Magazin #30 der Kulturstiftung des Bundes

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NÂş 30 FrĂźhling/Sommer 2018

anderer Zustand


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Editorial

Der Wunsch, aus den Begrenzungen des Alltags ­herauszutreten und die Welt gleichsam von außen oder von oben zu betrachten, ist ein uralter Mensch­ heitstraum. Die Suche nach dem „anderen Zustand“ unterscheidet sich grundlegend von Strategien der Be­ täubung oder des Vergessens. Mit dem „Außersichsein“ im ekstatischen Zustand ist die Hoffnung auf eine ­gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit verbunden, auf größere Klarheit, auf eine verfeinerte Sensibilität, die erspürt, was dem normalen, sozial kontrollierten Er­ leben verborgen bleibt. Die transzendente, ekstatische Erfahrung wird seit Sokrates mit dem künstlerischen Schaffenspro­ zess in Verbindung gebracht und ist einer der ältesten Topoi der Kultur. Sie ist wahrscheinlich eines der wirklich verbindenden Elemente aller Kulturen, wobei sie in den westlichen Kulturen am stärksten eingehegt und am ehesten gesellschaftlich sanktioniert wurde. Womöglich ist es ein Effekt der globalen Auseinan­ dersetzung mit anderen Kulturen und das Unbehagen an der zu­nehmenden Ökonomisierung der Gefühle, dass das Interesse und die Beschäftigung mit ekstati­ schen Wahr­nehmungsformen auch in der westlichen Hemisphäre breiteren Raum einnehmen. Der Philosoph Robert Pfaller räumt mit einem zentralen Missverständnis um die Ekstase aus west­ licher Sicht auf, wo sie unter das Verdikt der Irratio­ nalität und des Kontrollverlustes falle. Von anderen Kulturen sei zu lernen, dass ekstatische Erfahrungen keineswegs individualistisch und privat sein müssen, sondern sie im Gegenteil kollektive und solidarische Erfahrungen ermöglichen, wenn das Individuum ­„außer sich“ gerät. Den „negativen Kulten“ der Vermeidung ekstatischer Erfahrung stellt er die bei uns unterent­ wickelten „positiven Kulte“ gegenüber, in denen die Kultur die Individuen auffordert, aus ihrem egozent­ rischen Horizont herauszutreten. Unserer Gesellschaft täte ein entspannteres Verhältnis zu ekstatischen Zu­ ständen gut (S. 4). Die beiden Künstler Carsten Höller und Jeremy Shaw, die an zwei von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Ausstellungen beteiligt sind, geben Aus­ kunft darüber, welchen Stellenwert ekstatische Erfah­ rung für ihr künstlerisches Schaffen hat und welches gesellschaftskritische Potenzial in ihr steckt (S. 6). Auch für die Choreografin Meg Stuart, die in die­ sem Jahr mit dem Preis der Biennale in Venedig für ihr Lebenswerk geehrt wird, ist das Erreichen eines an­ deren „Bewusstseinszustands“ Teil ihrer künstleri­ schen Strategie. Das Gespräch zwischen dem Kurator Hans Ulrich Obrist und der Choreografin Meg Stuart lesen Sie ab S. 8. Wenn man so will, verdankt sich die weltweite Bekanntheit Meg Stuarts und der Kult um ihre Werke gerade der Tatsache, dass ihre Produktionen im Wortsinn ekstatisch waren und eine neue Sicht auf den zeit­ge­nössischen Tanz erforderten. Meg Stuart wird im nächsten Jahr den Tanzkongress in Dresden künstlerisch verantworten. Die Bildstrecke gibt einen Einblick in die Vorbe­ reitungen der Ausstellung „Hello World“, die im Rah­ men des Programms Museum Global im Hamburger Bahnhof der Nationalgalerie zu Berlin zu sehen ist. Diese Mood­boards sind Zeugnisse eines gewisserma­ ßen ekstatischen Blicks auf Exponate der Sammlung, die durch die Zusammenstellung mit bisher vermeint­ lich als randständig begriffenen Objekten und Doku­ menten in einen kunsthistorisch und sozialgeschicht­ lich komplexeren, globalen Kontext rücken. Hier wird ein Blick „von a­ ußen“ probiert, der die eurozentrisch zementierte ­Statik der Sammlung in Frage stellt.

Die Werke von Victor Vasarely, die fast jeder kennt, sie aber kaum (mehr) als „Kunst“ einstuft, werden jetzt in einer großen Ausstellung im Frankfurter Städel ­Museum gezeigt und dadurch möglicherweise im kunst­historischen Kontinuum der Moderne neu ver­ ortet. Vor Vasarelys Bildern stand das Publikum in den späten 1960er Jahren wie vor Offenbarungen ästheti­ scher Erfahrung. Die Bilder schienen unmittelbar ­zugänglich, jedermann verständlich. Genau dieser Um­ stand hat jedoch lange Zeit zu einer Geringschätzung in der Kunstwelt geführt. Der Kunstkritiker Hans-­ Joachim Müller, der Vasarely persönlich kannte, be­ schreibt das Phänomen Vasarely (S. 24). Der 1990 im Alter von 50 Jahren verstorbene ­Julius Eastman gehört zu den Exzentrikern unter den Kom­ ponisten der Minimal Music. Lange Zeit führte er ­deshalb in der Fachwelt eine randständige und in der ­sozialen Welt eine prekäre Existenz, wie die Eastman-­ Kennerin ­Jasmina Al-Qaisi berichtet (S. 26). Als ­schwarzer US-Amerikaner, der sich offensiv zu seiner ­H­omosexualität ­bekannte, der weder persönlich noch musikalisch Kompromisse machen wollte, findet seine außergewöhnliche musikalische Begabung erst seit kurzem Anerkennung. Jetzt wird er in Europa als der große Minimalist neben John Cage entdeckt. Das Bauhaus, das im kommenden Jahr sein 100jäh­ riges Gründungsjubiläum begeht, verfolgte in seinen Neuerungsbestrebungen einen ganzheitlichen Ansatz. Dass das Bauhaus auch die Sprache revolutionieren wollte, indem es – analog zur Bildenden Kunst – spe­ ziell auf das „klangliche Material“ von Worten setzte, ist jedoch kaum bekannt. Torsten Blume deckt Motive einer Wortkunst im Bauhaus-Stil auf (S. 27). Mit dem neu aufgelegten Fonds für Stadtbiblio­ theken strebt die Kulturstiftung des Bundes eine Zu­ standsveränderung jener öffentlichen Einrichtungen an, die als „vierte Orte“ – neben Heim, Arbeitsplatz, Konsumwelt – eine prominentere Rolle in den Stadt­ gesellschaften spielen könnten. Richard David ­Lankes, einer der Pioniere und engagiertesten Verfechter der Erneuerung und Öffnung von Stadtbibliotheken, schreibt einen ­offenen Brief an eine Bibliothekarin, in dem er für den Wandel der Stadtbibliotheken vom „Rückzugsort“ zu offenen Orten der Begegnung und einem neuen Selbstverständnis als „Motoren der ­Veränderung“ wirbt (S. 30). Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz Vorstand Kulturstiftung des Bundes


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Inhalt

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Beängstigende ­Begeisterungen Geselligkeit und Solidarität als anderer Zustand: Robert Pfaller plädiert für mehr ­ekstatische Momente in unserer Kultur der Selbstbeherrschung.

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Ohne Sinn, mit Verstand

Victor Vasarely befreite die Kunst vom Zwang der Bedeutung und den Betrachter von der Not der Deutung. Es ist Zeit, ihn wieder­zu­ entdecken, meint Hans-Joachim Müller.

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Rausch und Regel Fragen an Carsten Höller und Jeremy Shaw zur Rolle von Ekstase als künstlerisches Verfahren

Minimale Form, ­maximale ­Wirkung Der Komponist Julius Eastman wird gerade wiederentdeckt: Jasmina Al-Qaisi über den Ausnahmemusiker, der unbeirrt seinen Weg ging.

(8)

Erschöpfung als Strategie

„Diese Besessenheit, die die Menschen zwingt, hyperpräsent zu sein“: Hans Ulrich Obrist im Gespräch mit der C ­ horeografin Meg Stuart

(27)

Unbekanntes ­Bauhaus Das Bauhaus als Schule der Wortkunst und Spracherneuerung: Torsten Blume betrachtet die wenig bekannte Seite der Avantgardisten.

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Hello World

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Ein Bildessay von Udo Kittelmann zur Revision der S ­ ammlung der Neuen ­Nationalgalerie, Berlin, im Rahmen ­von Museum Global

Die andere ­Bibliothek. Brief an eine Altbekannte Der Bibliothekswissenschaftler Richard David Lankes fordert von den Bibliotheken Mut zum Umdenken.

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Neue Projekte Lorenza Böttner Mit Gefühl Post Studio: CalArts 1970–1978 Landschaft, die sich erinnert / Remembering Landscape Intelligente Musik – Künstliche Intelligenz und Maschinenlernen In the cut Keine Zuflucht für jüdische Flüchtlinge Rodin / Nauman Fokus Lyrik Ins Blaue! KP Brehmer (1938–1997)

Slavs and Tatars Von Klangbildern und Musikfarben Writing in Migration Hinterland Jutta Koether 8. Festival für Fotografie f/stop Werkleitz Festival 2018 Computer Grrrls Dem Vergessen entrissen FIND 2018 Wilde Lieder Damit die Zeit nicht stehen bleibt Beatriz González

Zum Gemeinwohl Quillo Struwwelpeter revisited HIER UND JETZT im Museum Ludwig Our Stage Cuba emprende – Ein Familien­unternehmen Pátria Estrangeira / Fremde Heimat Invisible Republic ­(Revolutionsrevue) Veröffentlichung Adressbuch Hannah Höch im/possible bodies Die sechs Brandenburgischen Konzerte Das Walter-Kempowski-­Projekt


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Beängstigende Begeisterungen A L S SCH AM AN EN SIND W I R NI C H T ZU ­G EBRAU CH EN, ­D AB E I TÄT E N ­UN SERER G ESELLSC HAF T E I N PA AR K LEIN ERE U N D ­G RÖS S E RE ­ EK STASEN G AN Z GUT

Robert Pfaller

01 DIE EKSTATIKER UND WIR Auch wenn wir Angehörige kapitalistischer Indus­ triegesellschaften viele fremde Kulturen mit ihren far­ benfrohen kollektiven Tänzen, ihren Trancen, ihren Ritualen des Drogengebrauchs oder der kollektiven Sexualität oft als die exemplarischen Praktikanten und Träger ekstatischer Zustände wahrnehmen, so ist uns selbst die Ekstase doch andererseits nicht völlig fremd. Wir meinen sie zu kennen aus unseren Erfahrungen mit Sexualität und Drogen, aus dem Karneval, vom Oktoberfest oder der Betriebsfeier; als sogenannten „Spielrausch“, in den Fußballmannschaften mitunter geraten können, oder auch über die lautstarken und nicht selten gewalttätigen Begeisterungen und Exzes­ se ihres Publikums; als psychische Effekte der Aus­ schüttung endogener Körpersubstanzen etwa beim Langstreckenlauf, bei Risikosportarten wie Rafting, Bouldern und Bungee-Jumping, beim Laufen über glü­ hende Kohlen im Wochenendseminar für Führungs­ kräfte oder auch beim Fasten; aber ebenso vielleicht aus bestimmten Momenten der beruflichen Tätigkeit, als sogenannte „Flow“-Erlebnisse von Börsenbrokern, als Schaffens- oder Schreibrausch von Künstlerinnen oder Schreibenden. Und wenn die europäischen Be­ obachter am Beginn des 20. Jahrhunderts als Vertreter einer „heißen“, auf das geschriebene Wort zentrierten Kultur noch befremdet, entsetzt oder regelrecht angewidert reagierten angesichts der kollektiven ­ Tanz­ekstasen vieler fremder Kulturen, so hat sich un­ sere ­eigene, westliche Kultur vor allem nach dem Zwei­ ten Weltkrieg, wie der Medientheoretiker ­Marshall McLuhan bemerkt, wieder „abgekühlt“ und „retriba­ lisiert“: Sie gleicht nun in manchen Zügen ­wieder den

Praktiken der Stammeskulturen – etwa wenn man an die lautstarken und massiv zur Selbstvergessenheit tendierenden kollektiven Tanzpraktiken in Diskotheken oder auf Techno-Partys in westlichen Metropolen denkt. Nicht alles freilich, was in fremden Kulturen re­ gelmäßig vorkommt, haben wir für uns wiederzuge­ winnen vermocht; oder vielleicht auch nicht unbedingt wieder herbeigewünscht: das „Sprechen mit fremden Zungen“ (die sogenannte Glossolalie), die wahnhaften Visionen oder Auditionen, körperliche Konvulsionen, Epilepsie-ähnliche Anfälle, Besessenheiten oder Zwän­ ge wie zum Beispiel, dass man nach Abweisung eines Liebesantrags nicht mehr aufhören kann zu tanzen und zu Tode kommen muss wie der junge Aborigine in ­Nicolas Roegs schönem Film Walkabout. Solche Phä­ nomene treten für uns, wenn überhaupt, vor allem als klinische, individuelle Erscheinungen in der Psychia­ trie oder Psychoanalyse auf; wir halten sie durchwegs für unangenehm und therapiebedürftig. Ob andere Kulturen, die dergleichen oft mit Absicht und in kol­ lektivem Rahmen herbeiführen, auch in der Lage sind, solche Zustände als lustvoll oder sinnvoll zu erleben, erscheint uns fragwürdig oder schwer vorstellbar.

02 DRAUSSEN, ABER WOVON? Nicht ganz leicht fällt es der Kulturtheorie auch, anzugeben, worin die Ekstase genau besteht. Der buchstäbliche Wortsinn des „Außenstehens“ oder „Hi­ nausstehens“ lässt die Frage offen: außen wovon? Oder woraus genau hinaus?


5 Bestimmt man die Ekstase, wie es manchen Auto­ ren naheliegend erscheint, als „Verlust der Herrschaft des Menschen über sich selbst“, so ist vielleicht einer­ seits zu vieles damit in die Definition hereingenom­ men: Schon der gewöhnliche Wutanfall, die Eifersucht, der Lachanfall, das übertriebene Mitteilungsbedürfnis, die Verführbarkeit oder die paar Gläser Wein über den Durst hinaus wären dann wohl ekstatisch zu nennen. Andererseits aber scheint diese Definition zu wenig zu umfassen. Denn manche ekstatischen Zustände scheinen nicht unbedingt nur in einem Verlust zu be­ stehen. Das Beispiel der Nachtwandler hat bekanntlich dem Philosophen Spinoza zu denken gegeben: Dass sie „im Schlafe vieles tun, was sie im wachen Zustand nicht wagen würden“, zeige doch zur Genüge, schrieb er, „dass der Körper an sich nach den bloßen Gesetzen seiner Natur vieles vermag, worüber sich sein eigener Geist wundert“. Wenn Menschen also außer sich oder außerhalb ihrer – bewussten – Herrschaft über sich selbst geraten, dann bedeutet das nicht notwendiger­ weise, dass sie gleichsam steuerlos unterwegs wären. Es könnte vielmehr auch sein, dass dann andere Sys­ teme die Steuerung übernehmen, von deren Existenz sie wenig ahnen und die vielleicht in Bezug auf manche Aufgaben sogar leistungsfähiger sind als die bekann­ ten. Sigmund Freuds Einsicht, dass man nur dann gute Witze machen kann, wenn man das bewusste Materi­ al für einen kurzen Moment einer unbewussten Bear­ beitung überlässt, liefert ein auch für uns vertrautes, mildes Beispiel für diese Art von überlegener Leis­ tungsfähigkeit eines anderen psychischen Systems für bestimmte Anforderungen. Auf ähnliche Schwierigkeiten stößt ein anderer Bestimmungsversuch der Ekstase; nämlich ihre ­Beschreibung als ein „Denken und Verhalten, das von den jeweils herrschenden Vorstellungen einer Gesell­ schaft oder Gruppe abweicht und als außergewöhnlich oder nichtnormal angesehen wird“. Wieder ist diese Definition einerseits zu weit, denn sie erfasst derzeit zum Beispiel an manchen US-Universitäten schon das Äußern kontroversieller Argumente oder das Tragen von Stöckelschuhen. Andererseits aber verfehlt diese Definition wieder eine entscheidende Pointe der Ek­ stase, durch die sie sich von anderen Formen devian­ ten oder pathologischen Verhaltens unterscheidet: Gerade in jenen Kulturen, die uns als die am meisten in der Ekstase geübten erscheinen, ist das ekstatische Verhalten zwar vielleicht ein besonderes Verhalten, aber darum doch eben keines, das als „nichtnormal“ (in unserem kriminologischen oder klinischen Ver­ ständnis) angesehen wird; und es weicht eben nicht von den herrschenden Vorstellungen der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe ab. Vielmehr ist es, anders als in unserer Kultur, wo es meist als individuelle Pa­ thologie betrachtet wird, dort ein durch kulturelle Vorstellungen und soziale Rollen (wie etwa die des Schamanen) vorgesehenes und sozusagen gesell­ schaftlich „gedecktes“ Verhalten. Vielleicht sollten wir diese beiden „Pointen“ der Ekstase zusammen betrachten: dass sie Menschen zu Dingen befähigt, zu denen sie von sich aus kaum im­ stande wären; und dass sie in manchen Kulturen ein in manchen Situationen vorgesehenes, ja vielleicht ­sogar erwünschtes Verhalten darstellt. Wir könnten dann sagen: Vielleicht sind die Menschen dort manch­ mal zu etwas Außergewöhnlichem fähig, weil die Ge­ sellschaft oder Gruppe es von ihnen wünscht und weil sie es als etwas Wertvolles würdigt. (Ein Beispiel für den Übergang von einer „ekstasefreundlichen“ zu ei­ ner „ekstasefeindlichen“ Haltung einer Gruppe in­ nerhalb unserer Kultur wäre die für die 1980er Jahre charakteristische Diskussion, ob die Sozialdemokra­ tie Visionen brauche oder aber ob jemand, der Visio­ nen hat, einen Arzt brauche.) Die Ekstatiker wären in ­solchen Kulturen zwar vielleicht außer sich, aber doch zugleich innerhalb der Gruppe. Die Ekstase ­bildete mithin sozusagen ein „inneres Außen“ solcher ­Kulturen.

03 EKSTATISCHE KULTE UND KULTE DER VERMEIDUNG Wir hätten es also zu tun mit einem Unterschied zwischen Kulturen wie der unseren, die den Individu­ en weitgehende Selbstbeherrschung abverlangen, und solchen, die ihnen nicht nur weniger davon abverlan­ gen, sondern die im Gegenteil von ihnen verlangen, dass sie diese Selbstbeherrschung zugunsten von etwas für wertvoller Erachtetem hintanstellen. Der Unter­ schied zwischen der Ächtung der Ekstase und ihrer Würdigung ist somit kein Unterschied etwa zwischen Rationalität und Irrationalität, sondern vielmehr einer zwischen bewusster, individueller Selbststeuerung und weniger bewusster, kollektiver. Wenn Menschen also weniger ekstatisch werden, dann werden sie nicht etwa vernünftiger, sondern lediglich eigensinniger und we­ niger solidarisch. Max Webers Bemerkung, wonach die „Entzauberung der Welt“ nicht etwa ein Prozess der Aufklärung sei, sondern vielmehr ein Vorgang fanati­ scher religiöser Verinnerlichung, deutet genau in die­ se Richtung. Michel Leiris und Georges Bataille hatten dem­ entsprechend in den 1930er Jahren versucht, das „Hei­ lige des Alltagslebens“ zu retten und es für die politi­ sche Linke zu reklamieren. Denn dass Menschen manchmal ihr profanes, zweckrationales Funktionie­ ren zur Erhaltung ihrer Existenz unterbrechen, um sich Momente des Feierns, der Großzügigkeit, der Ver­ schwendung von Zeit, Geld, Schlaf etc. zu gönnen, ist aus linker Perspektive notwendig – sowohl um sie zu stolzen, souveränen Wesen werden zu lassen, die schlechtes Leben mehr fürchten als den Tod; als auch um sie zu solidarischen Wesen werden zu lassen, die in der Lage sind, das Glück des jeweils anderen auch als ihr eigenes Glück zu begreifen. Die von den französischen Theoretikern des Sacré quotidien erkannte Demarkationslinie scheint auch heute wieder eigenartig aktuell. Sie bestimmt eine Rei­ he von kulturellen Mikrokonflikten wie zum Beispiel die Frage, ob man dem Niesenden Gesundheit wün­ schen oder lieber schweigen soll, oder auch, ob man die neue Frisur der Kollegin mit einem Kompliment würdigen muss oder aber lieber so tun soll, als hätte man nichts gesehen. „Positive Kulte“, in denen Indi­ viduen von der Kultur aufgefordert erscheinen, ein Stück weit aus sich herauszutreten und generöser, ele­ ganter und verbindlicher zu agieren, als sie vielleicht für sich genommen sind, stehen hier gegen „negative Kulte“ der Vermeidung. Leiris, Bataille und ihre Mit­ streiterinnen und Genossen aus ihren Initiativen Contre-­attaque und Collège de sociologie du sacré hätten ge­ wusst, was hier auf dem Spiel steht, und hätten ­Partei ergriffen: und zwar nicht für das, was sich hier fälsch­ lich als Vernunft oder „Zivilisationsprozess“ ausgibt, sondern vielmehr für die kleinen oder größeren Eks­ tasen – die positiven Kulte der Geselligkeit und der Souveränität.

Robert Pfaller, Jg. 1962, Philosoph, ist Professor für ­Kulturwissenschaften und Kulturtheorie an der ­Kunstuniversität Linz. Sein jüngstes Buch Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur erschien 2017 im S. Fischer Verlag.


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Rausch und Regel E K S TA S E A L S K Ü N STLERISCHE S VE RFAHRE N

Fragen an Jeremy Shaw Wie kam es dazu, dass Sie sich intensiver mit Phänomenen der Ekstase in ihren Arbeiten beschäftigten? Veränderte Bewusstseinszustände haben mich schon früh interessiert. Mit sechs oder sieben Jahren experimentierte ich mit Freunden: Erst hyperventilierten wir, dann würgten wir uns, bis wir ohnmächtig wurden – wenn wir Sekunden später wieder zu Be­ wusstsein kamen, war das wie das Erwachen aus einem Traum. Ich liebte das. Diese frü­ hen Er­lebnisse führten zu weiteren Erkun­ dungen meiner Selbst, von Tanzen und Dro­ gen bis zu Meditation und Reizentzug. Mit Beginn meiner künstlerischen Tätigkeit rückten dann eher die Erfahrungen anderer in den Fokus sowie das allgemeine Streben nach Transzendenz, das scheinbar universell ist. Auf welchem Wege auch immer Men­ schen Ekstase suchen – mich interessiert das grundsätzlich. Genauso interessant finde ich, wie die Wissenschaft diese Phänomene zu fassen versucht. Die Grauzone ­zwischen der Erfahrung veränderter Bewusstseinszu­ stände und ihrer wissenschaftlichen Quan­ tifizierung ist unendlich faszinierend. Kann man ekstatische Zustände dahingehend unterscheiden, dass einem bei den einen Hören und Sehen vergeht, und bei den anderen die Sinne geschärft werden? Lässt sich das äußerlich erkennen? Transzendenzerfahrungen sind so persön­ lich, subjektiv und verinnerlicht, dass ihr sichtbares Resultat völlig in die Irre führen kann. Vermutlich könnte man eine Art Dia­ gramm anlegen, in dem die Art, oder zumin­ dest die Intensität des ekstatischen Zu­ stands erfasst wird, aber dies müsste auch sehr spezifisch die Ursache des Zustands festhalten und die Parameter, die ihn beein­ flussen. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre man immer noch stark auf die subjektive Erin­ nerung der Erfahrung angewiesen – die ­natürlich völlig unzuverlässig ist –, aber es wäre vermutlich ein sehr amüsantes Projekt! Bieten uns ekstatische Zustände eine Möglichkeit, die soziale Realität hinter uns zu lassen, oder „optimieren“ sie uns vielmehr, besser in ihr zu funktionieren? Ich glaube, sie haben auf jeden Fall das ­P­otenzial zu beidem. In Tanz und Musik lassen sich ekstatische Zustände am ehesten evozieren und darstellen.

Was ist die besondere Herausforderung an einen bildenden Künstler? Für mich liegt die Herausforderung darin, etwas zu erschaffen, das über eine einzelne, repräsentative Position hinausgeht. Ich möchte in die Grauzonen des Ekstatischen vordringen, die zwischen dem Erlebnis, ­seiner Übersetzung bzw. Darstellung, dem Glaubenssystem, das es umgibt, und dem Versuch seiner wissenschaftlichen Quanti­ fizierung liegen. Deshalb arbeite ich oft mit Science-Fiction-Elementen. Science Fic­ tion bietet mir eine neutrale Plattform, von der aus ich all diese disparaten Aspekte, die mich interessieren, zusammenbringen und in ein autonomes, nicht-hierarchisches Ganzes überführen kann. Religiöse Ekstasen sind in der westlich-­ aufgeklärten Welt weitgehend historisch überholt. In anderen Kulturen spielen sie eine größere Rolle. Welche Auswirkungen wird das für eine zunehmend globalisierte Welt haben? Organisierte Religion und die damit verbun­ denen Rituale scheinen im Westen zwar zu verschwinden, stattdessen wird aber zuneh­ mend nach anderen Wegen gesucht, eksta­ tische Zustände zu erreichen – oft in einer Kombination aus östlicher Spiritualität und verschiedenen esoterischen, geistigen und körperlichen Techniken. Die Menschen ver­ suchen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, und brauchen dazu kein allumfassendes re­ ligiöses System mehr. Vielleicht werden wir einmal eine universelle Technik dafür ent­ wickeln – eine alchemistische Kombination aus den Tausenden unterschiedlichen Prak­ tiken, die uns alle zur absoluten, endlosen, totalen ekstatischen Transzendenz führt. Die Fragen stellte Friederike Tappe-­Hornbostel. Aus dem Englischen von Therese Teutsch

Jeremy Shaw, Jg. 1977, stammt aus Kanada und lebt heute in Berlin. Sein künstlerisches Schaffen dreht sich um die bild­nerische Darstellung von Rausch und Ekstase in Videos, Fotografien und künstlerischen Experimenten mit der Bewusstseinserweiterung durch Religion, Tanz und Drogen.

ALTERED STATES SUBSTANZEN IN DER ZEIT­ GENÖSSISCHEN KUNST Seit jeher nehmen Menschen Substanzen zu sich, die nicht der Ernährung dienen. Die Motive für den Konsum sind vielfältig: Heilung, Rausch, Bewusstseinserweiterung, religiöse Rituale, Selbstoptimierung, Protest oder Langeweile. Der Zweck der Einnahme und auch die Bezeichnungen für ein und dieselbe Substanz haben sich zum Teil im Laufe der Zeit verändert. Ihre Kategorisierung als Pharmazeutika, Drogen, Hormone oder Dopingmittel sind nicht nur den Eigen­schaften der Stoffe geschuldet, ­sondern vielmehr einer sozialen Geschichte und ökonomischen Interessen. Die eingeladenen Künstler/innen nähern sich dem Thema Substanzen in Fotografie, Video, Plastik, Zeichnung, VR, Installation und Performance. Die künstlerischen Positionen beschäftigen sich u. a. mit der Rolle des Darknet im globalen Handel, den Verbindun­ gen zwischen Militär und pharmazeutischer Industrie oder dem Umgang mit Hormonen in unserer Gesellschaft. Die Ausstellung stellt grundlegende ethische Fragen nach einem freien und selbstbestimmten Leben und dem Verhältnis von individueller Freiheit und kollektiver Verantwortung vor dem ­Hintergrund der aktuellen medizinischen Forschung. Der Dresdner Künstler Marten Schech entwickelt eine Ausstellungsarchitek­ tur, die die künstlerischen Positionen inhalt­ lich und ästhetisch miteinander in Be-­ ziehung setzt. Assoziativer Ausgangspunkt des Ausstellungsdesigns ist die mittelalter­ liche Alchemistenküche, in der alle Substan­ zen nebeneinander existierten. Begleitend zur Ausstellung veranstaltet das Kunstpalais eine internationale Fachtagung, auf der chemische, neurologische und psychothera­ peutische Untersuchungen vorgestellt werden und Naturwissenschaftler und Bioethiker auf Referenten aus Rechtswissenschaft und Politik treffen. Ein vielfältiges Begleitprogramm mit Workshops, Performances, einem Litera­ turabend und Führungen für unterschiedliche Altersgruppen ergänzt die Ausstellung. www.kunstpalais.de Künstlerische Leitung: Milena Mercer Künstler/innen: Daniel García Andújar (ES), Cassils (CA), Rodney Graham (CA), Sidsel Meineche Hansen (DK), Carsten Höller (BE), Joachim Koester (DK), Joanna Rajkow­ ska (PL), Marten Schech, Jeremy Shaw (CA), Suzanne Treister (GB), Mary Tsang (US) u. a. Kunstpalais Erlangen: 4.3.–21.5.2018


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Fragen an Carsten Höller

Haben Künstler traditionell eine besondere ­Affinität zu Rausch und Ekstase? Man muss sich die ersten Künstler als Ritualisten vorstellen. Diesen Schluss legt Roberto Calassos wunderbare Studie Die Glut nahe, die der vedi­ schen Kultur gewidmet ist, wie sie vor 3.000 Jah­ ren in Indien existierte. Die vedische Opferkultur hatte einen ausgeprägten Sinn für die Ekstase. Das Soma, eine mysteriöse Substanz, gilt als die Mutter aller Rauschmittel. Wenn es in der Tat von Beginn an eine Nähe zwischen Kunst, Ekstase und Ritual gibt, heißt das keineswegs, dass das Ästhetische aus dem bloßen Sich-gehen-Lassen entspringt. Vielmehr entfaltet sich der Rausch innerhalb einer Zeremonie, die mit unendlich vielen Anweisungen und ins kleinste Detail ge­ henden Vorschriften angefüllt ist. Kunst ist bei­ des: der Rausch und die Regel. Geht es Ihnen darum, dem Publikum Er­ fahrungen außerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu ermöglichen oder eher darum, „aus sich selbst“ herauszutreten, sich anders wahrzunehmen? Ohne Veräußerung keine Kunst. Meine Arbeiten sind Formen der Selbstdistanzierung, die im besten Fall auch dem Publikum einen anderen Wahrnehmungshorizont eröffnen. Dieser Vor­ gang ist nicht mit einer irgendwie gearteten Flucht aus der Wirklichkeit zu verwechseln. Erst durch den Abstand, die Entrückung ergibt sich die Möglichkeit eines neuen Zugriffs – auf die Kunst wie auf die Gesellschaft. Brauchen wir heutzutage dringender Erfahrungen eines „anderen Zustands“? Die meisten Statistiken belegen, dass der Kon­ sum rauschhafter Substanzen unter jungen Men­ schen überall in Europa rückläufig ist. In ande­ re Zustände versetzt man sich also nicht mehr durch Drogen. Es kann gut sein, dass Techno­ logien diese Rolle übernommen haben. Es bildet sich in der einschlägigen Forschung allmählich ein Konsens heraus: Unsere Präsenz in den so­ zialen Medien wirkt sich auf unser neuronales Belohnungssystem aus. Liken, Teilen, Chatten sind die Highs des 21. Jahrhunderts. Das ist kein Grund, in Kulturpessimismus zu verfallen, aber reichhaltiges Material für die Kunst bietet dieser Befund allemal. Was bedeutet es, wenn kleine rauschhafte Explosionen in unserem Gehirn nicht mehr auf die Sphäre des unmittelbar So­ zialen angewiesen sind, sondern sich in den Raum und die Zeit des Digitalen verlagern? Immer mehr Menschen suchen eine ­andere Realität – durch Drogenkonsum, Extremsport oder pornografisch erzeugte Lust. Inwieweit zeigen diese „einsamen“ Ekstasen ­einen Rückzug aus der sozialen Wirklichkeit an? Das Ziel des ekstatischen Erlebens, so schrieb Michel Houellebecq in seinem 1996 in der fran­ zösischen Jugendzeitschrift 20 ans erschienenen Essay „La fête“, bestehe ja gerade darin, gleich­ sam Ferien vom Selbst zu nehmen. So lassen sich die eigene Sterblichkeit und das unüberwind­bare Gefühl der Einsamkeit, das damit einhergeht, zumindest eine gewisse Zeit lang vergessen. Dass zeitgenössische Formen des Außer-­sichSeins uns nun ausgerechnet dem e­ igenen, ver­

meintlich wahren Ich noch näher bringen sol­ len, lässt sich mit dem ursprünglichen Zweck des Rausches nur schwer vereinbaren. Vielleicht lässt sich aus dieser Warte auch der bemerkens­ werte Aufstieg der Performance-­Kunst deuten: Einerseits wird darin oft das ­Leiden an der ­Vereinzelung thematisiert, andererseits geschieht dies in einem Rahmen des beobachtenden und nachvollziehenden Miterlebens, der selbst wie­ derum Gemeinschaft stiftet. Fürchten oder begrüßen Sie gesellschaft­liche, massenhaft organisierte Ekstasen? In Deutschland, aber nicht nur dort, stand die letzte große soziale Entrückung ganz im Zeichen der Beats. Der Siegeszug der elektronischen Musik führte über zunächst überschaubare ­Raves hin zu den Massenfestivals der Love Pa­ rade, die ihren Höhepunkt Ende der 90er Jahre erreichten. Erstaunlich war, wie sehr dieses Phä­ nomen Intellektuelle und die Kunstwelt spal­ tete. Die einen meinten, darin ein unheilvolles Echo einer düsteren Vergangenheit zu erkennen. Erinnerte der drogeninduzierte und von der Musik befeuerte Gleichschritt nicht an militäri­ sche Aufmärsche? Und stand der Wunsch, in einer homogenen Masse aufzugehen, nicht für eine völkische, möglicherweise sogar faschistoi­ de Sehnsucht? Dazu kam das zu­nehmende Misstrauen der Theorie gegen die ­Popkultur, der man lange emanzipatorisches P ­ otenzial zu­ sprach, bis man nach dem Mauerfall feststellen musste, dass auch Neonazis in Public-Enemy-TShirts herumlaufen. Rückblickend betrachtet würde ich jedoch all jenen zustimmen, die in der Love Parade ein utopisches Moment aufblitzen sahen: eine Ekstase, die nicht nur Ost und West friedlich im Feiern verband, sondern auch un­ terschiedliche Gesellschaftsschichten, die sich seitdem eher polarisierten und mit zunehmen­ den Befremden begegneten. Diese Masse war gleichzeitig eine Stätte der Begegnung, die mitt­ lerweile fehlt. Die Fragen stellte Friederike Tappe-Hornbostel.

Carsten Höller, Jg. 1961, studierte Agrarwissenschaft und habilitierte in Phytopathologie. Schon während seiner Arbeit als Naturwissenschaftler begann er, Experimente als Verfahren der künstlerischen Arbeit zu verwenden. Heute ist er einer der international renommiertesten Objektund Installationskünstler, dessen Arbeiten den Betrachter gezielt involvieren, indem sie seine ästhetischen Wahrnehmungen intensivieren und emotionale Erlebnisse evozieren. Höller lebt in Deutschland, Schweden und Ghana.

EKSTASE IN KUNST, MUSIK UND TANZ – AUSSTELLUNG IM KUNSTMUSEUM STUTTGART Die Ekstase ist eines der ältesten und zugleich erstaunlichsten anthropologisch universellen Phänomene. Ursprünglich im rituell-religiösen Kontext verankert, wurde die ekstatische Grenz­ erfahrung begrifflich erstmals in der Antike erfasst. Sie ist ein fester Bestandteil menschlicher Initiationsriten und seit der Antike auch von allgemeinen Gesellschaftstheorien. Dabei verän­ derte und erweiterte sich die Definition und Bewertung kontinuierlich. Während die Ekstase in indigenen Kulturräumen vornehmlich positiv konnotiert und im Rahmen ritueller Handlungen kontextualisiert ist, wurde und wird sie in den von Industrialisierung, Globalisierung und Selbstopti­ mierung geprägten Gesellschaften oft als etwas Bedrohliches wahrgenommen. Ekstase bedeutet hier Kontrollverlust und birgt die Gefahr eines aus der Norm fallenden Individuums oder gar Kollek­ tivs. In ihrer kulturellen Bedeutung und Viel­ schichtigkeit hielt die Ekstase auch Einzug in die Bildenden Künste und geht dabei außergewöhnli­ che Allianzen mit den benachbarten Disziplinen Musik und Tanz ein. Auffällig, so der Befund der Kurator/innen, sei das gegenwärtige Interesse an ekstatischen Erfahrungen in der zeitgenössi­ schen Kunst. Die Ausstellung „Ekstase in Kunst, Musik und Tanz“ widmet sich erstmals umfassend dem Phänomen der Ekstase. Anhand paradigmatischer Beispiele von der Antike bis in die Gegenwart werden unterschiedliche spirituelle, politische, psychologische, soziale, sexuelle und ästhetische Implikationen von Euphorie- und Rauschzustän­ den zwischen Askese und Exzess beleuchtet. Mit über 50 internationalen künstlerischen Positionen untersucht die Ausstellung ein ebenso transkulturelles wie virulentes Phänomen. In neun Themenräumen im gesamten Sonderausstellungs­ bereich des Kunstmuseum Stuttgart und zwei Installationen innerhalb der Sammlung werden so verschiedene Facetten wie der dionysische Kult, die unio mystica, der brasilianische Candomblé und die drogeninduzierte Ekstase vorgestellt. Von Malerei und Grafik über Video- und installative Arbeiten bis zu einem kinästhetischen Erlebnis­ raum wird die Auseinandersetzung mit ekstati­ schen Zuständen u. a. von Gian Lorenzo Bernini, Francisco de Zurbarán, Lovis Corinth, Wifredo Lam, Marlene Dumas und Aura Rosenberg vor Augen geführt. www.kunstmuseum-stuttgart.de Kurator/innen: Ulrike Groos, Markus Müller, Anne Vieth Künstler/innen: Gian Lorenzo Bernini (IT), Louise Bourgeois (FR/US), Lovis Corinth, Ayrson Heráclito (BR), Carsten Höller (BE), Marlene Dumas (ZA), Pablo Picasso (ES), Aura Rosenberg (US), Hanna Wilke (US), Francisco de Zurbarán (ES) Kunstmuseum Stuttgart: 29.9.2018–24.2.2019


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Erschöpfung als Strategie Hans Ulrich Obrist: Ekstase, Transzendenz und Ausdauer sind spannende Themen, weil ich denke, dahinter steckt die Idee, dass Kunst eine Art Portal ist, durch das man hindurch muss. Für viele jüngere Künstlerinnen und Künstler ist das ein wichtiges Thema, und du arbeitest schon sehr lange damit. Aber erstmal möchte ich dich fragen, wie bei dir alles anfing. Wie bist du zu Tanz und Choreografie gekommen, gab es da eine Art Erweckungserlebnis? Meg Stuart: Ich bin im Theater aufgewachsen, das spielte sicher­ lich eine große Rolle. Meine Eltern sind beide Theaterregisseu­ re. Viele Theaterstücke zu sehen, Tänzer und Schauspielerinnen genau beobachten zu können, das hat Eindruck hinterlassen. Aber irgendwie wollte ich nie mitspielen, keine Charaktere dar­ stellen, sondern ich wollte ich selbst sein. Ich wusste nicht, was dieses Selbst war, oder ob es mehrere Selbst gibt, aber irgendwie war da dieser Wunsch. Zunächst habe ich viel Sport gemacht, bin gelaufen, das Körperliche war wichtig, und so kam es, dass ich mich immer mehr dem Tanz angenähert habe, und irgend­ wann ließ ich das Laufen sein. Und dann bin ich in einen Tanz­ kurs in der High School gegangen, in dem es nicht darum ging, zu lernen, sich wie andere zu bewegen – obwohl ich auch das getan habe –, sondern eigentlich um Choreografie. Da habe ich choreografische Studien gemacht – stehend, sitzend, liegend –, habe die einzelnen Körperteile, den ganzen Körper rauf und runter untersucht. Und dann fing ich irgendwie an, mir Tänze auszudenken, bevor ich wirklich wusste, wie man tanzt. Ich hatte keine Technik, die ich später wieder hätte verlernen ­müssen, sondern musste vielmehr eine Struktur und Technik um mich herum erst aufbauen, um die Dinge umzusetzen, die ich mir vorgestellt hatte. Ich habe ­damals alternative Techni­ ken ausprobiert, aber natürlich auch die „modernen Meister“ ­studiert: Cunningham, Graham, Limón. Ich weiß nicht, ob man das eine Offenbarung nennen kann, aber so habe ich ­angefangen. HUO Du kommst ursprünglich aus New Orleans … MS Ja, ich stamme aus New Orleans, aber meinen Durchbruch als Künstlerin hatte ich beim Klapstuk Festival in Belgien mit

Disfigure Study (1991), da war ich 26 Jahre alt. Bis dahin hatte ich schon eine Reihe von kleineren Studien in New York gemacht, die dann in Disfigure Study zusammenkamen. Mit diesem ersten abendfüllenden Stück hatte ich dann einen Fuß in der euro­ päischen Szene. HUO Ich hab dich nach New Orleans gefragt, weil ich neulich mit der Sängerin und Musikerin Solange (Solange Knowles; Anm. d. Ü.) und dem Regisseur Alan Ferguson gesprochen habe, die in New Orleans leben. Sie sagten, es sei eine so spirituelle Stadt, sie strahle etwas Transzendentales aus und es sei sehr besonders, wie die Menschen dort miteinander umgehen. MS

Ich war ja noch recht jung, als wir aus New Orleans wegzogen. Ich kann mich an die Hurrikane und Mardi Gras erinnern, aber nicht an viel mehr. Als meine Mutter anfing am CalArts (California Institute of the Arts, Los Angeles; Anm. d. Ü.) zu arbeiten, bin ich als Kind durch die Gänge der Hochschule gestreift, habe Ravi Shankar spielen sehen (Ravi Shankar, in­ discher Musiker und Komponist, der ab 1970 am CalArts den Lehrstuhl für Indische Musik innehatte; Anm. d. Ü.), die Kunstausstellungen am CalArts in den siebziger Jahren und den Tanz, den es dort auch gab. All diese verschiedenen Arten von Kunst an einem Ort, das hatte sicher einen prägenden Einfluss. Meine Eltern nahmen mich oft mit zu klassischen Konzerten. Wenn ich die Augen schloss und Musik hörte, stell­ te ich mir immer vor, wie Menschen dazu tanzen und sich be­ wegen. Ich schuf mir meine eigene kleine Welt, einen Raum, über den ich die Kontrolle hatte.

HUO Deine eigene „Sprache“ hast du also erst in Belgien wirklich gefunden. Das erste Stück von dir, auf das ich aufmerksam wurde, war No Longer Readymade (1993). Das traf auf große ­Resonanz in der Kunstwelt. Was hatte es mit No Longer Readymade auf sich? MS

Es war mein zweites Stück, und vielleicht entstand es aus einer Krise heraus. Ein zweites Werk machen, während ich auf Tournee mit dem ersten war, sehr schnell viel Aufmerksamkeit


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H A NS ULRICH OBRIST

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bekommen, aus New York wegziehen und in die europäische Festivalszene reinkommen – das war ganz schön viel auf ein­ mal. Das Kernstück dieser Arbeit ist ein Solo. Ich grabe mich durch den Müll in meinen Taschen, Quittungen und Münzen und solche Sachen, ich schütte sozusagen die Überreste eines Lebens auf den Boden. Dann ziehe ich meine Klamotten aus, einen Anzug für Männer, einen für Frauen und mein Kleid ... und ich hänge sie auf zwei Bügeln an meine Arme und fange an, mit meinen Doc Martens auf meinem Gesicht zu laufen ... Und an diesem Punkt fragte ich mich: Reicht dir das? Was er­ hoffst du dir davon? Das Stück davor, Disfigure Study, war eine lange Recherchearbeit über Verzerrung und Fragmentierung des Körpers und die Arbeit mit Körperlichkeit und Licht. Aber diesmal war es eine ganz neue Beschäftigung mit der Frage: Here I am, what now? Es war das erste Mal, dass ich physische und emotionale Körperzustände erforschte. Das Stück beginnt damit, dass ­der Tänzer, Benoît Lachambre, seinen Kopf für etwa 4 ½ Minuten heftig schüttelt und dann fieberhaft gestikuliert. Dann fängt er wieder an zu zittern und macht das Ganze rück­ wärts. Er ist völlig außer Kontrolle, er verschwimmt wie in einer Art Bruce-Nauman-Video, er geht an seine Grenzen, aber er artikuliert sich in diesem Wahnsinn. Als wir anfingen, diese Szene zu proben, übergab er sich im Studio. Erst nach vielen Proben war er schließlich imstande, sie durchzuführen. Es war das erste Mal, dass ich mich für Fieber oder Schweiß in­ teressierte – könnte das eine „Sprache“ sein? Wie nutzen wir diese Art von unfreiwilligen Körperreaktionen als Tanzmate­ rial? So begann ich, mit physischen und emotionalen Zustän­ den choreografisch zu arbeiten. HUO Dieses Stück scheint über das Rationale hinauszugehen, irra­ tionale Kräfte kommen ins Spiel. Andrej Tarkowskij sagte ein­ mal, dass wir Rituale wieder einführen müssten, weil sie in der modernen Welt verschwunden seien. Interessant ist, dass Ek­ stase in indigenen Kulturen und auch in einem rituellen Kon­ text als etwas sehr Positives angesehen wird. Aber im Kapita­ lismus und in unserer globalisierten Welt hat man irgendwann angefangen, sie negativ zu konnotieren. In deiner Arbeit hat sie eindeutig eine positive Konnotation. Ich habe mich gefragt, wann das in deine Arbeit eingeflossen ist. Als du damit anfingst, muss das ziemlich ungewöhnlich gewesen sein, oder? MS

Ich denke, aus westlicher Perspektive sind Rituale Dinge, die wir aus Gewohnheit tun, wenn auch nicht aus freien Stücken, aber wir sind ständig mit Ritualen beschäftigt. Wir erschaffen sie für uns selbst – wir sind gezwungen, bei denen der anderen mitzumachen, wir sind ständig von Ritualen umgeben. Es geht also darum, sie anzuerkennen, aber auch, sie neu zu erfinden. Rituale sind eine zweckgerichtete Abfolge von Handlungen, genauso wie bei der Magie: Deine Handlungen haben eine be­ stimmte Absicht, du erwartest ein bestimmtes Ergebnis. Ins

Theater gehen ist natürlich auch ein Ritual. Ich weiß nicht, auf welche Weise ich damit angefangen habe. Ich denke, dass ich empfänglich für Energien oder Energieströme bin, die nicht nur meine eigenen sind. Wir wissen, dass alles unser Ner­ vensystem und unser elektromagnetisches Feld beeinflusst … Wir werden täglich von dem beeinflusst, was wir sehen, unser Bewusstsein wird mit Informationen überschwemmt. Die Fra­ ge ist: Wie gehen wir damit um, wie machen wir uns davon frei, welche Gedanken gehören uns, welche nicht, und wie können wir mit diesen Kräften arbeiten? HUO Du hast über Rituale gesprochen, aber ich bin neugierig auf den Begriff der Ekstase. In gewisser Weise ist Improvisation in all deinen Arbeiten präsent. Wie du bereits über dein zwei­ tes Stück gesagt hast: Improvisation war ein Tor zu all diesen verschiedenen Zuständen und manchmal auch zu ekstatischen Zuständen … MS Genau … HUO Lass uns über den Zusammenhang von Improvisation und ­Ekstase sprechen. MS Mein letztes Stück Celestial Sorrow (2018) war unter anderem durch die sehr repetitive Musik eines Jathilan-Rituals inspiriert, das ich in Indonesien gesehen hatte. Das war eine faszinieren­ de Performance am Stadtrand von Yogyakarta, die Tänzer zeig­ ten ganz einfache, 20-minütige ritualisierte Armbewegungen. Plötzlich schienen sie einer nach dem anderen wie besessen und verfielen in Trance und es war unklar, ob es real war oder nicht, ob es Selbstsuggestion war. Einige Dinge geschahen direkt vor unseren Augen und andere hinter der Bühne. Die Tänzer entledigten sich ihrer Kostüme und kamen dann quasi in Zivil wieder zurück. Es herrschte absolutes Chaos, man wuss­ te nicht, was Teil der Performance war und was nicht. War das alles nur die Vorbereitung auf den befreienden Moment, in dem diese Energie wieder freigesetzt wird? Ich empfand das alles als sehr zeitgemäß und sehr komplex. Also haben wir sozusagen unsere eigene Version davon zusammen mit zwei Musikern ge­ macht. Die Tänzer gehen auch durch eine Art Trance, eine ge­ wollte Trance. Ich glaube, wir alle wollen raus aus unserer all­ täglichen Realität. Wir wollen das Gefühl haben, dass wir mit etwas anderem verschmelzen ... dass die Grenzen zwischen uns und anderen überwunden werden ... Wir können dazu Drogen nehmen oder uns an Musik und Wiederholung berauschen, oder aber in einen Raum einschließen und ganz auf unsere Atmung konzentrieren. Ich glaube, dass wir alle den Wunsch haben, uns in höhere Sphären zu begeben, uns zu fokussieren, weniger zerstreut und abgelenkt zu sein.


10 HUO Sehr beeindruckend ist auch dein Stück Until Our Hearts Stop (2015), das ich in London sah. Das hat auch mit diesem anderen Zustand zu tun. Denn dort benutzt du, wie auch in den frühe­ ren Stücken, oft den Begriff der Erschöpfung, und wie Erschöp­ fung zu einem transzendentalen Zustand führen kann ... MS ... oder zu einem Nervenzusammenbruch (lacht). Aber ich glaube, dass wir auch gerne erschöpft sind, ich glaube, dass Erschöpfung ein Zustand des Im-Moment-Seins ist, es ist unser neoliberaler Modus, diese Idee des Immer-Arbeitens. Es geht auch darum, durch die Erschöpfung hindurchzuge­ hen, um einen höheren Bewusstseinszustand zu erreichen, wo subtilere Frequenzen mitschwingen. Erschöpfung ist ent­ weder ein Wunsch oder ein Problem, aber sie kann auch eine Strategie sein, eine Strategie, um Kunst zu machen. Du sagst zu jemandem: Sieh dir das an, sieh es dir an, jetzt sieh es dir nochmal an, und wieder ... nein, dieses Bild ist noch nicht fertig. Diese Intensität, diese Besessenheit, in der man die Zeit dehnt und die Menschen dadurch zwingt, hyperpräsent zu sein – darin sehe ich im Moment die Verantwortung der Kunst. Darauf zu insistieren, dass wir uns darüber Rechen­ schaft ablegen, wo wir sind.

und magisch zusammensetzt, die als eine Art soziale Choreo­ grafie funktioniert, innerhalb derer man sich trifft, austauscht, streitet und verändert. Ein dekonstruierter Rave und andere Formen des sozialen Beisammenseins und Tanzens sind dafür essenziell. Der Rave müsste frühmorgens in der riesigen ­Halle in Hellerau beginnen. Er ist dann ein aufgeladener ­politischer Ort, wo die Konventionen des Nachtlebens keine ­Bedeutung haben. Ein Raum, in dem die Leute sich ganz ­un­befangen äußern können, weil es eine andere Art der Empfänglichkeit gibt. In dieser riesigen Höhle möchte ich etwas schaffen, das im Fluss ist, das die Gangart wechselt, so dass die Musik ­irgendwann langsamer wird, dann ganz abbricht, und ein an­ derer Raum zum Vorschein kommt, in dem man auf andere Weise präsent ist und sich zuhört.

HUO Mit Improvisation und Unfertigkeit haben wir uns schon bei Laboratorium beschäftigt, unserer ersten Zusammenarbeit 1999. Über dieses Werk wird heute wenig gesprochen – mich würde interessieren, wie du diese Zeit erinnerst?

HUO Cedric Price und Joan Littlewood, die in den Sechzigern den Fun Palace erdachten, beschreiben das auch, dass man dort Momente des Lärms und der Stille hat – ganz plötzlich wird der Rave leise, es gibt einen Bruch von schnell zu langsam … Also deine Idee gefällt mir sehr gut. 2002 lud mich Hortensia Völckers ein, als es darum ging, die zukünftige Bundeskul­ turstiftung zu konzipieren – das war ja quasi ein utopisches Projekt, das sie hat Wirklichkeit werden lassen, und die Stif­ tung trägt immer noch diesen utopischen Keim in sich. Der Tanzkongress ist auch eine Art utopisches Unterfangen. Es gab nicht viele Kongresse dieser Größenordnung – in der Wei­ marer Republik in den Jahren 1927, 1928 und 1930. Was wird es beim Tanzkongress für Rituale geben?

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Laboratorium war der äußerst unpräzise Rechercheversuch in­ nerhalb eines Werks, der sich mit dem Verhältnis von Perfor­ mance und Recherche, von Wissenschaft und Recherche und Kunst und Recherche beschäftigte. Er war Grundlage für eine Improvisation, die letzte eines längeren Projekts mit dem ­Titel Crash Landing, das ich 1999 in Moskau machte. Wir waren sehr viele Künstler, darunter auch viele russische, und der Raum, den wir uns ausgesucht hatten, war viel zu klein für uns alle, es wurde ziemlich ungemütlich. Es ging um Zukunft, um den zukünftigen Körper und wie wir uns in Zukunft sehen. Jeder Darsteller konnte etwas vorschlagen. Es gab kein „Das ist aber mein Projekt“, es ging nicht um individuelle Autorschaft, son­ dern um eine kollektive Arbeitsweise, wo sich alles mischt, sich Allianzen bilden, Fragen gemeinsam bearbeitet werden … Rückblickend war dieser wilde Ansatz, das Be­stehen auf Improvisation und Kollaboration, wohl ziemlich ­radikal, wenn man bedenkt, wozu wir eingeladen waren.

HUO Es ging auch um Abgrenzung – zwischen der Bühne und der Welt, wenn man so will … Es war nicht ganz klar, wo die Büh­ ne anfing und wo sie aufhörte, ob es überhaupt eine Bühne gab. Der junge Tino Sehgal war auch dabei, als er noch Tänzer war und mit Xavier (der französische Choreograf Xavier le Roy; Anm. d. Ü.) arbeitete. Ich hab ihm erzählt, dass ich ein Inter­ view mit dir machen würde, und er hat mir heute Morgen eine Frage für dich geschickt: Wo siehst du die Grenze zwischen Tanz, der auf der Bühne zur Aufführung kommt, und rituellen Praktiken, wie die der Schamanen oder Shakers, die jenseits einer Bühne stattfinden? MS

Beim Tanz auf der Bühne werden eine Reihe von Prinzipien oder Regeln mit einem Publikum geteilt. Bei schamanischen Praktiken und Ritualen geht es um bestimmte Ziele und das Wohl der Gemeinschaft. Schamanen werden von Geistern in andere Welten geführt, um Menschen aus der Gemeinschaft zu heilen. Das ist ein Dienst an der Gesellschaft. Wenn Men­ schen am Wochenende in Clubs feiern gehen, dann ist das eine Art improvisiertes Tanzritual, bei dem es um Begegnung, Los­ lassen und gemeinsam erlebte Momente der Ekstase geht. Dennoch herrscht sogar an Orten wie dem Berghain in Berlin ein ­relativ starrer Verhaltenskodex. Ich kann mir deshalb gut vorstellen, dass es in Zukunft immer mehr hybride, undefi­ nierte, ­offene Orte geben wird, an denen man gemeinsam tanzen, loslassen, sich artikulieren kann und dadurch Strate­ gien der Bewältigung und Heilung schafft. Ich hoffe, dass der Tanzkongress in Dresden so ein lebendiger, unkonventionel­ ler Ort wird für kollektives Handeln und gemeinsame Ziele. Es wird eine fünftägige Zusammenkunft sein, die sich verworren

Ich interessiere mich gerade sehr für das Monte-Verità-Treffen in der Schweiz von 1917, bei dem Spiritisten, Anarchisten und Künstler auf diesem Berg zusammenkamen, um über alterna­ tive Lebensmodelle zu diskutieren. Beim ersten Tanzkongress 1927 wurde heftig über Dinge und Definitionen gestritten, die heute undenkbar sind, zum Beispiel was Tanz überhaupt ist, wie ein Tänzer zu sein hat oder welchen Nutzen der Tanz hat. Es ist auch immer wieder die Rede von der großen Party am Ende, bei der alle zusammenkamen. Da wäre ich gern dabei gewesen! Mich interessiert die gesellschaftliche Dimension von Tanz, Tanzgeschichte, heiligen Tänzen, kontemplativer Musik und Darstellungen, Kampfkunst. Mir ist wichtig, dass der Tanz nicht nur das Aufwärmen für den Diskurs-Teil ist, sondern dass beide in dasselbe Format integriert sind. Als Kurator, was wäre dein Rat für mich?

HUO 2005, als ich in Stuttgart beim Festival „Theater der Welt“ da­ bei war, hatte ich zuerst vor, ein Interview-Projekt auf der Büh­ ne zu machen, eine Art Marathon. Zuerst interviewte ich die Leute alleine, 24 Stunden lang, das wurde mir irgendwann zu einsam und ich holte Rem Koolhaas dazu. Nach und nach wur­ de es dann ein sehr hybrides Format, mit Performances, Vor­ trägen etc. Das Interessante an deiner Idee wäre natürlich, dass man kommt, um z. B. einen Neurowissenschaftler sprechen zu hören, dann aber einen zeitgenössischen Künstler sieht. Oder man kommt für den Künstler, sieht dann aber einen Architek­ ten. Damit könntest du die professionellen Ghettos durchbre­ chen und vermeiden, dass nur die Tanzwelt kommt. Ich be­ schäftige mich gerade mit dem Phänomen der Tanzwut, auch Choreomanie oder Veitstanz genannt, das im 14. und 15. Jahr­ hundert in Europa auftrat. Ganz normale Leute in den Städten, nicht professionelle Tänzer, tanzten und tanzten, bis sie vor Erschöpfung umfielen. 1374 gab es so einen Ausbruch in ­Aachen. Wäre es nicht toll, wenn in Dresden die Tanzwut ­ausbräche? MS

… oder eine Redewut! Wenn ich meinen Bewusstseinszustand ganz schnell ändere und meine Aufmerksamkeit auf etwas an­ deres außerhalb des gegenwärtigen Moments richte, habe ich das Gefühl, die Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft zu setzen, mich durch andere Dimensionen zu bewegen. Ich glau­ be, es gibt eine Wahrheit, zu der man durch Körpertechniken gelangt. Tänzer wissen das, aber das sollte auch in anderen Be­ reichen verstanden werden: wie bestimmte Bewegungen unser Bewusstsein verändern. In Hellerau gibt es diesen großen Gar­ tenbereich und ich hoffe, dass wir dort gemeinsame Rituale schaffen können, zum Beispiel zusammen kochen, und andere Formen des Austauschs erproben.


11 HUO Das spricht eben alle Sinne an. Margaret Mead sagte, wir brau­ chen Rituale, die alle Sinne ansprechen. Vor kurzem habe ich einen Text von Dorothea von Hantelmann gelesen, in dem sie fragt: Welche Art von Ritual entspricht dem Leben, der Ge­ sellschaftsstruktur im frühen 21. Jahrhundert? Wie kollektiv, wie individuell, wie rigide, wie offen, wie liberal müsste es sein? Das ist eine Frage, die mir für Dresden relevant erscheint. MS

Es wird sicher verschiedene Formen des Zusammenkommens und Feierns geben, aber auch des Zusammenkommens und Trauerns. Dresden wird keine fünftägige Party sein. Der Kon­ gress wird eine Dramaturgie haben, in der Platz ist für die verschiedensten Dinge, für Meditation und Bewegung, aber auch für Gespräche über gewaltfreie Kommunikation zum Bei­ spiel und Gerechtigkeit, oder über die Kraft der Gedanken.

HUO In Dresden gibt es gerade viel Gewalt und Fremdenhass. In die­ sem Zusammenhang musste ich an dein Stück Alibi (2001) den­ ken, in dem es um Fanatismus und Gewalt geht. In einem Inter­ view sprachst du einmal davon, wie das war, von New York nach Brüssel zu ziehen, was für ein Schock, plötzlich an einem so anderen Ort zu sein, mit Menschen, deren Muttersprache nicht Englisch war. Das Potenzial des Tanzkongresses, die Bevölkerung zu erreichen, ist besonders interessant. Brecht sprach ja von ei­ nem epischen Theater für die Massen. Vielleicht könnte man Brechts Theorie ausweiten auf den Tanz und sehen, ob das eine Stadt verändern kann. Vielleicht kannst du Dresden verändern. MS

Vielleicht. Ich habe gerade erst von dem deutsch-syrischen Künstler Manaf Halbouni gehört, der im letzten Jahr drei Busse senkrecht vor der Frauenkirche aufstellte, und die Kontroverse, die das entfachte. Ich würde sehr gern mit der Dresdner Szene ins Gespräch kommen und werde auch einen Workshop an der Palucca Hochschule für Tanz und an der Hochschule für ­Bildende Künste in Dresden unterrichten.

HUO Würdest du sagen, deine Arbeiten sind politisch? MS

Wenn wir beim Kongress mit politischen Entscheidungsträ­ gern zusammenarbeiten, bedeutet das eine ganz andere Art von Zusammenarbeit, auch eine andere Art von Sichtbarkeit. Ich rede oft von Verantwortung und Ethik. Violet (2011) ist ein komplett abstraktes Stück, in dem es um Energiemuster in der Natur geht. Darin interagieren fünf Tänzer mit den fünf platonischen Körpern. Das Stück entstand zur Zeit des Ara­ bischen Frühlings und des Tsunamis in Japan und ich fragte mich: Was führt zu Veränderung? Wann gibt es ein radikales Umdenken und wie gehen wir damit um? Eigentlich war es die Reaktion auf einen Erschöpfungszustand: Ich habe nicht die Kraft für all das … Normalerweise hat man für Abstraktion ja alle Zeit der Welt, denn sie ist kalt und distanziert. Man arbei­ tet mit Linien, Kräften, Geometrien … Aber hier arbeiteten wir mit abstrakten Bewegungen unter Stress, in einer aufge­ ladenen, „heißen“ Zeit. Es gab eine Dringlichkeit, einen Auf­ trag. Deshalb hatte ich das Gefühl, dass das sehr politisch war. Über viele Jahre hinweg und in unterschiedlichsten Situationen habe ich Räume geschaffen, in denen Künstlerinnen, Tänzer und Musiker zusammenkommen und sich austauschen k­ önnen. Bei Sketches/Notebook (2013) zum Beispiel waren ­Tänzerinnen, bildende Künstler und Musiker vollkommen ­gleichberechtigt. Dadurch, dass wir zusammen in einem Raum arbeiteten, wur­ den auch alle Fragen und Ideen gemeinsam diskutiert. So ei­ nen dynamischen Raum, in dem man zusammenkommt und gemeinsam arbeitet, möchte ich auch für die erweiterte Tanz­ community beim Tanzkongress schaffen.

HUO Sketches/Notebook bringt mich zu meiner letzten Frage. Ich habe gerade ein Projekt auf Instagram gestartet, das mit Zeichnun­ gen und Notizbüchern zu tun hat. Ich hatte diese Panik, dass das Schreiben mit der Hand und das Kritzeln verschwinden würden. Also bitte ich alle Künstler, die ich treffe, am Ende des Gesprächs darum, etwas mit der Hand auf einen Zettel zu schreiben oder zu kritzeln, und das poste ich dann auf Ins­ tagram – einen Satz, ein Motto, ein ­Zitat. Darum würde ich jetzt auch dich gern bitten …

Meg Stuart, 1965 in New Orleans (USA) geboren, ist Tänzerin und eine weltweit renommierte Choreografin. In diesem Jahr erhält sie den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig für ihr Lebenswerk. Damit wird ihre herausragende Rolle für die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes gewürdigt. Die Kulturstiftung des Bundes konnte Meg Stuart dafür ­gewinnen, die künstlerische Leitung des alle drei Jahre stattfindenden Tanzkongresses, der 2019 in Dresden ausgerichtet wird, zu übernehmen. Meg Stuart lebt in Berlin und Brüssel. Hans U ­ lrich Obrist, 1968 in Weinfelden (Schweiz) geboren, ist Kurator für zeitgenössische Kunst. Er gilt weltweit als einer der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Kunstszene. Seit 2016 ist er Artistic ­Director der renommierten ­Serpentine Gallery in London. Obrist ­betreibt seit mehr als 15 Jahren sein „­ Interview Project“, eine umfangreiche ­Kollektion von Interviews mit Künstlern, Musikern, Architekten, Filmschaffenden. Jetzt erfüllte er sich mit diesem (gekürzten) Interview mit der Choreografin Meg Stuart einen lang gehegten Wunsch.

Aus dem Englischen von Friederike Tappe-Hornbostel und Therese Teutsch


Hello World Z U R R E V IS IO N DE R S A M M LU N G D ER NAT IO NA LGA L E R IE , B E R L I N

Ein Bildessay von Udo Kittelmann



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Š Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Fotos: David von Becker

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Ohne Sinn, mit Verstand K U N S T O D E R F O L K L O R E ? ­WA RU M ­V I C T O R VA S A R E LY S ­B ILDER ZU ­U NRECHT IN DER SCHMUDDELECKE DER ­K U N S T­M U S E E N ­G E L A N D E T S I N D. E I N E ­R E H A B I L I TAT I O N

Hans-Joachim Müller

Es ist, wenn man in seinen Katalogen blättert und die fett glänzenden Seiten mit diesem leisen Knistern voneinander löst, wie im alten Film. Die müde ge­ wordenen Farben. Der ferne Ton. Das Rauschen um die ­Geschichte. Kennt sie noch jemand, die Geschichte des Victor Vasarely? War mal ein Star in den Kunstsalons der Nachkriegsjahrzehnte. Gefeiert wie Bernard Buffet. Nur ohne traurige Clowns. Hat mit optischen Tricks ver­ zaubert. Mit Farben, so gebieterisch wie Ampeln an der Kreuzung. Mit geheimnisvoll bewegten Mustern aus rech­ ten Winkeln und geraden Linien und Kurven von einer Präzision, dass man die Schülerhefte mit all dem Para­ bel- und Hyperbel-Scheitern vor Scham versteckt hat. Längst hat man auch die Vasarely-Bilder versteckt. Wären irgendwie peinlich in den Sammlungen der Ge­ genwartskunst. Störende Erinnerungen an einen Kurs­ sturz ins Bodenlose. Bluechips der Väter und Mütter, auf die bis in die mittleren 60er Jahre hinein noch jede Kas­ seler documenta gewettet hatte. Weit liegt es zurück. Und es klingt wie Ahnenraunen, wenn man erzählt, dass man vor diesen Bildern tatsächlich einmal stand wie vor Of­ fenbarungen wunderbarster Klarheit. Dass der Illusionismus sich einmal nicht dem alten bildnerischen Als-ob-Spiel verdankt, sondern berechne­ ter Geometrie, durchschaubarer Konstruktion, es war wie Erlösung von den Magien der Mimesis. Und es schien zeitgenössischen Erwartungen ans Bild völlig zu genügen, dass der kugelförmige Eindruck, der sich im Zentrum eines Felds voller Quadrate dem Blick entgegenwölbt, allein aus den Bedingungen unserer Wahrnehmungen stammt, die halt dazu zwingen, bei entsprechender Li­ nienführung und Abstimmung der Farben, an eine sphä­ rische Erscheinung zu denken. Dabei weiß ja jeder, dass das Bild völlig plan ist, und kein versteckter Ball die Leinwand nach vorne drückt. Und doch geht es nicht anders: Man sieht das Bild, wie es sich bläht. Und wenn man wiederkommt, dann bläht es sich geradeso. Und was will man mehr von der Malerei? Es war wie vollends versinnlichte Rationalität, als sei nun endlich die Vernunft über die Kunst gekommen und das

Erstaunen intelligibel geworden. Ganz offensichtlich ließ sich ästhetisches Wohlgefallen auch mit den aufgeklärten Mitteln mathematisch exakter Bildstrategien erlangen. Man hat damals den Begriff „Op-Art“ gefunden. Er hat sich zwar nie ganz erschlossen, zumal wenn man sich sein Gegenteil, eine nicht-optische Kunst, vorstellen wollte, aber immerhin, er hat sich gut eingebürgert und galt der Epoche als Index des künstlerischen Verstandes­ gebrauchs. Und zum Fähnlein der „Op-Art“ gehörten ­damals auch die „Kinetiker“, die dem jahrtausendealten statischen Bild endlich einmal Beine machen wollten. Und so ist es ja auch, es bewegt sich was, obschon sich nichts bewegt: Wenn man über ein Vasarely-Bild aus der Kinetik-Gruppe mit den Augen streift, dann beginnen die Farben und Formen wie die Lamellen eines Vorhangs zu zittern. In einer Zeit, die beträchtlichen Gefallen an ihrer fortschreitenden Beschleunigung gefunden hatte, eine aufregend aktuelle Erfahrung. Endlich einmal er­ schienen Bilder ganz und gar zeitgemäß, frei von jener szientistischen Skepsis, in der die Malerei von alters her ihre Technik-Unzuständigkeit bekannt hat. Und als 1969 im ersten Fernseher zu Hause die Mondlandung über­ tragen wurde, da kam einem Victor Vasarely vor wie einer, der auch unter den Experten im Rechnerraum von Cape Canaveral eine gute Figur abgegeben hätte. Tatsächlich war der Künstler der erste, der mit dem universalistischen Anspruch einer Kunst, die alle sinnli­ chen Überraschungen aus Kalkül und Regel gewinnt, ein großes Publikum erobert hat. In seinem erfindungsrei­ chen Werk hat die abstrakte Kunst, die der bürgerliche Geschmack wie eine einzige Kette visueller Zumutungen erlebt hat, ihre lang ersehnte Plausibilität bekommen. Niemand musste mehr fragen, was es zu bedeuten hat. Niemand musste befürchten, dass das Zittern der Farben und Formen nachlassen könnte. Das Bild an der Wand blieb so ohne Abnutzungsspuren wie die neue Couch-Ecke. Und anders als bei so manchen Zeitgenossen der kon­ struktiven Kunst, denen im sauber ausgeführten Quadrat gleich ein Vorschein der Unendlichkeit leuchtete, waren Vasarelys Op-Art-Effekte frei von jeglichem metaphysi­


25 schen Verdacht. Obwohl der Meister durchaus Schwer­ gewichtiges niederschrieb: „Die Definition der Einheit ‚Form-Farbe‘ führte mich in der plastischen Kunst zu einer kombiniert-objektiven Methode, die universale Geltung hat. Ich bezeichne sie als ‚planetare Folklore‘“. Was ja, wenn man es kombiniert-objektiv betrachtet, nicht ganz so leicht zu verstehen ist. Aber mit der „pla­ netaren Folklore“ hat er schon recht gehabt. Es gab in der Dekade des Vasarely-Triumphs wohl kein zweites Werk, das so eingängig das alte Moderne-Phantasma von der Weltsprache Kunst beglaubigt hat. Gerade weil es vor den Bildern nichts wirklich zu verstehen gibt, sind sie überall verstanden worden. Nie kam ja die Kunst ohne Sinndeutung aus. Irgend­ etwas müsste sich hinter den rätselhaften Zeichen und ­Attitüden verstecken. Und selbst wenn alles klar und ­unmissverständlich scheint wie bei den 32 Campbell’s-­ Suppen-Dosen, die Andy Warhol auf Leinwand malte, will man auf die pädagogische Handreichung nicht ver­ zichten. Zu unwahrscheinlich eben, dass es der Maler beim malerischen Sachverhalt belassen haben könnte. Erst bei Vasarely war es wie Befreiung vom Zwang der Bedeutung. Und zugleich wie Erfüllung einer kulturdemo­ kratischen Utopie. Auch ohne Bildungsvoraussetzungen und ohne erfolgreichen Abschluss einer Lehrveranstal­ tung in Kunstbetrachtung wölben sich jedem Auge die verzerrten Quadrate wie ein feister Bildbauch entgegen. Und dazu ist auch kein Widerspruch, dass das Werk seine überaus durchdachte Struktur besitzt. Wer wie der Autor den Künstler 1976 bei der Eröffnung seiner „Fon­ dation“ in Aix-en-Provence erlebt und mit ihm auf dem Rasen vor dem künstlichen Teich einen langen Spätsom­ mernachmittag verbracht hat, der hat einen gebildeten Mann kennengelernt, der einen ungemein beredt durch seine Ideenwelt führte, dass man denken konnte, da hat nun endlich einer die künstlerische Weltformel gefunden. Und wenn man sich Werner Spies’ große Vasarely-Mono­ grafie aus dem Jahr 1971 vornimmt, die bis heute die gründlichste Werkstudie geblieben ist, dann ist es zuwei­ len wie in einer Forschungsanstalt, in der einem eine La­ bortüre nach der anderen geöffnet wird. Es gibt die „Per­ mutationen“ und die „Hommage à l’hexagone“, es gibt die „Période Denfert“ und die „Période Gordes-Cristal“. Es herrscht durch all die Jahrzehnte eine unglaubliche Ordnung und Disziplin. Und anders als in der kommunen Künstlererzählung, die den Kreativen gerne als abgeris­ senen Chaoten überliefert, hat Victor Vasarely Licht und Logik ins Geschäft gebracht und an keinem seiner Bilder Spuren erregter Kleckserei geduldet. Es ist ja nicht uninteressant, dass diese Bilder, Skulp­ turen und Reliefs ihren größten Erfolg in einer Zeit hat­ ten, als die vermeintlich populäre Pop-Art aus den USA mit offensichtlicher Unterforderung schockte und die informell gestische Malerei, die lange in Europa domi­ nierte, ihre letzten Räusche ausschlief, und an den mo­ dischen Happening- und Fluxus-Spektakeln überhaupt nur Spaß haben konnte, wer sich zur avantgardistischen Elite rechnete. Vasarely war im besten Sinne Volkskunst. Und seine massenhaft verbreiteten Bild-Erfindungen – mal von erhabener Schlichtheit, mal verzwickt wie ein Sudoku für Fortgeschrittene – haben zur Geschmacks­ bildung des reformbürgerlichen Sozialisationstyps ver­ mutlich ebenso viel beigetragen wie die Selbstbau-Möbel aus den Ikea-Shops. Vielleicht hat ja der Vasarely-Hype, den es einmal gegeben hat, auch mit dem Bauhaus-Schicksal zu tun. Die ehemaligen Lehrer mit ihren funktionalistischen und neusachlichen Programmen waren ja alle in die Emigra­ tion getrieben worden. Ihre formstrenge Saat ging vor allem in Lateinamerika auf. Und nach Deutschland zu­ rückgekommen ist kaum mehr etwas von der Didaktik der Anschauung, wie sie in den 20er Jahren an Kunst und Handwerk erprobt worden war. Die „gute Form“, wie dann das Fortschrittsdesign der 50er Jahre hieß, blieb auf die progressiven Milieus beschränkt. Und die konst­ ruktive Malerei, die vor allem in den Zürcher Konkreten ihre Galerie-Vertreter hatte, ist nie mehr als ein Sonder­ fall der abstrakten Kunst gewesen. Ausdruck hochnä­ siger Reinheitsgebote, die die Herzen nicht wirklich er­ reicht hat. Während einen vor einer goldbronzierten unendlichen Schleife von Max Bill auch bei noch so

g­ eneigter Betrachtung dann doch irgendwann die Lange­ weile befällt, haben Vasarelys Bilder mit ihren Farbvi­ brationen und ihrer seriellen Dynamik verlässlich für ­gepflegte Unterhaltung gesorgt – und den Esprit de la France ungleich volkstümlicher exportiert als ein Meister aller Klassen wie Picasso. Vasarely, der in Ungarn geboren wurde und erst 1930 nach Paris zog und dort als Werbegrafiker arbeitete, ist immer als französischer Künstler gesehen worden, der völlig unberührt schien vom surrealen Erbe seines Lan­ des, unberührt von den priesterlichen Gesten der infor­ mellen Malerei, aber auch wunderbar abständig zur im­ perialen Grandiosität des amerikanischen abstrakten Expressionismus. Seine Kunst hatte etwas erkennbar Le­ benspraktisches, kam ohne die Hallräume aus, in denen Bilder zu Weihegegenständen werden. Was nicht ver­ kennt, dass es auch einen Vasarely vor Vasarely gab. Aka­ demische Versuche mit gefälligen Trompe-l’œil-Effekten, figürliche Arbeiten, ein Marsmensch, ein Selbstbildnis so steif wie ein geschnitzter Schach-Bauer. Die Lockerung der gegenstandslosen Farben geschah erst in den späten 40er Jahren. Und heute wäre es nicht zu spät für eine Lockerung des Vasarely-Verbots. Man kommt ja nicht so häufig hin. Aber wenn man sich doch einmal ein Herz fasst und in Bonn an der Station „Juridicum“ aus der unterirdischen Trambahn aussteigt und die Treppen hochstapft zur ge­ rühmten Fachbibliothek der juristischen Fakultät, dann steht man erst einmal vor einem Wandrelief, das die ge­ samte Front über dem Eingangspavillon füllt. Es sieht beim Näherkommen aus wie ein gigantisch vergrößertes Webmuster. Doch man sollte sich nicht mit der ersten Idee zufriedengeben. Werner Spies hat die Pointe in der „Permutierbarkeit der Grundform“ entdeckt: „Jeder Bau­ stein (jeder Buchstabe) konnte herausgenommen und an einem anderen Platz eingefügt werden.“ Natürlich nur gedanklich. Vorgedanklich reicht, wenn man sagt, man habe angesichts der flirrenden Schwarzweiß-Schraffuren ein veritables Vasarely-Erlebnis gehabt. Wird Zeit, dass man auch die anderen, die versteckten Bilder aus dem Depot holt.

Hans-Joachim Müller, Jg. 1947, war viele Jahre Kunstkritiker im Feuilleton der Zeit und zuletzt Feuilletonchef der Basler Zeitung. Aktuell schreibt er für die Welt sowie Welt am Sonntag und ist seit 2015 Textchef beim Kunstmagazin Blau. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Monografien über ­Harald ­Szeemann (Hatje Cantz, 2006) oder den Kunstsammler Ernst Beyeler (Opinio Verlag, 2011).

VICTOR VASARELY IM LABYRINTH DER MODERNE Das Städel Museum in Frankfurt am Main, bekannt für seine Sammlung mit Meisterwerken aus 700 Jahren europäischer Kunstgeschichte, setzt mit einer großen, retrospektiv angelegten Schau zum umfangrei­ chen Werk von Victor Vasarely (1906 in Pécs, Ungarn − 1997 in Annet-­surMarne, Frankreich) 2018/19 einen Akzent auf die Moderne. Vasarelys Œuvre verbindet die Kunst der Moderne mit der unserer Gegenwart, die ästhetisch enorm produktive Zeit zwischen den beiden Weltkriegen mit den Avantgarden der Nach­ moderne. Es erstreckt sich über mehr als sechs Dekaden und integriert unterschiedlichste Stile und Einflüsse: Vasarely war Werbegrafiker und Künstler, Erfinder und Hauptvertreter der europäischen Op-Art, zentrale Figur der französischen Nachkriegskunst mit ungarischer Herkunft. Er ist heute wohl einer der „bekanntesten Unbekannten“ der europäischen Kunst nach 1945. Vasarely und seine verschachtelten, oszillierenden, hypnotischen Bilder, Objekte und Skulpturen stehen emblematisch für eine facettenreiche, schillernde Moderne der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zwischen Avantgarde und Populärkultur. Anhand von 120 Werken aus über sechzig Schaffensjahren Vasarelys wird sein sukzessives Einebnen der ästhetischen Grenze zwischen High and Low, zwischen Pop und Moderne in der Frankfurter Ausstellung für das Fachpublikum wie auch für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar gemacht. Deutlich wird dabei nicht nur ein völlig anderer und komplexerer Künstler, sondern vor allem eine neue Geschichte des das gesamte 20. Jahrhundert durchziehenden Projekts „Moderne“. Die in Kooperation mit dem Centre Pompidou, Paris, organisierte Ausstellung „Victor Vasarely − Im Labyrinth der Moderne“ wird in dem angestrebten Umfang und der Breite des zu präsentierenden Werk­überblicks durch Leihgaben aus zahlreichen europäischen wie auch US-amerikanischen Sammlun­ gen möglich. Im Besonderen tragen hierzu die Sammlungsstücke des Kooperationspartners Centre Pompidou bei wie auch die Leihgaben Michele Vasarelys, deren umfangreiche Sammlung in den vergangenen beiden Dekaden nicht mehr in Europa zu sehen war. www.staedelmuseum.de Kurator/innen: Martin Engler, Jana Baumann Städel Museum, Frankfurt am Main: 26.9.2018–13.1.2019


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Minimale Form, maximale Wirkung G E R A D E W I R D ER ­WI E D E R EN TD ECK T: ­ J U L I U S EA S TM A N, ­M U S I K ER U N D ­KO M PO N I ST. A L S ­K Ü N STLER GI N G ER S EI N EN W EG ­U N B EI R RT W EI TER , AU C H A LS ER I H N I N S AB SEI TS FÜ H RT E

Jasmina Al-Qaisi Wiederholungen, weinende Violinen, Eleganz, unerläss­ liche Verwirrung, Freude, heilige Worte, Glocken, ein Zittern, Echtheit, die leise Eleganz der Pianos, Energie, Eile, Schweiß, Delirium, bezaubernde Überraschungen und manchmal der Horror eines zu schnell gelebten Lebens. Die Wiederholungen des Avantgarde-Komponisten Julius Eastman (27. Oktober 1940 – 28. Mai 1990), von dem keine zu seinen Lebzeiten entstandenen kommerziellen Aufnahmen existieren, sind wie ein Skalpell, das durch die neuere Musik­ geschichte fährt. Wiederholungen, die dem Verständnis von Musik als biografischer Ausdrucksform Tiefe verleihen und so komplex sind, dass sie heutigen Musikern eine unerschöpf­ liche Inspirationsquelle bieten. Um über Eastmans Leben sprechen zu können, ist man auf Spekulationen, Vermutungen oder das Zusammensetzen von Informationsfragmenten angewiesen. Trotz der Genia­ lität seiner Musik und seines unbestreitbaren Beitrags zur neueren Musikgeschichte ist er kaum bekannt. Was man weiß, verdanken wir denen, die seine Bedeutung rechtzeitig erkannt haben. Eastman wuchs in Ithaca, New York, auf, widmete sich zunächst dem Gesang, dann dem Klavier, später komponier­ te er, dirigierte die Werke anderer Komponisten und trat als Tänzer auf. Er studierte erst Klavier, dann Komposition am Curtis Institute in Philadelphia, einem der wichtigsten Kon­ servatorien der Welt. Mit Ende zwanzig wurde er Mitglied der Creative Associates, der führenden experimentellen Musik­ gruppe an der University of Buffalo in New York. Zu jener Zeit gelang nur sehr wenigen People of Color der Zugang zu den Kreisen der Neuen Musik.

Mitte der 70er Jahre wandte sich Eastman dem Jazz zu und zog nach New York, wo seine produktivsten Jahre began­ nen: Er trat mit so herausragenden Musikern wie Arthur Rus­ sell, Meredith Monk und Peter Zummo in bekannten Kon­ zerthallen, aber auch in Diskotheken auf. Nachdem er die University of Buffalo verlassen hatte, sah er sich wohl gezwun­ gen, Stücke zu schreiben, die er allein aufführen konnte, da ihm nun seltener andere Musiker zur Verfügung standen. Er passte sich an. In einem Interview mit David Garland sagte er 1984: „Das Klavier ist wie ein kleiner Taschenrechner. Wenn ich also keinen Taschenrechner habe, tendiere ich dazu, die Musik ein bisschen einfacher zu machen.“ Eastmans Tod kam tragisch früh. Die letzten Jahre ver­ brachte er in Obdachlosenunterkünften und Parks. Vieles aus dieser Zeit bleibt im Ungewissen. Freunde und Kollegen ­berichten, ihn in schlechter körperlicher und mentaler Ver­ fassung angetroffen zu haben, an seiner Karriere hatte er ­jegliches Interesse verloren. In einem weiteren Interview 1984 sagte er, er sei mehr an der Liebe als an der Musik interessiert. Als sein Haus im East Village zwangsgeräumt wurde und ­seine Besitztümer auf die Straße flogen, versuchte er nicht, sie zu retten. Stattdessen schrieb und teilte er nun seine Komposi­ tionen als selbsternannter „Stadtmönch“. Diese nomadische Existenz machte den Zugang zu sei­ nem Werk nahezu unmöglich. Als die amerikanische Kompo­ nistin Mary Jane Leach nach seinen Kompositionen forschte, wurde ihr klar, dass davon kaum Spuren zurückgeblieben wa­ ren. Sie begann eine Suchexpedition. 2005 wurde eine drei­ teilige CD-Compilation unter dem Titel Unjust Malaise ver­ öffentlicht und auf YouTube zugänglich gemacht, in der alle seine wichtigen Werke zusammengestellt sind. Wer Unjust Malaise hört, sollte auch die Kommentare un­ ter den YouTube-Videos lesen, die die Reaktionen der H ­ örer auf die Kraft von Eastmans Gesamtklang bezeugen. Dort wird seine geringe Bekanntheit kommentiert, er wird als Entde­ ckung bezeichnet, manche beschweren sich, im Studium nie von ihm gehört zu haben, loben und bemitleiden ihn als einen Gott, der im Elend starb. Es gibt gleich mehrere überzeugende Gründe, sich East­ mans Werk noch einmal anzuhören. Er schuf Musik, die eine „minimale Form, aber maximale Wirkung hatte“. Seine Aus­ druckskraft ging über den reinen Minimalismus hinaus – über das Nicht-Dramatische, genauer gesagt das Fehlen eines Nar­ rativs, einer Hierarchie –, wodurch der Eindruck entsteht, dass alle Töne die Chance haben, gleichermaßen Höhepunkt zu sein. Eastman sagte einmal: „Ich schreibe normalerweise er­ dachte Musik, aber das, was ich singe, ist spontan.“ Wenn wir diesen Satz in den Kontext der „black performance“ setzen, für die „schon immer die andauernde Improvisation eine Art Lyrik gewesen ist (...) Verschwommenes, sterbendes Leben; befreiend, improvisierend; versehrte Liebe; Freiheitsdrang“, wie Fred Moten es poetisch ausdrückte, sind wir dem ­Geheimnis der Musik Eastman auf der Spur: Es ist nicht ein­ fach nur Improvisation, sondern ein ad libitum ohne Vergan­ genheit und Zukunft. Gegenwärtig wird Julius Eastman auch als Aktivist ent­ deckt. Die Titel seiner diversen Klavierstücke verdeutlichen sein Bemühen, die existierenden Lebens- und Arbeitsum­ stände zu verändern. Dirty Nigger, Nigger Faggot (oder NF), Crazy Nigger (1978) und Evil Nigger (1979) sind Titel, gleich­ zeitig aber auch Akte des schwarzen und schwulen „Empow­ erment“. Identitätspolitik und Spiritualität sind in seiner ­Musik miteinander verwoben und werden zu narrativen Werk­ zeugen, sie existieren und vibrieren in einer ganz eigenen Sprache. Ein Stück wie Gay Guerilla zeigt, wie durchlässig die Grenze zwischen Kunst und Leben, zwischen Profanem und Verehrtem, Inspiration und Werk sein kann. Julius Eastmann sagte über seine Titel: „Entweder verherrliche ich sie, oder sie verherrlichen mich.“ Der Satz – so scheint es – gilt für das gesamte Werk ­dieses einzigartigen Musikers. Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Jasmina Al-Qaisi, Jg. 1991, ist Ethnologin, Korrespondentin und Autorin. Sie lebt in Bukarest und Berlin. Zurzeit erarbeitet sie eine Serie von Hörstücken aus dem Archiv des Projektraumes SAVVY Contemporary.

WE HAVE DELIVERED OURSELVES FROM THE TONAL – OF, WITH ­TOWARDS, ON JULIUS EASTMAN Der afro-amerikanische Kom­ ponist, Musiker und Performer Julius Eastman (1940 –1990) war ein Protagonist der ameri­ kanischen Minimal Music der 1970er und 80er Jahre. Nach seinem frühen Tod geriet er in Vergessenheit, in den letzten Jahren wird sein Werk jedoch langsam wiederentdeckt. Das kollaborative Projekt „We Have Delivered Ourselves from the Tonal“ gedenkt in verschiede­ nen Formaten Eastmans Persönlichkeit und musikali­ scher Genialität. Es untersucht das visionäre musikalische Konzept des Minimalisten, das Repetition und Improvisation vereint, und betrachtet den gesellschaftlichen Kontext, in dem der Künstler agierte: Eastman verstand sein Werk immer auch als Medium der Auseinandersetzung mit sozio­ politischen, ökonomischen und religiösen Themen, mit Geschlecht, Sexualität und ­Rassismus. Musiker, bildende Künstler, Performer und Wissenschaftler werden sich gemeinsam mit Eastmans Erbe auseinandersetzen und dessen Bedeutung für die Entwicklung der zeitgenössischen Musik neu erschließen. In Auftragsarbei­ ten entwickeln sie eigene künstlerische und theoretische Perspektiven auf Werke wie Gay Guerrilla, Our Father oder The Holy Presence of Joan d’Arc. Die Ausstellung des SAVVY ­Contemporary präsentiert die Arbeitsergebnisse und ermög­ licht über handschriftliche Partituren, Konzertaufnahmen, Hörstationen und private Fotografien einen sehr persön­ lichen Zugang zu Leben und Schaffen von Julius Eastman. Das MaerzMusik Festival 2018 wird mit einem Stück des Komponisten für vier Klaviere eröffnen. Zudem ist ein inter­ nationales Symposium rund um die Themen Atonalität und Neue Musik in Wien geplant. Ein Projekt des SAVVY Cont­ emporary in Kooperation mit dem MaerzMusik Festival Berlin und den Wiener Festwochen. www.savvy-contemporary.com Künstler/innen: Hassan Khan (EG), Annika Kahrs, Barthélémy Toguo (CM/FR), The Otolith Group (UK/DE), Okwui Okpokwasili (NG, US) SAVVY Contemporary, Berlin / Wien: 1.3.–31.10.2018


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Unbekanntes Bauhaus DAS BAUHAUS ALS S CHULE DER WORTKUNST UND ­SPRACHERNEUERUNG

Torsten Blume

BAUHAUS ist ein Ein-Wort-Gedicht aus dem Zusammenklang zwei­ er einsilbiger Wörter, in denen jeweils die Vokalkombination aus A und U als AU dominiert. Schnell und heftig gesprochen, klingt es wie das harte Bellen eines Hundes. Langsam und leicht gepresst artikuliert, führt es zu einem tiefen Klang, der nach kurzer Hebung in einen tiefen Ton fließt und stimmlos ausläuft. Wenn aber eine einzelne Silbe betont wird, verliert es die Anmutung freier Bedeutungslosigkeit. Dann werden die Silben zu Begriffen, Bau und Haus: Bau als Substantivierung von bauen und als dessen Verkürzung, genauso wie Haus als Substantivie­ rung von hausen. Wodurch BAUHAUS an eine möglicherweise vorange­ gangene Fassung des Gedichts mit betontem Aufforderungscharakter wie baue Haus erinnert. BAUHAUS ließe sich so als radikale Verdichtung eines ursprünglichen Satzes lesen, der vielleicht lautete: Lasst uns ein Haus bauen!, Bauen wir ein Haus!, oder Hausen wir im Bau! Dann hätte ­Bauhausen die archaische oder animalische Anmutung der Bewohnung eines Baus, wie ihn sich Tiere anlegen. Aber auch Sätze wie Bauen für das Hausen sind annehmbar. Im Sinne der Wortkunsttheorie, wie sie der Schriftsteller und Galerist Herwarth Walden, Herausgeber der Zeit­ schrift Der Sturm, seit 1919 propagierte, hätte es sogar ursprünglich Sätze geben können wie Hauen wir einen Baus! oder Bausen im Hausen saust. Denn Wortkünstler erzählen und beschreiben nicht, sondern gestalten Worte rhythmisch als einzeln und zusammenklingende Energien, de­ ren Medium der Dichter ist. Eine Annäherung an das Bauhaus als Schule der Spracherneuerung und eine Erkundung der Bauhäusler als Dichterinnen und Dichter ist bis­ lang (außer bezüglich der Dichtkunst von Paul Klee und Wassily ­Kandinsky) kaum betrieben worden. Dabei ist es naheliegend, dass es an dieser ganzheitlich orientierten Schule, die so viele verschiedene Künstlerpersönlichkeiten anzog, auch viele Poet/innen und Schrift­ steller/innen gab. Viel Material liegt noch in Nachlässen und Archiven verborgen oder ist vergessen, manches davon wohl zu Unrecht. In den 1920er Jahren kam kaum eine der Avantgarde-Zeitschriften in Deutsch­ land und Europa ohne Gedichte aus. Denn in Poesie und Sprachkunst ließ sich Vielschichtigkeit und Ambivalenz des erst vage Erahnten, kom­ menden Neu-Seins oft besser fassen als in Bildern und Programmen. Nicht zuletzt deshalb galt für Walden die Wortkunst, wie er die Dichtkunst neu definierte, als Schlüsseldisziplin der freien Geistentwicklung. Worte sollten als elementare ästhetische Eigenwerte und jenseits ihrer Begriff­ lichkeit verwendet werden. Walden strebte nichts Geringeres als eine

Weltwende hin zu einem ganzheitlichen Neuen ­Menschen an, die der Ex­ pressionismus als Kunstwende vorbereiten sollte. Diese Vision prägte auch das frühe Bauhaus. Als Walter Gropius 1919 BAUHAUS in die Be­ zeichnung der von ihm in Weimar gegründeten Schule für Avantgardis­ ten, das Staatliche Bauhaus in Weimar, einschrieb, manifestierte er da­ mit den Aufbruch in die Moderne auch als poetischen, der dem des Sturm und dessen Programm nicht nur nahestand, sondern dieses ge­ radezu vollzog. Bevor Gropius 1919 enthusiastisch BAUHAUS aufschreiben konnte, hat­ te er seit 1918 in verschiedenen Texten mit ähnlichen Worten gespielt wie Baurunde und Bauloge. Seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg hatten ihn in den Grundfesten seiner Überzeugungen erschüttert. Er suchte nach einem beeindruckenden und aufrüttelnden Wort für das von ihm im radikalen Neuanfang ersehnte zukünftige Zusammenwirken aller Künste und Künstler, so wie in den Bauhütten des Mittelalters in enger persönlicher Fühlung der Künstler aller Grade die gotischen Dome entstanden. Zu dieser Gemeinschaft gehören sollten Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter. Statt Bauhütte sollte es zunächst Baurunde oder Bauloge heißen. Bauloge gefiel ihm, weil damit die geistige Vorbereitungsarbeit im kleineren Kreis – ähnlich wie bei den Freimaurern – gut betont war. Gropius hatte sich dabei von Bruno Taut anregen lassen, der schon 1914 in Waldens Zeit­ schrift Der Sturm dazu aufge­rufen hatte: Bauen wir zusammen an einem großartigen Bauwerk! An ­einem Bauwerk ... in dem die Architektur wieder in den andern Künsten aufgeht. Inspiriert auch durch seinen Schriftsteller-Freund und Bau-Fantasten Paul Scheerbarth, entwickelte Taut seine Vision kommender Baukunst auch in neuen Worten. Überschwänglich be­ schrieb er den Umbau ganzer Gebirge mit Glas als Alpine Architektur, Kristallhäuser als Stadtkronen und dichtete eine Symphonie über den Architekten als Weltbaumeister. Im Sturm hatte schon 1912 auch der spätere Bauhausmeister­­ Wassily Kandinsky für seine Programmschrift Über das Geistige in der Kunst ­geworben, in der er forderte, Worte und Buchstabenlaute befreit von ihrer oberflächlichen Bedeutung zu verwenden. So, wie er seine Bilder abstrakt aus Punkten, Linien, Farbflächen in Analogie zur ­Musik ­komponierte, sollten auch Gedichte nur aus dem klanglichen ­Material der Sprache hergestellt werden können. Seine Wortkunst demon­strierte Kandinsky in seinem Gedichtband Klänge. Hier ein Auszug ­daraus:


28 Gesicht. Ferne. Wolke. … … Es steht ein Mann mit einem langen Schwert. Lang ist das Schwert und auch breit. Sehr breit. … … Er suchte mich oft zu täuschen und ich gestehe es: Das ­­geLang ihm auch – das Täuschen. Und vielleicht zu oft. … … Augen, Augen, Augen … Augen … Für Herwarth Walden galt solcherart Radikalität der sprachlichen Ver­ fremdung als Grundmodell seiner vor allem ab 1919 im Sturm ­intensiv propagierten Wortkunsttheorie. Das Gedicht BAUHAUS ­entspricht dieser im Grunde genommen perfekt. Es ist ein maximal verdichtetes, alles sagendes rhythmisches Wort mit einzigartigem Klang. Über das Begriff­ liche in der Dichtung schrieb er 1918: Wenn das einzelne Wort so steht, daß es unmittelbar zu fassen ist, so braucht man eben nicht viele Worte zu machen … Und jedes Wort ist edel, wenn es Wort ist … Der äußere Ausdruck ist die innere Geschlossenheit. Solch eine innere Geschlossenheit hat auch BAUHAUS, ganz wie Walden forderte: Der Ton bestimmt … und das einzelne Wort lebt. Mit der Berufung von Künstlern aus dem Sturm-Kreis (Lyonel Feininger, Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Paul Klee, László ­ ­Moholy-Nagy, Georg Muche, Oskar Schlemmer und Lothar Schreyer) nach Weimar übertrug Gropius bewusst den geistigen Zusammenhang zum Sturm-Kreis in seine Schulgründung. Mit Paul Klee gehörte dazu ein Sturm-Maler, der wie Kandinsky regelmäßig Gedichte verfasste und seine Bilder oft mit worttheoretisch unzweifelhaften Zwei- oder Ein­ wort-Gedichten betitelte wie: Schwarze Schiffe Beflaggte Stadt Morgen Grau Versiegelter Mund Seelenwanderung Siebzehn irr oder Nachtfaltertan Unstern Wasserpflanzenschrift Rundkopf Spiralschraubenblüten Ausgesetzt

Dichterinnen am Rande

Ich tanze auf allen Wegen In alle dunklen Straßen Will ich mich stürzen. Ich grüße alle Menschen In allen Häusern Hinter den Fenstern In allen Stuben. Vor mir ein grünsilberner Himmelsstreif Hinter mir der aufgehende Mond.

Als Gropius mit Lothar Schreyer 1921 einen expliziten „Wortkünstler“ aus dem Sturm-Kreis, der von 1916 bis 1928 zudem als Redakteur der Sturm-Zeitschrift wirkte, zum Leiter der neu gegründeten Bühnen­ werkstatt an das Bauhaus berief, wurde die Dichtkunst erstmals Teil des Unterrichtsprogramms. Schreyer hatte schon für die 1918 gegrün­ dete Sturm-Bühne ein eigenes Klangsprechen entwickelt, dass er dann auch von 1921 bis 1923 mit den Studierenden der Bühnenwerkstatt am Bauhaus praktizierte. Im langsamen, laut- und atmungsbetonten Spre­ chen der von Schreyer vorgelegten Texte sollten tiefsinnige geistige Zusammenhänge der Laute und Wortbildungen erlebt und triebrichtig erkannt werden können. Zum Beispiel indem man entsprechend einem von Schreyer entworfenen Spielgang in einer Mischung aus Lautmalerei und einer Art Sprechgesang artikulierte: Ewig sternt Erde den Himmel Kalt steint die Nacht Haar hängt der Mond ins Grab. Am Ende konnte Schreyer nur wenige Studierende für das Klang­sprechen seiner Texte begeistern. Diese Texte waren letztendlich zu kryptisch und individuell sakral empfunden. Den Bauhäuslern fehlte darin die Freiheit des ungewissen Experiments, in dem sich Neues eröffnet. Mit spielerisch angelegten Lautgedichten, wie sie z. B. Kurt Schwitters als Gast am Bauhaus einige Male vorgetragen hat, konnten sie eher etwas anfangen. Auch in den Lautgedichten von Christian Morgenstern, Raoul Hausmann und anderen vor allem mit dem Dadaismus verbundenen Wortkünstlern ließ sich darin eine befreite und befreiende Sinnlichkeit der Sprache entdecken, mit der es sich lohnt, abstrahierend und de­ komponierend zu spielen.

Ein wesentlicher Impuls für neue spielerische Eroberungen der Spra­ che wurden ab 1921 wesentlich die Unruhe stiftenden Aktivitäten des Niederländers Theo van Doesburg, der versuchte, das Bauhaus von des­ sen expressionistischen, im Sturm begründeten Ideen abzubringen und auf die Technik und Konstruktion betonende Kunstdoktrin des nie­ derländischen De Stijl einzuschwören.

Als am 14. April 1920 Else Lasker-Schüler als Prinz Jussuf von Theben beim ersten Bauhaus-Abend ihre Gedichte vortrug, war dies ein unge­ wöhnliches und für einige der Studierenden auch sehr verstörendes Ereignis. Lasker-Schüler hatte Herwarth Walden in zweifacher Hinsicht zu seinem Namen verholfen. Er hieß eigentlich Georg Lewin und auch die Zeitschrift Der Sturm hatte sie gemeinsam mit ihm gegründet. Dass eine Frau als Dichterin auftrat, die zudem ihre Lesung mit Geräuschen und einem leiernden, frei erfundenen Pseudo-Arabisch untermalte, schien insbesondere einigen männlichen, national und konservativ ge­ sinnten Studenten zu viel, die daraufhin die Lesung und bald darauf auch das Bauhaus verließen. Künstlerische Exzentrik, geistige Radika­ lität und experimentelles Leben war etwas, was den Männern vorbehal­ ten bleiben sollte. Wagten Frauen es dennoch, konnten sie kaum auf Unterstützung und Halt in den männerbündisch angelegten Zirkeln der Avantgarde hoffen. So publizierte Lucia Schulz, ab 1921 Lucia Moholy, ihre Gedichte unter dem geradezu lächerlichen Pseudonym Ulrich ­Steffen. Ihr lyrisches Bekenntnis Symbole erschien 1919 in der Zeit­ schrift Freideutsche Jugend. Darin heißt es:

Im Atelier des Bauhausschülers Karl Peter Röhl entstand sogar eine eigene kleine Stijl-Gruppe Weimar. Der Bauhausschüler Werner Graeff, mit Roehl einer der De-Stijl-Propagandisten in Weimar, dichtete hier mit Für das Neue auch ein Manifest:

Im Kosmos der Einheit ist der Leib nicht mehr Tempel der Gottheit, sondern ihr Körper. Leib und Seele sind gleichen Grundes Wurzel, sind eins. Wir kennen nicht einen geisteshaften Inbegriff einer leibhaftigen Welt ... Wir sind Gott ... Dem im Sein schwingenden Menschen ist die Sprache Seins-Erscheinung ... Mit der Welt, die ich bin, kann kein Symbol mich mehr verbinden.

Das Bauhaus reagierte auf den Stimmungswechsel und Gropius erklär­ te wenig später Kunst und Technik – eine neue Einheit als neue Parole und Zielsetzung. Und Josef Albers fasste die damit verbundene neue Idee der Sprachgestaltung zusammen: Wir leben schnell und bewegen uns so. Wir gebrauchen Stenogramn und Telegramm und Code ... Wir sprechen knapp. Knapp gestaltet entwickelte so auch der Architekt und Bauhaus-Schüler Gün­ ter Hirschel-Protsch seine Gedichte, die er 1925 unter dem Pseudonym Hispro in der Zeitschrift MA (Sonderausgabe Junges Schlesien) veröf­ fentlichte:

Eine andere Dichterin am Bauhaus war Marianne Brandt. Veröffentlicht hat sie ihre Gedichte nie. 1923 schrieb sie in Weimar:

Klangsprechen

... Es schmerzt Euch, einen Gasometer, in der übrigens schönen Landschaft zu sehen? Wir lachen! Allerdings: Wir haben ja auch mehr als Ihr. Denn wir lieben den Kontrast. Ihr habt nur die schwankenden Halme, die bunten Schnecken, Igel, Nachtigallen, die Erdbeeren, Meer und Pinguine. Die haben wir auch. Aber die Räder stören Euch und die Geschwindigkeiten und die schnurgeraden Linien. Uns nicht! ... (Auszug)

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29 ich sitze verquer durch den raum baumloses astet und gilbt ich lasse den raum und schüttle den raum und bebe den raum und höhe den raum leere stöhnt leere weitet leere fruchtet Angst Oskar Schlemmer, der 1923 Lothar Schreyer als Leiter der Bauhaus­ bühne abgelöst hatte, betonte 1927 nun in Dessau, dass für ihn immer noch Wort, Laut, Sprache ... vielleicht sogar das wichtigste Element seiner Ex­ perimente sind. Gleichwohl er von der optischen Gestaltung der Sze­ nerie ausging und zunächst mit dem stummen Spiel von Geste und Bewegung begann, war er davon überzeugt, daß sich daraus eines Tages mit Not­wendigkeit das Wort entwickle. Aber der Sprachton müsse gänzlich unliterarisch, un­ voreingenommen hineinkommen und elementar erarbeitet werden. Manchmal begnügte sich Schlemmer auch mit einem chorischen ­Sprechen des Alphabets – z. B. um einer Szene etwas sprachlich-rhyth­ mischen Klang zu geben. Damit konnte dann wiederum ein freies Spiel mit etwas bedeutungsvoll anmutenden Wörtern eröffnet werden. Dies zeigt z. B. ein Ausschnitt aus dem Textfragment zum ersten Akt des Projektes Haus Py oder das Sternenheim, das im Sommer 1927 als erstes Stück auf der Bauhausbühne probierend entwickelt werden sollte. Es spricht der Astrolog: 3 479 A Z 2-5-9-3. Haus – fallendes Haus – das ist sehr interes­ sant, ungünstig für Hochzeit, Viehzucht, Nieren ... ungünstig für alles, was oben kurz, und unten lang ist, Verkehr mit Höherste­ henden – Liebesverhältnisse – Vorsicht! – Schienbein, After, Blase ... Eckhaus – große Kurve – hm! Überschneidet Zwillinge. – Welche Zeit? Es ist jetzt genau: 8 Uhr 10 Minuten 3-7 = 37 Sekunden und eine halbe. Wollen mal sehen – die Konstellation von gestern müsste heut wieder zu sehen sein – na, wo steckt er? – Da – Nein! – Saturn – hier – Aha! – Sonderbare Sache das! – immerhin – er leuchtet! ...

Eigentlich bin ich Teig. Mein Kneter ist die Zeit. Als ich vor einem halben Jahr ans Bauhaus kam, war ich zu einer mit Motiv­ chen verformten Fassade geformt. Heute bin ich ein roter Würfel (rot ist „das Kochen in sich“, wie ich dann gelernt habe). Jeder, glaube ich, der ans Bauhaus kommt, erlebt eine solche Wandlung. Die innere Temperatur hängt allerdings vom Siedepunkt des Einzelnen ab. Und das ist der ganze Witz ... Ach du bist noch nie im Bauhaus-Tanz untergegangen? Noch bist du ein gewöhnlicher Erdenwurm, noch hast du nicht das Shakespearesche Rätsel vom Sein oder Nichtsein zu lösen vermocht. – Das Nichts und die Unendlichkeit – hast du sie je in einem erleuchteten Moment deines Daseins erfassen können? ... Hörst du die Klänge der Ziehharmonika, siehst du dort das taumelnde Lam­pion? – dort wandelt sich das Leben durch die silbergefüllten Schluchten, bewegt sich an den dunklen Bäumen vorüber, welche noch schöner sind als die schönste Theaterdekoration.

Dieser Text verdankt sich der Idee und Anregung von Linda Pense sowie der redaktionellen Mitarbeit von Janek Müller. Eine frühere Fassung erschien in Edit. Papier für neue Texte 73 (Leipzig, Herbst 2017) unter dem Titel „Wir sind! Wir wollen! Und wir schaffen! BAUHAUS und andere Wortkunst für das Neue“.

Torsten Blume ist wissenschaftlicher und künstlerischer Mitarbeiter der Stiftung Bauhaus Dessau. Sein Forschungs- und Arbeitsschwerpunkt ist die historische Bauhausbühne. Er ist Leiter des Programms „Bauhaus Open Stage“, das deren methodische Ansätze in Workshops und Seminaren, den „Leibesübungen für Gestalter“, für die Gegenwart fruchtbar macht.

Aus solchen Spielen mit der Sprache entstand 1927 auch Schlemmers Quadrat-Gedicht: Das Quadrat Es geschah Es war da Über Nacht war’s gemacht War nicht mollig war nicht rund War nicht ockig war nicht bunt Es war voller Pracht Das Quadracht. Scheinbar wenig war es viel Es war Stil und Weltgefühl Scheinbar war gar nichts dabei Dennoch: ein Columbusei Blinde wurden plötzlich sehend Lahme wurden plötzlich gehend Fast an jedem zeigen Spuren sich von richt’gen Quadraturen Wo Quadrat ist auch ein Wille Man tanzt nur noch die Quadrille Nicht genug mit diesem Reiz Bringt es auch das Fadenkreuz. Fort mit allem Eigendünkel! Glück ist nur im rechten Winkel In diesem Zeichen wirst du siegen Sterben oder Kinder kriegen. Weil am Bauhaus – so Oskar Schlemmer 1927 – alles vom Grundsätzlichen, Elementaren her zu unternehmen sei, wären auch das Wort und seine gestaltete Form, sowie Sprache und Dichtung wichtige Probleme, d.h. Gegenstand nicht leicht zu nehmender Auseinandersetzung. Deshalb gehörte das Gedichte-­ Schreiben und das forschende Spielen mit Sprache und Sprechen selbstverständlich zu dieser Schule. Die Wortkunst des Sturm war dabei in den ersten Jahren ein wesentli­ cher Katalysator und ein prägendes Modell für ein bauhaustypisches paradoxes Miteinander von irrationaler Spiritualität und dem Hang zu strenger Analyse. Mit expressivem Pathos, dadaistischer Blödsinnigkeit oder blankem Übermut hat sie ihr Regelwerk aber immer wieder auf­ gesprengt und damit alle Deutungsmöglichkeiten immer wieder ge­ öffnet. So schrieb dann der Bauhaus-Student Xanti Schawinsky 1924 ­fassungslos:

BAUHAUS 2019 Die vierzehn Jahre, in denen das Bauhaus in Weimar, Dessau und Berlin geöffnet war, wirkten als fulminante Initialzündung in der Geschichte der Architektur, der Kunst und des Designs des 20. Jahrhunderts. Damals wie heute lauten die brisanten Fragen: Welche Rolle spielen Kunst und Kultur, um die schöpferischen Kräfte von Individuen freizusetzen? Wie wollen wir in Zukunft das Zusammenleben gestalten? In welchen Häusern? In welchen Städten? Aus Anlass des 100jährigen Bestehens des Bauhaus im Jahr 2019 fördert die Kulturstiftung des Bundes ein umfangreiches Gesamtprogramm, in dem das historische Erbe, die internationale Wirkung und die zeitgenössische Relevanz des Bauhaus bundesweit zur Geltung kommen sollen. „Bauhaus 2019“ gliedert sich in drei Teile: das Jubiläumsprogramm im Bauhaus Verbund mit einer Vielzahl von Ausstellungen in ganz Deutschland, den antragsoffenen „Fonds Bauhaus heute“ sowie „Bauhaus Agenten“, ein Vermittlungsprogramm für die Bauhaus Museen. Die Kulturstiftung des Bundes fördert das Programm Bauhaus 2019 in den Jahren 2016 bis 2021 mit insgesamt 17,2 Mio. Euro. www.kulturstiftung-bund.de/bauhaus2019


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Die andere Bibliothek BRIEF AN EINE ALTBEKANNTE

Richard David Lankes

Liebe Bibi, Du bist nicht die einzige Bibliothekarin, die sich Sorgen um die Zukunft der Bibliotheken macht. Entweder bekommt man gesagt, Büchereien seien altmodisch oder überflüssig geworden, oder man hört, dass Bibliotheken in Zukunft eher als eine Art Stadtteilzentrum fungieren sollen, eher Erlebnis­ se als Lesefähigkeit und Bildung vermitteln sollten. Du ­ fragst Dich, warum wir eigentlich ein neues Bibliothekswesen benötigen, das die Rolle der Büchereien – und Deine eigene – in einer modernen und diversen urbanen Gesellschaft neu denkt. Können Bibliotheken nicht einfach stille Lese-Zufluchts­ orte sein? Warum kann man sie nicht in Ruhe lassen? Warum will man Dich dazu bringen, Dein angestammtes Umfeld zu verlassen und Dich auf komplexe – und beängstigende – Diskussionen über Integration und Nationalismus und soziale Sicherheitsnetzwerke einzulassen? Meine Antwort soll Dir Mut machen und Dein Selbstbe­ wusstsein stärken: Weil die Gesellschaft uns braucht, weil es nur wenig andere gibt, die ihr auf diese Weise helfen können, und weil das Bibliothekswesen schon seit über viertausend Jahren eine Mission hat. Bibliotheken und die, die sie bauen und betreiben, haben von alters her die Aufgabe, die Gesell­ schaft klüger zu machen. Im antiken Alexandria war der Leiter der großen Bibliothek gleichzeitig Berater der Könige. Im Mittelalter nährten die Bibliotheken die Seelen und den Verstand der Menschen. Der Exkurs in die Geschichte ist wichtig, damit klar wird, in welcher großen Tradition wir stehen: Die Renaissance kam einer Wissensexplosion in der Gesellschaft gleich – nicht Bücher oder Schriften, die Werkzeuge des Wissens, sondern

Auffassungen über Kunst und das Rechtswesen und die Gesellschaft verbreiteten sich. Die Bibliotheken waren die Forschungslabore der Philosophen. Auch in der Aufklärung, der Reformation oder im Internetzeitalter findet man überall Bibliotheken und Bibliothekare. Und wir brauchen aus demselben Grund eine neue Art des Bibliothekswesens, aus dem wir Geschichte in Jahrtausenden messen: Unsere Gesellschaft verändert sich und steht neuen Chancen und Herausforderungen gegenüber – und ist angewiesen auf Bibliotheken und Bibliothekare, die sich diesen ebenfalls stellen. Niemand verlangt von Dir, Deine Arbeit und Deine Erfahrung über den Haufen zu werfen und von vorne anzu­ fangen. Man muss beides nur anders und neu einsetzen. Seit mehr als einem Jahrhundert sind Bibliothekare hauptsächlich damit beschäftigt, Material zu sammeln und es öffentlich zugänglich zu machen. Dieses Bibliothekskonzept geht auf Vorstellungen zurück, die in der industriellen Revolution ihren Ursprung hatten. Wir haben uns bemüht, Bibliotheken auf Normen und Effektivität hin auszurichten, damit eine Bücherei in Berlin genauso funktioniert wie eine in Hamburg oder New York oder Kairo. Damit waren wir nicht allein. Auch unsere Schulen und sogar unsere Regierungen folgten dem Konzept des Fließbands. Jetzt ist es an der Zeit, wieder auf das zu bauen, was viel mehr wiegt als Effektivität: Wie Menschen ihren Sinn im Leben finden. Du, Bibi, musst Dir klarmachen, dass das, wofür Biblio­ theken stehen, nicht Bücher oder Datenspeicher oder Computer sind, sondern Gesellschaft, Gemeinwesen. Die Bücher und das Gebäude sind gute Werkzeuge, aber sie sind nur Streichhölzer, die den Geist der Gesellschaft entzünden. Unser Ziel sollte nicht sein, alles zu sammeln, was unsere Gesellschaft braucht, sondern eine klügere, bewusstere und


31 offenere Gesellschaft in die Welt zu entsenden. Bibliotheken werden weiterhin Orte kulturellen Erbes sein – einer leben­ digen und dynamischen Kultur. Und eines Erbes, das wächst und ständig neu betrachtet wird. Die Menschen, die in Deine Bibliothek kommen, sind keine Konsumenten, die unterhalten oder informiert werden wollen. Sie wollen, dass ihr Leben eine Bedeutung hat. Sie wollen lernen, teilen und teilhaben, die Ingenieure, Klemp­ ner, Musiker, Anwälte und viele andere. Diese Menschen bilden den Bestand einer Bibliothek, und der ist viel groß­ artiger als alles, was in den größten Bibliotheken der Welt angesammelt wurde. Denn sie können etwas, das keine Staatsbibliothek oder die Bücherei des Vatikans kann: neues Wissen schaffen. Und vor allem kann dieser Bestand mehr für sich und seine Nachbarn tun als jeder Text, wie erhaben er auch sein mag: Er kann die Welt zum Besseren verändern. Der eigentliche Bibliotheksbestand, das sind die Bürger von heute und die Führungspersönlichkeiten von morgen. Stell Dir einfach vor, Deine Bibliothek wäre kein Rück­ zugsort, sondern ein Motor für Veränderung. Stell Dir vor, man könnte dort den Terror bekämpfen, weil jeder Nachbar den anderen kennt. Stell Dir vor, man könnte die Demokratie schützen, indem man die Wähler dazu befähigt, Propaganda von vertrauenswürdigen Quellen zu unterscheiden. Stell Dir vor, die Dienstleistung von Bibliotheken bestünde darin, durch die Vermittlung von Fähigkeiten und Wissen und die Stärkung des Selbstwertgefühls zur Armutsbekämpfung beizutragen. Egal, wie arm man ist, die Würde des Lernens kann einem niemand nehmen. Des Lernens aus Büchern, von YouTube oder Freunden. Mir ist klar, dass Du Dir deswegen nicht weniger Sorgen machst. Wahrscheinlich wirst Du bei diesen hochfliegenden Gedanken eher noch nervöser. Doch Du bist nicht allein, sondern schon Teil einer Bewegung. Bibliotheken in den Niederlanden rüsten Busse mit 3D-Druckern, FabLabs und WLAN aus, um mit Studierenden in entlegeneren Gegenden des Landes Kontakt aufzunehmen. In den USA fungieren Bibliothekare als soziales Sicherheitsnetz für obdachlose Familien. In der Schweiz helfen Bibliothekare mit Sprachkur­ sen und Wohnungsvermittlungsangeboten neu angekomme­ nen Immigranten, sich in die Gesellschaft zu integrieren. In Italien nutzen die Städte ihre öffentlichen Bibliotheken zur Erhaltung antiker Schriften und als Lernorte für Univer­ sitätsstudenten – so entsteht nebenbei eine neue Piazza. In einer Stadt nach der anderen, einem Land nach dem anderen und einem Kontinent nach dem anderen haben die öffent­ lichen Büchereien ihre Tore geöffnet und die Menschen hereingebeten, in diesen neuen öffentlichen und gesellschaft­ lichen Raum, während umgekehrt die Bibliothekare auf die Menschen zugehen. Und dabei sind diese Bibliothekare gar nichts Besonde­ res. Sie verfügen über die gleichen Mittel und Fähigkeiten wie Du. Ist das beängstigend? Vielleicht. Aber es ist nicht umsonst. Wenn sie ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten für die Bildung und die Menschen einsetzen, dann tun die Bibliothekare nicht nur Gutes, sie bringen den Menschen diesen Beruf auch wieder näher. Man sieht uns nicht mehr als tatenlose Bücherwürmer, sondern als wichtige Berater. Liebe Bibi, ich weiß, dass die Veränderungen, die von den Bibliothekaren verlangt werden, beängstigend oder nervig oder belebend oder frustrierend wirken mögen, oder auch alles zusammen. Aber eines solltest Du Dir bewusstmachen: Was aus den Bibliotheken wird, hängt letztendlich von Dir und den Menschen ab, für die sie da sind. Unsere Gesellschaft braucht dringend engagierte Berater, die ihr helfen, klügere Entscheidungen zu treffen. Die Mittel, die man dafür ein­ setzt, sind vielleicht andere geworden, aber ihre Aufgabe, die Gesellschaft durch Bildung zu verbessern, bleibt letztlich gleich. Das war so, als Du zum ersten Mal einen Schritt in die Bibliothek setztest, und das wird auch noch so sein, wenn Du mit der Bibliothek auf die Menschen zugehst. Bibi, Kopf hoch, Du machst das schon! Herzlich, Dein David Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

Richard David Lankes ist Professor für Bibliothekswissenschaften und Direktor der School of Library and Information Science der University of South Carolina USA. 2017 erschien auf Deutsch Erwarten Sie mehr! ­Verlangen Sie bessere Bibliotheken für eine komplexer gewordene Welt, hrsg. und mit ­einem Vorwort von Christoph Hobohm (­ Simon Verlag für Bibliothekswissen), eine Streitschrift für den Wandel von der Bibliothek für die Menschen zu einer Bibliothek der Menschen, der Community.

STADTBIBLIOTHEKEN – RAUM FÜR VERÄNDER­UNG Im Vergleich zum Theater oder dem Konzertsaal gelten Stadtbibliotheken als besonders informell und niedrigschwellig: Sie stehen jedermann, Erwachsenen und Kindern, offen, sie liegen üblicherweise inmitten der Städte und ihr Besuch ist mit geringen bis keinen Kosten verbunden. In den Stadtgesellschaften der Gegenwart könnten öffentliche Bibliotheken mit einem erweiterten Angebot eine prominente Rolle übernehmen, wenn es darum geht, wichtige Medienkompetenzen zu vermitteln sowie die Chancen auf kulturelle Teilhabe gerechter zu verteilen. Als städtische, nicht-kommerzielle Orte bieten sie einen Raum für das Miteinander verschiedenar­ tiger Kulturen. Mit ihrem neuen Programm will die Kulturstif­ tung des Bundes diese neue Handlungsrolle von Stadtbiblio­ theken in Deutschland würdigen. Ein antragsoffener Fonds wird innovative Projekte von Stadtbibliotheken fördern, die dazu beitragen, diese als offene Orte der Begegnung zu etablieren. Programmbeglei­ tend dienen Workshops, Informationsangebote und Veranstaltungen der Vernetzung und dem internationalen Erfahrungsaustausch zwischen den Bibliotheken. Die Kulturstiftung des Bundes fördert das Programm für Stadtbibliotheken in den Jahren 2018–2022 mit 5,6 Mio. Euro. www.kulturstiftung-bund.de/ stadtbibliotheken


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Neue Projekte

Lorenza Böttner, Selbstporträt, Öl auf ­ Leinwand, 1980 (Privatsammlung)

Lorenza Böttner Leben und Werk 1959–1994 Die Retrospektive in Stuttgart und Barcelona wird den Nachlass der Künstlerin Lorenza Böttner um­ fänglich wissenschaftlich bearbeiten. Böttner war in mehrfacher Hinsicht eine besondere Künstlerin. Sie wurde als Ernst Lorenz Böttner in einer Fami­ lie deutscher Herkunft in Chile geboren. Im Alter von acht Jahren verlor sie durch einen Unfall beide Arme und siedelte zwölfjährig mit ihrer Familie in die Nähe von Kassel über, u. a. um sich dort einer Reihe von plastisch-chirurgischen Operationen zu unterziehen. In ihren künstlerischen Arbeiten spie­ len sowohl die Ausgrenzungserfahrungen durch die Behinderung, die HIV-Erkrankung als auch ihr Le­ ben als Transgender eine prägende Rolle. Böttner gelang es, trotz der Behinderung an der Kasseler Kunsthochschule Malerei zu studieren. In ihrer Kunst verschwimmen die Grenzen zwischen Alltag und Performance, Straße und Bühne, Malerei und Tanz, Weiblichkeit und Männlichkeit. Ihre Arbeiten gehen offen mit homo- und transsexuellen Fanta­ sien um und feiern den „versehrten“ als einen ero­ tischen Körper. Mit rund 200 Arbeiten und persön­ lichen und politischen Dokumenten wird die Ausstellung Böttners Leben und Schaffen zeigen und konservatorisch und restauratorisch aufarbei­ ten. Erstmals soll so ihr Nachlass aus Fotografien, Zeichnungen, Malerei, Videos und Performance-­ dokumentationen als große Gesamtschau gezeigt werden. Die Arbeiten von Böttner werden darüber hinaus auch ins Verhältnis zu zeitgenössischen Po­ sitionen anderer Künstlerinnen und Künstler ­gesetzt. Die Schau wird gemeinsam vom Kunstzen­ trum La Virreina in Barcelona und dem Württem­ bergischen Kunstverein in Stuttgart organisiert, Kurator ist Paul B. Preciado. Er hat für die docu­ menta 14 erstmals Arbeiten von Böttner gezeigt und gilt als ausgewiesener Experte für ihr Œuvre. Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog, ein Rahmenprogramm mit Vorträgen ergänzt die Ausstellung. www.wkv-stuttgart.de

Künstlerische Leitung: Paul B. Preciado (ES) La Virreina Centre de la Imatge, Barcelona: 8.9.–23.12.2018; Württembergischer Kunstverein, Stuttgart: 23.2.–5.5.2019

Die interdisziplinäre Jury der Allgemeinen Projektförderung hat auf ihrer letzten Sitzung im Herbst 2017 39 neue Förderprojekte ausgewählt. Die Fördersumme beträgt insgesamt 6 Mio. Euro. Ausführlichere Informationen zu den einzelnen Projekten finden Sie auf unserer Webseite www.kulturstiftung-bund.de oder auf den Webseiten der geförderten Projekte. Nächster Antragsschluss für die Allgemeine Projektförderung ist der 31.7.2018. Die Mitglieder der Jury sind: Dr. Manuel Gogos, Autor und Ausstellungsmacher / Björn Gott­ stein, Leiter der Donaueschinger Musiktage / Bart van der Heide, Chef-Kurator des Stedelijk Museums in Amsterdam / Wolfgang Hörner, Leiter des Verlags Galiani Berlin / Prof. Dr. Gerald Siegmund, Direktor des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen / Susanne Titz, Direktorin des Museums Abteiberg in Mönchengladbach / Almut Wagner, Geschäftsführende Dramaturgin Schauspiel am Theater Basel

Mit Gefühl Internationales Figurentheaterfestival Das Festival lädt Figurentheater aus 25 Ländern nach München ein und stellt das Fühlen und die Sinneseindrücke in den Fokus. Sehen und Hören stehen meist im Mittelpunkt von Theaterinszenie­ rungen, hier sollen aber auch die anderen Sinne wie das Riechen und Fühlen angesprochen werden. Be­ sondere theatrale Effekte entstehen, wenn be­ stimmte Sinneseindrücke plötzlich fehlen oder iso­ liert werden. Hier setzen viele der eingeladenen Inszenierungen an: eine Puppentheaterperformance fordert beispielsweise mit der „Hinrichtung“ von Figuren das Mitgefühl, vielleicht das Einschreiten der Zuschauer heraus. Das britische Hijinx Theater arbeitet mit Schauspielern mit Lernbehinderungen, das Sandglass Theater aus Vermont zeigt eine In­ szenierung, die aus Workshops mit Demenzkranken entstanden ist und Ari Teperberg aus Jerusalem zeigt mit dem „Golden Delicious Ensemble“ eine Performance, in der die blinde und taube Aktivistin Helen Keller im Mittelpunkt steht. Das Münchner Stadtmuseum beherbergt weltweit eine der größten Spezialsammlungen zum Puppen­ theater. Der Figurenspieler und -bauer Frank Soehnle ist im Rahmen des Festivals eingeladen, das Festivalthema in ganz besonderer Form aufzu­ greifen. Soehnle wird eine eigene Ausstellung mit Objekten aus der Sammlung des Münchner Stadt­ museums konzipieren und diese mit eigenen Figuren kombinieren. Seine künstlerische Arbeit steht in besonderem Maß für die Grenz­ überschreitungen des Figuren­ theaters hin zu Musik, Performance und Bildender Kunst. Publikum­s­ gespräche, Workshops und Vor­ träge zum Festivalthema ergänzen das Programm, das sich an Erwach­ sene und an Kinder richtet. www.figurentheater-gfp.de

Künstlerische Leitung: Mascha Erbelding, Evelyn James Künstler/innen: Frank Soehnle, Pojūčiųteatras / Theatre of Senses (LT), Hijinx Theater (GB), Sandglass Theater (US), Ari Teperberg (IL), Theater Junge Generation Dresden / Ariel Doron (IL), Ulrike Quade ­Company (NL), Trickster-p (CH) Aufführungen, Performances, Installationen, Workshops, Vorträge – Münchner Stadtmuse­ um, Pasinger Fabrik, Schauburg, HochX, München: 17.– 28.10.2018; Ausstellung Frank Soehnle – Münchner Stadtmuse­ um: 18.10.2018–6.1.2019

Lorenza Böttner, o. T., Fotografie, Fotografie (Privatsammlung)


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Post Studio: CalArts 1970–1978 Ausstellung Kestner Gesellschaft Post Studio ist der Name des heute legendären Lehrstuhls, den der Künstler John Baldessari 1970 an der neu gegründeten Kunsthochschule Califor­ nia Institute of the Arts (kurz CalArts) ini­tiierte. Das Post Studio steht für die Idee einer Kunst, die sich vom Atelier löst und sich außerhalb, im Alltag ereignet. Mit dem CalArts verbinden sich in dieser frühen Phase progressive pädagogische Konzepte und feministische künstlerische Praktiken, die ­prägend für eine ganze Generation wurden. Viele der damals erprobten Ideen und Ansätze, etwa In­ stitutionenkritik, Bildkritik oder Feminismus, sind bis heute relevante Topoi der Kunst. Insofern mar­ kieren das CalArts und insbesondere das Post Stu­ dio die Institutionalisierung eines Paradigmen­ wechsels in der Kunst. In einer Ausstellung, einem Symposium und einem umfangreichen Forschungs­ vorhaben widmet sich die Kestner Gesellschaft in Hannover gemeinsam mit der Freien Universität Berlin und weiteren internationalen Partnern erst­ mals der historischen Aufarbeitung des Post Studio. Die Ausstellung stellt sowohl einzelne künstlerische Positionen vor, die den Lehrbetrieb prägten, als auch die damals praktizierten neuen Lehrmetho­ den. Erstmals sollen Lehrinhalte und Werke der prägenden CalArts-Jahre in einer Ausstellung zu­ sammengeführt werden. Interviews mit Zeitzeugen werden als Oral-History-­Beiträge in der Ausstellung zu hören sein. Die Ausstellung will die Aktualität der Ansätze des Post Studio besonders im Hinblick auf die Digita­ lisierung sichtbar machen: Inwiefern sind die da­ mals vertretenen Ansätze zur Loslösung der Kunst von Ort und Material relevant und hilfreich, wenn heute die Digitalisierung eine viel umfassendere Ortlosigkeit und Virtualität bewirkt hat – und dies nicht nur im Bereich der Kunst?

www.kestnergesellschaft.de

Projektkonzeption und Kurator/innen: Philipp Kaiser (US), Christina Végh Kooperationspartner/innen: Freie Universität Berlin: Annette Lehmann; Migros Museum Zürich: Heike Munder; California Institute of the Arts Los Angeles: Ravi Rajan; metaLAB Harvard University: Jeffrey Schnapp Künstler/innen: John Baldessari (US), Judy Chicago (US), James Welling (US) Kestner Gesellschaft, Hannover: 9.3.–26.5.2019

Landschaft, die sich erinnert / ­Remembering Landscape Ausstellung, Seminar, Begleitprogramm Unter Landschaft stellen wir uns noch immer ein ­ästhetisches Ideal vor – wenn auch keine unbe­ rührte Natur, so doch einen abwechslungsreichen, organisch gewachsenen Agrar- und Siedlungsraum. Landschaft wurde und wird aber auch durch Krieg, kommerzielle Ausbeutung, Grenzziehungen und Migration geprägt – die Ereignisse der politischen und der Wirtschaftsgeschichte sind in ihr an ­Verformungen, Ruinen und Besonderheiten der ­Vegetation ablesbar. Das Projekt des Museums für ­Gegenwartskunst Siegen stellt eine Reihe von künst­ lerischen Positionen vor, die sich diesen „traumatischen Landschaften“ widmen. Dabei werden zwei Pole verschränkt: zum einen die „Techno-Landschaft“, in der glo­ balisierte Industrie und Bergbau sowie Ur­ banisierung eine Restnatur übrig lassen, zum anderen die „Geschichtslandschaft“, in der Ruinen und Spuren Erinnerungen auslösen und die dadurch selbst zum Mahnmal wird. Die Ausstellung zeigt pri­ mär zeitgenössische Landschaftsbilder, aber auch historische Positionen. In den monumentalen Fotos von Luc D ­ elahaye zeigt sich die Erde als (Massen-)Grab. ­Susanne Kriemann und Alexandra Nav­ ratil thematisieren die Auflösung der pit­ toresken Landschaft in ökonomisch zu verwertendes Material. Auch Paul Virilios „Bunkerarchäologie“, die die deutschen Bunker des Zweiten Weltkriegs an der Atlantikküste kartografiert, wird erstmals wieder gezeigt. Zudem ist eine Gesamt­ publikation dieses fotografischen Pro­ jekts geplant. www.mgk-siegen.de

Künstlerische Leitung: Eva Schmidt, Kai Vöckler Kurator/innen: Branislav Dimitrijević (CS), Călin Dan (RO), Leen Engelen (BE) Künstler/innen: Marianna Christofides (CY), Luc Delahaye ((FR), Forensic Architecture (GB), Cyprien Gaillard (FR), Markus Karstieß, Anna Heinlein & Göran Gnaudschun, Anselm Kiefer, Aglaia Konrad (AT), Susanne ­Kriemann, Paul Virilio u. a. Museum für Gegen­ wartskunst, Siegen: ­10.6.–1.10.2018; MCA, Bukarest: 14.10.2018– 1.2.2019; MCA, Belgrad: 7.4.–30.7.2019; Luca School of Arts, Brüssel: 13.10.–31.12.2019

Marianna Christofides, Days in Between, 2015, Ein-Kanal-Full-HD-Video


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Keine Zuflucht für ­jüdische ­Flüchtlinge Die Flüchtlingskonferenz von Evian 1938

In the cut

Alicia Framis, Cinema Solo, 1996, Fotografie © courtesy the artist

Sexualität in der feministischen Kunst Sexualität spielte in der Kunstgeschichte von jeher eine bedeutende Rolle – als Bildthema ebenso wie als Motiv und Auslöser künstlerischer Produktion. Dennoch stellt der erotische Blick der Frau auf den Mann in der Kunst immer noch eine Ausnahme dar. Die Stadtgalerie Saarbrücken zeigt in dieser Aus­ stellung zur Sexualität in der feministischen Kunst Arbeiten von jüngeren Künstlerinnen ebenso wie wichtige Positionen der ersten Feministinnen-Ge­ neration: Louise Bourgeois, die sich in ihrem ­­Werk kritisch mit Geschlechterzuschreibungen und den damit verknüpften sexuellen Tabus auseinandergesetzt hat, oder Carolee Schneemann, die in ihren Film- und Videoarbeiten Lust und Erotik aus einer weiblichen Pers­ pektive untersucht. Mit Tracey Emin oder Sophie Calle präsentiert die Ausstellung Künstlerinnen, die in ihren Arbeiten immer wieder kri­ tisch und provozierend weibliche Lust, Intimität und gelebte Sexu­ alität thematisieren. Der zentrale Ausgangspunkt der Ausstellung sind die Fotoarbeiten von Herlinde Koelbl. ­Koelbls Männer-Bilder sind ein bis heute einzigartiger und ­mutiger Ausdru­ck eines künstleri­ schen und erotischen Interesses, das in dieser Form zum ersten Mal von einer Künstlerin umgesetzt wurde.

www.stadtgalerie-­saarbruecken.de

Künstlerische Leitung: Andrea Jahn Künstler/innen: Louise Bourgeois (US), Sophie Calle (FR), Tracey Emin (GB), Alicia Framis (ES), Herlinde Koelbl, Eunice Golden (US), Julika Rudelius, Betty Tompkins (US), Carolee Schneemann (US), Jana Sterbak (CA) Stadtgalerie Saarbrücken: 18.5.–30.9.2018

zfa.kgw.tu-berlin.de

Kurator: Winfried Meyer Mitwirkende: Irene Aue-Ben-David (IL), Wolf Gruner (US), Roland Bank u. a. Sonderausstellung Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin: 5.7.–15.10.2018; Online-­ Ausstellung: ab Oktober 2018; Internationales Symposium Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin: 20.9.2018

Rodin / Nauman Eine Ausstellung des Saarlandmuseums – ­Moderne Galerie

Tracey Emin, Beginning of the Inside, 2015 © Courtesy Tracey Emin und White Cube © Bildrecht, Wien 2018

Herlinde Koelbl, Männer (Frank Gewehr, New York), 1983 © courtesy the artist

Die Verfolgung und Vertreibung der jüdischen ­Bevölkerung des Deutschen Reichs begann unmit­ telbar nach der Machtergreifung der Nationalsozi­ alisten 1933. Bis 1937 hatte der NS-Staat rund 130.000 Juden rechtlich diskriminiert, wirtschaft­ lich ausgeplündert oder gesellschaftlich ausge­ grenzt. Viele von ihnen antworteten anfangs auf die Repressalien mit Emigration, oft unter ungewissen Aussichten. Das drohende Flüchtlingsdrama blieb der internationalen Staatengemeinschaft nicht ver­ borgen. Im Juli 1938 trafen sich Delegierte aus 32 Ländern und 39 jüdische und humanitäre Organi­ sationen im französischen Evian, um – vergeblich – nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen. Kaum ein Land war bereit, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen oder auch nur bestehende Quoten aus­ zuschöpfen – aus Angst vor dem Einfluss des Deut­ schen Reichs, aus politischem Kalkül oder gar eige­ nem Rassismus. Die Konferenz besiegelte damit das Schicksal vieler Juden, die in den folgenden Kriegs­ jahren den Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Während Europa erneut mit einer Flüchtlingskrise ringt, erinnert das Projekt an Voraussetzungen, Verlauf und Folgen der Konferenz. Zweifach – als physische und digitale Ausstellung – entworfen, wird die Präsentation zum 80. Jahrestag der Kon­ ferenz von Juli bis Oktober 2018 in der Gedenkstät­ te Deutscher Widerstand Berlin und später digital über die Websites der Veranstalter gezeigt. Um das Schicksal der Heimatlosigkeit der Juden nachvoll­ ziehbar zu machen, greift sie auf Texte, Ton- und Filmdokumente aus öffentlichen und privaten Ar­ chiven zurück. Ein Symposium, eine Reihe mit Spiel- und Dokumentarfilmen sowie ein Katalog ergänzen das Ausstellungsprogramm.

Die Ausstellung führt erstmals Werke Auguste ­Rodins (1840–1917) und Bruce Naumans (*1941) ­zusammen – zwei der einflussreichsten Künstler des 19. bzw. 21. Jahrhunderts. Ihr Wirken prägt den Diskurs sowohl über den Begriff der Kunst als auch über Skulptur und Raum. Die Schau, die u. a. auf Werke Rodins aus der Sammlung des Saarlandmu­ seums zurückgreift, nähert sich den Arbeiten dabei über Leitmotive, die für das Schaffen beider Künst­ ler zentral sind, wie z. B. Körper, Psyche und Raum. Obsessiv studieren beide den menschlichen Körper, immer wieder ist er Zentrum und Thema ihrer ­Werke. Was Rilke über Rodin schreibt, gilt ebenso für Nauman: „Der Körper ist für ihn die Seele.“ Ro­ din arbeitete mit Torso und Fragment, er erklärte das unvollendete Bruchstück zum autonomen Werk. Die Arbeit mit Fragment und Montage kenn­ zeichnet auch Naumans konzeptuellen Ansatz, der allen Medien und Techniken gegenüber ­aufgeschlossen ist – von der Skulptur bis zur


35 ­ ideoperformance. Den Wegbereiter der Moderne V in Frankreich und den amerikanischen Postmini­ malisten vereint ­insbesondere eine Gleichgültigkeit gegenüber herrschenden Vorstellungen von hand­ werklicher Perfektion oder Schönheit. Beide verste­ hen ihre Kunst als prozesshaft und unabschließbar. Die Schau zeigt Werke aus verschiedenen Schaf­ fensphasen der Künstler, ein umfangreiches Ver­ mittlungsprogramm mit Workshops, Gesprächen und Theater begleitet das Projekt. www.modernegalerie.org

Kurator/innen: Roland Mönig, Kathrin ­Elvers-Švamberk Künstler: Auguste Rodin (FR), Bruce Nauman (US) Saarlandmuseum – Moderne Galerie, ­Saarbrücken: 21.9.2019–26.1.2020

Fokus Lyrik Festivalkongress zur Gegenwartslyrik In den letzten Jahren ist es der Lyrikszene in Deutschland durch vielfältige Initiativen gelungen, ein wenig aus ihrem Schattendasein in der öffent­ lichen Wahrnehmung herauszutreten. Immerhin wurde im Jahr 2017 erstmals der Preis der Leipziger Buchmesse einem Lyriker, Jan Wagner, verliehen, der auch im selben Jahr den höchstdotierten ­Literaturpreis, den Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, erhielt. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Lyrik immer mehr ­Anerkennung als eigenständige Kunstsparte erhält. Zu den positiven, aber noch zu wenig gewürdigten Entwicklungen gehört, dass gerade eine jüngere Generation, nicht selten inspiriert von Poetry Slam, ­Hip-Hop, Performancekunst und Digitalisierung, Lyrik als künstlerische Ausdrucksform wieder-­ entdeckt und sie sub­ kulturell neu kodiert. Andere erproben Ver­ wandtschaften und Grenzüberschreitun­ gen zu Neuer Musik und Bildender Kunst und stellen so unter Beweis, welch sparten­ übergreifendes Ent­ wicklungspotenzial die zeit­ge­nössische Lyrik bietet. Trotz aller Er­ folge ­haben es Lyriker/ innen sowie ihre Ver­ lage und Veranstalter immer noch vegleichs­ weise schwer, sich im Kulturbetrieb zu be­ haupten und gegen i h re ö ko n o m i s c h e Marginali­s ierung an­ zukämpfen. Lyriker/ innen sind auf ein ho­ hes Maß an Selbstorga­ nisation angewiesen, wenn es um Publizität und ­Distribution geht. Der Festivalkongress will Impulse aus der Ly­ rikszene und ihren Netz­ werken aufgreifen und erstmals in Deutschland eine breite internatio­ nale Plattform zur Ver­ netzung und Positio­ nierung der Lyrikszene ­inkl. der Übersetzer/ innen ­gegenüber För­ Martin Mosebach, derern, Kulturpolitik,

­ ermittlungsinstanzen (Veranstaltern, Kritiker/in­ V nen), Bildungseinrichtungen (Schulen, Universitäten) und der Buchwirtschaft (Publikation, Vertrieb) bieten. Mit Tristan Marquardt und Monika Rinck konnte ein kuratorisches Team gewonnen werden, das die Ak­ teur/innen und unterschiedlichen Szenen, ihre Be­ dürfnisse und Desiderate bestens kennt und mit ih­ nen Szenarien zur Verbesserung der Situation ent­wickelt. Das künstlerische Rahmenprogramm soll eine Vielfalt von Möglichkeiten der Präsentation von Gedichten aufzeigen. Die Kombination aus Kongress und Festival verspricht eine nachhaltige Konsolidie­ rung der Lyrik in der Kulturlandschaft und gleichzei­ tig einen Durchbruch in der Anerkennung der Sprachkunst als eine der zurzeit innovativsten Kunst­ formen. www.kultur.frankfurt.de www.frankfurt.de

Künstlerische Leitung: Monika Rinck, Tristan Marquardt Lyriker/innen: Aleš Šteger (SL), Küçük İskender (TR), Lavinia Greenlaw (GB), Galina Rymbu (RU) u. a. Festivalkongress – Haus am Dom, Roemer 9, Theater Willy Praml sowie weitere Spielstätten, Frankfurt am Main: 7.–10.3.2019

Ins Blaue!

und Ausstellungsprojekt „Ins Blaue!“ geht davon aus, dass die moderne Gegenwartsliteratur ohne ihren Bezug zur Welt der Natur als Erfahrungsraum für Utopien kaum verständlich wird. Deshalb sei es umso erstaunlicher, dass eine „Literaturgeschichte der Natur“ noch nicht geschrieben wurde. „Ins Blaue!“ will sich der Bedeutung der Natur für un­ sere literarische Kreativität auf dreifache Weise nähern: als Zivilisationsgeschichte, als Fundus der Stilmittel und Motive und als Raum der kreativen Selbsterfahrung. In der Ausstellung im Literatur­ haus München werden namhafte und neu zu ent­ deckende Künstler/innen zeigen, wie sich Natur­ erfahrungen jenseits des Gewohnten durch Literatur geradezu provozieren lassen. Dazu wollen sie Fundstücke aus der Natur sprachlich neu er­ schließen. Als „Kunst- und Wunderkammer“ soll die Präsentation außerdem zu neuen Assoziationen und zum sensorischen Selbstversuch einladen und so eingeübte Vorstellungen des Wechselverhältnis­ ses von Literatur und Natur in Bewegung bringen. Dabei steht stets der globale Bezug zu dem – oft fragwürdigen – Umgang des Menschen mit der Natur im Mittelpunkt. Die Ausstellung soll nach München in weiteren Städten gezeigt werden. Ein Begleitprogramm wird unter anderem ein „Nature Writing Seminar“ in Zusammenarbeit mit dem British Council sowie Dialogveranstaltungen und Exkursionen umfassen. Ein Katalog begleitet die Ausstellung. www.literaturhaus-muenchen.de

Eine Ausstellung des Literaturhauses ­München zum Verhältnis von Literatur und Natur Seit Menschen schreiben, schreiben sie auch über Natur, in der Natur oder ist die Natur Teil ihrer Ge­ schichten. In jüngster Zeit scheint das literarische Interesse an ihr wieder zu wachsen: Das Literatur-

Leitung Literaturhaus: Tanja Graf Projektleitung: Karolina Kühn Kuratorin: Heike Gfrereis Künstlerische Beratung: Judith Schalansky Künstler/innen, Autor/innen: Zora del Buono (CH), Michael Fehr (CH), Arno Geiger (AT), Eva Menasse (AT), Martin Mosebach, Marion ­Poschmann, Teresa Präauer (AT), Josef H. Reichholf, Jan Wagner, Judith Zander u. a. Gestaltung: unodue Literaturhaus Galerie, München: 22.3.–7.10.2018

KP Brehmer (1938–1997) Retrospektive KP Brehmer gehört zu einer Generation von Künst­ lern, die sich seit den 1960er Jahren kritisch mit der Bildsprache der Bundesrepublik Deutschland ­auseinandergesetzt haben. Er untersuchte die bild­ nerischen, sprachlichen und filmischen Strategien und Kommunikationsformen der Massenmedien und öffentlicher Institutionen und reflektierte die von Werbung geprägte Alltagswelt der Bundes­ republik. So spielt etwa die Auseinandersetzung mit dem heute im Journalismus so wichtigen Bereich der Infografik in seinem Werk eine wichtige Rolle. In retrospektiven Gruppenausstellungen wird Brehmers Schaffen zumeist als eu­ ropäische, ­ironisch-subtile Variante der Pop Art dargestellt, wodurch wesentli­ che, innovative Dimensionen seiner Ar­ beit unbeachtet geblieben sind. Seine Präsenz bei internationalen Ausstellun­ gen wie in Istanbul 2009 oder Venedig 2013 belegen jedoch, dass seine Themen gerade auch für eine jüngere Künstlerge­ neration wieder an Aktualität und Rele­ vanz gewinnen. Kuratoren aus vier Museen – aus Nürn­ berg, Hamburg, Istanbul und Den Haag – haben sich zusammengeschlossen, um Kiesel mit Seepocken

Michael Fehr, ­ Kaninchenfell


36 diesen Künstler neu zu entdecken. Sie werden die Ausstellung gemein­ sam ­e ntwickeln und mit unter­ schiedlichen Schwerpunkten an allen vier Häusern präsentieren. Die Schau wird KP Brehmers künstlerische Auseinandersetzung zur Wirkmäch­ tigkeit massenmedialer Bilder mit ak­ tuellen ­Fragen nach der Verlässlich­ keit unserer Informationen und der Vertrauenskrise der öffentlich-recht­ lichen Medien („fake news“) zusam­ menführen. Die Ausstellung wird bis­ her unbekanntes Quellenmaterial erschließen und bislang ungezeigte Arbeiten erstmals öffentlich präsen­ tieren. www.nmn.de

Künstlerische Leitung: Eva Kraus Kurator/innen: Selen Ansen (TR), Daniel Koep (NL), Eva Kraus, Petra Roettig / Berater: René Block, Sebastian Brehmer / Ausstellungs­ architekt: Kilian Fabich Neues Museum Nürnberg: ­25.10.2018–3.2.2019; Hamburger ­Kunsthalle: ­15.3.–16.6.2019; ARTER space for art, Istanbul: 13.9.2019–12.1.2020; ­Gemeentemuseum, Den Haag: ­12.3.–28.6.2020

Edgar Archeneaux, An Arrangement without Tormentors, 2003, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen Magdeburg, Foto: Hans-Wulf Kunze

Slavs and Tatars Einzelausstellung und Lecture-­Performances Das Künstlerkollektiv Slavs and Tatars erforscht die Wechselbeziehungen und Verwandtschaften ver­ meintlich getrennter Kulturräume. In seinen re­ cherchebasierten Arbeiten widmet es sich beson­ ders dem „als Eurasien benannten Gebiet östlich der Berliner Mauer und westlich der Chinesischen Mauer“, in dem slawische, kaukasische und zen­ tralasiatische Einflüsse aufeinandertreffen. In In­ stallationen, Lecture-Performances, öffentlichen Interventionen und Künstlerbüchern verhandeln Slavs and Tatars Fragen von Glauben, Tradition und interkultureller Verständigung und deren politische Dimensionen. Mit der bisher umfangreichsten Einzelausstellung von Werken des Künstlerkollektivs möchte sich das Albertinum Dresden stärker als Haus für zeitgenös­ sische Positionen etablieren. Ein Schwerpunkt wer­ den die Themen Sprache, Fremdheit und kultu­relle Übersetzung sein. Die Sammlungen der Staatli­ chen Kunstsammlungen Dresden (SKD) sowie die Nähe zu Polen und Tschechien bieten dabei zahl­ reiche Anknüpfungspunkte für ein zusätzlich neu entstehendes Werk. In Auseinandersetzung bei­ spielsweise mit dem Dresdner Damaskus-­Zimmer, den Sammlungen des Volks- und Kunstgewerbe­ museums oder des Grünen Gewölbes möchten Slavs and Tatars das Globale im Lokalen, das ­Damals im Heute sichtbar machen. Die Lecture-­ Performances werden an verschiedenen Orten in Dresden und in den Museen der SKD aufgeführt und in anschließenden Gesprächen mit Wissen­ schaftler/innen und dem Publikum erörtert. Ein musikalischer Live-Act und ein tschechisch-deut­ scher Jugendwettbewerb ergänzen das Programm. www.albertinum.skd.museum

Künstlerische Leitung: Kathleen Reinhardt Künstler/innen: Slavs and Tatars Albertinum Dresden: 1.6.–14.10.2018

Von Klangbildern und Musikfarben Kunst und Musik im 21. Jahrhundert Bildende Kunst und Musik verschmelzen in den letzten Jahren zunehmend, zahlreiche künstle­ rische Arbeiten lassen sich mittler­weile nicht mehr eindeutig einem der beiden Genres zu­ ordnen. Performance- und Videokünstler nut­ zen ebenso existierende oder neue Musik wie Musiker und Komponisten sichtbare Elemente für ihre künstlerische Arbeit einsetzen. Durch den pragmatischen und intensiven Austausch vieler Künstler/innen und die Verschränkung der Genres wurden komplexe Werkgruppen ge­ schaffen. ­Dieser neueren Entwicklung möchte das ­Kunstmuseum Magdeburg mit einer Über­ blicksschau in drei Teilen Rechnung ­tragen: Eine große Ausstellung im Kunstmuseum zeigt ausgewählte Klanginstallationen und Videoar­ beiten und wird die aktuellen Wechselbeziehun­ gen zwischen den Genres beleuchten. Von ­September bis Oktober 2018 richten die Kura­ toren auf einer Länge von fast zwei Kilometern ­entlang der Elbe den „Water Walk“ ein, einen Parcours mit Klangskulpturen und Klang­ installationen, der auch über das Projekt hinaus bestehen bleiben soll. Als drittes Element wird es ein umfängliches Konzertprogramm im Haus für Musik geben. Hier werden aktuelle zeit­ genössische Entwicklungen vorgestellt und die Bandbreite der Mischformen von Live-­Musik und Live-Malerei präsentiert und als raumgreifende Bild-Kunst-Erlebnisse gezeigt. www.kunstmuseum-magdeburg.de

Künstlerische Leitung: Annegret Laabs Musikalische Leitung: Carsten Gerth Kuratoren: Oliver Schneller (US), Uwe Gellner Künstler/innen: Edgar Arceneaux (US), Douglas Henderson (US), Jonas Englert, Annika Kahrs, Bjørn Melhus, Robin Minard (CA), Michaela Melián, Ari Benjamin Meyers (US), Carsten Nicolai, Marc Sabat (US), Yehudit Sasportas (IL), u. a. Kunstmuseum und Haus der Musik, Magdeburg: 23.6.–14.10.2018

realities_united - ­ permanente Installation am K ­loster Unser Lieben Frauen Magdeburg, 2012, Foto: Hans-Wulf Kunze


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Writing in ­Migration Berlin’s first InterKontinental Book Festival Berlin gilt vielen als Hauptstadt der kulturellen Vielfalt. Zahllose Kulturveranstaltungen belegen die Internationalität des künstlerischen Schaffens. Afrikanische Autor/innen nehmen darin einen wichtigen Platz ein, der jedoch bisher nur selten ausdrücklich gewürdigt wurde. Das Literaturfest „Writing in Migration“, das erstmals im April 2018 in der Berliner Lettrétage stattfindet, will das ändern. Die dreitägige Veranstaltung möch­ te Besucher/innen die afrikanische Lebenswirklich­ keit durch die Augen von zehn migrantischen Autor/ innen präsentieren. Im Mittelpunkt stehen Themen wie Transkulturalität und Trans­nationalität. Zudem sollen Verlage für aktuelle ­Themen afrikanischer Le­ benswelten auf dem Kontinent und in der Diaspora gewonnen werden. Das Festival, das auch ein Zeichen gegen Rassismus setzen will, wird von der deutsch-ni­ gerianischen Künstlerin Olumide Popoola kuratiert und sucht den Dialog mit dem Publikum auch au­ ßerhalb Berlins. Im Anschluss an die Premiere wird es durch fünf brandenburgische Städte reisen. Eine Publikation wird ausgewählte Literatur über die Grenzen der Veranstaltung hinaus zugänglich ma­ chen. www.interkontinental.org/wim

Künstlerische Leitung: Olumide Popoola (UK/NG/DE) Festivalleitung: Stefanie Hirsbrunner & Karla Kutzner (InterKontinental) Mitwirkende Autor/innen: Chris Abani (US/NG), JJ Bola (DO/GB), Linda Gabriel (ZW), Helon Habila (US/NG), Elnathan John (NG/DE), Yvonne Owuor (KE), Chika Unigwe (US/NG), Sarah Ladipo Manyika (US/NG), Jennifer Nansubuga Makumbi (UGA), Niq Mhlongo (ZA) u. a. Berlin und Brandenburg: 26.–28.4.2018

f­einem Humor Klischees und Dynamiken der Kunstgeschichte kommentiert. In ihrer ersten pro­ minenten Werkserie, den „roten Bildern“, malt sie Selbstporträts und Neufassungen von klassischen Kunstwerken. Während ihrer New Yorker Jahre setzt sie Traditionen der amerikanischen Malerei mit aktuellen Entwicklungen der Popkultur in Be­ ziehung. Auch Koethers Beschäftigung mit Techno, Punk oder Hip-Hop findet ihren Weg in die Malerei. Ihre Intervention in den Kanon der Malerei setzt sich in den Bildzyklen der letzten Jahre fort, in denen sie neue Perspektiven auf das Werk von Francis Ba­ con, Lucian Freud oder Cy Twombly eröffnet und sich vor allem mit dem Format des Historienbildes auseinandersetzt. In einem speziell für die Ausstel­ lung konzipierten Bildzyklus nimmt sie Bezug auf Cy Twomblys „Lepanto-Zyklus“ im Museum Brandhorst. Eine von der Künstlerin kuratierte Veranstaltungs­ reihe ergänzt die Ausstellung um Konzerte und Performances an den Münchner Kammerspielen sowie Lesungen und Gesprächsrunden im Museum Brandhorst. In Zusammenarbeit mit den Kunst­ hochschulen in München und Hamburg entsteht ein Workshop für junge Künstler/innen und Theo­ retiker/innen. Vor allem die popkulturellen Be­züge in Koethers Werk bieten zahlreiche Anknüpfungs­ punkte für ein jüngeres Publikum, für das es ein umfangreiches Vermittlungsprogramm gibt. www.museum-brandhorst.de

Künstlerische Leitung: Achim Hochdörfer Kuratoren: Achim Hochdörfer, Tonio Kröner Kooperationspartner: Suzanne Cotter (AU), Christoph Gurk, Dieter Rehm Ausstellung – Museum Brandhorst, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München: 18.5.–21.10.2018; Workshop mit der Akademie der Bildenden Künste München und dem Museum Brandhorst – Bayerische Staatsgemäldesamm­ lungen, München: Juni 2018; Veranstaltungsreihe – Münchner Kammerspiele, München: Herbst 2018; Ausstellung – Museu de Arte Contemporâ­ nea de Serralves, Porto: 2018/19

Jutta Koether

Zerrissene Gesellschaft Immer wieder führen politische Wahlen zu einer Pattsituation. Die Argumente konkurrierender po­ litischer Gruppen sind oft so verhärtet, dass eine Vermittlung nur schwer möglich scheint. Der Aus­ tausch in einer homogenen Gruppe von ähnlich Denkenden, der durch soziale Medien noch be­ günstigt wird, blendet gerade das aus, was moderne Gesellschaften ausmacht: Unterschiedlichkeit und die Notwendigkeit von Kommunikation. Unter dem Motto „Zerrissene Gesellschaft“ fragt das Leipziger Festival, wie die Fotografie ein Me­ dium der gesellschaftlichen Vermittlung sein kann. Was sind die spezifischen Qualitäten des Demokra­ tischen und wie lassen sich Aushandlungs- und Kommunikationsprozesse fotografisch begleiten? Das Festival besteht aus fünf Ausstellungsteilen im Stadtraum von Leipzig und in der Leipziger Baum­ wollspinnerei. Neben der Fotografie liegt in diesem Jahr ein Schwerpunkt auf Zeichnung und Graphic Novel; ein Filmprogramm und ein Symposium er­ gänzen den Ausstellungsteil. In der Hauptausstellung in den Räumen der Halle 14 zeigt unter anderem der Architekt und Kurator Eyal Weizman Arbeiten von Studierenden des ­Forschungslabors F ­ orensic Architecture, in deren Praxis die­­Fotografie als Recherche­instrument eine zentrale Rolle spielt. Ausgehend von einer Arbeit des ­Fotografen Andreas Rost untersucht die ­Ausstellung auf dem Wilhelm-Leuschner-­Platz das Jahr 1990, das, ver­glichen mit dem Jahr 1989, im kollektiven Gedächtnis kaum präsent ist. Eine Ka­ binett-Ausstellung in den Räumen der ­Galerie Du­ kan ­widmet sich der ­Darstellung von Wahlkämpfen, Parteitagen und parlamentarischer Arbeit. In die­ sem Rahmen wird auch Ludovic Ballands Projekt „Day After Reading“ vorgestellt. Er reiste parallel zur Präsidentschaftswahl 2016 durch die USA und porträtierte eine Reihe von Personen, die er nach ihren Erinnerungen zu den Nach­ richten des vorhergehenden Tages befragte. www.f-stop-leipzig.de

Tour de Madame Die 1958 in Köln geborene Jutta Koether ist als Malerin, Musike­ rin, Theoretikerin, Performerin und Schriftstellerin tätig. Ihre Bezugnahme auf die Pop- und Medienkultur und ihre Auseinan­ dersetzung mit den Geschlech­ terverhältnissen in der Malerei haben die kulturelle Landschaft seit den 1980er Jahren nachhaltig geprägt. Die Überblicksausstel­ lung „Tour de Madame“ soll nun erstmals das gesamte Spektrum ihres künstlerischen Schaffens einer breiten, internationalen Öffentlichkeit zugänglich ma­ chen. Die Ausstellung, die im Museum Brandhorst in Mün­ chen, dem Serralves Museum in Porto und dem Madre Museum Jutta in Neapel gezeigt wird, zeichnet mit über 150 Werken aus den Jah­ ren 1983 bis 2017 die künstlerische Entwicklung Koethers systematisch nach. Viele der Werke sind eine Entdeckung, da sie noch nie oder seit ihrer ursprünglichen Präsentation nicht mehr in der Öf­ fentlichkeit zu sehen waren. Die Ausstellung setzt mit Koethers frühen, figurati­ ven Gemälden ein, in denen die Künstlerin mit

8. Festival für ­Fotografie f/stop

Künstlerische Leitung: Anne König, Jan Wenzel Festivalleitung: Daniel Niggemann Kurator/innen: Krisztina Hunya (HU), Elske Rosenfeld, Andreas Rost, Sarah Schipschack, Leif Magne Tangen (NO), Eyal Weizman (IL) Künstler/innen: Ludovic Balland (CH), Paula Bulling, Nicolas Giraud (FR), Francesco Jodice (IT), Alexander Kluge, Susanne Kriemann, Ludwig Kuffer, Andreas Langfeld, Elisabeth Neudörfl, Bertrand Stofleth (FR) u. a. Leipziger Baumwollspinnerei: 22.6.–1.7.2018

Koether, Starry Night II, 1988, Öl auf Leinwand, 75 x 95 cm © Jutta Koether


38 alle Produktions- und Verteilungsprozesse von Technologien übernommen ­werden. Das Filmprogramm gibt einen Einblick in die alltäglichen und allgegenwärtigen, ­jedoch meist unsichtbar bleibenden Pro­ zesse der Logistik. In einem begleitenden Kolloquium diskutieren Expert/innen aus Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft über aktuelle Entwicklungen im Daten- und Warenverkehr wie etwa Social Distribution oder Mikro-Drohnen. Das Festival soll an verschiedenen Orten in Halle stattfinden, an denen logistische

Das Walter-­KempowskiProjekt Eine Theaterproduktion aus den Romanen der „Deutschen Chronik“ mit euro­päischer Perspektive Die autobiografisch geprägten Romane seiner „Deutschen Chronik“ machten den Schriftsteller Walter Kempowski (1929–2007) bekannt. Kempow­ ski verarbeitet in diesem Romanzyklus seine eigene

Lawrence Lek, QE3, 2016, Auftragsarbeit für Glasgow International 2016 © courtesy the artist

Werkleitz Festival 2018 Holen und Bringen Logistik ist nicht nur ein rasant wachsender Wirt­ schaftszweig, sie bestimmt auch maßgeblich Takt und Rhythmus unserer Zeit. Das Werkleitz Festival 2018 untersucht unter dem Motto „Holen und Brin­ gen“, wie aus dem historischen Welthandel die mo­ derne Logistik geworden ist, welche neuen Formen dabei entstanden sind und wie diese unsere Gegen­ wart prägen. Am Beispiel der Region Halle/Leipzig beschreibt das Festival die Folgen technologischer Entwicklungen, die weltweit stattfinden. Im Zentrum des Festivals steht eine Ausstellung. Sie wird ergänzt durch ein Film-, Performance- und Musikprogramm, ein Kolloquium sowie geführte Exkursionen entlang der halleschen Bahnanlagen, wofür die Deutsche Bahn als Partner gewonnen wurde. Für die Ausstellung entstehen eine Reihe neuer künstlerischer Positionen: Das Design-Kol­ lektiv Foundland arbeitet in seinen Installationen, Recherchen und Visualisierungen mit archivari­ schen und privaten Erzählungen von Migration, Flucht und Vertreibung. Seine künstlerischen Ar­ beiten basieren auf der Sichtbarmachung von ver­ drängten und tabuisierten Bewegungsströmen. Candice Lin untersucht in ihren Werken auf poeti­ sche Weise Kolonialgeschichte und die Geschichte global vertriebener Waren wie Tee oder Zucker. Lawrence Lek entwickelt 3D-Animationen und Virtual Reality-Anwendungen. Im Zentrum einer neuen Video-Installation seiner bestehenden ­Arbeiten steht die Frage, was es bedeutet, wenn fast

A­b­l äufe und urbane Transformationsprozesse ­sichtbar sind. Die Region Halle/Leipzig hat sich zunehmend als Drehkreuz für den internationalen Warenverkehr etabliert. So wird etwa im Jahr 2018 die neue Zugbildungsanlage Halle (Saale) in Betrieb genommen, die dann zu den modernsten Anlagen des schienengebundenen Güterverkehrs in Europa zählen wird. www.werkleitz.de

Künstlerische Leitung: Daniel Herrmann Kurator/innen: Arjon Dunnewind (NL), Anna Jehle, Sandra Naumann, Konrad Renner, Juliane Schickedanz, Florian Wüst Künstler/innen: !Mediengruppe Bitnik (CH/HR/ DE), Mariechen Danz (IE/DE), Foundland (ZA/SY/NL/EG), Hiwa K (IQ/DE), Lawrence Lek (DE/GB), Candice Lin (US), Kassem Mosse, Sebastian Schmieg, Michael Stevenson (NZ/DE), Leanne Wijnsma (NL) Ausgewählte Orte, Halle (Saale): 19.–28.10.2018

Familiengeschichte und erzählt exemplarisch von den Verstrickungen des deutschen Bürgertums in den Ersten und Zweiten Weltkrieg. Er beschreibt die internationalen Verflechtungen der Reederei seines Vaters und Großvaters als Teil des deutschen Imperialismus und berichtet von der Zeit der ­russischen Besatzung und seiner achtjährigen Haft­ zeit in Bautzen. Aus der neunbändigen Buchreihe der „Deutschen Chronik“ entwirft der Regisseur und Intendant des Altonaer Theaters Axel Schneider vier Theater­ abende, die im Laufe der Spielzeit 2018/2019 am Altonaer Theater ihre Premieren feiern sollen. Mit einem solch umfangreichen Projekt, das sich deutlich vom gewöhnlichen Theateralltag abhebt, will das Altonaer Theater ein breites und vor allem auch jüngeres Publikum ansprechen, das selbst ­keinen direkten Bezug zu den Weltkriegen und zur Nachkriegszeit oder auch zur Realität eines geteil­ ten Deutschlands mehr besitzt. www.altonaer-theater.de

Künstlerische Leitung: Axel Schneider Dramaturgie: Sonja Valentin, Jan Philipp Reemtsma Musikalische Leitung: Mathias Christian Kosel Choreografie: Malcolm Ranson (GB) Kamera: Eric Jacquet (FR) Musiker/in: Natalie Böttcher (RU) Altonaer Theater, Hamburg: 1.7.2018–17.7.2019


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Computer Grrrls Ausstellung Bevor das Wort Computer eine Maschine beschrieb, bezeichnete es einen Beruf, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem von Frauen ausgeübt wurde; Rechnen galt als eine weibliche Tätigkeit. In den letzten Jahren haben Historiker/innen diese Ent­ wicklungen beschrieben und die Biografien von wichtigen Programmiererinnen wie der „Eniac ­Girls“ bekannt gemacht. Doch wie kam es dazu, dass sich die Informatik zu einem so stark männlich dominierten Bereich entwickelt hat? Warum nimmt die Anzahl professioneller Informatikerinnen seit 1990 sogar ab? Und wie geht die Gesellschaft damit um, dass Frauen als Gestalterinnen der technolo­ gischen Entwicklungen marginalisiert sind? Die Ausstellung im HMKV greift diese Fragen auf und versammelt künstlerische Positionen, die das Verhältnis von Geschlecht und Technologie in Ge­ schichte und Gegenwart verhandeln. Die Kurato­ rinnen Inke Arns (HMKV) und Marie Lechner (La Gaîté Lyrique) stellen neben zentralen Positionen wie dem Cyberfeminismus neue technofeministi­ sche Kollektive und die feministische Hackerkultur vor, die in den letzten Jahren entstanden ist. Ein­ geladen sind Künstler/innen, Hacker/innen und Theoretiker/innen, die daran arbeiten, Technologie anders zu denken, indem sie die Gender-Tendenzen in den Bereichen Big Data und Künstliche Intelli­ genz hinterfragen, sich für ein offenes und diversi­ fiziertes Internet einsetzen, partizipative Arbeits­ weisen entwickeln und utopische Technologien und Prototypen entwerfen: Nach ihrer Station in Dort­ mund wandert die Ausstellung ins La Gaîté ­Lyrique nach Paris, wo sie um performative ­Formate erweitert wird. An ­beiden Orten wird es Filmscreenings, Künstler/innengespräche und ex­ perimentelle Workshops geben.

Morehshin Allahyari, She Who Sees the Unknown: Huma, 2017 © courtesy the artist

www.hmkv.de

Kuratorinnen: Inke Arns, Marie Lechner Künstler/innen: Morehshin Allahyari (IR/US), Black Quantum Futurism (US), Hyphen-Labs (US), Kapwani Kiwanga (FR/CA), Tabita Rezaire (FR/ZA), Erica Scourti (UK/GR), Cornelia Sollfrank, Suzanne Treister (UK), VNS Matrix (AU), Pinar Yoldas (TR/US) u. a. HMKV Hartware MedienKunstVerein, ­Dortmund: 27.10.2018–3.2.2019; La Gaîté Lyrique, Paris: 2.2.–5.5.2019

Intelligente M ­ usik – Künst­liche ­Intelligenz und ­Maschinenlernen Sonderprojekt im Rahmen des CTM 2018 – Turmoil Das CTM Festival ist eines der weltweit wichtigsten Festivals für zeitgenössische elektronische und ex­ perimentelle Musik. Seit 1999 findet es zeitgleich zur transmediale in Berlin statt und richtet seinen Fokus immer wieder auf Musik jenseits der etablierten westlichen Musiktradi­ tionen. Gleichzeitig versteht es sich als eine Plattform des Nachdenkens über Musik, ihre gesellschaftliche Relevanz und die Rahmenbedingungen ihrer Ent­ wicklung. Im Jahr 2018 legt das Festival mit seinem Sonderprojekt einen Schwerpunkt auf die Auseinanderset­ zung mit neuesten technischen Ent­ wicklungen von künstlicher Intelligenz (KI) und Maschinenlernen im Bereich der Musik. Die Computertechnik Göttinger führt in der Musik zu Automatisierung und einer zu­ nehmenden Autonomie von Software und Maschinen, die Menschen bei der Erfindung, der Produktion und dem Spiel von Musik unterstützen. In Teilbereichen verfügen musika­ lische KI und Systeme für Maschi­ nenimprovisation heute bereits über Fähigkeiten, die diejenigen mensch­ licher Musiker übersteigen. Trotz­ dem verstehen Entwickler noch zu wenig, wie die Systeme Ergeb­ nisse produ­ zieren, die als eine Art kreativer Out­ put angesehen werden können. Das Festival will herausragen­ de Projekte und Künstler/innen vorstellen und in Konzerten und Workshops den aktuellen Stand der künstlerischen und kommerziellen Forschung ver­ mitteln. Gemeinsam mit Kom­ ponist/innen, Musiker/in­ nen und Wissenschaftler/ innen sollen die ­P otenziale u n d kritischen­ Dimensionen ­dieser Technologien ­diskutiert werden.

www.ctm-festival.de

Künstler/innen: Antwood (CA), Dahlia Borsche, Frédérick Belzile (CA), George E. Lewis (US), Holly Herndon (US/DE), Ioann Maria (UK), Lawrence Lek, Marco Donnarumma (IT/DE), Marcus Schmickler, Mat Dryhurst (US/DE), Moritz Simon Geist, Peter Flemming (CA), Peter Kirn (US/DE), Roscoe Mitchell (US) u. a. Aufführungen und Installationen – HAU Hebbel am Ufer, Berghain, Festsaal ­Kreuzberg, Kunstquartier Bethanien u. a., Berlin: 26.1.–2.4.2018

Dem Vergessen e­ ntrissen Symphonische Musik von Alexander Weprik Der ukrainische Komponist Alexander Weprik war ein musikalisches Wunderkind, bereits mit 24 Jah­ ren unterrichtete er am Moskauer Konservatorium. In den 1920er und 30er Jahren gehörte er zu den bekanntesten sowjetischen Komponisten im Aus­ land: Hermann Scherchen dirigierte seine „Tänze und Lieder des Ghettos“ 1927 in Leipzig, 1933 führ­ te Arturo Toscanini sein Werk in der New Yorker

Symphonie Orchester, Foto: Frank Stefan Kimmel

Carnegie Hall auf. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verschwand Wepriks Name aufgrund seiner jüdischen Abstammung aus deut­ schen Konzertsälen. Im Jahr 1943 wurde er zusam­ men mit anderen jüdischen Professor/innen des Moskauer Konservatoriums fristlos entlassen und 1950 unter Stalin – ohne real vorhandenen Tat­ bestand – verhaftet und zu acht Jahren Gulag ver­ urteilt. Danach komponierte er nur noch wenig, er starb frühzeitig an den Folgen der Lagerhaft, seine Musik geriet in Vergessenheit. Wepriks Arbeiten für Symphonieorchester bilden bis heute einen ungehobenen Schatz. Das Göttin­ ger Symphonie Orchester (GSO) unter Leitung von Christoph-Mathias Mueller wird das Werk dieses bedeutenden, zu Unrecht vergessenen Komponis­ ten in verschiedenen Formaten würdigen und seine Musik nachhaltig international zugänglich machen. Im Zuge einer CD-Aufnahme, die einen repräsen­ tativen Querschnitt durch Wepriks Schaffen prä­ sentiert, plant das GSO Konzerte und richtet ein internationales Symposium zu Leben und Werk des Künstlers aus, zu dem u. a. Intendanten, General­ musikdirektoren, Dramaturgen, Musik- und ­Osteuropawissenschaftler/innen eingeladen sind. Eine ­Publikation in russischer und deutscher Sprache dokumentiert das Projekt. www.gso-online.de

Künstlerische Leitung: Christoph-Mathias Mueller Musiker/innen: Göttinger Symphonie Orchester CD-Label: Dabringhaus & Grimm Referenten des Symposiums: Jascha Nemtsov (RU), Galina Ivanova (RU), Inna Klause (KZ), Friedrich Geiger CD-Aufnahme – Stadthalle ­Göttingen: ­11.–17.6.2018


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FIND 2018 Festival Internationale Neue Dramatik 2018 Die Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin stellt ihr Festival Internationale Neue Dramatik FIND bei jeder Ausgabe unter ein anderes Thema. Im Jahr 2018 geht es um „Die Kunst des Vergessens“. Kon­ zeptioneller Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass es überall und in unterschiedlichsten kulturellen und politischen Kontexten eine Sehnsucht nach dem Vergessen, dem Löschen kollektiver oder in­ dividueller traumatischer Erlebnisse gibt. Die Fol­ gen der Verdrängung sind in der gesellschaftlichen Wirklichkeit häufig ein unkontrolliertes und unge­ wolltes Wiederaufbrechen von Wunden, in denen sich der verdrängte Schrecken erneut und tenden­ ziell umso wuchtiger Bahn bricht. Die Bühne hin­ gegen bietet sich als Ort an, wo eine Bewältigung des Traumatischen auf dem Weg einer „Kunst“ des Vergessens erprobt werden kann. In 13 Produktio­ nen aus zehn Ländern und von drei Kontinenten, die allesamt noch nie in Deutschland zu sehen wa­ ren oder erst für das Festival (ko-)produziert wer­ den, wird das Theater bei FIND 2018 zum Schau­ platz der Erinnerung, auf dem verdrängte Konflikte zum Aus­ bruch kommen dürfen. Das FIND-Festival hat immer wieder zu Entdeckungen geführt, die über die Einladung nach Berlin auch ei­ nen internationalen Durchbruch fanden. Das deutsche Publikum bekommt mit FIND einen Ein­ blick in weltweit neueste Entwick­ lungen im Theater und nimmt an theatralischen Auseinandersetzun­ gen mit kulturell brisanten The­ men teil.

Damit die Zeit nicht stehen bleibt Musiktheater Martin Smolka / Jiří Adámek /­ ­ensemble ascolta

www.schaubuehne.de

Künstlerische Leitung: Thomas Ostermeier „Inflammation Künstler/innen: Mapa Teatro (CO), Angélica Liddell (ES), Caroline Guiela Nguyen, Rodrigo García (AR), Wajdi Mouawad (LB), Simon Stone (CH), Teatro La María (CL), Ofira Henig (IL) Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin: 6.–22.4.2018

du verbe vivre“ nach Philoktet von Sophokles, Text und Regie: Wajdi Mouawad (Paris), Foto: Pascal Gely, 2018

Wilde Lieder Marx’ Music Am 5. Mai 1818 wurde Karl Marx in Trier geboren. Auch 200 Jahre danach haben seine Gedanken kaum an Aktualität verloren. Seine Analysen zum Zyklus von Krisen, zur Globalisierung oder zu entfremde­ ter Arbeit sind unvermindert relevant. Das Projekt „Wilde Lieder“ fußt auf der Überzeugung, dass auch die scheinbar unpolitische Musik mit Marx’schen Begriffen beschrieben und analysiert werden kann: Als geistige Produktion ist sie Ausdruck des gesell­ schaftlichen Bewusstseins, das durch die materiel­ len Lebensverhältnisse bedingt ist und sich mit ihnen ändert. Zugleich sah Marx das Komponieren als Beispiel „wirklich freier“, d. h. nicht entfremde­ ter Arbeit. Er widmete einen Artikel in der Rheini­ schen Zeitung dem Lob der rheinländischen Mu­ sikkultur, und auch privat spielte die Musik für ihn eine wichtige Rolle. Unter dem Titel „Wilde Lieder“ pries der junge Marx in romantischen Gedichten die Kraft der Musik. Künstler wie Hanns Eisler oder Bertolt Brecht haben immer wieder daran gearbei­ tet, Marx’ Werke zu vertonen.

Das Projekt „Wilde Lieder“ will Marx’ Gedanken­ welt und Ideale musikalisch mit neuem Leben fül­ len. Auftragswerke an junge Komponist/innen aus der ganzen Welt sollen zur Auseinandersetzung mit Marx’ Themen und Analysen einladen und dazu anregen, Musik in ihren gesellschaftlichen Zusam­ menhängen wahrzunehmen. Ein internationaler Call for Scores wird bis zu sieben zusätzliche Wer­ ke prämieren, die im Rahmen der Jubiläumsausstel­ lungen in Großbritannien und Deutschland – Marx’ wesentlichen Wirkungsstätten – zur Aufführung kommen. Werke der radiophonen Klangkunst wer­ den als Klanginstallationen fest in die Ausstellungen integriert.   www.karl-marx-ausstellung.de

Künstlerische Leitung: Stephan Meier (GB) Kurator: Stefan Fricke Musiker/innen: Birmingham Contemporary Music Group (GB) Künstler/innen: Robert Reid Allan (GB), Frédéric Pattar (FR), Sergej Newski (RU), Kaspar Quer­ furth (GB), Ruiqi Wang (CN), Celeste Oram (US) Internationaler Call for Scores – Trier: 7.1.–5.5.2018; Klanginstallationen, Landesaus­ stellung – Trier: 5.5.–21.10.2018; Uraufführungs­ konzerte – Museum am Dom, Karl Marx Muse­ um, Therme am Viehmarkt, Trier: 1.–2.9.2018; Erstsendungen – Hessischer Rundfunk: ­5.5.–2.9.2018; Zweitaufführungen – Birmingham (CBSO Centre): 4.9.2018, London (British ­Library): Herbst 2018

Im Mittelpunkt der gemeinsamen Arbeit des Kom­ ponisten Martin Smolka und des Theaterregisseurs Jiří Adámek steht die „Musik als Rede“ bzw. die „Rede als Musik“, die mit der Verbindung sprachli­ cher, musikalischer und performativer Elemente experimentiert. Sätze werden in Wörter und Silben dekonstruiert und so in die Komposition eingefügt. Einzelne textliche Bausteine können z. B. durch Repetition aber auch zu musikalischen Elementen mutieren. Für das Projekt „Damit die Zeit nicht stehen bleibt“ entwickeln die beiden tschechischen Künstler ein Format, das zwischen Konzert, Theater und Instru­ mentaloper angesiedelt ist. Auf Einladung und in enger Zusammenarbeit mit den Musiker/innen des ensemble ascolta entsteht ein Werk, das Texte von Franz Kafka, Henry David Thoreau und Jiří Adámek einbezieht. Die Künstler suchen nach einer tieferen Begegnung von Sprache und Musik in der Konzen­ tration und Reduktion äußerer Mittel. Sie verzich­ ten auf zusätzliche Medien und Technologien, um das Potenzial des vorhandenen Materials auszu­ schöpfen. Der reine Gesang bleibt seltene Ausnah­ me, der Instrumentalteil orientiert sich in Aus­ druck, Tempo und Rhythmus am Gesprochenen. Smolka und Adámek vermeiden, über Texte große, abstrakte Ideen an die Musik heranzutragen. Dies führt sie zur Literatur Kafkas und Thoreaus – bei­ de Meister der Poesie des Details, der konkreten Metapher und natürlichen Klangqualität. Das Projekt wird bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik uraufgeführt. www.ascolta.de

Künstlerische Leitung: Erik Borgir Projektleitung: Florian Hoelscher Komponist: Martin Smolka (CZ) Autor: Jiří Adámek (CZ) Musiker/innen: ensemble ascolta Spielstätte im Rahmen der Wittener Tage für neue Kammermusik, Witten: 26.4.2018; Theater­ haus Stuttgart: 5.7.2019; Spielstätte im Rahmen des Lucerne Festival, Luzern: 23.8.2019; Mu­ sikakademie Rheinsberg: 13.9.2019


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Beatriz González Ausstellung Diese Ausstellung ist die erste monografische Werk­ schau der kolumbiani­ schen Künstlerin Beatriz González im europäischen Kontext. Die Künstlerin ist in Kolumbien und La­ teinamerika schon seit den 1960er und 1970er Jahren bekannt, wurde aber au­ Beatriz González, Naturelza mesa viva, 1971 ßerhalb des Kontinents (Detail), Emaille auf Metall © courtesy the artist / Laura Jiménez / Juan Rodríguez Varón erst deutlich später wahr­ genommen. Das KW Insti­ tute for Contemporary Art in Berlin möchte diese ponistin und eine Filmema­ Lücke nun gemeinsam mit den Partnern in Borde­ cherin erarbeiten gemein­ aux und Madrid schließen und Fragen des Kultur­ sam ein Thema. So nehmen transfers zwischen dem südamerikanischen Konti­ beispielsweise Michelle nent und Europa am Beispiel ihres Werkes Kranot und Iris ter Schip­ aufarbeiten. Es widmet ihr eine Schau, die unter horst die Rolle der Frauen in anderem das politische Werk der Künstlerin be­ Protest und Re­volution in leuchtet und der Frage nachgehen wird, wie sie sich den Blick, und Samantha zu den spezifischen kulturellen Gegebenheiten ihres Moore und Malin Bång fra­ Landes positioniert. Die Ausstellung soll dazu bei­ gen nach der Sinnhaftigkeit tragen, dass lateinamerikanische Künstlerinnen in von Subventionen in Ent­ Europa stärker rezipiert werden. Eine umfangreiche wicklungsländern, Elizabeth Begleitpublikation wird das Werk von González’ Hobbs und Carola Bauckholt Beatriz González, Los Suicidas del Sisga No. 2, 1965 erstmals historisch aufarbeiten und zeitgenössische zitieren das Märchen vom © courtesy the artist / Óscar Monsalve Perspektiven internationaler Kuratorinnen und Ku­ ­Fischer und seiner Frau als ratoren auf ihre Arbeiten dokumentieren. In einem Beispiel für die Gier, die Menschen antreibt. Das Das Ensemble Quillo entwickelt und produziert umfangreichen Begleitprogramm mit öffentlichen Projekt sucht dabei nach neuen Wegen in der nun eine zweisprachige Kammeroper, die im Jahr Gesprächsrunden und kunsthistorischen Vorträgen ­Interaktion zwischen Leinwand und Ensemble, die 2019 in Brandenburg uraufgeführt werden soll und soll die Position von González’ Werk innerhalb der über die klassische Konzert- und Filmvorführung nach Stationen in Potsdam und Frankfurt (Oder) lateinamerikanischen Kunstszene herausge­ hinausgehen und auch das Publikum zur Teilnahme auch nach Belfast gehen wird. Für das Libretto arbeitet und mit globalen Entwicklun­ am „europäischen Gespräch“ herausfordern. ­orientiert sich die deutsch-­amerikanische Schrift­ gen in Beziehung gesetzt werden. stellerin Irene Dische an M ­ otiven und Charakteren www.mdjstuttgart.de des Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann. Der www.kw-berlin.de Künstlerische Leitung: Sven Hartberger Kinderbuchklassiker dient der Autorin als Anker, Künstlerische Leitung: Künstler/innen: Michelle Kranot (DK), um den Blick auf die Gegenwart und die Lebenssi­ Maria-Inés Rodriguez Iris ter Schiphorst, Samantha Moore tuation von Kindern heute zu werfen, auf ihr Leiden (FR), Manuel Borja-­ (UK), Malin Bång (SE), Rebecca und ihre Unangepasstheit. Der britische Komponist Villel (ES), Krist Blöcher, Eva Reiter (AT), Amelie David Robert Coleman vertont das Libretto für Gruijthuijsen Loy (AT), Misato Mochizuki Orchester, vier Sänger und drei Instrumentalsolis­ Künstlerin: Beatriz González (CO) (JP/FR), Elizabeth Hobbs (UK), ten (Kontrabassflöte, Akkordeon und E-Gitarre). KW Institute for Contemporary Art, Berlin: Carola Bauckholt u. a. Musikalische Bezugspunkte der Musiktheaterpro­ 13.10.–16.12.2018 Theaterhaus Stuttgart: 10.2.2019; duktion sind der Post-Minimalismus und die Hy­ weitere ­Aufführungen in Brüssel, permusik klassischer Zeichentrickfilme. Wien u. a. www.quillo.net

Zum Gemeinwohl 20 Künstlerinnen animieren ein europäisches Gespräch über die Zukunft der Welt Der österreichische Politologe Christian Felber hat mit der Gemeinwohlökonomie ein Konzept für eine neue Wirtschaftsordnung entwickelt, die das Wohl­ ergehen aller zum Ziel hat. Statt Konkurrenz for­ dert er Kooperation und Solidarität sowie soziale und ökologische Verantwortung. Obwohl der Sozial-­ und Wirtschaftsausschuss der EU empfohlen hat, die Gemeinwohlökonomie (GWÖ) sowohl auf EU-Ebene als auch in den einzelnen Mitgliedsstaa­ ten rechtlich zu verankern, ist sie den wenigsten Menschen in Europa bekannt. Das Projekt „Zum Gemeinwohl“ nimmt Felbers Konzept zum Aus­ gangspunkt und lädt zehn Filmemacherinnen und zehn Komponistinnen aus ganz Europa ein, ein Gespräch über die Zukunft Europas und der Welt anzuregen. Mit den Mitteln von Trickfilm und Neuer Musik befragen die Künstlerinnen die Ziele der GWÖ, gleichen sie ab mit der Realität und stellen ihre Konsequenzen zur Diskussion. Jeweils eine Kom­

Quillo Struwwel­peter revisited Kammeroper von Irene Dische und David Robert Coleman Die Kammerphilharmonie Uckermark e.V. mit ­ihrem Ensemble Quillo hat sich im Jahr 2004 in Falkenhagen in der Uckermark gegründet. Das En­ semble Quillo ist das einzige Ensemble für Neue Musik im Land Brandenburg und hat in den letzten Jahren zahlreiche Werke des 20. und 21. Jahrhun­ derts aufgeführt, darunter mehrere Uraufführun­ gen. Neben der Neuen Musik widmet sich das ­Ensemble der Musikvermittlung, etwa durch Pro­ jekte wie „Junge Opernstätten“ oder „Kleines ­Musiktheater“, sowie spartenübergreifenden Pro­ jekten und zeitgenössischem Musiktheater. Gast­ spiele des Ensembles führten es an die Staatsoper Berlin mit Hans Werner Henzes „El Cimarrón“ und der Jugend-Oper „Hans im Glück“.

Komponist: David Robert Coleman Autorin: Irene Dische (US) Künstlerische Leitung: Ursula Weiler Regie: Walter Sutcliffe (GB) Ensemble Quillo: Ursula Weiler (Flöten), Daniel Göritz (Gitarren), Dominic Oelze (Percussion) Kammerorchester der Brandenburger Symphoni­ ker, Kammerorchester der Northern Ireland Opera Theater Brandenburg: 27.9., 2.10.2019; Hans Otto Theater, Potsdam: 12.10.2019; Kleist Forum, Frankfurt (Oder): 18.10.2019; Northern Ireland Opera, Belfast: 6., 8., 11., 14.12.2019


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ABSPANN

Wie die Nazis den deutschen F ­ ilm zerstörten G. P. Straschek (1942–2009) war Filmemacher und Filmhistoriker. Die Ausstellung „HIER UND JETZT“ zeigt sein filmisches Werk, darunter zum ersten Mal seinen legendären Ein Western für den SDS, der 1968 b­ eschlagnahmt wurde und als verschollen galt. Im Z ­ entrum steht Strascheks Fern­sehserie Filmemigration aus ­Nazideutschland (WDR 1975). Mit der Vertreibung jüdischer und linker Filmschaffender hat sich Straschek schon als Filmstudent beschäftigt, in den 70er Jahren wird sie zum Lebensthema. Für ein geplantes Lexikon legt er rund 2.800 biografische Akten an. Es entsteht eine kollektive Erzählung von Flucht, Neuanfang und manchmal auch Rückkehr. Fünf Stern­stunden der Fernsehgeschichte, seit 1977 nicht gesendet, in denen 50 Emigranten zu Wort kommen, Menschen wie John Brahm, Renata Lenart oder Lotte H. Eisner. „Wenn das möglich ist, dann gehe ich weg“ John Brahm, Regisseur „Ich bin getauft, mein Vater war Jude. Ich habe nie etwas von Religion gewusst, meine Eltern waren vollkommen unreligiös, so bin ich aufgewachsen. Ich machte eine Tournee mit Dolly Haas, die in Scampolo einen großen Er­ folg hatte mit einem italienischen Stück. Ich habe alles abgegrast, wo Dolly Haas bekannt war: Schweiz, Tschechoslowakei und ganz Deutschland. Da ich der Producer war, habe ich die Abrechnungen gemacht, jeden Abend. Eines Tages sagte ein Mann zu mir, ich glaube, das war in Chemnitz: „Ihr Name wird wohl nicht länger auf dem Programm stehen kön­ nen.“ Ich fragte: „Wie meinen Sie das?“ – „Na ja, Brahm, das ist doch ein jüdischer Name.“ Und da habe ich mir g­ esagt: Wenn das möglich ist, dann gehe ich weg. Da wird etwas Schlim­ mes passieren. Dann habe ich im Jahre 1934 meinen kleinen Steyr-Wagen genommen und das Geld, das man mitnehmen durfte – denn man durfte kein Geld mitnehmen außer für die Reise – und habe in England von vorne angefangen.“ „Sturges, Ophüls und ich wurden ­rausgeworfen“ Renata Lenart, Sekretärin „Ich war Sekretärin bei Max Ophüls. Der war schon seit 1941 in Hollywood. Es war ihm fünf Jahre lang sehr schlecht gegangen, trotz seiner großen Bekanntheit ­bekam er keine Anstellung. Er versuchte immer wieder bei Enterprise seine früheren Filme nachzudrehen. Ich ­arbeitete als freiberufliche Sekretärin, und er war einer meiner Chefs. 1945 wurde er von Preston Sturges ­engagiert

Lotte Eisner

für die Verfilmung von Colom­ ba. Über ein Jahr lang haben sie den Film vorbereitet. S ­ turges hat das Drehbuch g­ eschrieben. Es stellte sich heraus, dass Sturges ein hervorragender Autor und guter Produzent war, aber seine Finger nicht von der Regie lassen konnte und immer wieder herein­ redete. Diese Verlangsamung der Arbeit und das Durchein­ ander kamen Howard Hughes zu Ohren, der der Partner von Sturges war. Und Hughes ist, wie jeder weiß, ein etwas schwieriger Herr. Die ganze Sache flog im Oktober 1946 mit einem lauten Knall auf. Sturges, Ophüls und ich wurden rausgeworfen. Der Film wurde von einem ­anderen Regisseur zu Ende gedreht. Ich habe ihn nie gesehen.“

Renata Lenart

HIER UND JETZT im ­Museum ­Ludwig Günter Peter Straschek. Emigration – Film – Politik ­

John Brahm

„Man wusste ja nicht, wem man die Hand geben k­ onnte“ Lotte H. Eisner, Filmhistorikerin „Ich hatte 1933–34 Henri Langlois kennengelernt. Er sammelte alte Filme, die damals oft verschrottet wur­ den. Er schrieb mir: Sofort weg aus Montpellier! Damals hatte ich mir schon eine falsche carte machen lassen. So kam ich nach Figeac. Ich war erst auf einer Burg, wo wir unsere Filme aus der Cinémathèque versteckten, in den Oubliettes, unter Stroh. Als die Leute fragten, wer ist diese geheimnisvolle Fremde, musste ich auch da weg. Der Pastor sagte: Ich habe eine Stelle als Köchin in einem Mäd­ chengymnasium. Dort blieb ich sechs Monate, kochte für 83 Per­ sonen. Ich hatte eine Hilfe, die aber immer, wenn es erfrorene Kartoffeln zu schälen gab, sagte: Ich muss zur Messe. Nach dem Krieg hatte ich eine Stellung bei der Cinémathèque Francaise. Ich konnte dort conservatrice en chef ­werden. Mich interessierte die historische Recherche. Ich bin als Archäologe und Kunsthistoriker an Recherchen, Stilentwicklung gewohnt gewesen. 1953 bin ich nur gezwungenermaßen nach Berlin zu den Filmfestspielen ge­ gangen. Es war so fremd gewor­ den. Man wusste ja nicht, wem man die Hand geben konnte.“

Günter Peter Straschek (1942–2009) ist ­einer der ersten und bis heute wichtigsten Erforscher des deutschen Filmexils. Das Museum Ludwig widmet ihm in seiner ­Reihe „Hier und Jetzt“ eine Ausstellung, in ­deren Zentrum die künstlerisch außer­ gewöhnliche und heute vergessene WDR-­ Dokumentation „Filmemigration aus ­Nazideutschland“ (1975) steht. Der Doku­ mentarfilm (229 Min.) folgt den Spuren von insgesamt etwa tausend Filmschaffenden – Regisseuren, Produzenten, Kameraleuten, Cuttern, Schauspielern, Drehbuchautoren, Kritikern und Filmhistorikern –, die wäh­ rend der Zeit des Nationalsozialismus ins Exil gingen. Das Einfühlungsvermögen, mit dem Straschek seine Interviewpartner por­ trätiert und sich den Themen Flucht, Exil und Assimilation nähert, ist beispielhaft. Die Wahl seiner ästhetischen Mittel geht über die Ökono­ mie des Fernsehens weit hinaus und lässt den Einfluss der Filmemacher Danièle Huillet und Jean-Marie Straub erkennen. Ergänzend zum Film bereitet das Museum Lud­ wig Materialien aus Strascheks Archiv auf. Die Ausstellung zeigt den Umfang seiner Recherche­ arbeit und die Präzision, mit der dieses Privatar­ chiv – in Ermangelung staatlicher Stellen – auf­ gebaut worden ist. Die Ausstellung wird von einem Filmprogramm im Filmforum NRW begleitet, das Strascheks frühe Filme, sein Umfeld an der DFFB in Berlin (Hartmut Bitomsky, Harun Farocki, Helke ­Sander) und die Filme der Exilanten zeigt. Aus­ gehend von letzteren wird die Ausstellung den Einfluss des avantgardistischen Filmschaffens auf die zeitgenössische Kunst darstellen. Die Bezüge zur Sammlung des Museum Ludwig sind vielfäl­ tig, da das Museum zahlreiche Werke der klassi­ schen Moderne exilierter und in Deutschland verfolgter Künstler besitzt. Der ­begleitende Ka­ talog widmet sich sowohl dem Filmschaffen Stra­ scheks als auch seiner publizistischen Tätigkeit. www.museum-ludwig.de

Künstler: Günter Peter Straschek Museum Ludwig, Köln: 3.3.–1.7.2018


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Our Stage 4. Europäisches Bürgerbühnenfestival Das erste deutsch-europäische Bürgerbühnenfestival wurde 2014 mit Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes am Staatsschauspiel Dresden initiiert. Seit­ dem hat diese Form in der Theaterlandschaft stetig an Bedeutung gewonnen. Bürgerbühnen arbeiten mit nicht-professionellen Darstellerinnen und Dar­ stellern. Das Festival der Bürgerbühnen versteht sich als repräsentative Leistungsschau des professionel­ len partizipativen Theaters und organisiert die De­ batte über dessen künstlerische Qualität und gesell­ schaftliche Relevanz. Bisher konzentrierten sich die ersten drei Festivalausgaben in Bezug auf Programm und Publikum auf die deutsche partizipative Thea­ terlandschaft, doch erwiesen sich europäische Im­ pulse als immer wichtiger. Wie in Deutschland, wo in den vergangenen acht Jahren zahlreiche Bürger­ bühnen und ähnliche Modelle entstanden sind und unter dem Dach des Deutschen Bühnenvereins eine AG Bürgerbühne mit 23 Mitgliedstheatern gegründet wurde, ist auch die Entwicklung des partizipativen Theaters in anderen europäischen Ländern voran­ geschritten. Bei den drei vorangegangenen Bürger­ bühnenfestivals sind bereits europäische Kontakte geknüpft worden, die nun für „Our Stage“ genutzt werden. Das 4. Europäische Bürgerbühnenfestival richtet sich konsequent international aus, um in ei­ nen intensiven europäischen Erfahrungsaustausch über Formen, Inhalte und Erfahrungen zu treten und ein europäisches Netzwerk zu schaffen, das die Ent­ wicklung des partizipativen ­Theaters insgesamt stärkt. Kooperationspart­ ner des 4. Bürgerbühnenfestivals ist deshalb die ETC − European Thea­ tre Convention, ein Zusammen­ schluss von 40 europäischen Theatern aus über 20 europäischen Nationen, das sich in den nächsten Jahren schwerpunktmäßig dem partizipati­ ven Theater widmen will. Die Auswahl der elf Produktionen für das Dresdner Staatsschauspiel erfolgt durch die er­ fahrene Kuratorin Miriam Tscholl mit Unterstützung eines sechsköpfigen europäischen künstlerischen Beirats. Die deutsche und europäische freie Theater- und Performanceszene wird ­g leichermaßen gesichtet. Ca. 30 Künstler/innen, Theaterleiter/innen und Wissenschaftler/innen verschie­ denster Fachrichtungen aus mindes­ tens zehn europäischen Ländern wer­ den in Workshops, Vorträgen und Gesprächen die künstlerischen, sozi­ alen und politischen Fragen rund um das Thema Partizipation und Theater erforschen.

Cuba emprende – Ein Familienunternehmen Oder: Das Museum der Revolution im Zeitalter seiner Privatisierung Revolutionsführer Fidel Castro ist tot, die Rolling Stones spielten in Havanna, US-Präsident Obama kam zu Besuch: Kuba öffnet und verändert sich. Das Theaterprojekt „Cuba emprende“ macht sich diese besondere Situation zunutze und fragt, wohin sich das Land 60 Jahre nach der Revolution bewegt. Dabei setzt es an einer für Kuba emblematischen Stelle an: der kubanischen Familie bzw. der „Fa­ milia compuesta“ – jener Lebensgemeinschaft auf engstem Raum, zu der sich weit entfernte Verwand­ te, Verliebte und Geschiedene aufgrund des Woh­ nungsnotstands unter einem Dach versammeln. Gemeinsam mit der Gruppe von jungen Theater­ macher/innen „Laboratorio IBSEN“ begab sich Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) auf die Recherche und besuchte zweierlei kubanische Experten: Die „Combatientes“ (Revolutionäre) und die „Cuenta-­ propistas“ (Selbstständige), die oft den verschie­ denen Generationen einer Familie angehören. Die einen haben ihr Leben lang für das revolutionäre Projekt gekämpft, für die anderen klingt „Kapita­ lismus“ so verheißungsvoll wie damals für ihre Großeltern „Revolution“. Oft scheinen sich die beiden Gesellschaftsmodelle in ihren Ausformun­ gen gar nicht so sehr zu widersprechen: Waren zum Beispiel die Wohngemeinschaften im kommunis­

www.staatsschauspiel-­­ dresden.de

Künstlerische Leitung: Miriam Tscholl Künstler/innen: Anestis Azas & Prodomos Tsinikoris (GR), Jérôme Bel (FR), Nuran David Calis, Common Wealth (GB), Marta Górnicka (PL), Royston Maldoom (GB) Konzeptionsworkshop ETC Dresden – Staatsschauspiel Dresden: 7.–10.2.2018; 1. Treffen künstlerischer Beirat: 13.– 14.4.2018; 2. Treffen künstlerischer Beirat: 26.–27.10.2018; Bürger­ bühnenfestival – Staatsschauspiel Dresden: 17./18. und 25./26.5.2019 Fremde Heimat, Foto: Jürgen Berger, Original: privat

tischen Kuba, die Privatrestaurants oder der Lini­ enverkehr per Anhalter in klapprigen Limousinen nicht Prototypen von AirBnB, Couchsurfing und Uber? Hier setzt das Theaterlabor an, recherchiert im kubanischen Filmarchiv, filmt das Kuba von heute und hört den Menschen zu, deren Leben zwischen die ideologischen Fronten geriet. Es macht die kleinstmögliche Gemeinschaft – die Fa­ milie – zum Ausgangspunkt für die Frage, wie die kubanische Geschichte weitergedacht werden kann, und was wir heute von Kuba für die Welt von morgen lernen können. www.rimini-protokoll.de

Künstlerische Leitung: Stefan Kaegi Dramaturgie: Yohayna Hernández González (CU), Aljoscha Begrich Kamera: Marta María Borrás (CU) Maxim Gorki Theater, Berlin: 22.–24.3.2019

Pátria Estrangeira / Fremde Heimat Brasilianisch-deutsches Theaterprojekt Die brasilianisch-deutsche Koproduktion „Fremde Heimat“ erzählt vom Leben der Nachkommen deutscher Einwanderer in Brasilien. Nachkommen deutscher Einwanderer findet man heute in allen sozialen Schichten der brasiliani­ schen Metropolregion um Porto ­Alegre. Im zugehörigen Bundes­ staat haben 30 Prozent der Be­ wohner d ­ eutsche ­Vorfahren, die in den ­letzten 200 ­Jahren in mehre­ ren ­E inwanderungswellen von Deutschland nach Brasilien ge­ kommen sind. Im 19. Jahrhundert kamen die Einwanderer vor allem aus kleinbäuerlichem Milieu, in der Weltwirtschaftskrise um 1920 wa­ ren es zahlreiche ­Arbeiterfamilien, später Verfolgte des NS-Regimes und ehemalige Nationalsozialisten, die ver­suchten, dort unterzutau­ chen. In einzelnen Einwanderer­ familien wird bis heute Deutsch ge­sprochen. Vor diesem Hintergrund recher­ chiert und schreibt der deutsche Autor Jürgen Berger ein Theater­ stück, das von der brasilianischen Regisseurin Mirah Laline insze­ niert wird. Gemeinsam mit Perfor­ mer/innen, Schauspieler/innen und Musiker/innen entsteht aus den ­biografischen Recherchen und ­Interviews ein doku-fiktionaler Abend, der Heimat und Zugehö­ rigkeit thematisiert, aber auch nach Einwanderungs- und Inte­ grationspolitik fragt: Wie funktio­ niert Identitätsbildung in F ­ amilien von Auswanderern? Inwiefern gibt es die Tendenz zur konservativen Abgrenzung gegen die neue Hei­ mat in Gemeinschaften von Aus­ wanderern? Welche Parallelen gibt es zu der Situation in Deutsch­ land? Die Aufführungen finden sowohl in Porto Alegre als auch in Karlsruhe statt, geplant sind weitere Gast­ spiele in Deutschland und der Schweiz.


44 www.staatstheater.karlsruhe.de

Autor: Jürgen Berger Regie: Mirah Laline (BR) Video: Maurício Casiraghi (BR) Produktionsleitung: Daniela Mazzilli (BR), Primeira Fila Produções Künstlerische Leitung / Dramaturgie: Jan Linders Ensemble: Camila Falcão (BR), Martina Fröhlich (BR), Karin Salz Engel (BR), Philipe Philippsen (BR), Luis Quintana Goethe-Institut Porto Alegre: 30.8.2018–7.9.2019; Staatstheater Karlsruhe, Studio: 21.–23.9.2018, 26.–28.4.2019

Invisible Republic ­(Revolutionsrevue) Andcompany&Co. reisen durch 100 Jahre Revolution: 2018–1968–1918 Wie blicken wir heute auf das Jahr 1968? Als ein Da­ tum im Geschichtsbuch, als Zäsur, als Mythos? Zum 50. Jahrestag von 1968 entwickeln die Performer/ innen des Theaterkollektivs andcompany&Co. eine Inszenierung, bei der genau diese Fragen im Zen­ trum stehen sollen. Die Gruppe andcompany&Co. ist bekannt für ihre künstlerische Auseinanderset­ zung mit historischen und politischen Themen und hat eine ganz eigene, popkulturell geprägte Thea­ tersprache entwickelt. Auf der Suche nach dem Geist und den Geistern der Revolutionen des 20. Jahrhunderts begeben sich die Performer/innen im Jahr 2018 auf eine theatrale Recherchereise durch Europa. Die erste Station wird Frankfurt am Main sein, wo sie mit Zeitzeugen über das Jahr 1968 sprechen und im Rahmen einer Residenz am Künstlerhaus Mousonturm arbeiten werden. Ihre Recherche führt die Performer/innen weiter durch Frankreich und an die deutsch-französische Grenze, an der sie mit dem französischen Regisseur Phillipe Quesne eine theatrale Intervention entwickeln. In Sofia unter­ suchen sie zusammen mit dem ACT Independent Theatre Festival die Geschichte der Weltjugend­ festspiele, die 1968 in Sofia stattfanden. Weitere Stationen sind Prag und St. Petersburg. Das Festi­ val Access Point und das Alexandrinsky Theater St. Petersburg unterstützen die Performer/innen bei ihrer Recherche und den Gesprächen mit Zeitzeu­ gen vor Ort. An allen Stationen wird das Kollektiv künstlerische Interventionen inszenieren und Videos produzie­ ren. Diese bilden das Ausgangsmaterial für eine Bühnenproduktion, die schließlich in St. Pe­ tersburg und im HAU in Berlin ihre Premiere feiert. www.andco.de

Künstlerische Leitung: Alexander Karschnia, Nicola Nord, Sascha Sulimma Künstler/innen: andcompany&Co. Bühne und Kostüm: Janina Audick Video: Kathrin Krottenthaler Ausstattung Residenz: Raul Walch Performer/innen: Nina Kronjäger, Mira Partecke, Claudia Splitt Residenz – Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt am Main: 30.4.–20.5.2018; Lecture / Happening – Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt am Main: 5.5.2018; Preview – Alexandrinsky Festival, Sankt Petersburg: 28.–30.9.2018; Aufführung – HAU Hebbel am Ufer, Berlin: 12.–17.10.2018; ACT Festival, Sofia: 10.–11.11.2018; Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt am Main: Anfang ­November 2018; FFT, Düsseldorf: 25.–26.1.2019; brut, Wien: 8.–9.2.2019

Hinterland Eine feindliche Übernahme Der geografische Begriff „Hinterland“ ist vielfältig konnotiert: Er beschreibt zum Beispiel ländliche Randgebiete großer Metropolen. Wer hier lebt, hat statistisch erwiesen ein geringeres Einkommen und ist oft schlechter ausgebildet. In der Militärgeogra­ fie definiert er das Gebiet hinter einer Kriegsfront. „Hinterland“ kann aber auch als mentaler Ausdruck einer Stimmungslage verstanden werden, die Teile der Gesellschaft erfasst hat und sich in Ängsten, Ohnmacht oder Wut äußert. Das interdisziplinäre Projekt der Wiesbaden ­Biennale 2018 holt das „Hinterland“ symbolisch ins Zentrum von Wiesbaden. Acht internationale Künstler/innen verschiedener Generationen ent­ wickeln ­Interventionen im Stadtraum, die kollek­ tive Empfindungen und Selbstbilder unserer Ge­ sellschaft befragen. So wird beispielsweise der spanische Konzeptkünstler Santiago Sierra mit einer groß angelegten Arbeit vertreten sein, mit der er die Ängste vor dem Fremden visualisiert und die Kraft spürbar macht, die von dem Willen zur Abschottung ausgeht. Der amerikanische ­Fotograf Roger Ballen bespielt eine leerstehende Einkaufs­ passage und thematisiert die Angst vor s­ ozialem Abstieg und Kontrollverlust. Und der l­ ibanesische Künstler Rabih Mroué beschwört in durch Vanda­ lismus zerstörten Räumen die Illusion eines Bür­ gerkriegs herauf – eine Spiegelwelt zwischen Ima­ gination und Manipulation. www.wiesbaden-biennale.eu www.staatstheater-wiesbaden.de

Künstlerische Leitung: Maria Magdalena Ludewig & Martin Hammer Fotograf: Roger Ballen (US) Beteiligte Künstler/innen: Roger Ballen (US/SA), Katy Biard (UK), Samira Elagoz (FI), Vincent ­Glowinski (FR), Rabih Mroué (LB), Kim Noble (GB), Santiago Sierra (ES) Interventionen – öffentlicher Raum, Wiesbaden & Rhein-Main-Region: 16.8.–2.9.2018; Installationen, Performances, Interventionen – City Passage, ­Reisinger Anla­ gen, Hessisches Staats­theater, ­Wiesbaden: 23.8.–2.9.2018

Veröffentlichung Adressbuch ­Hannah Höch Symposium und Besuch des ­Künstlerhauses Die Berliner Dada-Künstlerin und Colla­ gistin Hannah Höch (1889–1978) führte über sechs Jahrzehnte, von 1917 bis 1978, ein Adressbuch. Nach dem Prinzip der Collage entstand ein rund 350 Seiten star­ kes Kompendium, das Höchs zahlreiche Kontakte zu Künstlerkollegen und Gale­ risten, Architekten, Schriftstellern, Kunstkritikern und Philosophen doku­ mentiert. Ihr Adressbuch enthält über 1.400 Namen, darunter Hans Arp, Max Ernst, Lyonel Feininger, El Lissitzky, Ludwig Mies van der Rohe, Hans Scha­ roun, Oskar Schlemmer und viele mehr. Das Adressbuch begleitete sie ihr gesam­ tes Leben lang und durch einige der be­ wegtesten Kapitel deutscher und europä­ ischer Geschichte hindurch: Die ersten Einträge stammen aus der Zeit des Kai­ serreichs, Höch ergänzte Adressen in den Zwanziger Jahren, hielt an diesem Buch während der Zeit des Naziregimes fest, als sie als Kulturbolschewistin gebrand­ markt wurde, und führte es weiter bis zu ihrem Tod in der inneren Emigration am nördlichen Stadtrand Berlins. Die Veröf­ fentlichung des aufwendig restaurierten Adressbuchs ergänzt das letzte fehlende Stück im ansonsten vollständig publizier­ ten Nachlass Höchs. Der Berliner Transit-­ Verlag veröffentlicht Auszüge des Adress­ buchs mit insgesamt 500 Namen, die in ihren Beziehungen zu Höch erläutert werden, ergänzt durch 77 Faksimiles der originalen Adressbuchseiten sowie durch Fotos, Briefe und Abbildungen von Kunstwerken. Höchs mehrjähriger Auf­ enthalt in den Niederlanden in den Zwan­ ziger Jahren ist zudem Anlass für ein kunsthistorisches Symposium in der Nie­ derländischen Botschaft, zu dem inter­ nationale Wissenschaftler/innen zu Werk und Leben Hannah Höchs sowie zur Re­ staurierung und Bedeutung des Adress­ buchs sprechen werden. Autor: Harald Neckelmann Mitwirkende: Hanne Bergius, Jula Dech, Christine Fischer-Defoy, Anita Knop, Tanja Samrotzki, Danny Verbaan (NL) Buchveröffentlichung – Berlin: 20.8.2018; Symposium – Niederländi­ sche Botschaft, Berlin: 21.9.2018; Besuch Künstlerhaus Hannah Höch – Berlin: 21.9.2018


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SEITENWEISE GESCHICHTEN Das Adressbuch der Hannah Höch

Paul Dresler Töpferei Grootenburg Krefeld, Violstr. 93 Tel 24625 Doesburg. Rue D’Arcueil 2, Villa Corot, Paris 14.

Delauney Sonja. Paris, Bulv. Malesherbes 19.

Nellys Mutter, den Haag, ­Violenweg 16. Tel. 51137

Doorn (­von Kurt S ­ chwitters geschickt) Haag, Laan Copes 145 Haag C. Domela-Nieuvenhuis Berlin Pommerschestr. 12a. Uhland 5119. Hamburg Mittelweg 151 bei ­Hamburg 2 Danilo Stuttgart, ­Deutsche Auto-Versicherungs A.G. ­Goethestr. 14 privat: (…) Werastr. 60.

Hannah Höchs Adressbuch, 1917-1978, Nachlass Hannah Höch, Scan: Berlinische Galerie

Dresler, Paul (1879 Siegen – 1950 Krefeld, Keramiker), Krefeld. Dresler zählt zu den bedeutendsten Kerami­ kern des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer prägte er die Entwicklung der künstlerischen Gefäßkeramik in der Zeit zwischen beiden Weltkriegen. Mit Unterstützung der Stadt Krefeld gründe­ te er 1913/14 die „Töpferei Grootenburg“. van Doesburg, Theo (1883 Utrecht – 1931 Davos, niederländischer Maler, Schriftsteller, Architekt, Bildhauer, Typograf, Kunsttheoretiker), Clamart, Straßburg, Paris. Doesburg war der Begründer der niederländischen De-Stijl-Bewegung. Höch war mit ihm befreundet, sie tauschten sich auf theoretischer Ebene aus. Eine liebevol­ le Freundin fand Höch auch in seiner Frau Nelly mit dem Künstlernamen Pétro (geb. van Moorsel; 1899–1975). Nelly war eine niederländische Tänzerin und Pianistin. Der Kontakt zwischen Doesburg und Höch entstand über Raoul Hausmann. Der von Doesburg organisierte Dadaisten- und Konstruktivisten­kongress vom 25. bis

27. September 1922 in Weimar war das letzte große dadaistische Klassentref­ fen. Höch wurde eingeladen, hielt sich aber damals in Oberbayern auf. Im April 1924 besuchte Höch die Doesburgs in Paris, die „nicht müde (wurden), mich mit der Pariser Künstlerwelt bekannt zu machen, und wir zogen von Atelier zu Atelier“. Auf einer Visitenkarte empfahl Doesburg die Malerin Höch als „une artiste sincére et devouée“ („eine aufrichtige und ergebene Künstlerin“). Auf einem Foto sieht man Nelly van ­Doesburg im Atelier von Höch nackt vor dem Spiegel sitzend. Sie hält die Dadapuppen der Künstlerin auf dem Schoß. Mehrfach scheint sie Höch als Modell gedient zu haben. Nellys Mutter. Gemeint ist die Mutter von Doesburgs Frau. Delaunay-Terk, Sonia (geb. Stern, 1885 Gradischsk –1979 Paris, russisch-fran­ zösische Malerin, Designerin), Paris. Delaunay-Terk war die Frau des fran­ zösischen Avantgarde-Malers Robert Delaunay (1885–1941), der auch

kunsttheoretische Schriften verfasste. Sie war mit dem Schriftsteller Tristan Tzara befreundet und entwarf für sein Stück Le coeur à gaz die Kostüme. Höch machte sich einige Notizen, bevor sie 1924 nach Paris reiste und Delaunay nach Stoffmustern fragen wollte. Höch schrieb auf: „Fläche in einer Farbe (ev. Schwarz) anstreichen und wenn ganz trocken, mit Spachtel neu, in leuchten­ den Farben, aufmalen.“ Doorn („von Kurt Schwitters ­geschickt“), Den Haag. Domela-Nieuwenhuis, César (Ces) (1900 Amsterdam – 1992 Paris, nieder­ ländischer Maler, Grafiker, Fotograf). 1920 zog Domela-­Nieuwenhuis nach Berlin. Seine abstrakt konstruierten Bilder zeigte er in den Ausstellungen der Novembergruppe. Als Mitglied von De Stijl hatte Domela-Nieuwenhuis Kontakt zu Theo van Doesburg und Piet Mondrian in Paris. Von 1927 bis 1933 arbeitete er in Berlin als Reklame­ fotograf. Nach der Machtübernahme ging er endgültig nach Paris.

Danilo (Höch) (Höch jun., Friedrich (Fritz), 1891–1975, genannt Danilo; Bruder), Stuttgart, Düsseldorf. Er war der jüngere Bruder von Hannah Höch und verheiratet mit Luise (Liese) Höch, die Tochter hieß Eva-Maria (Evchen). Die Künstlerin vertraute ihm. Am 23. Januar 1938 schreibt Höch über Danilo: „Er ist doch der einzige, der sich auch mal Gedanken über mich macht und etwas persönliches Interesse aufbringt; von meinen Geschwistern.“ Als der Zweite Weltkrieg begann, brach der Kontakt von Höch zu Freunden in der Emigration ab. Vertraut verkehrte sie weiter mit ihrem Bruder. „Auch die allerletzten Freunde gingen nun noch weg und waren auch brieflich nicht mehr zu erreichen. Aus­stellungen hatte ich schon längst nicht mehr beschickt. Jeder misstraute jedem. Man sprach also mit niemandem mehr. Man verlernte die Sprache.“ Nach der zweiten Scheidung ihres Bruders erklärte die ­Künstlerin ihm: „Ich male dir einmal eine schöne Frau, die dann immer bei dir bleibt.“


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im/possible ­bodies Ein Projekt zur Dekolonisierung von Körper, Sexualität und Blick 2018 sind rund 50 Jahre seit dem Beginn der sogenannten sexuellen Revolution vergan­ gen. Mit ihr setzte ein bis heute andauern­ der, fundamentaler Liberalisierungsprozess ein: von der Einführung der Anti-Baby-Pil­ le bis zur Ehe für alle. Diese Entwicklung war stets von kontroversen öffentlichen De­ batten begleitet. Vor allem in Großstädten haben sich queere Lebenswelten inzwischen etablieren können und entfalten bisweilen große Anziehungskraft. Dem Projekt „im/ possible bodies“ nach verdeckt diese Ent­ wicklung jedoch noch weit verbreitete For­ men anderer Diskriminierung, zum Beispiel der Trans-Menschen. Trotz unbestrittener Erfolge sei die sexuelle Liberalisierung vor allem auf weiße, heterosexuelle Lebensstile des globalen Westens beschränkt geblieben und anderen Minoritäten vorenthalten wor­ den. Vor allem das Wechselverhältnis von Hetero­ normativität und Kolonialismus sowie entsprechen­ den Formen gesellschaftlicher Fremdbestimmung würden zu selten in den Blick genommen. Hier setzt „im/possible bodies“ an und verleiht margi­ nalisierten und ungehörten Stimmen Ausdruck, die queer, schwarz oder of Color sind. Ein langfristiger Künstlerdialog in Tanz und Performance soll den Körper als Schauplatz gesellschaftlicher und kolo­ nialer Auseinandersetzungen thematisieren und der vielfältigen künstlerischen Darstellung öffnen. Dazu veranstaltet das Projekt ab Dezember 2017 mehrere Künstlertreffen, Künstlerresidenzen und Kunstpräsentationen im Künstlerhaus Mouson­ turm sowie an weiteren Orten in Frankfurt am Main und in Birmingham. Das „im/possible bodies“-Fes­ tival im April 2018 und das anschließende Sympo­ sium bilden einen Schwerpunkt des Projekts. www.mousonturm.de

Künstlerische Leitung: Elisa Liepsch Künstler/innen: niv Acosta (US), Fannie Sosa (AR), Simone Dede Ayivi, Nuray Demir/ Tümay Kılınçel, Danny Banany, Andrez/Barra/Caio/ Fernanda/Gui/Iaci/Luiz/Tereza (BR), Last Yearz Interesting Negro (UK), Jaamil Olawale Kosoko (US), Aaron Wright (UK) u. a. Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt am Main: 16.–30.4.2018; im Vorfeld und beim Fierce Festival Birmingham 2018/19 Künstlerresiden­ zen, Showings und Symposium

Jaamil Olawale Kosoko, Foto: Andrew Amorim

Die sechs ­B­randenburgischen Konzerte Anne Teresa De Keersmaeker / Amandine Beyer / Rosas & B’Rock Orchestra Die Brandenburgischen Konzerte Johann Sebasti­ an Bachs gehören zu den populärsten nicht-religi­ ösen Werken des Komponisten. Jedes der Konzer­ te ist ein Experiment, das die Grenzen des Genres ausreizt und das höfische Instrumentarium immer wieder neu und anders kombiniert. Für die belgi­ sche Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker, die berühmt ist für ihren analytischen Umgang mit Musik, gehört Bachs Werk zu den Konstanten ihres eigenen künstlerischen Schaffens. Doch anders als in ihren früheren Bach-Stücken wird sie bei dieser Produktion mit einem großen Ensemble arbeiten. Um die Verbindung von Choreografie und Musik noch enger und sichtbarer zu gestalten, wird De Keersmaeker jedem Soloinstrument einen Tänzer zuordnen. Sie nimmt damit auf einen ihrer innova­ tiven künstlerischen Ansätze Bezug, bei dem der Gestus des Musizierens seine ganz eigene Entspre­ chung im Tanz findet. Unter der Leitung der fran­ zösischen Dirigentin Amandine Beyer spielen die Musiker/innen des B’Rock Orchestras. Sie haben sich auf historisch fundierte Aufführungspraxis spe­ zialisiert und versuchen in ihren Konzerten immer wieder, Alte Musik mit Theater, Tanz oder Bilden­ der Kunst zu kombinieren. Nach ihrer Uraufführung in Berlin tourt die Produktion durch Europa und Nordamerika. www.volksbuehne.berlin

Künstlerische Leitung: Marietta Piekenbrock Choreografie: Anne Teresa De Keersmaeker (BE) Musikalische Leitung: Amandine Beyer (FR) Bühne: Jan Versweyveld (BE) Kostüme: An D’Huys (BE) Dramaturgie: Jan Vandenhouwe (BE) Tänzer/innen: Boštjan Antončič (SI), Carlos Garbin (BR), Frank Gizycki (FR), Marie Goudot (FR), Robin Haghi (SE), Cynthia Loemij (NL), Mark Lorimer (UK), Michaël Pomero (FR), Jason Respilieux (BE), Igor Shyshko (BY) u. a. Musiker: B’Rock Orchestra (BE) Volksbühne Berlin: 12.–15.9.2018; Ko-Produktion – P.A.R.T.S., La Monnaie / De Munt, Brüssel u.a.


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KULTURSTIFTUNG DES BUNDES

Dr. Franziska Nentwig Geschäftsführerin des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI Regula Venske Präsidentin PEN-Zentrum Deutschland

STIFTUNGSRAT Der Stiftungsrat trifft die Leitentscheidungen für die inhaltliche Ausrichtung, insbesondere die Schwerpunkte der Förderung und die Struktur der Kulturstiftung. Der aus 14 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat spiegelt die bei der Errichtung der Stiftung maßgebenden Ebenen der politischen Willensbildung wider. Die Amtszeit der Mitglieder des Stiftungsrates beträgt fünf Jahre. Vorsitzende des Stiftungsrates Prof. Monika Grütters Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien für das Auswärtige Amt Prof. Dr. Maria Böhmer Staatsministerin

Frank Werneke Stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di Olaf Zimmermann Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats

JURYS UND ­KURATORIEN Rund 50 Experten aus Wissenschaft, Forschung und Kunst beraten die Kulturstiftung des Bundes in verschiedenen fach- und themen­ spezifischen Jurys und Kuratorien. Weitere Informationen zu diesen Gremien finden Sie auf unserer Website unter ↗ www.kulturstiftung-­ bund.de bei den entsprechenden Projekten.

für das Bundesministerium der Finanzen Jens Spahn Parlamentarischer Staatssekretär für den Deutschen Bundestag Prof. Dr. Norbert Lammert Bundestagspräsident a.D. Burkhard Blienert Entsandter des Deutschen Bundestags Marco Wanderwitz Bundestagsabgeordneter als Vertreter der Länder Rainer Robra Staats- und Kulturminister, Chef der Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt Dr. Eva-Maria Stange Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen als Vertreter der Kommunen Klaus Hebborn Beigeordneter, Deutscher Städtetag Uwe Lübking Beigeordneter, Deutscher Städte- und Gemeindebund als Vorsitzender des Stiftungsrates der ­Kulturstiftung der Länder Tobias Hans Ministerpäsident des Saarlandes als Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur Prof. Dr. Bénédicte Savoy Professorin für Kunstgeschichte Dr. Hartwig Fischer Direktor des British Museum Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Lepenies Soziologe

STIFTUNGSBEIRAT Der Stiftungsbeirat gibt Empfehlungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Stiftungstätig­ keit. In ihm sind Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik vertreten. Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann Präsident des Goethe-Instituts, Vorsitzender des Stiftungsbeirates Prof. Markus Hilgert Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder Prof. Ulrich Khuon Präsident des Deutschen Bühnenvereins Prof. Dr. Eckart Köhne Präsident des Deutschen Museumsbunds Prof. Martin Maria Krüger Präsident des Deutschen Musikrats

DIE STIFTUNG Vorstand Hortensia Völckers Künstlerische Direktorin Alexander Farenholtz Verwaltungsdirektor Sekretariate Beatrix Kluge / Beate Ollesch (Büro Berlin) / Christine Werner Referent des Vorstands Dr. Lutz Nitsche Justitiariat / Vertragsabteilung Christian Plodeck ( Justitiar) / Kristin Duda / Anja Petzold / Kathleen Wismach Kommunikation Friederike Tappe-Hornbostel (Leitung) / Tinatin Eppmann / Bijan Kafi / Bosse Klama / Juliane Köber / Julia Mai / Christoph Sauerbrey / Arite Studier / Therese Teutsch Förderung und Programme Kirsten Haß (Leitung) / Dr. Marie Cathleen Haff (Leitung Allgemeine Projektförderung) / Dr. Sebastian Brünger / Teresa Darian / Anne Fleckstein / Dr. Michael Fürst / Marie Krämer / Antonia Lahmé / Oliver Luckner / Carl Philipp Nies / Uta Schnell / Max Upravitelev / Friederike Zobel / Anna Zosik Programm-Management und Evaluation Ursula Bongaerts (Leitung) / Marius Bunk / Lucie Chwaszcza / Marcel Gärtner / Katrin Gayda / Bärbel Hejkal / Sarah Holstein / Constanze Kaplick / Steffi Khazhueva / Anja Lehmann / Frank Lehmann / Dörte Koch / Saskia Seidel Projektprüfung Steffen Schille (Leitung) / Franziska Gollub / Fabian Märtin / Antje Wagner Verwaltung Andreas Heimann (Leitung) / Margit Ducke / Maik Jacob / Steffen Rothe Auszubildender Basel Khadir Omar

DAS MAGAZIN Wenn Sie dieses Magazin regelmäßig beziehen ­möchten, können Sie Ihre Bestellung auf unserer Website unter ↗ www.kulturstiftung-bund.de/­ magazinbestellung aufgeben. Falls Sie keinen Internetzugang haben, ­erreichen ­Sie uns auch telefonisch unter 0345 2997 131. ­ Wir nehmen Sie gern in den Verteiler auf! Das Magazin Nº 30 können Sie auch als E-Magazin in englischer Sprache abrufen unter ↗ www.kulturstiftung-bund.de/magazine.

DIE WEBSITE Die Kulturstiftung des Bundes unterhält eine umfangreiche zweisprachige Website, auf der Sie sich über die Aufgaben und Programme der ­ ­Stiftung, die Förderanträge und geförderten Projekte und vieles mehr informieren können. Besuchen Sie uns unter ↗ www.kulturstiftung-bund.de ↗ facebook.com/kulturstiftung ↗ twitter.com/kulturstiftung

IMPRESSUM Herausgeber Kulturstiftung des Bundes Franckeplatz 2 06110 Halle an der Saale T +49 (0)345 2997 0 F +49 (0)345 2997 333 info@kulturstiftung-bund.de ↗ www.kulturstiftung-bund.de Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. © Kulturstiftung des Bundes – alle Rechte vor­behalten. Vervielfältigung insgesamt oder in Teilen ist nur zulässig nach vorheriger schriftlicher Zustimmung der Kulturstiftung des Bundes. Vorstand Hortensia Völckers, Alexander Farenholtz (verantwortlich für den Inhalt) Redaktion Friederike Tappe-Hornbostel Redaktionelle Beratung Tobias Asmuth Schlussredaktion Therese Teutsch Gestaltung Ole Jenssen, Neue Gestaltung Bildnachweis Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin / Fotos: David von Becker Wir haben uns bemüht, für alle Abbildungen die Rechteinhaber zu ermitteln. Sollten dennoch Ansprüche offen sein, bitten wir um Benachrich­ tigung. Druck bud, Potsdam

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kompensiert Id-Nr. 1870689 www.bvdm-online.de

Redaktionsschluss 31.1.2018 Auflage 26.000 Die Kulturstiftung des Bundes wird gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.



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