HANDWERK: NOร MI SPEISER 3/09
DIE INFORMATION DES KURSZENTRUMS BALLENBERG
Kurszentrum Ballenberg, CH-3855 Brienz Telefon 033 952 80 40, Fax 033 952 80 49 info@ballenbergkurse.ch, www.ballenbergkurse.ch Handwerk, traditionelles Bauhandwerk, zeitgenรถssische Gestaltung
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Handwerk 3/2009. Herausgeber: Kurszentrum Ballenberg, 3855 CH-Brienz, Telefon 033 952 80 40, Fax 033 952 80 49, www.ballenbergkurse.ch, info@ballenbergkurse.ch. Druck: Gisler Druck AG, Altdorf. Layout: Margret Omlin, ab Seite 12 inkl. Illustration Seite 21 und Umschlag Eva Maria Knüsel Auflage 2800/3 Ausgaben jährlich. Abo Inland CHF 28.–/Ausland CHF 38.–. Einzelnummer CHF 10.–.
Noémi Speiser zeigt eine ihrer Créationen. Es handelt sich um eine seltsame Form des Schlauchgeflechtes: statt vier, sechs oder mehr hat sie lediglich zwei Graten. Oben liegen eine weisse S- und eine grüne Z-Kordel einzeln. Die beiden vereinen sich. Links deckt Weiss das Grün stufenweise mehr und mehr, rechts ist schlussendlich Grün vollständig an der Oberfläche.
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EDITORIAL wir fliegen, desto kleiner wird der Radius
Alles das wird präzise und flüssig auf-
Schon bei meiner ersten Begegnung
unserer Übersicht. Wir nähern uns jetzt der
einanderfolgen, damit mein wohldurch-
mit Noémi Speiser 2008 war mir klar,
Kategorie der Diagonalflechterei. Die ande-
dachtes Programm von Anfang bis Ende
dass alles, was ich vorher über sie gehört
ren beiden weichen aus dem Fokus, blei-
klar durchkommt, Zeit zum Verschnaufen
hatte, nicht wirklich beschreibt, was
ben aber trotzdem im Bewusstsein anwe-
und zu Gesprächen habt Ihr in den drei
diese Begegnung unvergesslich machte.
send. Meine Demonstrationen gelten den
Pausen, wo ich nicht anwesend bin. Das
Programm
Wie aus einer ungestümen Quelle ist
sprudelte es richtig aus ihr heraus und
anspruchsvoll. Aber ich garantiere, dass
mir war klar, dass es gelingen müsste, Noémi Speiser mit ihrem
dukten, welche ich in etwa 16 Nummern
sich niemand langweilen wird. Wer den
umfassenden Wissen und ihrer grossartigen Sammlung und
vorzeigen und erklären werde.
Zusammenhang verliert, der kann immer
Systematik zu einer Demonstration ins Haus einzuladen und
noch alles als Bilderbogen an sich vorbei-
interessierten Fachleuten zugänglich zu machen.
des Ballons dicht oberhalb des festen
ziehen lassen und sich daran freuen und
Bodens, aber beweglich hin und herschwe-
sich verwundern.»
bend. Nicht ein einziges Mal lasse ich Euch
Mit Master 1 am 10. Oktober 2009 haben die Teilnehmenden im Kurszentrum Ballenberg eine Sternstunde erlebt. Das vorlie-
Eure Noémi Speiser ■
gende Heft soll eine Hommage für Noémi Speiser sein, soll ein
aussteigen, denn Ihr sollt niemals den
Dank sein, soll Einblick geben in ihr Forschen und Lehren. Es
minars im Kurszentrum Ballenberg. Ich
Überblick verlieren. Das heisst in klaren
soll aber auch ein Dank sein für diese, wie Noémi Speiser aus-
freue mich sehr, Euch am Samstag, dem 10.
Worten: Ihr werdet den ganzen Tag lang
drücklich sagte, letzte Demonstration vor Publikum.
Oktober im Kurszentrum zu treffen. Das,
keine Fäden in den eigenen Händen halten.
Noémi Speiser, wir danken herzlich für diesen grossartigen
was ich für Euch bereit habe, werde ich in
Ich werde jedes Mal die Prinzipien, auf
Einblick in Dein umfassendes Wissen, Können und Forschen,
einer speziellen Form darbringen. Deshalb
denen eine Arbeit beruht, klar benennen,
danken, dass Du uns teilhaben liessest an Deiner Leidenschaft,
will ich hier kurz sagen, was Euch bevor-
nicht aber eingehen auf die für eine prakti-
die sich mit den von Dir beseelten Dingen verbindet. Du hast für
steht. Ich setze keinerlei Vorkenntnisse vor-
sche Arbeit unerlässlichen Einzelheiten.
uns die Fäden lebendig gemacht und hast Welten erschlossen,
aus. Wer solche hat, der möge daraus keine
Das ist der Verzicht, der im Interesse einer
oder für uns wenigsten das Fenster aufgestossen und uns Wel-
Vorurteile entwickeln. Ich wünsche, dass
Zusammenschau geleistet werden muss.
ten erahnen lassen. Mein grosser Dank nochmals, dass Du Dich
Ihr alle Euch vertrauensvoll dem Weg über-
Wer eine einzelne Technik selber versuchen
überzeugen liessest und die grosse Vorbereitungsarbeit nicht
lassen, welchen ich einschlagen werde.
würde, dem bliebe vom ganzen Tag nur die-
scheutest.
Es geht um die Frage, wie aus Fäden ein Stoff entsteht. Wenn wir, etwa aus
Wir versuchen auf den folgenden Seiten einen Eindruck zu
ses Erlebnis in der Erinnerung: Mein Ziel
vermitteln über die Art der Demonstration und zeigen einige der
wäre damit gründlich verfehlt.
einem in höchster Höhe schwebenden Luft-
Ich habe etwa 16 Nummern vorbereitet,
ballon, die gesamte Zahl von Möglichkeiten
einige kürzer, andere länger. Die werden
Ab Seite 14 ein Besuch in der Seilerei Herzog in Willisau, die
überblicken, so erkennen wir, dass sie sich
mit dem Klingeln eines Glöckleins ange-
uns freundlicherweise erlaubt haben, eine Forschungsarbeit
beeindruckenden Arbeitsbeispiele von Noémi Speiser.
in lediglich drei dominierende Kategorien
sagt. Für jede ist ein Säcklein voll Werk-
über die Herstellung von Geisseln, minutiös aufgezeichnet von
ordnen lassen:
zeug, Bilder, Muster bereit. Wenn Demon-
Noémi Speiser, hier zu publizieren. Diese Art der Dokumentation
I
Die Arbeit mit einem einzelnen Element
stration und Erklärung zu Ende sind, könnt
und Darstellung ist für uns ein Einstieg in das geplante Archiv
II
Die Arbeit mit einem Fadensatz
Ihr noch kurz alles anschauen – dann ver-
für das Immaterielle Kulturerbe im Handwerk. ■
III Die Verarbeitung von zusätzlichen
schwinden sie definitiv, und der Tisch wird
Elementen mit einem vorbereiteten
für die folgende Nummer frei. Fragen dür-
Fadensatz
fen jederzeit eingeworfen werden. Einige anderen verweise ich auf später. Vielleicht
Wie aus Faden ein Stoff entsteht. Eine Begegnung der besonderen Art, ab Seite 1
immer mehr Einzelheiten, aus welchen sich
aber sage ich: Das führt zu weit in Details,
Ein Besuch, Seite 14
Gruppen und Untergruppen bilden. Je tiefer
welche heute nicht im Programm stehen.
Die Geissel, Seite 16
werde ich rasch beantworten können, bei Im sinkenden Flug zeigen sich denn
Handwerk 3/2009
Schluss:
ken des Diagonalgeflechtes und deren Pro-
Ihr aber bleibt in dem geflochtenen Korb
«An die Teilnehmenden meines Se-
Zum
1
erstaunlich vielen verschiedenen Techni-
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DIE DREI SCHLÜSSELFRAGEN Angesichts
eines
textilen
Objektes
oder Fragments gibt es drei Fragen:
rechtfertigen. In solchen Fällen erübrigt sich eine Antwort auf Frage 3. Dieser Sachverhalt muss aber sorgfältig vermerkt werden. Denn eine Antwort auf Frage 2, selbst
Frage 1: Wie ist die Struktur beschafwenn sie durch greifbare Resultate überfen? Das heisst: Wie fügen sich die Elezeugend bestätigt wird, darf nie und nimmente zu einem kohärenten Stoff? mer auf Frage 3 übertragen werden. Bei dieser ersten Phase der Analyse musst du dich ganz frei machen von jeder Frage 3: Was spricht dafür oder vorgefassten Meinung. Je mehr du nämdagegen, dass diese oder jene mögliche lich
von
Strukturen
und
Techniken Technik
auch
wirklich
angewendet
weisst, desto eher bist du geneigt, das zu wurde bei der Herstellung? sehen, was du zu sehen erwartest oder Sofern die Herkunft des vorliegenden sehen möchtest. Die Antwort ist eindeutig. Objektes bekannt ist und die Technik Es braucht da kein Fachwissen, es genügt noch lebt, wird die Feldforschung Antwort ein gutes Augenlicht und einen stumpfen beibringen. Da erübrigt sich die Frage 2. Stecher, womit man sorgfältig die Fäden Andernfalls suche man nach winzigen bewegt. Als Hilfe ist eine Lupe (FadenzähSpuren am vorliegenden Objekt, nach ler) willkommen. Zu gewissen Zwecken Eigenheiten der Warenkanten, Ränder, auch ein Mikroskop. Abschlüsse, nach strukturellen VerändeWenn das Objekt vielschichtig, verfilzt, rungen zur Formbildung. Ganz besonders schwer beschädigt oder mit einem BerühHandwerk 3/2009
irgendwelche Fehler sind hochwillkomrungsverbot belegt ist, so bietet allerdings mene Indikatoren. Aber nur ein genauer eine Strukturanalyse gewisse SchwierigKenner sämtlicher einschlägiger Technikeiten. Was auf deutsch «Dekomponieren» ken und deren Eigenheiten und Tücken genannt wird, nämlich das Aufdröseln des wird nach sorgfältigster Prüfung eine einiFragmentes – das ist selten möglich. germassen verlässliche Antwort auf Frage
2
Frage 2: Wie könnte man die StrukEin vollendetes und über die Mittellinie ausgezogenes Spranggeflecht auf dem Arbeitsrahmen
Das Textbeispiel «die drei Schlüsselfragen» von Noémi Speiser zeigt, wie analytisch, minutiös klar und scharf sie sich mit den im Zusammenhang mit Erkenntnis und Durchsichtigkeit gestellten Fragen beschäftigt hat. Die Bilder zeigen Augenblicke der Demonstrationen vom 10. Oktober 2009 im Kurszentrum Ballenberg.
tur nachbilden?
3 geben können. Wenn die Antwort auf 3 nicht eindeutig bewiesen ist, so darf nur in
Die Antwort braucht technische Kennt-
der Möglichkeitsform davon gesprochen
nisse und Erfindergeist zur Anwendung
werden. Niemals darf eine taugliche Ant-
und Abwandlung existierender Methoden,
wort auf Frage 2 als Sicherheit für 3 gel-
zum Einsatz von existierenden Geräten
ten. Ende der Fragen.
oder zur Entwicklung von neuen. Tatsache ist: Identische oder sehr ähnliche Struktu-
Alles das scheint fast selbstverständ-
ren können zuweilen in völlig verschiede- lich. Aber es ist überraschend und zuweinen Methoden nachgebildet werden. Wenn
len erschreckend, wie manche Desinfor-
Nachbildungen für Hof- oder Theaterge- mation, falsche Namensgebung, wie manwänder,
historischer
cher blanke Irrtum verbreitet wird, was
Gebäude, für Souvenirs – oder für Fäl-
zur
Dekoration
lediglich auf einer falschen Reihenfolge
schungen! – dienen sollen, so lässt sich die
der Fragen oder einer falschen Bezeich-
Anwendung
nung der Antworten beruht.
industrieller
Möglichkeiten
MASTER 1 IM KURSZENTRUM BALLENBERG EINE BEGEGNUNG DER BESONDEREN ART
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Bildimpressionen der Demonstration im Kurszentrum Ballenberg. Linkes Bild: Der DrängEffekt: engl.: Cramming and Spacing: Flechten mit frei hängenden Fäden: Wenn sie sensibel geführt sind, lässt sich Lockerheit und Dichte der Z- oder der S-Richtung beeinflussen durch die Richtung der Lauffäden.
ner Kindheit mitmacht. Also «das ist viel zu unpraktisch»… oder dergleichen ist kein Argument dagegen. Wer in irgendeiner speziellen Technik geschickt und erfahren ist, findet es just besonders schwierig, eine andere sich überhaupt vorzustellen oder gar praktisch auszuüben. Das ist also nicht eine günstige Voraussetzung zur Beurteilung was praktisch machbar ist, und was nicht. Hingegen gibt es Resultate, welche mittels einer gewissen Technik schlecht-
es allerdings ein sehr sorgfältig durch-
hin unmöglich zu erreichen sind, oder
dachtes und differenziertes Vokabular,
umgekehrt
mittels dessen sich Struktur und Technik
Resultate schlechthin verunmöglichen –
Techniken
welche
gewisse
völlig unabhängig voneinander beschrei-
so zum Beispiel ein Ueberhand-Knoten in
ben lassen. Ein solches Vokabular besteht
der Sprangtechnik … noch viele Beispiele
heute noch nicht: fast jedes Verb und
wären zu geben. Nur eine solche beweis-
jedes Substantiv der textilen Terminologie
bare Unmöglichkeit kann als gültiger
bezeichnet Technik implizit mit Struktur
Gegenbeweis gelten.
oder Struktur mit Technik.
Ein weiterer Zusatz: sofern die Frage l
Deshalb wird man mit sehr sorgfälti-
nicht genügend beantwortet werden kann,
gen Umschreibungen sowie auch mit
andererseits aber berechtigte Vermutung
Zeichnungen arbeiten müssen. Ich gebe
einer bestimmten Technik besteht, lässt sich umgekehrt auch durch praktische
nötig ist, derlei raffinierteste Mittel anzu-
Versuche Genaueres herausfinden. Man
wenden. Aber sie können doch zuweilen
muss sich nur klar sein, dass es immer
vorkommen, und man muss dafür bereit
hypothetisch ist.
sein.
3
zu, dass es nur in seltenen Fällen wirklich
Denkbar ist, dass die Reihenfolge der
Man muss genau unterscheiden zwi-
Fragen geändert werden muss, etwa: ich
schen dem, was in gewissen Techniken
habe ein unvollständiges oder sonstwie
lediglich schwierig, und solchem, was fak-
unklares Fragment, etwa nur ein Photo,
tisch unmöglich ist. Was zum Beispiel mir
hingegen kenne ich genau die Technik der
unvorstellbar umständlich vorkommt, das
Herstellung, was also die Antwort auf 3 ist.
könnte jemand anders leicht zustande
In diesem Fall lassen sich selbstverständ-
bringen, weil er vielleicht feinere Finger
lich die Details zu l mit fast vollkommener
hat, zusätzlich die Füsse braucht, irgend-
Sicherheit herausarbeiten.
einen genialen Trick anwendet, ein raffiniert ausgedachtes Hilfsmittel beizieht. Und er kommt unglaublich flink vorwärts, weil die Technik seit Generationen in seiner Familie betrieben wird und er seit sei-
Handwerk 3/2009
Zur korrekten Beantwortung braucht
Noémi Speiser ■
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I Die Arbeit mit einem einzelnen Element, möglicherweise auch über eine Einlage. Das Element verläuft parallel mit dem Arbeitsrand.
HIER EINIGE ERKLÄRUNGEN Alle stoffbildenden Techniken lassen sich aufteilen in drei Superkategorien. Die Hände nehmen eine stereotype, undefinierte Haltung ein. Sie sollen ledig-
sen unsere Superkategorien diverse Kategorien und diese wiederum Subkategorien, welche unzählige einzelne Methoden in sich schliessen. Aber immer sollten einfachste Grund-
lich ihre unerlässliche Anwesenheit de-
lagen zu erkennen sein.
monstrieren. Die entstehende Struktur
jede erdenklich textile Arbeit einer der drei
zusammen mit Arbeitslinie und unverar- Superkategorien
II Die Arbeit mit einem Fadensatz. Eine Anzahl von Fäden wird untereinander verarbeitet. Alle stoffbildenden Elemente sind also zugleich anwesend. Die unverarbeiteten Teile stehen vom Arbeitsrand ab und treten mehr oder weniger schräg ins entstehende Geflecht ein.
Also dass sich
zuordnen
lässt.
Das
beiteten Fäden können je nach den Um-
heisst, dass die Titel sehr allgemein und
ständen auch umgekehrt oder rechtwink-
umfassend formuliert sein müssen, so
lig oder schräg in Bezug auf die Hände ste-
dass möglichst wenig Zwischenformen
hen. Jegliche Andeutung von allenfalls
und hoffentlich überhaupt keine nicht
benötigten handlichen kleinen Hilfsmit-
einzuordnenden Fälle vorkommen. ■
teln sowie von mehr oder weniger anspruchsvollen Geräten fehlen. Die dunkle Masse unter den Händen ist die entstehende Struktur. Ihre allgemeinsten Charakteristika sind angedeutet: bei I irgendwelche Wellenlinien, bei II sich kreuzende Diagonalen, bei III waagrecht-senkrecht
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sich kreuzende Linien. Die hellen Schatten bzw. Nebel verdekIII Die Verarbeitung von zusätzlichen Elementen mit einem vorbereiteten Fadensatz. Einzelne Elemente oder Teile eines fortlaufenden Elementes werden in ein vorbereitetes Kettsystem gearbeitet. Die Einträge verlaufen parallel mit dem Arbeitsrand und mehr oder weniger rechtwinklig zum Kettsystem.
ken alles, was unklar bleiben soll: nämlich jegliche genauere Charakterisierung der entstehenden Struktur, die Enden der Fäden, sowie und die Arbeitslinie (= the fell), welche besonders in 2 sehr verschieden erscheinen kann. Ob dergleichen aufs Allerwesentlichste reduzierte, gewissermassen zusammengeschmorte Kürzel nützlich sind, das kann man sich fragen. Meine strenge Kollegin Ann Rowe von Washington zweifelt daran: Ich aber bin voll überzeugt davon und stolz darauf. Wenn sie mit erklärenden
Um die essenziellen Eigenheiten einer Technik zu erkennen, muss die entscheidende Frage gestellt werden: Was befindet sich unter den Händen der arbeitenden Person während des Arbeitsprozesses? Die drei Vignetten zeigen das in allgemeinster Form.
Worten versehen sind, so sollten sie ihren Sinn erfüllen: nämlich das Wesentliche auf einen Blick zu vermitteln. Wie ein Baumstamm mit drei starken Armen, die sich ihrerseits in dünnere Äste, dann in Zweiglein teilen und eine Unmenge von Blättern tragen – so umfas-
DIE DREI SUPERKATEGORIEN
Die sogenannten Spurenpläne (engl. Track-Plans) entsprechen dem Querschnitt eines Geflechtes. Schon als Linien, wie hier gezeigt, geben sie Auskunft über die strukturelle Beschaffenheit – mit Pfeilen und entsprechend platzierten Punkten geben sie fast vollständig Auskunft selbst über komplizierteste Geflechte und deren Herstellung.
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Einige Bilder der freien künstlerischen Arbeit von Noémi Speiser. Beispiele aus einer Kollektion von sieben Schuhen in der Technik des Zwirnspaltens (engl. Ply-Splitting), welche sich wunderbar zur Formgebung eignet. Links ein Exemplar der Kollektion «Schlangen», hier in Baumwolle und silbern glänzender Kunstseide. Dass sich das Diagonalgeflecht just für dieses heilige Tier besonders eignet, haben schon die alten Peruaner gewusst.
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«Nach der Matur war ich ganz verspon- alle
meine
Wandteppiche
–
gewoben,
Künti
(Flechtwerkgestalterin)
besteht,
Noémi Speiser, geboren 1926 in Surrey, England, aufgewachnen, liebte das Poetische, Märchenhafte.
gestickt, appliziert – meiner früheren
geht es um meine Zeichnungen. Ich sollte
sen in Baden, gelebt und gearbeitet in Basel. In der ersten Ich wollte schon während meiner Ausbil-
Jahre und die späteren Kreationen in
nämlich fleissiger an meinem Vermächtnis
dung zur Weberin und später auch als
Flechtwerktechnik. Es sind wahnsinnig
arbeiten, einer Systematik, einer grossen
Lehrerin für gestaltendes Sticken mehr
viele Leute gekommen und ich konnte sel-
Klassifikation der webstuhlunabhängigen
Hälfte ihres beruflichen Lebens hat sie gemächlich textile Wandbilder von mittleren und auch grossen Formaten geschaffen und in der Frauenarbeitsschule gestaltendes Stiküber die Geschichte, die Hintergründe, die
ber alles zeigen, kommentieren und erklä-
textilen Techniken. Weil die meisten mei-
Literatur wissen. In Prof. Alfred Bühler
ren. Das freie Schaffen an meinen künst-
ner textilen Kolleginnen und Kollegen eng-
ken unterrichtet. Ab 1968 hat sie an der Hochschule für Gestaltung Basel bei angehenden Textilentwerferinnen einen fand ich früh einen verschworenen Förde- lerischen Projekten hat mir immer grosses
lischsprachig sind, habe ich von Anfang
rer. Er liess mich an den freien Samstagen
Glück und Seeligkeit bereitet. Obwohl ich
an alles in Englisch abgefasst. Aktuell
im Archiv im Keller des Museums der Kul-
das Verspielte liebe, war ich immer mit
warten 150 Seiten Skript auf Illustratio-
turen in Basel forschen und unterstützte
dem Kopf dabei. Trotzdem habe ich nie
nen. Ohne Illustrationen hat das Ganze
und ermutigte mich bei meinem Suchen.
bereut, nicht die akademische Laufbahn
für andere keinen Wert, und ich befürchte,
Ich habe mir einen grossen Teil meines
eingeschlagen zu haben. Ich stand in mei-
es droht eine Tragödie. Ich befinde mich in
Wissens als Autodidaktin erschlossen.
nem Leben immer etwas ausserhalb des
einem Wettlauf gegen das Schwinden mei-
Später dann, ab 1968, konnte ich an der
Gewöhnlichen. Viele würden mich wahr- ner Kräfte, habe aber immer noch genü-
Halbtagskurs in den allgemein weniger bekannten, meist gering geachteten «primären» oder «off-loom»-Techniken übernommen. Dieser Lehrauftrag veranlasste sie noch intensiver zu forschen. Er führte auch zum Ordnen und Beschreiben dieser Techniken sowie zu deren Anwendung in innovativen Schöpfungen. So ist Noémi Speiser in der zweiten Lebenshälfte auf ein anderes Gleis der textilen Kunst und Kenntnis eingefahren und arbeitet bis heute, 20 Jahre nach der PenTextilfachklasse der damaligen Kunstge-
scheinlich eine «Schwierige» nennen, ganz
gend Lebenskraft, dem selbst geschaffe-
werbeschule einen halben Tag in der
einfach weil ich es sehr genau nehme und
nen Druck standzuhalten. Ich will, was
sionierung, daran weiter. Sie hat sich ganz besonders den Flechttechniken gewidmet, sowohl als gestaltende Künstlerin Woche unterrichten. Da ich in der Wahl
auch von andern verlange, die Dinge ganz
ich mache, gut machen; ob jemand dies
der Themen völlig freie Hand hatte, wählte
genau zu benennen. Das schreckt manch-
jemals zu schätzen weiss, ist für mich
ich das, was mich am meisten faszinierte
mal. Ich beanspruche ein hohes Niveau,
zweitrangig. In letzter Zeit stelle ich aber
und interessierte: die webstuhlunabhän-
was mich manchmal mit Kolleginnen und
ein gewachsenes Interesse fest. So hat
als auch in der Forschung, der Sammlung und dem Schreiben von Abhandlungen. Sie lebt und arbeitet in einem Dorf im
Handwerk 2/2009
oberen Baselbiet. gigen (offloom) Techniken. Als ‹Fädige› wie
Kollegen in Schwierigkeiten bringt. Ich bin
zum Beispiel die italienische Associazione
mich eine ehemalige Schülerin nannte,
mir meines Wertes durchaus bewusst und
«Le Arti Tessili» eine DVD von meinem
sind meine Hände bei diesen Techniken
nehme an der grassierenden Abwertung
Seminar produziert. Diese Art der Doku-
ganz nah am Faden, ja die Fäden werden
der textilen Techniken keineswegs Teil.
mentation ist ein möglicher Beitrag zur
richtig lebendig in den Fingern, die Beziehung und Kommunikation ist ganz innig.
6
Das
Unterrichten
förderte
zudem
meine Faszination für Genauigkeit und Systematik. Ich wollte meinen Schülerin-
Bei einem Besuch in ihrem heimeligen Haus in Arboldswil Baselland mit wunderschönem Ausblick auf eine fast vollständig intakte Hügellandschaft, habe ich Noémi Speiser gefragt, wie sie zu dieser Leidenschaft, dieser Faszination für die Fäden gefunden hat.
Mehr gequält haben mich die Hobby-
Erhaltung des immateriellen Kulturer-
Künstlerinnen und Künstler, die ehrwür- bes.* Auch die Einladung ins Kurszendige alte Techniken mit zu wenig Selbstkritik anwenden.
trum Ballenberg hat mich gefreut.» Danke für dieses Gespräch. ■
So werden manchmal demütigende *Der Bund hat 2008 die UNESCO-
nen eine Lehrerin sein mit Qualitäten, die
Notbehelfe gebraucht, obwohl eigentlich
ich selber teilweise entbehrt hatte. Ich
gar keine Not herrscht. Während meines
Konvention
wollte die Grundlagen so genau wie mög-
Lebens habe ich den Boom von Makramee
immateriellen
lich vermitteln, damit die Schülerinnen
erlebt, und habe mich gewundert und mit
Unter immateriellem Kulturerbe versteht
darauf aufbauend frei gestalten könnten.»
nicht sehr grosser Freude wahrgenom- man kurz zusammengefasst das Wissen,
Was hat im letzten Jahrzehnt am
zur
Erhaltung
Kulturerbes
des
ratifiziert.
men, dass Menschen geknüpfte Eulen
das nur durch «Träger», durch Menschen
schön finden.»
in der praktischen Ausübung und Anwen-
meisten Freude bereitet? «Eine jüngere Kollegin und ihr Mann,
2003
dung, weitergegeben werden kann. Woran arbeitest du zurzeit?
Verena und Werner Erny, haben für mich
«Mit meinem Fan-Club, der im Wesent-
in Rothenfluh BL eine grosse und umfas-
lichen aus Kathrin Kocher (Restauratorin
sende Retrospektive organisiert. Ich zeigte
Völkerkundemuseum Zürich) und Monika
EIN GESPRÄCH MIT NOÉMI SPEISER
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BIBLIOGRAFIE NOÉMI SPEISER:
Mit Peter Collingwood, der ursprünglich Arzt war und der sich später ganz der Weberei und später auch den Webstuhl unabhängigen Techniken widmete, verband Noémi Speiser eine jahrelange enge Freundschaft. In regelmässigen Treffen und zahllosen Briefen arbeiteten sie eng zusammen und waren beide bemüht, eine exakte und verbindliche Terminologie zu erarbeiten. Peter Collingwood ist international bekannter Buchautor und gilt weltweit als die textiltechnische Autorität. Peter Collingwood erhielt 1974 den Order of the British Empire OBE. Er verstarb 2008 im Alter von 86 Jahren. Sein gesamter Nachlass ging ans Craft Council of great Britain über.
• The Manual of Braiding. Basel (Selbstverlag) 1983, 1988,1991,1997. 163 Seiten. • Old English Pattern Books for Loop Braiding: A Monograph Critically Comparing English Instructions from the 15th and the 17th Century. Arboldswil (Selbstverlag) 2000. 133 Seiten • Techniques of Braiding. CIETA Bulletin 1979-II. • Unusual Braids Produced by Loop Manipulation. In: The Weaver’s Journal, Volume 10, Number 1 (Issue 37, Summer 1985), pp. 15–18, 67–73. • The Kago-Uchi. Ars Textrina Volume Four. Babbage 1985. (http://ulita.leeds.ac.uk/docs/Ars_Textrina/Volume4/3.The%20 Kago.pdf, 8.11.2009)
A Bird’s Eye View on Loop-Braiding,
EINFÜHRUNG ZUM MANUAL OF BRAIDING – DIE SYSTEMATIK DES FLECHTENS.
Single-Section Arme Bredth: pp 15–19 Strands Issue 7.
Vorwort von Peter Collingwood
• Old English Pattern Books for Loop Braiding. In: Strands, Issue 7. • Pondering over Tiny Tatters. In: Strands, Issue 8. • The Three Supercategories of Fabric-making Processes. In: Strands 2003, Issue 10, p. 3.
sistent und abschliessend. Das Engagement ist bewundernswürdig und die Vervollständigung war beides: Eine Aufgabe, die Noémi Speiser mit viel Herzblut aber
Es kam in der Vergangenheit vor, dass
auch mit manchem Kopfzerbrechen be-
Feldherren den Fortschritt eines Gefech-
gleitete. Sie besitzt einen ausserordentlich
tes von einem nahe gelegenen Hügel aus
präzisen Intellekt, was dazu führte, dass
beobachteten. Sie sahen, wie zuerst die
sie zäh mit dem technischen Vokabular
eine Seite, dann wiederum die andere an
und der Terminologie gerungen hat. Jedes
Boden gewann. Für mich war es in den let-
Wort, jeder Ausdruck, jede Bezeichnung
• Ply Splitting Terminology. In: Strands 2003, Issue 10.
zen Jahren ähnlich: Ich habe aus sicherer
wurde sorgfältig erwogen, ausgewechselt
• The Braid on the Urümchi Mummy. In: Strands 2003,
Distanz die Anstrengung, ja den Kampf
und nochmals verändert, bevor schluss-
von Noémi Speiser beobachtet, wie sie
endlich die Wahl getroffen wurde. Jetzt
Ordnung und Systematik in das von ihr
mögen die Ausdrücke selbstverständlich
gewählte Feld des Flechtens zu bringen
erscheinen. Es ist aber zu bedenken, dass
versuchte.
eben nichts selbstverständlich ist, wenn
Issue 10, p. 10. • The Three Key Questions Related to Structure and Technique in Textile Fabrics. In: Strands 2003, Issue 10, pp. 3–4. • Initial Observations on the «Nun’s Book». In: Strands,
Es ging nicht einfach um das Sammeln
man sich quasi eigenhändig ein Thema
• The Nun’s Book, a report, pp 13–19 Strands, 2009 Issue 16.
von weitläufigen Informationen – wie es
erschliesst. Man tappt allein im Dunkeln
• The Three Supercategories of Fabric-making Process. In: Cahiers
etwa in einer akademisch synthetisieren-
und entdeckt immer wieder neue Fall-
métiers d’art. Craft journal (Quebec) Winter 2009, Vol. 2, no 2.
den Fleissarbeit geschieht – vielmehr exis-
stricke. Manchmal erhielt ich verzweifelte
Issue 15, 2008.
• Loop-Manipulation Braiding: Basic Instructions. O. J.
tierte das Wissen gar nicht, bevor sie es
Briefe und ich habe immer versucht, die-
• Speiser, Noémi et Boutrup, Joy and others:
ans Licht brachte.
sen steilen schwierigen Weg unterstützend
Durch ihre Beharrlichkeit gelang es
zu begleiten. Ich war immer überzeugt,
Part I Orthodox and unorthodox exchanging of loops in
ihr, wo vorher Unwissen und Verwirrung
dass diese Forschungsarbeit, für die nur
co-operation. Jenny Parry 2009.
herrschten,
Part II Instructions for Letter Braids in 17th Century Manuscripts.
geordnetes
European Loop Braiding: Investigations and Results.
formale
ein
sie das Wissen, die Intelligenz und die
zu
schon fast fanatische Akribie besass, von
Jenny Parry 2009.
errichten. Sie beschreibt, analysiert und
grosser Wichtigkeit sein würde. Ich habe
Part III und IV werden im 2010 erscheinen.
klassifiziert jede Form des Flechtens kon-
mich nicht getäuscht. ■
Gebäude
Strukturen, des
Wissens
MANUAL OF BRAIDING
Handwerk 2/2009
• Vorschau Old English Pattern Books
7
• Terminology – a Plea. In: Strands, Issue 3.
Seite 8, 9: Zufällig ausgewählte Seiten aus dem «Manual of braiding».
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PETER COLLINGWOOD, TEXTILE STRUKTUREN, PAUL HAUPT 1988, VERGRIFFEN
Struktur das Wichtigste ist, wird das Aus-
traditionellen japanischen trialxalen Sei-
sehen eines Gegenstandes oft weitgehend
dengewebe, über einen Drahtschlauch,
durch das verwendete Material bestimmt.
einen griechischen Korb bis zur Kopfbe-
Dieses Zusammenwirken von Material
deckung der Tuareg – wurden von David
und Technik ist unglaublich faszinierend;
Cripps brillant fotografiert; sie illustrieren
Autor an alle, die sich für textile Struktu-
einmal ist das Material wichtiger – man
die Detailzeichnungen und Texte des
ren und Techniken interessieren. Nach
vergleiche einen seidenen Sari mit einem
Autors. Alle, die sich mit Textilien beschäf-
Mit diesem Buch wendet sich der
eingehenden Detailstudien veranschau- geflochtenen Holzzaun, beide können die-
tigen, werden in den von Peter Colling-
licht er anhand traditioneller Objekte die
selbe Grundbindung aufweisen –, dann
wood bis ins letzte Detail beschriebenen
kunstvollen Techniken. Er zeichnet Mög-
wieder dominiert die Struktur – man ver- und vorgestellten Objekte neue Ideen und
lichkeiten und Grenzen im Spiel mit Mate-
gleiche einen Filzteppich mit einer ge-
rial und Technik auf und würdigt den
strickten Socke – für beides wurde als
Möglichkeiten entdecken. ■
Scharfsinn und das Können der Handwer- Ausgangsmaterial Wolle verwendet. All kerinnen und Handwerker. Obwohl die
diese Gegenstände – sie reichen von einem
LEBENSLANGE FREUNDSCHAFT PETER COLLINGWOOD
Terminologie und exakte Übertragung in die jeweils andere Sprache beschäftigt Noémi Speiser bis heute. Für manches lässt sich im Deutschen nur schwer das adäquate Wort finden. Das Englische sei oft genauer und eleganter. Die englische Ausgabe «The Maker’s Hand» ist noch erhältlich. ISBN 185725 134 2.
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Flechtens
ANNA SILBERSCHMIDT:
kommen, die hinter der Kursleiterin lagen
zierenden «Kumihimo-Scheiben», die seit
und standen, es sollte aber auch ein Ritt
einigen Jahren in Bastelläden auch hier-
Die Einstimmung auf diesen sehr spe-
durch die Geschichte und die Ethnologie
zulande zu haben sind. Kumihimo hat im
ziellen Kurs begann schon einige Tage frü-
An einem Samstagmorgen im Oktober
des Flechtens werden, ging es auch um
Leben von Noémi Speiser, aber auch in der
her mit einem wunderbaren Brief von
wohnte eine kleine Gruppe von Frauen,
historische Flechthandbücher und um
europäischen Flechtforschung insgesamt,
Noémi Speiser an alle Teilnehmenden, in
sowie der Leiter des Kurszentrums Ballen-
Techniken, die nicht in Europa, sondern
zweifelsohne einen Wendepunkt markiert.
dem sie uns mitteilte, wie sie das Seminar
berg persönlich, einem besonderen Ereig-
an Kamelgurten in Rajastan, an Schleu-
Mit den Kapiteln Faustflechten und
gestalten würde und aufforderte, uns vor-
nis bei: dem Masterkurs „Techniken des
dern aus Peru und Tibet oder Bändern in
Schlaufenflechten über den Händen been-
urteilslos und vertrauensvoll dem von ihr
Diagonalgeflechts“.
Japan bis heute angewendet werden.
dete Noémi Speiser diesen unvergessli- gewählten Weg zu überlassen. Der eintä-
Eine
international
renommierte, charismatische, nur äusser-
Der Einstieg in die Materie war weg-
chen Masterkurs. Sie führte einmal mehr
gige Master war anspruchsvoll und forderte
lich zierliche, Frau, Noémi Speiser, Jg.
weisend. Nach einem Überblick über die
vor, wie erst die Verkörperung von Hand-
von allen grosse Konzentration. In mehre-
1926, betrat den hellen Lehrraum und
drei Superkategorien stoffbildender Tech-
werksfertigkeiten zu wahrer Meisterschaft
ren durch Pausen voneinander getrennten
richtete die versammelte Schüler/innen-
niken verengte Noémi Speiser den Fokus
führt. Das wiederum wurde auch in einer
Blöcken vermittelte uns Noémi Speiser auf
schaft so aus, wie sie am runden Marudai,
auf Diagonalgeflechte. Vom Beispiel des
abschliessenden Schau einer kleinen Aus-
faszinierende Art einen klar gegliederten
dem japanischen Flechtstuhl, später die
Zwirnbindens leitete Noémi Speiser zu
wahl geflochtener Meisterwerke von Noémi
Überblick in Bezug auf die verschiedenen
Fadenspulen ordnen sollte. Eine freundli-
Flechten mit frei hängenden Fäden über,
Speiser offenbar, die selbst die Textilspe-
textilen Techniken mit Schwerpunkt Dia-
che Begrüssung, eine kurze Erläuterung
dann zur Inversion, zum Dräng-Effekt,
zialistinnen im Kurs frappierten.
gonalflechterei. Ein weitläufiges und kom-
des Lehrprogramms und der Rollenvertei- zum Zwirn-Spalten, zum Sprang, zum
Es war ein Erlebnis der ganz besonde-
plexes Gebiet, das nicht einfach zu erklären
lung von Lehrerin und Schülern, und
Übergang von Sprang zur Schlaufenflech-
ren Art, Noémi Speiser und ihr Lebens-
ist. Das Programm war dicht, aber sorgsam
schon rückte sie, assistiert von einer ihrer
terei, zum „reciprocal braiding“. Noémi
werk so konzentriert kennenlernen und
vorbereitet. Ein Glöcklein läutete jedes der
Meisterschülerinnen, Kathrin Kocher, ihr
Speisers Unterrichtsstil ist ausgesprochen
erleben zu dürfen. In Zeiten des fort-
insgesamt 16 Kapitel ein. Mit theoretischen
Demonstrationsmaterial und ihre Notizen
authentisch, führt sie doch nebenbei auch
schreitenden Verlusts von Handwerkskön-
Ausführungen, Ansichtsmaterial und prak-
zurecht, um in die Materie des Masterkur- durch ein Leben einer Chronologie von
nen kann man sich nur wünschen, dass
tischen Demonstrationen gelang es der leb-
ses einzutauchen.
Erkenntnissen und von Begegnungen mit
am Kurszentrum Ballenberg noch viele
haften Dozentin, uns den Faden nicht ver-
Das Ziel der wohl durchdachten Lern-
anderen Flechtmeistern, vor allem mit
weitere Meister aufgespürt, noch viele wei-
lieren oder doch wenigstens immer wieder
einheit war es, in Fesselballonperspektive
Peter Collingwood, mit dem zusammen sie
tere solcher Masterkurse angeboten wer- anknüpfen zu lassen. Eines der vielen
– diesmal ausdrücklich nicht über prakti-
immerhin eine deutsch-englische Fachter- den. Ein wenig nachdenklich verliessen
Highlights waren die künstlerischen Arbei-
sche Übungen – die Systematik textiler
minologie entwickelte, die noch Generatio-
die Kursteilnehmer/innen dann den Bal-
ten, die uns Noémi Speiser zum Abschluss
Strukturen kennen zu lernen. Didaktisch
nen zu Gute kommen wird.
lenberg. Die abschliessenden Gespräche
noch zeigte, insbesondere Gürtel und hin-
brilliant entfaltete Noémi Speiser über den
Im Wechsel auf den Fussboden an den
drehten sich auch besorgt um die Frage,
reissende Schuhe, die sie in früheren Jah-
Tag hinweg – unterbrochen von Pausen, in
runden Flechtstuhl Marudai leitete Noémi
ob und wie das Wissen von Noémi Speiser
ren meisterhaft gestaltet hatte. In ihrem
bewahrt werden wird?
Brief garantierte sie, es würde sich nie-
denen sie sich zum Kraftschöpfen dezent
Speiser sodann – kniend – zu einem ihrer
zurückzog – ihr Programm und mithin ihr
Spezialgebiete, dem japanischen Tisch-
Prof. Dr. Mareile Flitsch,
mand langweilen. Sie hat Wort gehalten.
Lebenswerk einer Synthese der Systema-
flechten Kumihimo über. Hier streifte sie
Direktorin Völkerkunde Museum Zürich,
Ich habe an jenem Tag in mancher Hinsicht
tik von Textilien. Die Kursteilnehmer/inn-
wie nebenbei ein spannendes Kapitel ihres
Sinologin, Ethnologin und
viel gelernt. Noémi Speiser vermochte es,
en – unter Ihnen einige Textilspezialistin-
Lebens: Feldforschungen führten sie in
Volkskundlerin: ■
uns nicht nur an ihrem enormen Wissen
nen und langjährige Anhängerinnen von
den frühen 1970er Jahren nach Japan, zu
teilhaben zu lassen, sondern auch ihre
Noémi Speiser – sollten dabei Textiles von
einer Zeit, als dieses Flechten noch als
grosse Leidenschaft für diese Materie zu
Innen heraus verstehen, nicht von der
eine eher höfischen Kunst in Manufaktu-
vermitteln.
Hand sondern von Struktur und Bindung
ren zu erleben war. Dies war vor der Popu-
her. Im folgenden sollten all die vorbereite- larisierung diese Flechtkunst in Japan ten Proben und Geräte zur Anwendung
und noch weit vor den die Kunst simplifi-
AUGENZEUGEN MAGIE DES AUGENBLICKS
Anna Silberschmidt ist Weberin und Textilrestauratorin, lebt und arbeitet in Italien ■
Handwerk 3/2009
Ein Leben für die Grammatik des
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MAREILE FLITSCH:
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Handwerk 2/2009
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DIE GEISSELN «Ich sehe, dass es kleinere und grössere hat, in etlichen Zwischengrössen. Ich besitze die kleinste (Fr. 16.–) und die zweitgrösste (Fr. 55.–). Diese unterscheiden sich nicht nur in der Länge und Dicke, sondern die kleine wurde aus Z-Dreifach-Litze in S, also Kabelschlag, die grosse aus dreifach SKabelschlag in Z, also Trossenschlag geformt. Der ‹Spitz› ist aus weisser Nylonkordel, und vorne dran der bunte Zwick ist eine ebenfalls Schnur.»
aus
Nylon
geflochtene
rote
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Beim Stichwort «Archiv» denken viele zuerst an dicke Staubschichten über ungeordnetem Chaos. So habe auch ich erst mal tief durchgeatmet, als ich vor einigen Wochen zum ersten Mal die grosse blaue Schuhschachtel mit den Aufzeichnungen Noémi Speisers in der Hand hielt.
ARCHIV FÜR IMMATERIELLES KULTURERBE
Eine Ordnung, deren Kriterien mir auf den
sen über ein Handwerk, das wir kaum
ersten Blick verschlossen blieben.
noch kennen und welches hier von Noémi
Der Inhalt überraschte mich: Darin
Ich begann mich in diese Bündel zu
Speiser in akribischer Recherche und
fanden sich zwei Geisseln zu einem
vertiefen und war als Illustratorin als
grossem persönlichem Interesse doku-
Knäuel gerollt. Daneben Couverts und
Erstes fasziniert von den präzisen, aber
mentiert wurde.
Sichtmäppchen
persönlichen,
So wird das Archiv zum Gedächtnis,
und mit Schreibmaschine beschriebenen
mit
handschriftlichen
schwungvollen Strich ausgeführten Zeich-
trotzdem
mit
welches die gewonnenen Erkenntnisse
welche
einem
Zetteln, Skizzen und Fotos, die scho-
nungen,
beschriebenen
verfügbar hält, und ist somit unverzicht-
nungslos gelocht, aber umso sorgfältiger
Arbeitsschritte zur Herstellung einer Geis-
die
barer gesellschaftlicher Bestandteil, wenn
mit Wollbändeln zu Bündeln zusammen-
sel illustrieren.
es um die Sicherung immateriellen Kul-
gebunden waren, welche ich auf Anwei-
Beim Vertiefen in die dazugehörigen
sung von Adrian Knüsel auf keinen Fall
Legenden wurde mir klar, dass ich eine
turgutes geht. Meine Aufgabe bestand darin, diesen
öffnen und durcheinanderbringen durfte.
Schatzkiste in Händen hielt mit dem Wis-
Bündeln habhaft zu werden, die innere Logik dieser Kiste zu ergründen, den Kontext ihrer Entstehung zu verstehen und eine geeignete Form zu finden, wie sich dieses Wissen auch für einen Laien organisieren
und
darstellen
lässt.
Eine
unglaublich interessante, aber auch verantwortungsvolle Aufgabe. Es gilt den logische Genauigkeit gerecht zu bleiben, auf gewisse Berufsgeheimnisse, welche die Seilerei Herzog hüten möchte, Rücksicht zu nehmen und trotzdem aus der Fülle an Material auszuwählen, vereinfachen und
Handwerk 2/2009
Ansprüchen der Autorin auf fachtermino-
Die Zeichnungen und Legenden zur Herstellung einer Geissel bilden das Herzstück, ergänzt mit Noémi Speisers Bericht über den Besuch in der Seilerei Herzog und Geschichtlichem über das Handwerk der Seilerei an sich. Wir hoffen, Ihnen liebe Leserinnen und Leser dadurch einen Einblick zu ermöglichen in diese private Wissenssicherung,
die
hier
erstmals
öffentlich zugänglich gemacht wird. Eva-Maria Knüsel ■
FADEN, SEILE, STOFF EIN LEBENS- UND FORSCHUNGSPROJEKT
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weglassen zu können.
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BESUCH 12. AUGUST 1997
DER ANFANG
«Der Vater macht die Geisseln, der
«Zuerst spinnt er die einzelnen Garne:
Sohn führt ein Geschäft mit allerhand
Diese einzelnen Garne haben für jede
auch modernen Kunststoffseilen und ei-
Geissel eine entsprechende Länge, und
nem hervorragenden Angebot an allem er-
jedes verjüngt sich bis zum Schluss und
denklichem Zubehör. Er bildet Lehrlinge
endet in wenigen Fasern.
aus. Der Vater hat eine Seilerbahn zwi-
Am Anfang biegt er die Fasern um den
schen Haus und Gärtli – die ist vielleicht
Hacken, sodass eine ungedrehte, aber
etwa zwölf Meter lang. Er arbeitet mit
durch die nachfolgende Drehung fixierte
importiertem Hanf. Unten im Keller hat er
Schlaufe bestehen bleibt. Die dünnen
eine zweite, wesentlich kürzere Seilerbahn
Faser-Enden am Schluss jeder Länge
zur Herstellung der Geisseln.»
klemmt er in eine der Spalten in einem aufrechten Pfahl.
Gegründet wurde die heutige Seilerei Herzog 1920 als Sattlerei und Seilerei Hunziker in Willisau. Herzog sen. übernahm den Betrieb, wobei der Name Seilerei Herzog entstanden ist. Sein Sohn und heutiger Geschäftsinhaber Alfred Herzog jun. übernahm 1988 den Betrieb von seinem Vater und gründete die Seilerei Herzog AG. Die Seilerei Herzog wurde eine Handwerk 3/2009
lange Zeit als kleiner handwerklicher Betrieb geführt. 1975 wurde die 400 t Drahtseilpresse angeschafft, womit Drahtseile bis 24 mm Durchmesser verpresst werden können. 1984 wurde der Abseilau-
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tomat für Bindestricke in Betrieb genommen. 1988 drang die Seilerei Herzog in ein neues Technologiesegment ein, das Flechten. Der Betrieb wurde stetig vergrössert und weiter modernisiert. Bis heute produziert die Seilerei Herzog AG ihre Seile in Willisau. Durch den Produktionsstandort
Noémi Speiser besucht im August 1997 den Familienbetrieb Seilerei Herzog in Willisau und lässt sich vom inzwischen verstorbenen Alfred Herzog senior das Handwerk des Geisselmachens demonstrieren. Alle Fotos sind bei diesem Besuch entstanden und dienten als Ausgangsmaterial für ihre Skizzen und Recherchen.
Schweiz kann die Nähe zum Kunden garantiert und schnell auf spezifische Kundenwünsche
eingegangen
werden.
Sonderlösungen und Spezialanfertigungen gehören zur Tagesordnung. Weitere Informationen finden Sie auf www.seilereiherzog.ch.
SEILEREI HERZOG, WILLISAU EINE GEISSEL ENTSTEHT: TEIL 1
Alfred Herzog: «Es ist sehr wichtig für einen Macher von Geisseln, dass er das Klepfen versteht.»
DAS ENDE Dann nimmt er die Schlaufen vom Haken ab und dreht sie ineinander; er bildet das, was er das «natürliche Auge» nennt. Endlich hat er eine Anzahl solcher
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einen Strang und legt sie auf die Waage: Er wolle eine ungefähre Kontrolle über das Vier Garne werden auf der Seilerbahn Gewicht haben. Diese Litzen sind für die zu einer Litze gezwirnt (Vierfach-Litze). Er kürzeren Geisseln bestimmt. Er sagte hängt die vier Schlaufen zusammen in den während der Arbeit, für die grossen GeisHaken des Zwirnrades und zwirnt die seln müsse er bis auf den Weg hinaus ausGarne, indem er ein «Leitholz» einsetzt und ziehen.» ■ es nach vorne bis zum Rad führt.
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sich verjüngender Litzen, wickelt sie in
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Er hängt das «natürliche Auge» auf den Haken, spannt das Seil auf einer gewissen Distanz, wickelt es ein Mal um die Hand und gibt Überdrall hinein. Dann knickt er das Seil und lässt es sich verzwirnen. Damit der Knick an die richtige Stelle kommt, gibt er vermutlich einen winzigen, aber sehr präzisen Impuls an der richtigen Stelle.
Die Geissel besteht nur aus einem einzigen sich verjüngenden Seil. Noémi Speiser hat diesem Seil in den verschiedenen Phasen des Arbeitsprozesses zum besseren Verständnis eine eigene Farbe gegeben: Violett/Rot/Blau/ Grün/Braun/Violett. Die originalen Skizzen von Noémi Speiser sind hier wenig, auf dem Umschlag wesentlich vergrössert. Aus den sich verjüngenden Litzen wird nun die fertige Geissel hergestellt: Eine Geissel ist in mehrere Abschnitte geteilt, in denen sich die gleichen Arbeitsgänge wiederholen, jeweils der sich verjüngenden Stärke des Seiles angepasst. Die Bildung eines «Schlosses» dient zur Verjüngung des Seils. Dieser Arbeitsgang wird hier anhand der Beobachtungen und Skizzen von Noémi Speiser erläutert. Sie hat mit ihrer Dokumentation einen Beitrag zur Erhaltung von immateriellem Kulturgut geleistet, welche hier erstmals veröffentlicht wird…
VON DER BEOBACHTUNG ZUR ANLEITUNG EINE GEISSEL ENTSTEHT: TEIL 2
2 Jetzt hebt er das «Auge» vom Haken ab und zieht das verzwirnte Teil, den Knick voran, durch das Auge.
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3 Darüber lässt er das Stück der einzelnen Litze direkt unter dem Auge als Schlaufe stehen.
5 Jetzt wird diese starke Schlaufe an den Haken gehängt.
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Dann zieht er das vorläufig noch sehr lange freie Ende drei Mal durch die Schlaufe, sodass diese jetzt zweifaches Kabel ist.
6 Er hält das freie, das einzelne Ende auf eine kurze Distanz und gibt Überdrall. Dann wickelt er das überdrehte einzelne Stück in den zweifach-gezwirnten Abschnitt ein, Runde für Runde, sodass schlussendlich ein DreifachZwirn, also ein Kabel, entstanden ist.
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In diesem Moment steckt er das Knebeli in den Knick, den er «Schloss» nennt.
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Jetzt führt er das Ende des Seils ins Schloss ein, indem er das Knebeli herauszieht.
8 Er wickelt den hervortretenden Teil der Schnur an einer wohlberechneten Stelle wieder um die Hand, gibt Überdrall, knickt wieder am richtigen Ort und lässt ihn zu einem rechtwinklig zur Achse sich stellenden Zwirn formen. Die ersten Drehungen bilden sich rasch, bei den weiteren muss er nachhelfen, bis die Verzwirnung das «Schloss» mit dem Knebeli erreicht hat.
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10 Dann wickelt er wieder um die Hand, spannt, gibt Überdrall. Dabei wirbelt das Stück verzwirnten Kabels einige Male um die Achse des sich verdrehenden Seils.
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Den einzelnen Teil windet er in den doppelten.
12 Damit hat er ein fertig geformtes «Schloss». Jetzt beginnt die Prozedur mehrmals wieder von vorn. Das letzte Mal wickelt er das nunmehr sehr dünne und in Fasern auslaufende Ende nur noch bis zur Hälfte wieder vorwärts: Es ist genau so lang wie es sein muss! Er steckt es zwischen die Zwirne und sagt, es werde noch mit zwei, drei Stichen befestigt.
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«Sichel zu Bartholomä tut dem Mehl-
lockern kann, wird sie reichlich mit Harz
hochtönendsten Knall. Nun fällt die mitt-
sack weh» sagt der Bauer und nimmt sich
überzogen. Mancher Bursche lässt das
lere ein, und endlich kracht die des Gross-
einen doppelten Zug aus der Pfeife und
Tabakrauchen bleiben, damit er sich eine
knechts dazu. So knattert es nun in lang-
lässt das Korn auf dem Felde, wie es Gott
Schnalzgeissel kaufen kann. Und wenn
samem, gleichmässigem Takte, wie Glo-
erschaffen hat, und hält Feiertag mit sei-
der Bauer zur Leihkaufzeit von seinem
ckenläuten, oft mehrere Minuten lang in
neuen Knecht zu wissen verlangt, wie
einem fort, und dazwischen rauscht und
So ganz Feiertag eigentlich nicht. Ein
schwer dessen Schnalzgeissel ist, so frägt
verwebt sich der vielstimmige Widerhall
gut Stück Arbeit ist heute zu verrichten.
er eigentlich nach nichts anderem, als
von den Wäldern und Felswänden – wun-
Den kräftigen Knechten obliegt es, den
nach dem Kraftmasse seines künftigen
derlich zu hören.
nem Gesinde.
Herbst einzuschnalzen, den Winter einzu-
Arbeiters. Und ist ein Junge so weit gedie-
Wie sagt der Schriftgelehrte Tannhu-
läuten.
hen, dass er eine ordentliche Schnalzgeis-
ber, der, artig sein Samtkäppchen lüp-
sel zu handhaben vermag, so wird er nicht
fend, sich zu uns ins Grüne setzt?
Es ist eine alte Sitte, besonders in der nordöstlichen
Steiermark,
man
weiss
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ihren Ursprung kaum; haben sie den Wol-
dern auch dem Weibervolke.
«Das sind die Glocken des Pflanzenreiches», sagt er, während die Schnalzgeis-
ken das Rollen und Krachen und Hallen
Nun trachten wir, dass wir das Spiel
seln knallen. Und nachdem das «Bot» (die
abgelauscht, und wollen sie es zu ihrer
selbst sehen. Hier ist weichers Gras und
Partie) zu Ende ist und die Burschen
Ehre fortsetzten in herbstlicher Zeit, da
der Schatten des Kirschbaumes darüber,
lächelnd zu uns herantreten, fragt der
die Donner des Hochsommers verstummt
der gastliche Tannhuberhof ist nahe, hier
Tannhuber: «Wisst ihr das, von den Glo-
sind? – Oder wollen sie mit den Riesen-
wollen wir uns niederlassen und den drei
cken des Pflanzenreiches? Nicht! Nun
peitschen die bösen Geister vertreiben
Burschen zusehen, die dort gegen die
seht, das muss ich euch erzählen. – Das
aus den Lüften, damit der Spätsommer
Anhöhe emporsteigen und sich auf der- hat das übermütige Mineralreich einmal
von ihrem schändlichen Wirken verschont
selben in einer gewissen Entfernung von-
zum Pflanzenreich gesagt: Schäme dich,
sei?
einander aufstellen.
du hast nicht einmal Glocken zu einem ordentlichen Festgeläute. Ja ja, deine
Heute keines von beidem mehr; in den
Jeder hat eine Schnalzgeissel in der
wenigen Gegenden der Alpen, wo das
Hand; die kleinste trägt der Halterbub, die
Glockenblumen! Was nützt mir das Duf-
«Schnalzen» doch noch im Schwunge ist,
grösste handhabt der Grossknecht. Die-
ten, wenn sie nicht klingen wie mein
geschieht es der Lust und der Unterhal- ser hebt an. Er fasst den derben Stiel fest
Metall auf dem Turme! – Das hat das
in seine beiden Hände und beginnt ihn zu
Pflanzenreich sehr verdrossen, und da
Das ganze Haus ist auf, und die Alten
schwingen. Die Geisel hebt sich in langsa-
hat es zum Hanf gesagt: Du, Hanf, diene
schmunzeln und die Kinder jubeln, wenn
men Schlangendrehungen vom Boden –
nicht mehr dem übermütigen Metall als
die «Schnalzgeisseln» aus der Hinterkam- ein Paar Windungen, ein Paar Kreise in
Glockenstrick; werde lieber selbst ein
tung und des «Hallodris» wegen.
der Luft über dem Haupte, noch eine
Schwengel und schlage an die liebe Got-
Die Schnalzgeissel ist eine riesige Peit-
raschere Schwingung des Handstabes
tesluft, das wird auch klingen und hallen
sche aus Hanfgarn, welche an einem
und ein pistolenschussartiger Knall ent-
und das Menschenherz erfreuen! – Seht
Ende, das an dem kurzen, derben Stiele
fährt dem Seile und hallt vielfach nach.
ihr, und seitdem läutet der Strick für sich
mer hervorgeholt und zubereitet werden.
Peter Rosegger, österreichischer Schriftsteller, beschreibt eindrücklich und poetisch den Brauch des Herbsteinschnalzens in der Steiermark um 1880.
bloss dem Arbeitgeber angenehm, son-
hängt, fast die Dicke von zwei Zoll hat,
Das ist das erste Zeichen. Noch ein
sich aber weiter hinaus immer verjüngt
zweiter Knall, dass wieder die Wälder gel-
und am anderen ganz dünnen Ende mit
len und die Felsen.
einer Seidenfranse ausläuft. Diese Peitsche ist nicht selten mehrere Klafter lang,
Hierauf rüsten sich auch die übrigen Burschen, und das Schnalzen beginnt.
und damit sie auch die dem Zwecke ent-
Der Anfang macht jetzt der Halterbub
sprechende Schwere hat und sich nicht
mit der kleinsten Geisel, dieselbe gibt den
DAS HERBSTEINSCHNALZEN
und die Glocke mag schweigen auf dem Turme und sich grämen.» Da schauen die Burschen einander an: wie der Tannhuber so eine Sache auszulegen kann! Ja, ’s ist richtig so, auf ein Gleichnis,
die
Schnalzgeissel
Schwengel aus Hanf.
ist
der
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Aber nicht bloss am Tage des heiligen Bartholomä allein wird geschnalzt, durch den ganzen Herbst hin geht er fort, bis der erste Schnee fällt. An Sonnabenden und in den heiteren Nächten der Sonntage rotten sich die Burschen der Gegend zusammen und schwingen ihre Peitschen und knallen, dass der Mond nur so zwinkert mit den Augen. Da werden die Grillen noch einmal wach im Grase, und gar den
Sternschnuppen
gefällt
das
lustige Treiben und sie hüpfen vom Himmel nieder gegen die Erde. Das Schnalzen wird in solchen
Nächten
unterbrochen
von heiteren Liedern, von Ringen und Springen und anderen
possierlichen
Spielen.
Und da trägt es sich unter anderem auch zu, dass ein plötzlich abhanden kommt. Ja, der ist gegangen und hat sich ein anderes Schnalzen bestellt.
Am
mondglitzernden
Fenster klopft es in nächtlicher
Handwerk 3/2009
oder der andere Bursche
Es schnalzt ein Küsschen. Und das, o lieber Gott, hast du gut eingerichtet, dass das Schnalzen
eines
Küss-
chens nicht widerhallt in den Wäldern und in den Felswänden. ■
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Weil.
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Die Kraft im Hintergrund. Wir sind Partner des Kurszentrums Ballenberg. Weil das Handwerk stimmen muss. Ăœberall und in jeder Branche.