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QUO VADIS, CINEMA?

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Die Corona-Krise hat gezeigt: Das Kino ist keineswegs krisenfest. Der Lockdown brachte viele Betreiber an den Rand der Existenz, in den USA wechselt die größte Kinokette der Welt demnächst den Besitzer: Dort könnte bald Amazon das Sagen haben. Ausgerechnet. Auch die Situation in Österreich ist mehr als kritisch.

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WAS WIRD NUN AUS DEM KIINO?

WAS WIRD NUN AUS DEM KIINO?

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JEFF BEZOS KÖNNTE DAS KINO JETZT FÜR IMMER VERÄNDERN

Die AMC Theatres sind derzeit finanziell stark angeschlagen und ein Übernahmekandidat Die Freude war nicht zu überhören: Mit einem „Hurra, wir öffnen wieder“ kommentierte das Wiener Admiral Kino auf seiner Facebook-Seite die Ende Mai überraschend vorverlegte Möglichkeit, die Kinos im Land im Schnellverfahren wieder aufzusperren. Nach der Bekanntgabe der Verordnung, dass die Öffnung bereits zum Pfingstwochenende möglich wurde, anstatt wie zuvor angekündigt, erst am 1. Juli, ging ein Raunen der Erleichterung durch die Reihen der österreichischen Kinobetreiber - aber das übereilte Vorverlegen brachte auch logistische Schwierigkeiten mit sich. Zwar öffnete das Admiral Kino schon zu Pfingsten, zeigte mangels Angebot vorerst aber nur RepertoireFilme aus den vergangenen Kinomonaten. „Das ist ein Versuch, wieder auf die Beine zu kommen“, sagt Admiral-Chefin Michaela Englert, für die es jetzt gilt, die freudige Nachricht an ihre Klientel zu bringen. „Wir versuchen erst einmal, unser Publikum über Newslettering und die sozialen Netzwerke zu erreichen“, so Englert. Bis zu einem regulären Spielbetrieb werde es noch dauern.

MANCHE ÖFFNEN VORERST NICHT Viele Kinos, wie etwa das Cinema Paradiso in St. Pölten und in Baden, sperren vorerst gar nicht auf und wollen den ursprünglichen Termin mit 1. Juli wahrnehmen. Etliche Programmkinos, darunter Admiral, Votiv, Filmcasino und Gartenbau, haben sich verständigt, die Wiedereröffnung geordnet und gemeinsam zu vollziehen. Als Starttermin wurde der 19. Juni festgelegt, ab dann soll es durchgehend gespielte Programme geben. „Uns hat die vorverlegte Öffnung sehr überrascht, und sie ist grundsätzlich erfreulich, aber wir wollten auch nicht überfallsaftig öffnen, weil es gewisse Vorbereitungen braucht und weil wir unserem Publikum auch verpflichtet sind, was die Qualität unseres Angebots angeht“, sagt Michael Stejskal vom Wiener Votiv-Kino, der mit dem Filmladen Filmverleih auch auf Verleiherseite tätig ist. „An Programm mangelt es prinzipiell nicht, wir können alles spielen, was noch auf unseren Servern liegt - aber es wird noch keine neuen Filmtitel geben, denn dazu braucht es oft die Abstimmung mit internationalen Verleihern“. Solange das Kino international nicht wieder wie gewohnt läuft, ist der Nachschub für Filme eingeschränkt. Gerade Programmkinos können aber mit kleineren Arthaus-Produktionen, bei denen keine großen Weltvertriebe im Hintergrund dranhängen, recht flexibel agieren.

CINEPLEXX: „KONTRAPRODUKTIV“ „Es bricht jetzt eine gewisse Anarchie aus“, formuliert es Stejskal. „Das wollte eigentlich keiner. Jeder macht nun sein Ding, manche spielen ältere Filme und auch nur an Wochenenden, es gibt kaum neue Titel“. Daher werde es auch schwierig sein, die Filme zu bewerben. Einheitliche, österreichweite Filmstarts, die sich auch in der so wichtigen medialen Berichterstattung niederschlagen, würden vorerst ausbleiben.

Während die kleinen Kinos wendiger agieren können, gibt es seitens des Marktführers Cineplexx einiges Unverständnis für die Vorverlegung. „Unangekündigte Schnellschüsse das Kino betreffend im Zusammenhang mit dem Hochfahren des Kulturbetriebes sind leider kontraproduktiv“, sagt Cineplexx-Chef Christian Langhammer, der mit der Constantinfilm auch Verleiher ist. „Wir bedauern, dass man auf die immer wieder geforderte und notwendige Planungssicherheit nicht eingegangen ist und mit Veröffentlichung einer Verordnung am 27. Mai den Betrieb per 29. Mai ermöglicht.“ Die 29 CineplexxStandorte in Österreich will er wie geplant erst am 1. Juli öffnen, alles andere

Fotos: Votivkino; zVg Die meisten Kinos, darunter das Wiener Votivkino, öffnen wieder am 19. Juni.

käme für ihn zu früh. Einerseits gehe es darum, die Abstandsregelungen in den mehr als 200 Sälen der CineplexxGruppe im Detail zu erarbeiten. „Unser erklärtes Ziel ist es, dass unser Distanzkonzept so ausgestaltet wird, dass das Wohlbefinden unserer Kinobesucher optimal gewährleistet ist“, sagt Langhammers Co-Geschäftsführer Christof Papousek.

Und dann ist da auch für den KinoPlatzhirsch die nicht unwesentliche Frage, was in den Sälen zu sehen sein wird: „Der Filmmarkt ist international, und Filmstarts müssen in allen relevanten Märkten möglich sein. Wir gehen von weiteren Öffnungen in verschiedenen Ländern aus und rechnen daher mit großen Filmstarts ab Mitte Juli“, sagt Langhammer. Dann könnten Blockbuster wie Disneys „Mulan“, Christopher Nolens „Tenet“ oder „Wonder Woman 1984“ gespielt werden.

Dennoch: Zum Normalbetrieb zurückfinden wird der Kinobetrieb länger nicht: Denn noch viel dramatischer als die Krise wird die Zeit nach der Krise: „Dann haben wir wieder die vollen Belastungen im Bereich Mieten und Gehälter, aber nur einen Teil der Einnahmen. Durch die Abstandsregeln und Platzbeschränkungen, aber auch dadurch, dass viele Menschen sich vielleicht gar nicht trauen, ins Kino zu gehen“, so Stejskal. Unsicherheitsfaktoren, die die gesamte Veranstaltungsbranche betreffen. Stejskal: „Diese Branche ist eben kein Computer, den man einfach so wieder hochfahren kann“.

AMAZON GREIFT ZU Auch international hat die Krise mächtige Verschiebungen bei den Kinos gebracht: Der größte Kinobetreiber der Welt, AMC Entertainment in den USA und Versandhändler Amazon sind dem Vernehmen nach in Gespräche über eine mögliche Übernahme eingetreten. AMC war durch die Schließung der Kinos an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gekommen, Amazon könnte nun einspringen und die Kinos übernehmen - ausgerechnet der Streaming-Dienst, der größte Feind des Kinos, könnte sich jetzt also als sein Retter erweisen.

Zuerst soll es in den Übernahmegesprächen um die AMC Theatres in Großbritannien gegangen sein, schlussendlich hat Amazon-Chef Bezos aber den Gesamtkonzern ins Visier genommen.

Ein Zukauf dieser Größe würde Amazon mit einem Schlag an die Spitze im Kinobereich katapultieren, denn AMC ist stark verflochten und weltweiter Marktführer. Amazon hatte bereits in der Vergangenheit Interesse an einem Einstieg im Kinosegment angemeldet, war mit seinem Interesse an der Kinokette Landmark Theatres aber nicht erfolgreich gewesen. Nun könnte der Internetgigant mit dem Griff nach AMC gleich in einer ganz anderen Liga mitspielen.

Bislang gehört Amazon mit seinem zum Prime-Service gehörenden Streamingangebot Amazon Video neben Netflix und Disney+ von Walt Disney zu den größten Streaminganbietern für Filme und Serien. Mit dem Kauf von AMC könnte das Unternehmen seinen Einfluss in Hollywood massiv ausbauen, der Kauf der Kette könnte eine sinnvolle Ergänzung für den hauseigenen Streamingdienst darstellen. Und es bringt vermutlich den endgültigen Umbruch bei alten Traditionen: Die Übernahme von AMC würde Amazon eine verstärkte Kontrolle über das Kinofenster als eine zusätzliche Einnahmequelle geben - oder es ganz beerdigen (wie das während Corona ja mit etlichen Kinofilmen passierte, die direkt bei den OnDemand-Diensten landeten). Darüber hinaus könne die Kinokette auch als attraktives Marketinginstrument genutzt werden und dem Unternehmen zusätzlich Abonnenten bescheren.

Am Preis wird’s nicht scheitern: An der Börse ist AMC gerade rund 300 Millionen Dollar wert. Das zahlt Bezos aus der Portokassa. Und könnte das Kino damit für immer verändern.

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CORONA: EINE NEUE ZEIT FÜR DIE FILMFESTIVALS

Filmfestivals gehören zu den von der Pandemie am stärksten betroffenen Kulturveranstaltungen. Wie werden sie künftig aussehen?

Zuerst war da ein ungläubiges Beharren. Dann eine wenig einsichtige, fast trotzige Terminverschiebung. Schließlich die nüchterne Erkenntnis: Das wird heuer nichts mit dem Filmfestival von Cannes. Diese berühmteste Filmschau der Welt ist ein Opfer der Corona-Krise geworden, so wie Hunderte andere Festivals auch. Mit der Absage der Diagonale in Graz und Crossing Europe in Linz waren auch zwei wichtige heimische Filmfestivals betroffen.

In Cannes hat man lange gehofft, Ende Juni, Anfang Juli doch noch einen Ersatztermin zu finden, und auch, wenn sich die Pandemie-Situation inzwischen in Frankreich gebessert hat, so sind Massenveranstaltungen wie diese noch völlig undenkbar. 2500 Menschen in einem Kinosaal? Das Gedränge am roten Teppich vor dem Palais des Festivals? Hunderte, die sich in den Cafés und Restaurants dicht an dicht reihen? Cannes hat ein Problem.

Filmfestivals als Orte kollektiver Filmerfahrung sind zumindest in naher Zukunft gänzlich unmögliche Modelle kultureller Vermittlung; zwar dürfen ab Juli wieder 250 Menschen in einem Kinosaal - mit entsprechend Abstand - Platz nehmen, aber dennoch leidet darunter vermutlich nicht nur die kollektive Erfahrung, sondern auch der mit den Festivals verbundene Wirt-

So wie auf dem Bild, aufgenommen im Vorjahr in Venedig, werden Filmfestivals wohl länger nicht aussehen: Keine Zaungäste, keine Fans, kein roter Teppich und nur beschränkter Zugang für Fachbesucher

schaftsfaktor: Allein nach Cannes kommen jedes Jahr 4000 Journalisten, und mehr als 150.000 Fachbesucher, die alle essen und schlafen müssen. Bei einer Begrenzung der Teilnehmer ist das für niemanden ein gutes Geschäft.

Immerhin will man den Jahrgang 2020 nicht im Archiv verschwinden lassen - Anfang Juni (und nach Redaktionsschluss) wurde eine Liste der für den Cannes-Wettbewerb um die Goldene Palme ausgewählten Filme der Öffentlichkeit präsentiert. Angeblich, um den Filmen bei ihrer Kinoauswertung zu helfen, weil das Cannes-Logo mit der Palme eine Art „Gütesiegel“ wäre. Das denkt zumindest Festivalchef Thierry Frémaux. Der wahre Hintergrund aber dürfte sein, diese Filme zu „brandmarken“, damit die Cannes-Exklusivität weithin sichtbar wird, wenn sich die entsprechenden Produktionen bei anderen Filmfestivals um einen Premierenplatz bemühen.

WIE GEPLANT Konkret geht es um das Filmfestival von Venedig, das allen Widrigkeiten zum Trotz bislang keineswegs abgesagt wurde. Es soll wie geplant zwischen 2. und 12. September stattfinden, und zwar auf dem Lido von Venedig, nur mit besonderen Sicherheitsvorkehrungen. Zumindest, wenn es nach Luca Zaia, dem regionalen Präsidenten von Venetien geht. In der Filmbranche regiert jedenfalls noch breite Skepsis, wie ein Filmfestival „mit Einschränkungen“ funktionieren könnte. Online kursieren jede Menge Gerüchte: Zunächst müsse man das Publikum vom Festival aussperren, und nur Fachbesuchern den Zutritt erlauben, diskutiert man in diversen Foren. Aber auch die Anzahl der Fachbesucher würde stark eingeschränkt werden müssen, und auch die Anzahl der Filme. Hartnäckig hält sich derzeit das Gerücht, dass nur die italienische Presse am Festival physisch wird teilnehmen dürfen, während die internationalen Journalisten mit einem Online-Zugang ausgestattet werden könnten, über den sie eine Auswahl der Filme daheim streamen könnten - natürlich nur, wenn die Rechteinhaber der Filme dem zustimmen.

KEIN ONLINE-CANNES Maßnahmen, die jedenfalls von Cannes entschieden abgelehnt werden. Frémaux verwehrte sich einer digitalen Ausgabe des Festivals von Anfang an: „Das widerspricht dem Charakter der Filmschau, die physische Präsenz voraussetzt“, sagt er. Und auch die Profis der Branche geben den Plänen der Filmschau in Venedig wenig Chancen. „Für einen internationalen Film-Launch braucht es auch die internationale Presse, sonst lohnt sich

der Aufwand nicht“, sagt der britische PR-Experte Charles McDonald, der seit Jahrzehnten Filme auf Festivals betreut. „Außerdem stellt sich die Frage, welche Stars dann wirklich anreisen, oder anreisen dürfen. Und im stets überfüllten Hotel Excelsior geht das mit der sozialen Distanz auch nicht sehr gut“. Venedig-Festivalchef Alberto Barbera jedenfalls bezeichnete die kommende Filmschau als „Experiment“, bei der vermutlich die roten Teppiche eher leer bleiben könnten. Beim zeitgleich stattfindenden Festival in Toronto überlegt man sogar eine gänzliche Verlagerung ins Netz, wie Journalisten berichteten.

Inzwischen gibt es mit Festivals, die ausschließlich online stattfinden, sogar schon erste, vielversprechende Erfahrungswerte: Das DOK.fest München, das größte deutsche Dokumentarfilmfestival, fand dieses Jahr notgedrungen als Online-Festival statt. „Zu unserer großen Freude und Überraschung war es extrem erfolgreich“, sagt Pressesprecher Dominik Petzold. „Wir hatten 75.000 gezählte Zuschauer – tatsächlich waren es weit mehr, da sicher in vielen Fällen mehr als ein Zuschauer vor dem Bildschirm saß. Unser bisherigen Rekordwert lag 2019 bei 52.000 Zuschauern“. Wohlgemerkt als rein physische Ausgabe. Daher will man ab nun neue Wege gehen, und den Online-Markt gleich mitnehmen. „Für das kommende Jahr planen wir ein hybrides Festival, das in Münchner Kinos und online stattfindet“, so Petzold.

„Es stellt sich die Frage, welche Stars nach Venedig anreisen würden oder dürften“

CHARLES MCDONALD

BRITISCHER PR-PROFI

VIENNALE-PROBLEME? Spannend dürfte auch die Frage werden, wie Österreichs größte Filmschau, die Viennale, mit der Corona-Krise umgehen wird. Derzeit geht man davon aus, dass der Termin von 22. Oktober bis 4. November gehalten werden kann, sofern die PandemieZahlen niedrig bleiben und sich keine zweite Welle für den Herbst ankündigt. Dennoch wird diese Viennale ein Problem auf der programmlichen Seite haben. Normalerweise wäre ViennaleChefin Eva Sangiorgi nämlich bei den Festivals in Cannes, Venedig, Toronto, aber auch Locarno oder Karlovy Vary unterwegs, um Filme für die Viennale auszuwählen und einzuladen. Da die meisten Veranstaltungen ausgefallen sind, tut sich hier natürlich auch ein gewaltiges Programmloch für Sangiorgi auf. Wie das gefüllt werden soll, ist Gegenstand von Überlegungen und zeigt jedenfalls: Die Filmfestivals dieser Welt leiden in Krisenzeiten genauso an ihrer globalisierten Verknüpfung wie viele andere Branchen auch. Es brauchte erst Corona, um das zu erkennen.

COVER ONLINE WIRD TEIL DER ZUKUNFT DES KINOS

Neun Thesen des DOK.fest München-Leiters Daniel Sponsel zur Zukunft des Kinodokumentarfilms. Seine Ansätze lassen sich aber auch gut auf Filme aller Genres und ihre Auswertung im Kino oder online übertragen.

Das DOK.fest München hat sich aufgrund der aktuellen Situation mit seinem Filmprogramm auf den hart umkämpften Markt der OnlinePräsenz begeben. Nun beweist uns der hohe Zuspruch, dass dieser Markt offen ist für diese herausragenden Filme. Mehr als 75.000 gezählte Zuschauer haben die 121 Filme des DOK.fest München @home, die DOK.forum und DOK.education Veranstaltungen online gesehen. Die Zahl der tatsächlichen ZuschauerInnen dürfte deutlich höher liegen, da wir nicht wissen, wie viele Menschen in jedem Haushalt jeweils vor dem Bildschirm saßen.

Das DOK.fest München ist endgültig im digitalen Zeitalter angekommen und wird die wertvolle Erfahrung aus dieser Edition in allen Bereichen – dem Festival selbst, der Branchenplattform DOK.forum und der Bildungsplattforum DOK.education – für seine weitere Entwicklung nutzen. Wenn unsere Förderer, Partner und die Branche dazu bereit sind, werden wir im kommenden Jahr in großem Stile den Beweis dafür antreten, dass sich die Präsenz und die Auswertung von Dokumentarfilmen im Kino und im Netz gegenseitig nicht nur ergänzen, sondern sogar bestärken können. An dieser Stelle sollen neun Thesen diese Chance skizzieren.

Einfach hatten es Dokumentarfilme noch nie in ihren Verwertungswegen. In den letzten Jahren gab es in den Kinos in Deutschland eine hohe Anzahl an Filmen, die nur von wenigen zahlenden Zuschauern gesehen wurden. Das liegt nicht an der Qualität der Filme, sondern an einem überforderten Markt mit zu vielen Filmstarts und daran, dass die Marketing-Mittel, die einem Kinodokumentarfilm zur Verfügung stehen, oft zu gering sind, um genügend Aufmerksamkeit und Reichweite zu erzielen. Wenn jetzt, nach den Beschränkungen, die Kinos wieder bedingt öffnen, werden sich die Dokumentarfilme ganz hinten in der Reihe anstellen müssen. Die Frage, vor der wir alle nicht erst seit heute stehen, lautet: Wird der Dokumentarfilm in Zukunft überhaupt noch eine relevante Rolle in der Strategie der Kinoauswertung spielen? These Nr. 1: Der Dokumentarfilm ist ein Genre mit größerem Zielgruppenpotential, als ihm allgemein zugestanden wird. Er muss sich seine Zuschauerinnen und Zuschauer dort abholen, wo sie sind – im Netz. Das gilt für das Marketing, aber eben auch für die Präsentation der Filme selbst.

MY FESTIVAL FIRST? Filmfestivals lieben Premieren, jede Premiere ist eine Kerbe mehr im Kolben und der ganze Stolz, an dem sich der Wert eines Festivals scheinbar bemessen lässt. Dabei handelt es sich um eine Tradition, die sich aus der Besonderheit einiger weniger Festivals heraus zu einer nicht mehr zeitgemäßen Eitelkeit gewandelt hat. Sind Festivals wirklich die Geburtshelfer der Filme? Oder leben sie nicht vielmehr von den Filmen, die andere gemacht haben und können diese in der Reichweite und Auswertung unterstützen? Mittlerweile kommt den Festivals in der Verwertungskette für Dokumentarfilme eine ganz spezielle Aufgabe und Verantwortung gegenüber der Branche zu: Die Dokumentarfilmfestivals müssen einen Teil der ausbleibenden regulären Kinoauswertung kompensieren und zwar in den Kinos selbst und möglicherweise ergänzt durch Online- Angebote. Genau das ist aufgrund ihrer Ausstattung und der Reichweite sowie der jeweiligen regionalen Verortung ihre Qualität. Und: Der Kulturkalender und die Filmbranche in diesem Land bieten genügend Spielraum dafür, dass jedes größere Festival auch genügend Premieren präsentieren kann, so ganz en passant. These Nr. 2: Filmfestivals müssen ihr Selbstverständnis und ihren Auftrag überdenken und weiterführend definieren. Ihr Potential für die Auswertungskette ist größer und wird bisher nicht umfänglich genutzt.

Das World Wide Web bietet einem Festival zahlreiche Möglichkeiten, sich mit seinem Programm im wahrsten Sinne des Wortes weitreichend zu platzieren. Einige Festivals haben diesen Weg jetzt wagen müssen und entdecken auch die Chancen darin. Die vorübergehende Goldgräberstimmung einzelner Festivals sollte jedoch nicht zu vorschnellen Expansionsphantasien verführen. An erster Stelle steht die Verantwortung, die wir als Festival gegenüber den Urheberinnen und Urhebern jedes einzelnen Films, gegenüber der Branche an sich und nicht zuletzt auch gegenüber anderen Festivals weltweit haben. Wenn sich jetzt, nach der Beendigung der Beschränkungen, der aufgewirbelte Staub langsam legt, ist es wichtig, die Strategien an den eigenen Grundsätzen und Zielen zu bemessen und entsprechend zu handeln. Die Verwertungskette von Kinodokumentarfilmen ist national und international ein fragiles Gebäude, aus dem man nicht ohne Folgen einen Stein herausziehen sollte. These Nr. 3: Filmfestivals können in näherer Zukunft noch mehr Verantwortung und Aktivitäten in der Auswertungskette von Dokumentarfilmen übernehmen, möglicherweise auch mit zusätzlichen Online-Angeboten.

Die Online-Edition eines großen Filmfestivals ist heute überhaupt noch nicht selbstverständlich. Die gegenwärtige Si-

tuation zwingt uns, einen Weg zu gehen, der als technische Möglichkeit zwar schon besteht, mit dem wir uns aber in jeder Hinsicht schwertun. Spätestens seit immer mehr Anbieter auf dem Filmmarkt erfolgreich online unterwegs sind und unsere vertrauten Produktions- und Verwertungsketten aus den Angeln heben, ist uns bewusst, dass die Zukunft das Beschreiten neuer Wege fordert. Nun ist die Versuchung groß, das Internet so zu nutzen, wie es sich anbietet: als Möglichkeit, weltweit zu agieren. Das kann nicht das Interesse eines örtlich und zeitlich verankerten Festivals sein. Das DOK.fest München war in seiner Online-Edition deshalb nur deutschlandweit und auf einen Zeitraum von 18 Tagen begrenzt zu sehen. Eine ganz wichtige Maßnahme, um die weiteren Auswertungsmöglichkeiten der Filme zu gewährleisten. These Nr. 4: Das Geoblocking und die zeitliche Begrenzung sind für jede Art der Online-Auswertung die Existenzgarantie für weitere Player in der Auswertungskette – das gilt auch für die Filmfestivals.

KUNST DARF KOSTEN Aktuell reagieren zahlreiche Kulturanbieter und auch Filmfestivals im Netz auf die Beschränkungen mit gut gemeinten Angeboten – kostenfrei. Ein grundsätzlich fragwürdiges Signal, auch oder gerade in dieser Zeit. Auf diese Weise forcieren wir weiter den eigentlichen Geburtsfehler des Netzes: die scheinbar urheberlose und kostenfreie Welt des digitalen Contents. Auch in seiner Online-Edition waren die Filme des DOK.fest München nur mit einem Ticket oder dem Festivalpass zu sehen. Alle Preise waren niedriger angesetzt als der reguläre Zugang zum Kino, aber deutlich höher als die Angebote der Mitbewerber aus dem Silicon Valley. Darüber hinaus gab es das Extraticket mit einem Solidarbeitrag für unsere Partnerkinos. Unmittelbar nach der Entscheidung, mit dieser Edition online zu gehen, haben wir den RechteinhaberInnen der bereits für das Präsenzfestival zugesagten Filme für die Online-Edition eine erhöhte Beteiligung an der Auswertung zugesagt. Filmkunst muss ihren Preis haben, auch online. Die hohe Anzahl der Besucherinnen und Besucher bestätigt uns jetzt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. These Nr. 5: Filmfestivals müssen reguläre Tickets verkaufen, um somit relevante Screeningfees für alle Filme zahlen zu können. Ganz gleich, ob diese im Kino oder online ausgewertet werden.

In der diesjährigen Online-Edition sind wir ohne großen Vorlauf und gewohnte Verbreitungsmöglichkeiten aus dem Stand bei einzelnen Filmen auf eine Anzahl an verkauften Tickets gekommen, die den Ergebnissen der regulären Kinoauswertung nahekommt. Dabei haben wir mit Sicherheit auch ein ganz neues Publikum erreicht, das für einen Dokumentarfilm bis jetzt noch nicht den Schritt ins Kino getan hätte. Alle bisherigen Erhebungen über das Verhalten von Cineasten und Filmfreundinnen und Filmfreuden legen nahe, dass sich die Nutzung von Online-Angeboten und der Besuch im Kino nicht ausschließen, sondern teilweise bedingen. These Nr. 6: Filmangebote im Kino und auf OnlinePlattformen stehen nicht in unmittelbarer Konkurrenz. Ein gemeinsamer Auftritt erhöht die Reichweite und die Möglichkeiten, mehr und auch ganz neues Publikum zu generieren.

„Das Kino muss die Koexistenz mit dem Netz nicht nur aushalten, sondern auch einfordern“

DANIEL SPONSEL

LEITER DOK.FEST MÜNCHEN

Die Möglichkeiten für ZuschauerInnen, Filme zu sehen, ist noch einmal größer geworden und durch neue Anbieter vielfältiger. Der Markt ist schnell, jeder neue Film verdrängt die aktuellen und in der Frage der Preispolitik wird die Stimmung zunehmend aggressiver. Nur wer auf diesem Markt ausreichend sichtbar ist, erhält auch den Zuspruch durch das Publikum. In der Öffentlichkeits- und Pressearbeit kann jeder Film nur einmal Reichweite generieren. Darum ist es insbesondere für Dokumentarfilme wichtig, alle Synergien in der Auswertung zu bündeln. Damit die Filme auf dem Markt sichtbar werden können, benötigen sie deutlich mehr finanzielle Mittel. These Nr. 7: Die Filmförderungen sollten ihr Konzept für die Vergabe von Distributionsmitteln überarbeiten und erweitern. Dem Kinodokumentarfilm müssen deutlich mehr Mittel für die Kommunikation und das Marketing zugesprochen werden.

Wir schaffen es nicht einmal, das Tempolimit auf deutschen Autobahnen politisch umzusetzen. Warum sollte es uns durch eine Regulierung gelingen, den Menschen vorzuschreiben, welche Filme sie wann und wo zu sehen haben? Das Publikum sieht die Filme da, wo es sie bekommt: Das kann im Kino sein, im TV oder online bei einer Streamingplattform. Wir werden keine Menschen zurück in die Kinos bekommen, wenn wir glauben, wir könnten ihnen die Art und Weise, wie sie bestimmte Filme zu sehen haben, vorschreiben. Der Markt ist zu groß und zu liberal, um ihn regulieren zu können. Aber wir sollten nicht Netflix, Disney oder Amazon alleine darüber entscheiden lassen, welche Dokumentarfilme wir online sehen können und welche nicht. Es ist von großem allgemeinen Interesse, in Deutschland Strukturen aufzubauen, die eine Koexistenz der Online-Auswertung und im Kino möglich macht und miteinander verzahnt. Die Projekte KINO ON DEMAND und KINOFLIMMERN sind ein Anfang, das DOK.fest München @home 2020 eine in diesem Sinne wertvolle Erfahrung – weitere sollten unbedingt folgen. These Nr. 8: Die Kinosperrfrist stammt aus der Zeit des linearen, dualen Marktes. Sie kann die Kinos nicht mehr schützen, sondern verwehrt den Filmen nun den Zugang zum Publikum. Die Kinosperrfrist ist in diesem Sinne für Dokumentarfilme kontraproduktiv und sollte aufgehoben werden.

MEHR PUBLIKUM Wir müssen davon ausgehen, dass wir als gesamte Gesellschaft nach dieser Krise nicht einfach wieder in den Ausgangsmodus zurückkehren können. Dazu ist diese Krise zu substanziell, dafür sind die Bedürfnisse in unserer Wohlstandsgesellschaft zu ausgeprägt und divers. Das gilt insbesondere für Großveranstaltungen und sicher auch für das Kino. Das Kino muss in näherer Zukunft eine Koexistenz mit dem Netz nicht nur aushalten können, sondern als Ergänzung fordern. Das Kino ist definiert durch seinen großen dunklen Raum während der Vorführung und die soziale Interaktion drumherum, sowie durch das kuratierte cineastische Programm. Nur das Kino kann, was das Kino kann. Es muss mit seinen unersetzlichen Qualitäten auf allen Ebenen für die Auswertung von Kinodokumentarfilmen arbeiten – am besten, wenn möglich, in enger Kooperation mit einem Festival vor Ort. These Nr. 9: Die zeitgleiche Auswertung von Dokumentarfilmen im Kino und online bringt in der Summe mehr Zuschauerinnen und Zuschauer für jeden einzelnen Film. Alle Festivaltickets sollen in der Zählung der FFA erfasst werden, das Kinoticket genauso wie das Online-Ticket. DANIEL SPONSEL

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