve: 14.3.–12.7.2020

Transhuman Von der Prothetik zum Cyborg Die Stadt Ulm feiert 2020 den 250. Geburtstag Albrecht Ludwig Berblingers (1770–1829), der als „Schneider von Ulm“ in die Geschichte eingegangen ist. Aus diesem Anlass erinnert diese interdisziplinäre Schau an dessen historisch erfolgreichste Erfindung, den ersten Entwurf moderner Prothesen, und zeichnet die Entwicklungsgeschichte der Prothetik bis hin zu aktuellen Formen des Body Enhancements und zum heutigen Cyborg Design nach. Die Ausstellung mit internationalen Exponaten aus Kultur- und Medizingeschichte sowie künstlerischen Darstellungen von Versehrtheit und ihren Bearbeitungen in der Body Art beschäftigt sich mit der Komplementierung, der Imitation und Verbesserung der menschlichen Natur, der Überwindung physischer Grenzen und den Aussichten auf die Schaffung eines künstlichen Menschen. Die Möglichkeiten der medizinischen Prothetik in der Gegenwart und ihre Perspektiven in der Zukunft bestimmen auch die Auswahl der künstlerischen Arbeiten wie zum Beispiel Sophie de Oliveira Baratas The Alternative Limb Project, die das Medium der Prothetik nutzt, um avantgardistische tragbare Kunstwerke zu schaffen. Oder eine Arbeit Kader Attias, der eine Beinprothese zum Sinnbild für seine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Einfluss westlicher Kultur und des Kapitalismus auf die Gesellschaften in Nordafrika und dem Nahen Osten macht. Mit einem umfangreichen Begleitprogramm will das Museum eine breite Öffentlichkeit für die Tragweite immer stärkerer technischer Einflussnahmen auf den menschlichen Körper sensibilisieren. → www.museumulm.de Künstlerische Leitung: Stefanie Dathe Kuratoren: Eva Leistenschneider, Gabriele N. Reichert, Gerhard Reichert Künstlerinnen: Albrecht Berblinger, Jacques Callot, Jean-Baptiste Greuze, Heinrich Hoerle, Kader Attia, Sophie de Oliveira Barata, Mari Katayama, Igor Simic, Charlotta Öfverholm, Markus Schinwald, Stelarc u. a. Projektpartner Wissenschaft und Design: Miguel Araya Calvo, Gabriele N. Reichert, Gerhard Reichert, Leslie Speer, Yuta Kozaki, Lea Suela Schwegler, Erika Mondria, Anna Blumenkranz, Patricia Marti u. a. Ausstellung: Museum Ulm, Ulm: 16.5.–18.10.2020

Künstliche Intelligenz. Die Reorgani­ sation der Welt Eine Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden Diese Ausstellung untersucht, wie digitale, selbstlernende Technologien das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper und diesen Körper selbst verändern: Welchen Einfluss hat es auf unser Menschenbild, wenn wir immer enger mit Computern verbunden sind, sowohl kognitiv als auch physisch? Wie wirkt sich künstliche Intelligenz (KI) auf unseren Alltag und unsere Lebenswelt aus? Der erste Teil der Ausstellung untersucht, wie sich Bewegungsabläufe im Alltag und in der Arbeitswelt durch digitale Technologien verändern. Der zweite Teil zeigt, wie digitale Medien auf menschliche Körper einwirken und umgekehrt. Unter dem Motto „Technokörper“ handelt der dritte Teil von der digitalen Erfassung und Erweiterung biologischer Körper. Hier geht es auch um die politischen und rechtlichen Dimensionen des digitalen Zugriffs auf den Körper. Anhand vieler interaktiver Module bereiten die Kuratoren in diesem Teil auf, welchen Gestaltungsspielraum die Zivilgesellschaft oder der einzelne Nutzer gegenüber Regierungen und Konzernen hat. Begriffe wie Clickwork, Algorithmus oder Neuronale Netze werden in einem begehbaren Glossar spielerisch vermittelt. Das Hygiene-Museum will mit dieser Ausstellung auch erkunden, wie die digitale Transformation das traditionell auf physisch-materielle Dinge fokussierte Museum verändert. → www.dhmd.de Künstlerische Leitung: N. N. Künstlerinnen: Nora AlBadri und Nikolai Nelles, Anil Bawa-Cavia, Hella Gerlach, Adam Harvey u. a. Ausstellung, Deutsches HygieneMuseum, Dresden: September 2021 – August 2022

Leonilson Drawn 1975–1993 Der Brasilianer Leonilson (1957–1993) zählt zu den wichtigsten lateinamerikanischen Künstlern seiner Zeit. Diese umfangreiche Einzelausstellung gibt erstmals in Europa einen Überblick über sein Schaffen. In seinen frühen Arbeiten verwob er allegorische Darstellungen mit Text und einer psychologisierenden Bildsprache zu einem eklektizistischen Subjektivismus. Inspiriert von den Stickereien der Shakers, einer amerikanisch-christlichen Sekte, wechselte er ab Ende der 1980er Jahre von der Malerei zur Arbeit mit Stoff. Es entstanden Werke, in denen er den Körper auch sinnbildlich für die sich im Wandel befindende Gesellschaft darstellt. Mit der Diagnose, dass er an HIV erkrankt ist, änderte sich seine künstlerische Bildsprache erkennbar: Seine Auseinandersetzung mit dem Tod sowie sein immer schlechter werdender körperlicher Zustand prägen die späten tagebuchartigen Arbeiten. Die Bildmotive seiner Stickereien reduzierte er auf wenige abstrakte Formen und Textelemente. Das Begleitprogramm wird

amerikanische, karibische und europäische Einflüsse geprägt sei und der seinen Ursprung in den vom Sklavenhandel betroffenen Völkern habe. Gilroy entwickelte dafür den Begriff des „Black Atlantic“. Die Künstler spiegeln auch mit ihrer Herkunft diesen Kulturraum wider: Sandra Mujinga, in der Demokratischen Republik Kongo geboren und in Norwegen aufgewach→ www.kw-berlin.de sen, begegnet identitätspolitischen ZuschreiKünstlerische Leitung: Krist Gruijthuijsen bungen mit künstlerischen TarnungsstrateKünstler: Leonilson Ausstellung, KW Institute for Contemporary Art, Berlin: 28.11.2020–14.2.2021 gien. Mit dem Bild der Schwarzen in den Medien beschäftigt sich die in den USA geborene Tschabalala Self und der Südafrikaner Kemang Wa Lehulere hinterfragt die bestehende Rezeption afrikanischer Kunst. Der Brasilianer Paulo Nazareth setzt sich mit dem von Kolonialismus und Sklaverei geprägten In dieser Ausstellung geht es um mehr als amerikanischen Kontinent auseinander. Das die Frage, was körperlicher oder seelischer Rahmenprogramm wird das Themenfeld in Schmerz ist und wie er in der Kunst zur Dar- die Stadtgesellschaft tragen. stellung kommt. Es geht darum, wie Schmerz überwunden werden kann, welche Kräf- → www.kunstverein-hannover.de Künstlerische Leitung: Kathleen Rahn Künstler: te er weckt und welche positiven Effekte er Sandra Mujinga, Paulo Nazareth, Tschabalala Self, im Zuge seiner Überwindung zeitigt. Aus- Kemang Wa Lehulere Ausstellung, Kunstverein Hannover, 15.2.–26.4.2020, Konferenz Anthropology gehend von der Beobachtung, dass Schmerz Hannover: and Contemporary Visual Arts from the Black Atlantic, eine zeitbasierte Erfahrung ist, sind in dieser Kunstverein Hannover, Hannover: 14.–18.4.2020 Ausstellung hauptsächlich zeitbasierte Werke von internationalen Künstlern zu sehen, wie zum Beispiel Maya Watanabes Videoinstallation Liminal oder eine eigens für diese Ausstellung entwickelte Arbeit der britischen Künstlerin Marianna Simnett, die sich für ihre Videoarbeiten extremen körperlichen Eingriffen aussetzt. Mit Selbstoptimierung und Human Enhancement werden schließlich Themen behandelt, bei denen es um die Veränderungen des Körpers zum Zweck der Schmerzüberwindung geht. Die Ausstellung präsentiert überdies erstmals in Deutschland gezeigte Fotografien des 1975 verschollenen Video- und Konzeptkünstlers Bas Jan Ader. Das interdisziplinäre Rahmenprogramm wird Besuchern u. a. ermöglichen, unter Anleitung eines Trainers eigene Erfahrungen mit der Steigerung von körperlichen Höchstleistungen durch Schmerzüberwindung zu machen. zeigen, dass Leonilsons Auseinandersetzung mit identitätspolitischen Fragen sowie dem Verhältnis von Körper und Politik gerade für junge Künstler höchst aktuell ist: In Performances werden Künstlerinnen sich mit dem versehrten, kranken oder marginalisierten Körper und seiner aktuellen Wahrnehmung beschäftigen.

Beyond the pain

Musik & Klang

→ www.galerie-sindelfingen.de Künstlerische Leitung: Madeleine Frey Künstlerinnen: Anna Gohmert, Barbis Ruder, Bas Jan Ader, Damien Hirst, Harun Farocki, Forensic Architecture, Patrycja German, Marianna Simnett, Monica Bonvicini, Victoria Modesta, Maya Watanabe u. a. Ausstellung, Galerie Stadt Sindelfingen, Sindelfingen: 10.10.2020–28.2.2021

The Faculty of Sensing Thinking With, Through and By Anton Wilhelm Amo Dieses Ausstellungs- und Rechercheprojekt widmet sich Anton Wilhelm Amo, der als früher Denker der Aufklärung gilt. In Ghana geboren, als Kind versklavt und verschleppt, wurde Amo in jungen Jahren an das Herzogtum zu Braunschweig und Lüneburg-Wolfenbüttel verschenkt. Dort erhielt er eine humanistisch geprägte Bildung und nahm schließlich ein Studium der Philosophie und Rechtswissenschaft auf. In seinen Schriften argumentierte er gegen Sklaverei und rassistische Vorverurteilungen. The Faculty of Sensing möchte den Fokus auf seine Bedeutung als Philosoph lenken. 13 internationale Künstlerinnen sind eingeladen, eine zeitgenössische Perspektive auf sein Werk zu entwickeln. Die künstlerischen Arbeiten werden neben dem Kunstverein Braunschweig auch den Stadtraum sowie die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel bespielen. Mit dem Projekt möchte der Kunstverein eine Diskussion über die Politik der Referenzierung und Kanonbildung anstoßen. Wie kann es sein, dass Amo zwar einer der wichtigsten und konsequentesten Intellektuellen des 18. Jahrhunderts war, sein Werk aber weitestgehend in Vergessenheit geraten ist? Ein begleitendes Symposium soll diese Diskussion erweitern und auch auf wissenschaftlicher Ebene fortführen. → www.kunstvereinbraunschweig.de Kuratorinnen: Jule Hillgärtner, Nele Kaczmarek, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung Akinbode Akinbiyi, Bernard Akoi-Jackson, andcompany&Co., Anna Dasović, Jean-Ulrick Désert, Theo Eshetu, Adama Delphine Fawundu, Lungiswa Gqunta, Olivier Guesselé-Garai, Patricia Zaersenhout, Kitso Lynn Lelliott, Antje Majewski, Claudia Martínez Garai, Adjani Okpu-Egbe, RESOLVE Collective, Konrad Wolf u.a. Ausstellung, Kunstverein Braunschweig, Braunschweig: 27.3.–2.8.2020

Survival of the Fittest Zum Verhältnis von Natur und Hightech in der zeitgenössischen Kunst Die internationale Gruppenausstellung im Kunstpalais Erlangen zeigt zehn künstlerische Positionen, die sich mit der Frage beschäftigen, welche Rolle Technologie — künstliche Intelligenz (KI), Blockchain, Big Data oder Bioengineering — bei der Bewältigung von Gefahren und Herausforderungen durch Klimawandel und Umweltzerstörung spielen kann. Optimistinnen sehen in technologischen Innovationen einen Schlüssel zur Rettung der Umwelt, Kritiker hingegen bezeichnen solche Hoffnungen als tendenziell naiv. Die Ausstellung beabsichtigt, das facettenreiche Verhältnis von Natur und Hightech in der zeitgenössischen bildenden Kunst widerzuspiegeln. Von dekonstruktiv-kritischen Positionen über optimistische Zukunftsperspektiven bis hin zu fantastischen Visionen von einer erneuerbaren Natur wird der Frage nachgegangen, wie sich unser Verhältnis zur Umwelt in Zukunft gestalten lässt. Hito Steyerl beispielsweise dekonstruiert in ihrer Installation This is the Future die Hoffnung, dass KI die Zukunft vorhersehen kann, während der Niederländer Jonas Staal in einem performativen Trainingscamp mit dem Publikum Szenarien zur Rückgewinnung der Zukunft erprobt. Auf einer begleitenden interdisziplinären Tagung sollen technologische und politische Gegenmaßnahmen gegen ein sich abzeichnendes Katastrophenszenario diskutiert und abgewogen werden. → www.kunstpalais.de Künstlerische Leitung: Milena Mercer Künstler: James Bridle, Simon Denny, Anna Dumitriu & Alex May, Futurefarmers, Alexandra Daisy Ginsberg & Sissel Tolaas, Andreas Greiner, Jonas Staal, Pinar Yoldas u. a. Ausstellung Kunstpalais, Erlangen: 29.2.–24.5.2020

Beyond the Black Atlantic Vier junge Künstler beschäftigen sich in dieser Ausstellung mit dem kulturellen Erbe des afrikanischen Kontinents sowie mit „Blackness“ als sozialem Konstrukt von Identität. Ihr Schaffen zeugt von einer veränderten (Selbst-)Wahrnehmung der Black Community, die sich in den letzten Jahren herauskristallisiert hat und die der Idee einer transatlantischen, afrikanischen Kultur neue Aktualität verleiht. Bereits Mitte der 1990er Jahre hatte der Soziologe Paul Gilroy die Anrainerstaaten entlang des Atlantiks als singulären Kulturraum beschrieben, der durch afrikanische,

PROJEKTE → www.mmk.art Künstlerische Leitung: Susanne Pfeffer Beratende Kuratorin: Barbara Paca Künstler: Frank Walter Ausstellung, Museum MMK für Moderne Kunst, Frankfurt am Main: 28.3.–30.8.2020

Die interdisziplinäre Jury der Allgemeinen Projektförderung hat auf ihrer letzten Sitzung im Herbst 2019 31 neue Förderprojekte ausgewählt. Die Fördersumme beträgt insgesamt 4,3 Mio. Euro.

Die Mitglieder der Jury waren: Dr. Manuel Gogos Autor und Ausstellungsmacher, Björn Gottstein Leiter der Donaueschinger Musiktage, Bart van der Heide Freier Kurator, Sabine Himmelsbach Leiterin des Haus für elektronische Künste Basel, Wolfgang Hörner Leiter des Verlags Galiani Berlin, Prof. Dr. Gerald Siegmund Direktor des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen, Susanne Titz Direktorin des Museums Abteiberg in Mönchengladbach, Almut Wagner Geschäftsführende Dramaturgin Schauspiel am Theater Basel

Abb.: José Leonilson, Untitled, 1986 Zeichnung / Buntstift auf Papier 33 × 24 cm

Ensemble­ festival für aktuelle Musik 2020

Das Ensemblefestival ist eine Initiative des Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig und des Ensemble Tempus Konnex. In der ersten Auflage richtet sich der Blick nach Osten: An vier Tagen führt die Biennale bedeutende Ensembles der zeitgenössischen Musik aus China, Japan, Russland und Deutschland zusammen. Mehrere Uraufführungen und zahlreiche europäische Erstaufführungen zelebrieren die Transnationalität des Musizierens und erkunden die Grenzen zu elektronischer Musik, Video- und Medienkunst. Das Ensemble NOMAD stellt Werke japanischer Komponisten vor und vergibt zwei Kompositionsaufträge. Neben Werken von Alexander Khubeev und Vera Ivanova bringt das Moscow Contemporary Music Ensemble ein Auftragswerk zur Aufführung. Das Ensemble ConTempo Beijing realisiert u. a. ein Werk von Jia Guoping. Die beiden deutschen Ensembles, Tempus Konnex und Ensemble Musikfabrik, präsentieren u. a. aktuelle Stücke von Chaya Czernowin und Enno Poppe sowie intermediale Werke von Johannes Kreidler. Die Förderung des künstlerischen Nachwuchses findet in Kooperation mit Leipziger Kultur- und Medieninstitutionen in Form von Workshops und Lectures statt. Darüber hinaus schreibt das Ensemblefestival 2020 einen internationalen Kompositionswettbewerb aus. → www.fzml.de Künstlerische Leitung: Thomas Chr. Heyde, JiYoun Doo, Norio Sato, Victoria Korshunova, Jia Guoping, Thomas Fichter Künstlerinnen: Enno Poppe, Oscar Bianchi, Chaya Czernowin, Jia Guoping, Alexander Khubeev, Johannes Kreidler, Chiyoko Noguchi, Vera Ivanova, Marika Kishino u. a. Konzerte: Ensemble Tempus Konnex, Leipzig: 19.11.2020; Konzert Ensemble MCME, Leipzig: 20.11.2020; Konzert ConTempo Beijing, Leipzig: 20.11.2020; Konzert Ensemble NOMAD, Leipzig: 21.11.2020; Ensemble Musikfabrik, Leipzig: 21.11.2020

Echoräume

Internationale Komponistinnen und Ensembles mit unterschiedlichen musikalischen Ansätzen werden neue Werke für diese Pfeifenorgeln komponieren oder bestehende Werke für das jeweilige Instrument und die Raumakustik adaptieren. Das künstlerische Spektrum reicht dabei von zeitgenössischer Elektronik über Neue Musik bis zu Avantgarde Pop und Noise Musik und umfasst ganz unterschiedliche künstlerische Strategien wie Echtzeit-Steuerung oder Synchronisierung mit Elektronik. Geplant sind acht Konzerte in Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Norwegen und Island, die an besonderen Orgeln verschiedener Bauart realisiert werden sollen. Vorträge und Paneldiskussionen an den Konzertabenden werden die technischen Hintergründe und künstlerischen Ansätze vermitteln und aktuelle künstlerische Fragestellungen aufgreifen. Die Konzertreihe wird umfassend dokumentiert und auf Tonträger und als Katalog veröffentlicht. → www.gamutinc.org/aggregate Künstlerische Leitung: gamut inc (Marion Wörle, Maciej Śledziecki) Komponisten: Seth Horvitz aka Rrose, Robert van Heumen, Nils Henrik Asheim, Stefan Fraunberger, George Rahi, Arturas Bumšteinas, Phillip Sollmann, Konrad Sprenger, gamut inc (Marion Wörle, Maciej Śledziecki ) u. a. Recherchen, Proben und Konzerte: St. Antonius, Düsseldorf: 25.1.2020; Kunst-Station St. Peter, Köln: 1.2.2020; Logos Foundation, Gent: 18.4.2020; Stavanger Konserthus, Stavanger: 24.10.2020; Hallgrimskirkja, Reykjavik: 31.1.2021; Orgelpark, Amsterdam: 31.3.2021; Auenkirche, Berlin: 31.8.2021; Kaiser-Wilhelm Gedächtniskirche, Berlin: 1.9.2021

HERE HISTORY BEGAN Tracing the REverberations of Halim El-Dabh – sonic and otherwise Der in Ägypten geborene Musiker, Komponist und Wissenschaftler Halim El-Dabh (1921– 2017) war ein Vorreiter der experimentellen elektronischen Musik. Er lehrte und forschte in zahlreichen Ländern Afrikas und der afrikanischen Diaspora. Seine eigenen Kompositionen für Oper, Symphonie, Ballett, Orchester und elektronische Musik sind von afrikanischen und asiatischen Einflüssen inspiriert. Das gemeinsame Projekt von Savvy Contemporary e. V. und dem Festival MaerzMusik ist eine Hommage an diesen großen Komponisten, dessen künstlerische Bedeutung für die Musikgeschichte bisher nur marginal wahrgenommen wurde. Einzelne Werke ElDabhs sind durchaus bekannt: Etwa Expressions of Zaar von 1944, das als eines der ersten elektronischen Werke weltweit gilt. Die Kuratoren wollen nun sein gesamtes Schaffen im Kontext afrikanischer Klangkunst und Historizität in einer Ausstellung sowie im Rahmen von Workshops, einem Symposium, Radiobeiträgen und Konzerten während der MaerzMusik neu einordnen. Das Projekt will zudem einerseits die Verbindung von Klangkunst mit visuellen, performativen und installativen künstlerischen Praktiken angeregen und andererseits Radiokünstlerinnen und Künstler beauftragen, mit dem Medium Radio zu experimentieren. Geplant ist auch die umfangreiche Forschung zum Kongress für arabische Musik von 1932, die in einer Serie von Radioproduktionen und künstlerischen Produktionen präsentiert wird. → www.savvy-contemporary.com Künstlerische Leitung: Bonaventure Soh Bejeng Ndikung Kuratorin: Kamila Metwaly Komponist: Halim El-Dabh Künstlerinnen: Aurélie Nyirabikali Liermann, Emeka Ogboh, Leo Asemota, Lorenzo Sandoval, Satch Hoyt, Sunette Viljoen, Tanka Fonta, Tegene Kunbi, Theo Eshetu, Yara Mekawei Ausstellung, Savvy Contemporary, Berlin: März–April 2020; Rahmenprogramm mit Konzerten, Workshops und Radioformaten: Februar 2020–August 2021

Bühne & Bewegung

Endlich spielen statt sprechen Was ist ein Leben, was ein Werk? Wie vertont und vertextet man Erfahrungen und Wünsche? Ausgehend von diesen Fragen begeben sich vier Künstlerinnen in die „Echoräume“ eines literarisch-musikalischen Gesprächs: Die Komponistinnen Iris ter Schiphorst und Milica Djordjević und die Autorinnen Felicitas Hoppe und Anja Kampmann tauschen sich jeweils als Paar über mehrere Monate schreibend und komponierend über ein Thema aus. In Form eines transmedialen „Briefwechsels“ lassen sie sich auf einen entschleunigten Dialog ein, der auch die Grenzbereiche der Musik und Sprache erkundet. Dabei setzt das Projekt des ensemble ascolta und des Literaturhaus Stuttgart auf die Eigenständigkeit der Künste, die Autonomie der Positionen sowie auf Spannung und Abgrenzung als Bedingung für die Bildung von Näheverhältnissen. Das ensemble ascolta wird einzelne Dialogbeiträge hörbar machen und den Prozess gleichermaßen zurückhaltend wie aktiv begleiten. Am Ende soll ein Doppelabend stehen, der die Kommunikationsräume der Künstlerinnen abbildet und den Austausch erlebbar macht. Für die dramaturgische und szenische Umsetzung konnte die Hörfunkregisseurin Iris Drögekamp gewonnen werden. → www.ascolta.de Künstlerische Leitung: Florian Hoelscher Künstlerische Co-Leitung: Stefanie Stegmann Projektleitung: Eva Maria Müller Komponistinnen: Milica Djordjević und Iris ter Schiphorst Autorinnen: Felicitas Hoppe, Anja Kampmann Musiker: ensemble ascolta Dramaturgie/ Regie: Iris Drögekamp Inszenierte Konzerte/Melodramen: Schwetzinger Festspiele, Schwetzingen: Mai 2022; Rainy Days Philharmonie, Luxemburg: November 2022; Liederhalle Stuttgart, Stuttgart: Juni 2023; Haus der Musik, Innsbruck: Juni 2023

Klangkunst Festival Mon­ heim am Rhein Auditive Interventionen im öffentlichen Raum Klangkunst ist nicht mehr nur ein Teilbereich zeitgenössischer Musikfestivals, sie hat sich auch im Bereich der bildenden Kunst etabliert. Auf vielen bedeutenden Ausstellungen wie etwa der documenta oder der Biennale in Venedig ist die Klangkunst selbstverständlich vertreten. Diese Kunstform erhält nun ein eigenes Festival, das im Zeitraum von einem Monat ein breites Spektrum internationaler Positionen der Klangkunst vorstellen wird. Künstlerinnen verschiedener Generationen und ästhetischer Stile werden die gesamte Innenstadt Monheims sowohl mit fest installierten Arbeiten als auch mit performativen Aktionen und anderen temporären Arbeiten bespielen. Zu den eingeladenen Künstlern gehören die Japanerin Rie Nakajima, eine der experimentierfreudigsten Künstlerinnen der aktuellen Klangkunst, und der Däne Jacob Kirkegaard, der in seinen Klangarbeiten die Musikalität in unserer Umgebung verarbeitet. Kuratierte Klangspaziergänge, von Künstlern geleitete Workshops sowie eine Reihe von Künstlergesprächen ergänzen das Programm. Im Anschluss an das Klangkunstfestival findet erstmals die Monheim Triennale statt, ein neu gegründetes internationales Musikfestival für aktuelle improvisierte, komponierte und populäre Musik.

The Big Sleep Interdisziplinäres Projekt zur Taxidermie Die Theatermacherinnen Alisa Hecke und Julian Rauter erforschen mit ihrem Projekt die Motive und Hintergründe der Tierpräparation: Wie fungieren Körper als Träger von Erinnerung? Nach welcher Ästhetik werden tote Körper in der Tierpräparation gestaltet? Sie betrachten die Präparation als eine Kulturpraxis, die sich dem Verfall und dem Vergessen zu widersetzen sucht und angesichts des Artensterbens eine besondere Dringlichkeit gewinnt. Auf der Basis von Interviews mit Tierpräparatoren entwickeln sie fünf verschiedene künstlerische Formate für mehrere Theater, ein Festival und Museen in Deutschland und der Schweiz. In der Performance The Big Sleep, die an Theatern in Leipzig, Berlin und Basel aufgeführt wird, steht die Frage im Zentrum, wie lebende Körper ästhetisch aufbereitet, betrachtet und erinnert werden. Mit Blick auf die schiere Masse an Artefakten, die in Kulturdepots lagern, reflektiert die szenische Installation für das Kunstfest Weimar die Bedeutung und Sinnhaftigkeit menschlicher Sammlungspraxis. Eine Audioinstallation für das Naturhistorische Museum Basel erzählt von den Herstellungsprozessen der Tierpräparation und das Hörstück für das Naturalienkabinett Waldenburg beschäftigt sich mit der zeitgenössischen Ästhetik der Präparation und ihrer historischen Entwicklung. Im Afrika-Diorama des Naturkundemuseums Genf finden mehrere performative Interventionen statt, die etablierte museale Präsentationen unterlaufen und das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt und den Tieren reflektieren. → www.jrauter.com/projekte/the-big-sleep Künstlerische Leitung: Alisa Hecke, Julian Rauter Produktionsleitung: Nora Schneider Künstler und Wissenschaftlerinnen: Nadir Alvarez, Katharina Bill, Jonas Fürstenau, Lydia Mäder, Cornelia Friederike Müller, Alvin Probst, Andi Willmann, Nina Maria Wyss u. a. Performance The Big Sleep, Residenz Schauspiel Leipzig: 19./20./23./24./26./27.6.2020; Theaterdiscounter Berlin: 29./30./31.10., 1.11.2020; Roxy Biersfelden: 5./6.11.2020; Installation Melancholie der Sammlung, Kunstfest Weimar: 30./31.8.2020; Kurzstück Le Grand Sommeil, Muséum d’histoire naturelle de la Ville de Genève: 14./15.11.2020; Audioinstallation L/Imitation of Life, Naturhistorisches Museum Basel: 17.9.–30.11.2020; Hörstück, Naturalienkabinett Waldenburg: Dezember 2020

Moby Dick Nach dem Roman von Herman Melville. Visuelles Theater für 6 SchauspielerPuppenspieler, ein weibliches Musikquintett und einen Wal

Mit Moby Dick bringt das Puppentheater Halle einen Klassiker der Weltliteratur auf die Bühne. Für die Neuinszenierung wird es zum ersten Mal mit der norwegisch-französischen Regisseurin, Choreografin und Puppenspielerin Yngvild Aspeli und ihrer Compagnie Plexus Polaire zusammenarbeiten. Die Stücke der Compagnie verbinden virtuoses Puppenspiel mit Musik und Video. Wesentlich für den künstlerischen Ausdruck ihrer Produktionen sind neben den ausdrucksstarken Puppen der Puppenspielerin und Puppenbauerin Polina Borisova die Musik und die → www.monheim-triennale.de Soundscapes der Komponistinnen und MusiKünstlerische Leitung: Frank Schulte Kuratorin: Theresa Bergne Musiker: Jacob Kirkegaard, Rie Nakajima, kerinnen Ane Marthe Sorlien Holen und Guro STAALPLAAT SOUNDSYSTEM, Christina Kubisch u. a. Skumsnes Moe. Klangkunst Festival: Klangfestival im öffentlichen Raum Aspeli wird Moby Dick in zwei Fassungen Monheim am Rhein, Monheim am Rhein: 1.–30.6.2021 inszenieren: in einer englisch/französischen Version mit den Puppenspielern der Gruppe Plexus Polaire und in einer deutschen Fassung gespielt vom Ensemble des Puppentheaters Halle. Auf der Grundlage von Melvilles Roman wird Aspeli eine erste Textfassung erarbeiten, Automatisierte Pfeifenorgeln in der die dann im Probenprozess gemeinsam mit post-digitalen Computermusik den Puppenspielerinnen beider Ensembles weiterentwickelt wird. Die Regisseurin hat Diese Konzertreihe will die computergesteu- eine starke persönliche Beziehung zu dieser erte Orgel als ein „neues Instrument“ vor- Erzählung, denn ihr Großvater war Seemann stellen und ihre unentdeckten musikalischen und ihr Heimatland Norwegen gehört zu den Ressourcen zu Gehör bringen. Tatsächlich wenigen Ländern weltweit, die bis heute am eröffnen automatisierte Pfeifenorgeln für kommerziellen Walfang festhalten. Komponisten besondere künstlerische Möglichkeiten: Durch neu entwickelte Steue- → www.buehnen-halle.de rungstechnik und Schnittstellen lassen sich Künstlerische Leitung: Christoph Werner Regie: Yngvild Aspeli Dramaturgie: Pauline Thimonnier Puppenbau: alle Parameter der Orgel vom Computer aus Polina Borisova Bühnenbild: Elisabeth Holager Lund Komponisten: Ane Marthe Sorlien Holen & Guro Skumsnes steuern, während der Klang weiterhin an den Orgelpfeifen entsteht. Im Zusammenspiel mit Moe Aufführungen: Nordland Theater in Mo, Rana (Norwegen): 21.10.2020; Caen (Frankreich): 19.11.2020; dem Raum können so vielfältige und völlig Neues Theater Halle, Dok 1, Großer Saal, Halle: neuartige Klangphänomene erzeugt werden. 5.–14.2.2021; Festival d’Avignon (Frankreich): Juli 2021

Aggregate

Descending the Throne Das klassische Ballett steht für eine Epoche, die Anmut, Kontrolle und Disziplin betonte. Mit Descending the Throne möchte Choreograf Adam Linder, selbst ausgebildeter Balletttänzer, mit der seit Jahrzehnten weitgehend unveränderten Bühnenform des Genres radikal brechen. Tradierte Methoden und Techniken sollen auf ihre Bedeutung und ihren Nutzen hin überprüft und mit neuen Praktiken angereichert werden. Dazu möchte Linder u. a. die symmetrischen Raumkonzepte klassischer Ballettaufführungen unterwandern, das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Musik und Tanz untersuchen und Einflüsse und Vokabular anderer Tanzrichtungen einfließen lassen. Als Inspiration dienen ihm Hip-Hop, Jazz, Schauspiel-, Performance- sowie Improvisationstechniken aus der Musik und dem zeitgenössischen Tanz. Er bringt zudem klassisch ausgebildete Balletttänzer mit Performern und Tänzerinnen der internationalen Freien Szene zusammen. In dieser Konstellation stellen sich unweigerlich Fragen nach Diversität, Vor- und Nachteilen der jeweiligen Ausbildungswege und Arbeitsfelder und der in ihnen vorherrschenden Ästhetiken. Linder, der sich bereits zuvor kritisch mit dem Ballett beschäftigt hat, setzt seine Forschung über das Genre mit diesem Projekt genuin fort. Das Stück lässt den Tänzern überdies einen größtmöglichen Raum, sich aktiv in Gestaltungsprozesse einzubringen, um die Zukunft des Balletts kollaborativ neu zu imaginieren. → www.kampnagel.de Künstlerische Leitung: Adam Linder Künstlerinnen und Mitwirkende: Ethan Brown, Shahryar Nashat, Andrea Niederbuchner Aufführung, Kampnagel, Hamburg: 1.5.2020–28.2.2021

The Drying Prayer (AT)

Ein Tanzprojekt von Taigué Ahmed (NDAM SE NA) Der Tschadsee in der Sahara versorgt die Länder Tschad, Nigeria, Niger und Kamerun mit Wasser und Nahrung. Er ist ein spirituell aufgeladener Ort für die um ihn lebenden Ethnien und Kulturen. Der Schwund der Ressource Wasser, veränderte Regen- und Trockenzeiten, eine um sich greifende Desertifikation und die zunehmende Instabilität und Militarisierung der Region bedrohen den See und seine Anrainer heute. Mittlerweile ist er ein Symbol für den Zusammenhang von Klimawandel, Flucht und Migration. Das Tanzstück des tschadischen Choreografen Taigué Ahmed, das er gemeinsam mit dem in Montreal lebenden Musiker DJ Caleb Rimbtobaye/Afrotronix und fünf afrikanischen Tänzern entwickelt, beschäftigt sich mit den jüngsten Transformationen von Lebensraum und Gemeinschaftsstrukturen am Tschadsee. Es ist eine getanzte Kartografie und Bestandsaufnahme, bei der traditionelle und zeitgenössische Tanzstile wie Hip-Hop und Coupé-Décale zusammengeführt werden. Die Musik nimmt die Rhythmen und Gesänge der Region auf und verbindet diese mit elektronischer Musik und Sprechgesang. Es entsteht ein afrofuturistischer Sound, eine hörbare Zukunftsvision für den Tschadsee. Die Aufführungen werden von Diskussionen, Vorträgen und Workshops zu Bedeutung und Folgen von klimatischen Veränderungen begleitet. In Zusammenarbeit mit dem Centre National de la Danse (Paris). → www.ndamsena.org → www.buerosisk.de Choreografie, künstlerische Leitung: Taigué Ahmed Tanz: Baidy Ba, Aimé Djedonang, Hervé Dakanga, Julie Iariosa, Aly Karembé Musik: Caleb Rimbtobaye/ Afrotronix Kostüm und Bühne: Veronika Utta Schneider Dramaturgie: Sarah Israel Lichtdesign: Wolfgang Eibert Premiere und Aufführungen, Theater HochX, München: Oktober/November 2020; weitere Aufführungen: Deutsches Nationaltheater Weimar, Weimar: Oktober/ November 2020; Deutsches Theater Göttingen, Göttingen: Oktober/November 2020; Institut Français des Tschad, N’Djamena: Dezember 2020

Aufsehen, eine inszenierte Bootsfahrt in Wien und Berlin 2020 Produktion der Performance Agency Der Kunstsammler Francesco Conz (1935– 2010) arbeitete eng mit den Künstlerinnen der wichtigsten Avantgardebewegungen seiner Zeit zusammen — Fluxus, Wiener Aktionismus, Lautpoesie, Konkrete und Visuelle Poesie. Sein Nachlass, das Archivio Conz, beherbergt mehr als 3.000 Kunstwerke, Dokumente, Editionen und persönliche Exponate von über 150 Künstlern, die er im Verlauf von über 30 Jahren gesammelt hat. Orientiert an der Fluxus-Bewegung und den Anfängen der Performance-Kunst kuratiert die Performance Agency das öffentliche Programm des Archivio Conz und bringt Künstler verschiedener Sparten zu performativen Happenings zusammen. Im Sommer 2020 wird sie für Berlin und Wien eine Bootsfahrt mit Performances an den Flussufern von Spree und Donau inszenieren: Künstlerinnen werden dazu eingeladen, sich ein Objekt, eine Arbeit oder einen Gedanken aus dem Archivio Conz auszusuchen und daraus eigene Arbeiten zu entwickeln. Dabei geht es nicht um ein Reenactment der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, vielmehr soll der Geist der Sammlung von zeitgenössischen Künstlern aufgegriffen und in eigenen Performances umgesetzt werden. Es werden Neuproduktionen u. a. aus den Bereichen Text, Performance, Musik, Tanz und Film entstehen. Für die Besucher, die an den Bootsfahrten teilnehmen, wird die Stadt zur Bühne. → www.performanceagency.biz Künstlerische Leitung: Yael Salomonowitz Performance, Berlin: Juni 2020; Performance Wien: September 2020

1984 —A Possible Future from the Past Eine interaktive Performance von Gob Squad Das britisch-deutsche Performance-Kollektiv Gob Squad zählt zur Avantgarde des postdramatischen Theaters. Kollektive Gestaltungspraxis und die Interaktion mit dem Publikum sind zentrale Elemente seiner künstlerischen Praxis. Mit dieser Produktion will es sein Publikum auf eine imaginäre Zeitreise in das Jahr 1984 schicken. Dafür greift Gob Squad Motive von George Orwells dystopischer Zukunftsvision Nineteen Eighty-Four auf. Das Stück ist performative Science-Fiction — ein interaktives Experiment, mit dem der Versuch eines „Reset“, der Re-Programmierung von Geschichte, unternommen wird, um gemeinsam mit dem Publikum Visionen einer besseren Zukunft zu entwickeln. Projektionsfläche der „possible future(s)“ sind Musikvideos von 1984. Heute wirken vor allem die vermittelten Geschlechterbilder oder der Umgang mit kultureller Appropriation antiquiert. Das Publikum ist eingeladen, die Darstellung von Lebenswirklichkeiten zu verändern. Mit der (Re-)Vision von Vergangenheit und Zukunft möchte das Künstlerkollektiv unterrepräsentierte Stimmen zu Wort kommen lassen, um von hier aus Zukunft neu zu denken. Abhängig vom Publikum entwickeln sich Konstellationen in jeder Aufführung neu. Den Inszenierungen gehen Forschungsaufenthalte in New York, Shanghai, Bengaluru und Leipzig voraus, bei denen Gob Squad mit lokalen Partnern u. a. zu Afrofuturismus und Identitätspolitik sowie multiperspektivischem Storytelling arbeiten will. → www.gobsquad.com Künstlerische Leitung: Gob Squad Arts Collective Künstler: Gob Squad Arts Collective (Johanna Freiburg, Sean Patten, Sharon Smith, Berit Stumpf, Sarah Thom, Bastian Trost, Simon Will), Anuja Ghosalkar, Joris Weijdom u. a. HAU Hebbel am Ufer, Berlin: 4.–9.5.2021

Hexploitation Ein internationales Performance& Videoprojekt über die Angst vor der alten Frau Für diese Inszenierung arbeitet das Performance-Kollektiv She She Pop mit Künstlern, Wissenschaftlerinnen, Theatern und Festivals aus Deutschland, Irland, Italien, Mexiko, Japan und der Schweiz zusammen. Die Produktion setzt sich mit dem Prozess des weiblichen Alterns auseinander, wobei She She Pop die Frage zuspitzt: Inwiefern sind unsere Vorstellungen und Wertungen von Weiblichkeit noch heute von der Hexenverfolgung geprägt? Wie hat sich die Abwertung selbstbestimmter Frauen über Jahrhunderte kulturgeschichtlich legitimiert? In vorbereitenden Workshops soll erforscht werden, welche wirkmächtigen Bilder und Narrative der starken alten Frau es gibt. Das Szenario eines öffentlichen „Hexenprozesses“ mit körperlichen Untersuchungen und peinlichen Befragungen verwebt She She Pop in der Performance mit Darstellungen offensiver Weiblichkeit aus verschiedenen Zeiten und Kulturen. Hexploitation spielt mit Blickverboten und verbotenen Einblicken, die Bilder reproduzieren und dekonstruieren gleichermaßen. Bei den Aufführungen in Turin und Basel sollen auch lokale Mythen von Hexenverfolgung in die Inszenierung einfließen. Dazu wird She She Pop die Produktion gemeinsam mit Performern vor Ort erarbeiten. → www.sheshepop.de Künstlerische Leitung: She She Pop Video: Benjamin Krieg Musik: Santiago Blaum Kostüm: Lea Soevsoe Künstlerische Mitarbeit: Laia Ribera Internationale Expertinnen: Veronica Dyas, Takako Shibata u. a. Vorstellungen: HAU Hebbel am Ufer, Berlin: 30.9.– 4.10.2020; Dublinfestival, Dublin: 9.–11.10.2020; Festival delle Colline Torinesi, Turin: 29.–31.1.2021; Kaserne Basel, Basel: 12.–14.2.2021

10 odd emotions

(AT)

Ein neues Crossover-Projekt über die Sprengkraft des Andersseins Die internationale Produktion 10 odd emotions der israelischen Choreografin Saar Magal steht als eine der größten Produktionen im Zentrum der neuen Spielzeit des Schauspiel Frankfurt. Magal lässt in ihren Arbeiten die Grenzen zwischen den Disziplinen verschwimmen. Für diese neue Produktion arbeiten Schauspielerinnen des festen Ensembles des Schauspiel Frankfurt mit Tänzern der Dresden Frankfurt Dance Company sowie mit freien Tänzerinnen, Schauspielern, Musikerinnen und bildenden Künstlern zusammen. Gemeinsam entwickeln die Künstlerinnen Fragen nach der Darstellbarkeit von Antisemitismus auf der Bühne und erforschen Erfahrungen der Ex- und Inklusion. Die Produktion will einen Erfahrungsraum öffnen, der Fragen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung verhandelt und die Debatte kontrovers und auf sinnliche Weise bereichert. → www.buehnen-frankfurt.de Regie und Choreografie: Saar Magal Bühnenbild: Amit Drori Kostümdesign: Slavna Martinovic Komposition und musikalische Einrichtung: Omer Klein Videodesign und Live Mapping Animation: Pascal Jeker Dramaturgie: Katja Herlemann Assistenz Choreografie: Niv Marienberg Ensemble: Adaya Berkovich (Tanz) sowie Darstellerinnen des Ensembles Frankfurt & Tänzerinnen der Dresden Frankfurt Dance Company Premiere: Städtische Bühnen, Frankfurt am Main: 25.3.2021; Gastspiele: HELLERAU, Dresden: 19.5.2021

Kontrast­ programm Dichotomien im Figuren- und Objekttheater Das Festival Figurentheater der Nationen will im Jahr 2020 einen Schwerpunkt zum Thema „Digitales“ ausrichten. Die eingeladenen Produktionen setzen sich auf zukunftsweisende Art mit den Dichotomien analog und digital, Licht und Schatten, schwarz und weiß oder belebt und unbelebt auseinander. Das Festival initiiert dazu Kooperationen mit Künstlerinnen, die in den digitalen Medien arbeiten und sucht auch in der Vermittlung nach besonderen Verbindungen von analog und digital. Eingeladen ist zum Beispiel das Shanghai Puppet Theater mit der Legende von Mulan in Deutscher Erstaufführung. Die Produktion verbindet traditionelles chinesisches Schattenspiel mit dem innovativen Einsatz digitaler Medien. Die Düsseldorfer Gruppe half past selber schuld zeigt eine neue Produktion, in der sie fiktive Technologien entwirft und mit Experten diskutiert. Die Arbeit der Japanerin Miyako Kurotani setzt sich mit einigen in Südostasien zentralen Dichotomien auseinander: alt und jung, belebt und unbelebt, Yin und Yang. Sie wird mit ihrer Soloperformance zum ersten Mal in Deutschland zu sehen sein. Begleitend zum künstlerischen Programm findet das mehrtägige Symposium Digitalität und Performance statt, das gemeinsam mit Lehrenden und Studierenden der Theaterwissenschaft, der Szenischen Forschung und des Figurentheaters aus Erlangen, Bochum und Stuttgart entwickelt wird. → www.fidena.com Künstlerische Leitung: Annette Dabs-Baucks Künstler / Beteiligte: Miyako KUROTANI, Shanghai Puppet Theater Troupe, Dries Verhoeven, Cie Etcétera, Esnam – Institut International de la Marionnette, half past selber schuld, Scheinzeitmenschen, Why Not Kollektiv / Kalakutta Soul Figuren- / Objekttheater Bochum: FIDENA, Bochum: 19.–30.5.2020

Film & Neue Medien

The Garden Kinematografien der Erde An der Südküste Englands, in direkter Nachbarschaft zu einem Atomkraftwerk und einer Militärbasis, war der letzte Wohnort des britischen Künstlers, Filmemachers und Aktivisten Derek Jarman, der 1994 an den Folgen einer HIV-Infektion starb. Er entwarf und gestaltete dort seinen legendären Garten, der heute immer noch von Experimentalfilm-Fans und queeren Communities besucht wird. In seinem Film The Garden (1990) beschäftigt sich Jarman mit der Ambivalenz des Gartens zwischen Heilung und Zerstörung, Hoffnung und Trauer. Vor allem jedoch imaginiert er den Garten als einen utopischen Ort des Zusammenlebens von Mensch und Natur. Die Ausstellung knüpft in vielfacher Weise an Derek Jarmans künstlerisches Werk und das utopische Potential seines Gartens an. Sie wird die Betonhalle des silent green bespielen, eine ehemalige unterirdische Leichenlagerhalle, die 2019 als Ausstellungshalle eröffnet wurde. Referenzen an die Landschaft Südenglands und reale Elemente des Gartens fließen in die Ausstellungsgestaltung ein. Zahlreiche Künstler sind eingeladen, sich mit Jarmans Schaffen künstlerisch auseinanderzusetzen. In begleitenden Gesprächen sollen aktuelle ökologische, politische und künstlerische Widerstandspraktiken diskutiert werden. → www.silent-green.net Künstlerische Leitung: Bettina Ellerkamp, Jörg Heitmann, Stefanie Schulte-Strathaus Kurator: Marc Siegel Künstler/Beteiligte: Mareike Bernien, Alex Gerbaulet, Inas Halabi, Oliver Husain, Philip Scheffner, Kerstin Schroedinger, CHEAP Art Kollektiv silent green Kulturquartier, Berlin: 19.6.–12.7.2020

Aus aktuellem Anlass: Aufgrund der Coronakrise müssen derzeit viele Veranstaltungen verschoben oder abgesagt werden. Bitte informieren Sie sich auf unserer Website oder direkt bei den Projektträgern, ob die hier aufgeführten Termine (ggf. digital) stattfinden können.



Origins; Fantasy; Pleasure; Allegory

1990 Mechanische Stickerei / Faden auf Leinen 31,5 × 26 cm

⟵  Man

with fire on his hands

1990  Malerei / Acryl auf ungestreckter Leinwand 63 × 29 cm




Inflammable

ca. 1990  Zeichnung / Tinte auf Papier 17 × 9,5 cm

Untitled ⟶

1992  Handarbeit / Faden auf Voile 264 × 122 cm




Adam

ca. 1988  Stickerei / Perlen auf Stoffserviette 61 × 61 cm

⟵ Fertility,

and silence

coherence,

1991  Stickerei und Handarbeit / Faden auf Voile 110 × 40 cm





3 at the same time (sic)   1990  Malerei / Acryl und Metallfarbe auf ungestreckter Leinwand 68,5 × 47 cm

⟵ Untitled   1992  Stickerei und Handarbeit / Faden auf Voile 19,5 × 29 cm




Traitor

1991  Stickerei und Assemblage / Kristallperlen, Kupferdraht und weißes Wachs auf Baumwollgewebe auf ungestreckter Leinwand 24 × 12 × 2 cm


José Leonilson

Leonilson. Drawn 1975–1993

Leonilson zählt zu den wichtigsten Vertretern einer Generation brasilianischer Künstler, die unter dem Namen Geraç ão 80 (Generation 80) bekannt wurde. Diese Künstlergruppe verlieh der neu gewonnenen Freiheit nach dem Ende der Militärdiktatur in Brasilien Mitte der 1980er Jahre mit einer gestischen, farbenreichen und expressiven Malerei Ausdruck. Anders als die US-amerikanische Pop Art der 1980er Jahre, die sich die Symbole einer stark industrialisierten Gesellschaft aneignete, KW Institute for Contemporary Art 28.11.2020 –  14.2.2021 war die Kunst der Geraç ão 80 sozialkritisch. Der 1957 geborene José Leonilson studierte von 1978 bis 1981 bildende Kunst in São Paulo. Neben Eva Hesse und Blinky Die KW Institute for Contemporary Art Palermo, die er in den frühen 1980er Jahren auf Reisen durch geben mit dieser umfangreichen EinzelEuropa kennenlernte, war sein frühes Werk vor allem von der ausstellung erstmals in Europa einen Überblick über das Schaffen von Leonilitalienischen Transavanguardia-Bewegung beeinflusst, die sich Ende der 1970er Jahre formierte und deren Vertreter sich son. Als internationales AusstellungsFiguration, antiker Mythologie und einer expressiven Farbigprojekt angelegt, wird die Schau nach Berlin in dem Moderna Museet (Stockkeit zuwandten. So sind Leonilsons Malereien und Zeichnunholm), der Malmö Konsthall (Malmö) gen aus dieser Zeit von einem eklektizistischen Subjektivismus und der Verwendung einer emblematischen Bildsprache und dem Museu de Arte Contemporânea gekennzeichnet. Die Arbeit Inflammable (1990) offenbart jene de Serralves (Porto) zu sehen sein. Im deutlich und zeigt die Verwobenheit von Sprache und ZeichRahmen des Begleitprogramms werden junge nationale und internationale nung im Werk des Künstlers auf. Dieses empfindsam poetiKünstler die Themen Leonilsons aufsche Werk führt die fragile Eigenwahrnehmung des Künstlers vor Augen und weist gleichzeitig auch auf die Tendenz zu eigreifen und erweitern. In verschiedener Art Selbstmythologisierung hin, die im ganzen Werk von nen Performances werden sich KünstleLeonilson vorherrscht. rinnen etwa mit dem versehrten, kranken oder marginalisierten Körper und Ein weiterer wichtiger Moment in der frühen Schaffensphase des Künstlers war der Besuch einer Ausstellung zu seiner aktuellen Wahrnehmung beTextilarbeiten der Shakers, einer amerikanisch-christlichen schäftigen. Sekte. Vor allem die gestickten Karten der Shakers, die unZur Ausstellung erscheint bei Hatje ter anderem deren Ländereien darstellten, beeinflussten Cantz eine umfangreiche Publikation, Leonilson: einerseits in Bildsujets, die den Körper kartograin der das Werk Leonilsons erstmals fisch als ein verletzliches Territorium vermessen und versehrthematisch und theoretisch aufgearbeite Körper zu einem Symbol für eine versehrte Gesellschaft tet sowie historisch eingeordnet wird. werden lassen, andererseits in der Hinwendung des KünstDie Retrospektive Leonilson. Drawn lers zu Stoff, die mit einer immer stärker reduzierten Bild1975–1993 wird von Krist Gruijthuijsen, sprache einhergeht. Direktor der KW Institute for ContemMit der Diagnose, dass er an HIV erkrankt ist, änderte porary Art, kuratiert. sich seine Bildsprache ab 1991 erkennbar: Seine Auseinander→ www.kw-berlin.de setzung mit dem Tod sowie sein immer schlechter werdenDieser Einleger ist Teil des Magazins Nr. 34 der der körperlicher Zustand prägten die tagebuchartigen ArbeiKulturstiftung des Bundes — Frühjahr/Sommer 2020 ten aus den Jahren 1991 bis 1993. Gegen Ende seines Lebens war es ihm nur noch schwer möglich, der Malerei nachzugehen, weshalb sich Leonilson verstärkt seinen Stoffarbeiten zuwandte. Diese immer abstrakter werdenden Stickereien können als Selbstporträts verstanden werden: Die Leichtigkeit der Stoffe spiegelt die Leichtigkeit des Körpers wider, der stetig verblasst. In den Arbeiten seiner letzten Schaffensphase spielen Abstraktion, Materialität und Sprache sowie eine religiöse Bild- und Formsprache eine wichtige Rolle. Deutlich wird dies in der letzten Ausstellung des Künstlers Installation on Two Figures, die 1993 in der Morumbi-Kapelle in São Paulo zu sehen war und im Rahmen der Ausstellung in den KW Institute for Contemporary Art neu inszeniert wird. Die aus getragenen Hemden des Künstlers bestehende Installation widmet sich der biblischen Geschichte des von Jesus nach vier Tagen wieder zum Leben erweckten Lazarus. Dieses Werk verdeutlicht Die Kunsthistorikerin Cathrin Mayer ist Assistenzkuratorin die Auseinandersetzung Leonilsons mit dem eigenen Tod und in den KW Institute for Contemporary Art. Sie hat an der formuliert seinen Wunsch nach Unsterblichkeit.  Cathrin Mayer von Krist Gruijthuijsen kuratierten Ausstellung Leonilson. Drawn �975–�993 mitgewirkt.


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