4 minute read
NACHRUF: Michel Piccoli ist tot
NACHRUF
afp
Advertisement
DER DURCH DIE SEELEN REISTE
Der französische Weltstar Michel Piccoli ist 94-jährig gestorben.
Wer Michel Piccoli einmal gegenüber gesessen ist, der weiß, was Aura bedeutet. Der Mann strahlte eine Ruhe aus, die sich am besten mit gelassener Weisheit umschreiben lässt; und das, obwohl Michel Piccoli in seinen Rollen auch aufbrausend sein konnte, vor allem, wenn jemand sein Geheimnis gelüftet hatte.
Michel Piccoli war über Jahrzehnte das Gesicht des französischen Kinos, er spielte aber kaum ikonenhafte Figuren, das machte ihn zu einem Weltstar, dessen Ruhm sich mit „Understatement“ gut beschreiben lässt. Piccoli war kein Belmondo, der zu wirklichem Weltruhm gelangte, er war kein Schönling wie Delon, kein Grobschlächtiger wie Jean Gabin und kein Spaßvogel wie Yves Montand. Piccoli hatte seinen eigenen Stil, eine beeindruckende Eleganz, mit der er sich die Rollen aneignete, eine
Michel Piccoli verlässt mit Romy Schneider die Premiere von Claude Sautets „Max et les ferrailleurs“ („Das Mädchen und der Kommissar“) am 17. Februar 1971 in Paris.
Foto: Archiv Klasse, mit der er dem französischen Kunstfilm seinen Stempel aufdrückte. „Ich will keinen Applaus für die Vergangenheit, ich bin nur an der Zukunft interessiert“, sagte Piccoli bei einem Interview mit der „Wiener Zeitung“. „Ich erfinde meine Profession bei jedem Film neu. Ich will wachsen bei jeder Rolle, als Schauspieler wie als Mensch. Es ist ein wahnsinnig intimer Beruf, intim mit dem Publikum, mit dem Regisseur und dem Autor. Mein Beruf ist es, durch die Seelen der Figuren zu reisen, die ich spiele.
DURCHBRUCH MIT GODARD 176 Filme hat er in seinen 94 Lebensjahren gedreht, stand in 50 Theaterstücken auf der Bühne. Bereits am 12. Mai ist er verstorben, an den Folgen eines Schlaganfalls, wie seine Familie am Montag mitteilte. Piccoli gelang eine der eindrucksvollsten Filmkarrieren im französischen Kino, sein Durchbruch in Jean-Luc Godards Meisterwerk „Die Verachtung“ (1963) zeigte ihn in seiner ersten Hauptrolle als Drehbuchautor, dessen Ehe (mit Brigitte Bardot) während der Dreharbeiten zu einem Film über die Irrfahrten des Odysseus zerbricht. Schnell wurden die großen Regisseure auf den schmalen Mann mit der hohen Stirn aufmerksam, der eine eindringliche Stimme besaß, mit der er betören, aber auch verstören konnte. Piccoli drehte mit Raoul Ruiz, Jean-Pierre Melville, Alain Resnais, Jean Renoir, Luis Buñuel, Jacques Demy, Nanni Moretti, Leos Carax und sogar Alfred Hitchcock, für dessen „Topas“ er 1969 vor der Kamera stand. Oft changierten seine eleganten Figuren zwischen Feinsinnigkeit und Ironie, wirkten nur vorderhand wie Normalos, hatten aber ein reiches, vielschichtiges und nicht immer astreines Innenleben. Manchmal waren sie gar von einer Göttlichkeit gestreift, und das, obwohl Piccoli bekennender Atheist war: In Nanni Morettis „Habemus papam“ (2011) machte er der Welt sein letztes Abschiedsgeschenk, als frisch gewählter Papst, der sich seinen geheimen Ängsten stellen musste. Es war seine letzte große Rolle. Und es hatte ihm Freude gemacht, vor allem das Papst-Gewand. „Ich bin wie ein Kind, und alle Kinder verkleiden sich gern“, sagte er damals.
Piccoli drehte bis zu sechs Filme pro Jahr, und verzichtete immer auf die Hilfe eines Agenten, sondern ließ sich stets davon leiten, wie lustvoll er die Darstellung einer Figur empfand. Eine ganz besondere Ära im französischen Kino hat Piccoli nachhaltig geprägt, nämlich, als er immer wieder zusammen mit Romy Schneider vor der Kamera stand, die ihn (nach einer gemeinsamen Affäre) etliche Jahre auch ihren besten Freund nannte. Begonnen hatte alles mit „Die Dinge des Lebens“ (1969), in der Schneider Piccolis Geliebte spielt, die er verlassen möchte. Inszeniert hat Claude Sautet, ein Regisseur, dem man zuschreibt, der vielleicht französischste aller Filmemacher zu sein; während Godard, Resnais und Co. die große Kunst zelebrierten, ruhten Sautets Filme auf dem Sockel der sozialen Wirklichkeit Frankreichs, ohne Sozialtristesse zu verbreiten oder gar politische Anliegen zu vertreten. Piccoli drehte mit Sautet und Schneider noch den legendär gut aussehenden Kriminalfilm „Das Mädchen und der Kommissar“ (1972), und stand als nobler Versicherungsbetrüger mit Schneiders Hilfe in „Trio Infernal“ (1974) vor einer Badewanne voll Salzsäure, in denen man die Leichen der zuvor Betrogenen auflöste. Ein anderer skurriler Film seiner Karriere war „Das große Fressen“ (1973), bei der sich die vier Herren Piccoli, Mastroianni, Ugo Tognazzi und Philippe Noiret einschließen, um der zügellosen Völlerei zu frönen, mit allen schrecklichen Konsequenzen. Mit Schneider drehte er schließlich noch deren letzten Film „Die Spaziergängerin von Sans Souci“ (1982), wo er als ihr Ehemann auftrat. Gerade im deutschen Sprachraum machten ihn die Filme mit Schneider bekannt. Aber das Understatement blieb, denn seine Kunst bestand eher darin, „sie zu verbergen, weil er die Gabe hat, sie sparsam einzusetzen“, sagte die im Vorjahr verstorbene Agnes Varda einmal über ihn.
Sein Oeuvre umfasst 70 Jahre europäische Filmgeschichte, mit vielen Regisseuren unterhielt er große Freundschaften und drehte mehrere Filme, etwa mit Luis Buñuel (sieben Filme), Marco Ferreri (sieben), Sautet (fünf) oder Chabrol (drei). Sie alle waren fasziniert von dieser Aura: Eine Gelassenheit, hinter der sich manchmal Abgründe auftun konnten. Das war Michel Piccolis Credo: „Ich mag das Geheimnis der Figuren, den Zweifel, der sie umgibt“, sagte er. „Ich suche gerne andere. Ich möchte nicht ganz sagen, was ich denke“.