Leseprobe AVR | Linde Verlag

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AVR

Abgabenverfahren und Rechtsschutz

Verfahrensrechtstag 2023

Mündliche Verhandlung vor dem BFG

Der „Deal“ vor dem Abgabengericht?

Digitalisierung in der Finanzgerichtsbarkeit

Berichtigung nach § 293 BAO

Anwendung auf „Rechenfehler“ des BFG?

Berufsgeheimnisschutz

Whistleblowing von Steuerdaten

Aus der aktuellen Rechtsprechung

VwGH-Entscheidungen samt Anmerkungen

Katharina Kubik | Christian Lenneis | Maria Linzner-Strasser Claus Staringer | Martin Vock 4. Jahrgang / Juni 2023 / Nr. 3

Verbot missbräuchlicher Praktiken im europäischen Steuerrecht

Missbrauchstatbestände im Kontext der Anti-BEPS-RL

EU-Anti-Missbrauchsgrundsatz

GERINGER

2023

436 Seiten, kart. 978-3-7073-4809-5

€ 89,–

Steuern. Wirtschaft. Recht. Am Punkt.

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Fachbeiträge

Rechte und Pflichten im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor dem BFG (Teil 1) Dominik Stenitzer..............................................................................................................

Der „Deal“ vor dem Abgabengericht? (Teil 2) Anna Anderwald.................................................................................................................

Die digitale mündliche Verhandlung vor dem Bundesfinanzgericht gemäß § 48j BAO

Die Berichtigung von „Rechenfehlern“ des BFG nach § 293 BAO

Whistleblowing (von Steuerdaten) im Spannungsfeld zu nationalem Berufsgeheimnisschutz

IMPRESSUM

Herausgeber:

MMag. Dr. Katharina Kubik; Dr. Christian Lenneis; StB/WP Mag. Maria Linzner-Strasser; Univ.-Prof. Dr. Claus Staringer; Dr. Martin Vock, LL.M.

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Periodisches Medienwerk: AVR – Abgabenverfahren und Rechtsschutz.

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Nora Schreier..................................................................................................................
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Michael Hubmann................................................................................................................
Mario Riedl.................................................................................................................................................. 128 Rechtsprechung Aus der aktuellen Rechtsprechung Florian Fiala................................................................................................................................................ 141 Service Veranstaltungshinweis 138 Update aus der Verwaltungspraxis 139

Rechte und Pflichten im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor dem BFG

Teil 1 – Der subjektive Rechtsschutz in einer abgabengerichtlichen Verhandlung vor dem BFG

Mag. Dominik Stenitzer ist derzeit als prae-doc Universitätsassistent am Institut für Finanzrecht der Karl-FranzensUniversität Graz tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Glücksspielrecht und im Abgabenrecht.

Am 9.3.2023 fand der Verfahrensrechtstag „Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen: Aktuelle Herausforderungen und neue Ansätze“ unter der fachlichen Leitung von Frau UnivProf.in Dr.in Ehrke-Rabel und Assoz.-Prof.in Dr.in Gunacker-Slawitsch als Veranstaltung des Instituts für Finanzrecht der Universität Graz statt. Ein Vortragsthema dieser Veranstaltung waren die „Rechte und Pflichten im Rahmen einer mündlichen Verhandlung“. Das diesem Vortrag zugrunde gelegene Manuskript bildet die Grundlage des gegenständlichen Beitrags, der gesondert in zwei Teilen erscheint. Der gegenständliche erste Teil widmet sich dem subjektiven Rechtsschutz in einer abgabengerichtlichen Verhandlung vor dem BFG. Im zweiten Teil wird die objektive Rechtmäßigkeit behandelt.

1.Problemaufriss

Wie aus dem Tätigkeitsbericht des BFG aus dem Jahr 2021 entnommen werden kann, werden über 83% aller Erledigungen in einem nicht mündlichen Verfahren entschieden.1 Aus grundrechtlicher Sicht stellt die mündliche Verhandlung2 jedoch ein wichtiges Instrument zur Wahrung der Parteienrechte dar und dient damit auch der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit.

Der grundrechtliche Rahmen einer mündlichen Verhandlung ergibt sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art47 GRC3 iVm Art6 EMRK4. Mit der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 20125 wurde eine Art-6-EMRKkonforme Verwaltungsgerichtsbarkeit geschaffen, weshalb jetzt auch in Abgabenverfahren die Verfahrensgrundrechte der EMRK gelten.6

Telos einer öffentlichen, mündlichen Verhandlung sind die effektive Wahrung der Verfahrensgrundsätze,7 die Verhinderung einer

1 BFG, Tätigkeitsbericht des Bundesfinanzgerichts für das Jahr 2021 (2022) 66.

2 Nach Rechtsprechung des VwGH haben die Termini „Verhandlung“ und „mündliche Verhandlung“ die gleiche Bedeutung. VwGH 10.3.2016, Ra2015/15/0041.

3 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC), ABlC364 vom 18.12.2000, S1.

4 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), BGBl 1958/210.

5 Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBlI 2012/ 51.

6 ErlRV 1618 BlgNR 24.GP, 1; vgl VfGH 26.6.2020, E2851/2018.

7 VwGH 14.9.2017, Ra2016/15/0015; vgl auch VwGH 29.6.2016, 2013/15/0245.

Geheimjurisprudenz8 sowie das unmittelbare, mündliche Vorbringen von Beweisen.9 Das Recht auf Mündlichkeit einer Verhandlung ist Ausdruck eines Rechtsstaates10 und ein fundamentales Prinzip unserer demokratischen Gesellschaft,11 das zur Steigerung des Vertrauens in Gerichtsentscheidungen bzw -tätigkeiten beiträgt und damit auch der objektiven Rechtmäßigkeit dient. In erster Linie dient die mündliche Verhandlung aber dem Rechtsschutz des Einzelnen und damit der Wahrung seiner Parteienrechte (subjektiver Rechtsschutz). Allerdings ist die mündliche Verhandlung nicht das einzige Instrument zur Wahrung der Parteienrechte, weshalb Beschränkungen der aus dem Recht auf mündliche Verhandlung entspringenden Rechte durch andere Maßnahmen ausgeglichen werden können, soweit Verhältnismäßigkeit besteht.12

Im Folgenden wird der subjektive Rechtsschutz in einem abgabengerichtlichen Verfahren anhand der einzelnen Rechte und Pflichten der Parteien sowie der Rolle des BFG näher dargelegt.

2.Rechte und Pflichten der Parteien Festzuhalten ist, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem BFG die Ausnahme darstellt.13 So hat gemäß §274 BAO14 eine Verhandlung stattzufinden, sofern dies vom Beschwerdeführer als Partei iSd §78 Abs1 BAO rechtzeitig15 beantragt (Abs1 Z1) oder vom Gericht von Amts wegen anberaumt wird. Ein Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung muss nach herrschender Ansicht nicht

8 Vgl EGMR 22.2.1984, Sutter gg Schweiz, Bsw8209/78, Rn26; 29.10.1991, Helmers gg Schweden, Bsw11826/ 85, Rn36; 26.9.1995, Diennet gg Frankreich, Bsw18160/91, Rn33; 14.11.2000, Riepan gg Österreich, Bsw35115/97, Rn29ff.

9 Näheres dazu siehe Pkt4.

10 VwGH 1.9.2015, 2013/15/0295; 19.4.2021, Ra2020/ 13/0105.

11 EGMR 22.2.1984, Sutter gg Schweiz, Bsw8209/78, Rn26; 26.9.1995, Diennet gg Frankreich, Bsw18160/ 91, Rn33; ua.

12 Vgl EGMR 19.9.2017, Regner gg Tschechien, Bsw35289/11, Rn151; 22.10.2020, Silver Plastics und Johannes Reifenhäuser/Kommission, C-702/19P, Rn30 mwN.

13 Vgl BFG, Tätigkeitsbericht 2021, 66.

14 Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl 1961/194 idgF.

15 Zum Begriff der Rechtzeitigkeit siehe VwGH 29.7.2010, 2006/15/0215; 1.9.2015, Ra2015/15/0014; 29.6.2016, 2013/15/0245; 22.4.2022, Ra2021/13/0087; mwN.

Mündliche Verhandlung vor dem BFG 3/2023 106
Mündliche Verhandlung vor dem BFG

begründet sein16 und kann von der Abgabenbehörde als Amtspartei iSd § 265 Abs 5 BAO nicht gestellt werden.17 Eine gerichtliche Anberaumung erfolgt, weil es der Einzelrichter, Berichterstatter bzw Senatsvorsitzende „für erforderlich hält“ (Abs1 Z2) oder es der Senat nach Antrag eines Senatsmitglieds beschließt (Abs2). Grundsätzlich führt der Antrag des Beschwerdeführers zu einer zwingenden Abhaltung einer mündlichen Verhandlung.18 Ein Abweichen ist lediglich bei Verzicht des Beschwerdeführers,19 bzw wenn das BFG über die Beschwerde mit Beschluss abspricht (§274 Abs3 iVm Abs5 BAO),20 zulässig. Auch die Öffentlichkeit der Verhandlung kann nach §275 Abs3 Z1 BAO auf Verlangen des Beschwerdeführers ohne Angabe von Gründen ausgeschlossen werden. Der Amtspartei steht gemäß §275 Abs3 Z2 BAO ein solches Ausschlussrecht nur bei Vorliegen gesetzlich normierter Gründe21 zu.22

Das Verfahren vor dem BFG ist als kontradiktorisches Verfahren ausgestaltet, in dem sich der Beschwerdeführer als Partei iSd §78 Abs1 BAO und die Abgabenbehörde als Amtspartei iSd §265 Abs5 BAO „gegenüberstehen“. 23 Sohin soll der Grundsatz der Waffengleichheit nach ständiger Rechtsprechung des EGMR und des EuGH eine „faire“ Balance hinsichtlich prozeduraler Rechte und Pflichten zwischen diesen beiden Parteien sicherstellen.24 Keine Partei darf in eine „deutlich nachteilige Position“ versetzt werden.25 Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung soll den Parteien nach Ansicht des EGMR Gelegenheit zur „mündlichen

16 Unger in Unger/Tanzer/Althuber, BAO-Handbuch (2016) §274, 761; Ellinger/Sutter/Urtz, BAO (17.Lfg, 2020) §274 Anm3; Ritz/Koran , BAO 7 (2021) §274 Rz2; Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger , BAO: Stoll Kommentar2 (2023) §274 Rz13.

17 Ritz/Koran, BAO7, § 274 Rz 6; Unger in Unger/Tanzer/ Althuber, BAO-Handbuch, § 274, 761; Ellinger/Sutter/ Urtz , BAO, § 274 Anm 5; Tanzer/Unger in Rzeszut/ Tanzer/Unger, BAO, § 274 Rz 10.

18 VwGH 1.9.2015, Ra2015/15/0014; 29.6.2016, 2013/ 15/0245; 22.4.2022, Ra2021/13/0087.

19 Vgl VwGH 27.5.1998, 95/13/0171; 1.6.2006, 2005/15/ 0089; 30.1.2008, 2007/16/0178; 29.7.2010, 2006/15/ 0215; ua.

20 VwGH 17.10.2018, Ra2017/13/0087.

21 Die in §275 Abs3 Z2 BAO aufgezählten Ausschlussgründe sind angelehnt an jene des Art6 Abs1 EMRK.

22 Näheres zur objektiven Rechtmäßigkeit siehe Teil 2 dieses Beitrags.

23 Lang/Mayer, Bundesfinanzgericht – eine Standortbestimmung, in Holoubek/Lang, Verwaltung und Verwaltungs-/Finanzgerichtsbarkeit (2020) 293 (316).

24 Vgl EGMR 27.10.1993, Dombo Beheer B.V. gg Niederlande, Bsw14448/88, Rn33; 23.10.1996, Ankerl gg Schweiz, Bsw17748/91, Rn38; 7.6.2001, Kress gg Frankreich, Bsw39594/98, Rn72; 23.5.2016, Avotins gg Lettland, Bsw17502/17, Rn119; 19.9.2017, Regner gg Tschechien, Bsw35289/11, Rn146; EuGH 6.11.2012, Otis ua, C-199/11, Rn72; 16.10.2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, Rn62; 17.11.2022, Harman International Industries, C-175/21, Rn62; ua.

25 EuGH 6.11.2012, Otis ua, C-199/11, Rn71; 16.5.2017, Berlioz Investment Fund, C-682/15, Rn96; 16.10.2019, Glencore Agriculture Hungary , C-189/18, Rn61; 17.11.2022, Harman International Industries, C-175/21, Rn62; ua.

Konfrontation“ über strittige Gesichtspunkte bieten.26 Dazu impliziert das Parteiengehör das Recht, „effektiv“ anwesend zu sein, aber auch, das Verfahren zu hören und zu verfolgen.27 Es muss beiden Parteien die Möglichkeit eingeräumt werden, dass sie „gehört“ werden, gegenteilige Beweise vorbringen, Beweise der anderen Partei widerlegen sowie Zeugen befragen können.28 Überdies müssen die Parteien vor Erlass der Entscheidung in die Lage versetzt werden, auf Äußerungen der anderen Partei29 bzw auf amtswegig ermittelte Beweise30 und Sachverhaltsannahmen31 „sachdienlich“ zu reagieren.32 In diesem Zusammenhang können auch vor Verhandlung getätigte Ausführungen verifiziert oder berichtigt werden.33 Ob und auf welche Weise sich die Parteien äußern, liegt in deren Ermessen.34 Dieses Ermessen wird jedoch durch die Mitwirkungsobliegenheiten beider Parteien in der BAO eingeschränkt. Sie sind zur vollständigen und wahrheitsgemäßen Offenlegung aller wesentlichen Sachverhaltselemente

26 EGMR 4.3.2014, Grande Stevens ua gg Italien, Bsw18640/10 ua, Rn123.

27 EGMR 23.2.1994, Stanford gg Vereinigtes Königreich, Bsw16757/90, Rn30; 11.7.2006, Jalloh gg Deutschland, Bsw54810/00, Rn96.

28 Vgl EGMR 23.11.2006, Jussila gg Finnland, Bsw73053/ 01, Rn40; EuGH 24.10.1996, Kommission/Lisrestal, C-32/95P, Rn21; 21.9.2000, Mediocurso/Kommission, C-462/98P, Rn36; 12.12.2002, Cipriani , C-395/00, Rn51; 9.6.2005, Spanien/Kommission , C-287/02, Rn37; 18.12.2008, Sopropé , C-349/07, Rn37; 22.11.2012, M, C-277/11, Rn83 und 87; 26.9.2013, Texdata Software, C-418/11, Rn83; 22.10.2013, Sabou, C-276/12, Rn38; 3.7.2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C-129/ 13 und C-130/13, Rn30; 5.11.2014, Mukarubega, C-166/ 13, Rn43 und 46; 11.12.2014, Boudjlida , C-249/13, Rn36; 16.10.2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/ 18, Rn39; auf nationaler Ebene siehe VwGH 23.1.2003, 2002/16/0104; 14.9.2017, Ra2016/15/0015; 19.4.2021, Ra2020/13/0105.

29 Vgl EGMR 28.8.1991, Brandstetter gg Österreich, Bsw11170/84 ua, Rn67; 20.2.1996, Lobo Machado gg Portugal, Bsw15764/89, Rn31; 7.6.2001, Kress gg Frankreich, Bsw39594/98, Rn74; ua.

30 EuGH 2.12.2009, Kommission/Irland ua, C-89/08P, Rn55; 21.2.2013, Banif Plus Bank, C-472/11, Rn30; vgl auch EGMR 31.5.2001, K.S. gg Finnland, Bsw29346/95, Rn22.

31 VwGH 17.11.1992, 92/14/0150; 31.7.1996, 94/13/ 0251; 11.11.2008, 2006/13/0199, mwN.

32 Speziell zum Parteiengehör im Verwaltungsverfahren siehe EuGH 3.7.2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C-129/13 und C-130/13, Rn39; 5.11.2014, Mukarubega, C-166/ 13, Rn47; 16.10.2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, Rn41; siehe auch Gunacker-Slawitsch, Das Grundrecht auf eine „gute Verwaltung“ im Abgabenverfahren (Teil1), ÖStZ2015, 256 (260); Joklik-Fürst, Der Grundsatz des Parteiengehörs – ein fundamentales Prinzip des Rechtsstaates, RdW2017, 128 (128).

33 Vgl EuGH 21.12.2011, Frankreich/People’s Mojahedin Organization , C-27/09P, Rn65; 3.7.2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics , C-129/13 und C-130/13, Rn38; 5.11.2014, Mukarubega, C-166/13, Rn47; 26.7.2017, Sacko , C-348/16, Rn35; 16.10.2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, Rn41; ua.

34 EGMR 18.2.1997, Nideröst-Huber gg Schweiz, Bsw18990/91, Rn29; 6.2.2001, Beer gg Österreich, Bsw30428/96, Rn18.

Mündliche Verhandlung vor dem BFG 3/2023 107

verpflichtet (§119 BAO iVm §269 Abs1 BAO sinngemäß).35

Das dem nationalen Abgabenverfahren zugrunde liegende Überraschungsverbot36 basiert auf der Annahme, dass beide Parteien über entscheidungsrelevante faktische und rechtliche Umstände in Kenntnis zu setzen sind.37 Eine Verletzung des Rechts auf Parteiengehör und des Grundsatzes auf Waffengleichheit ist daher nach der Rechtsprechung des EuGH und des VwGH gegeben, wenn sich eine gerichtliche Entscheidung auf Tatsachen und Schriftstücke stützt, zu denen keine oder nur eine Partei Kenntnis und Stellung nehmen konnte.38

Im Abgabenverfahren vor dem BFG gibt es kein Neuerungsverbot (§270 Abs1 BAO).39 Auch nach Ansicht des EuGH können im Rahmen einer laufenden mündlichen Verhandlung neben bereits vorgelegten Schriftstücken neue Beweismittel vorgebracht werden, sofern sich die gegnerische Partei noch angemessen dazu äußern kann.40 Mit dem Abgabenänderungsgesetz 202241 wurde jedoch im Abs2 des §270 BAO sowie im §183 Abs3 BAO die Verfahrensförderungspflicht integriert.42 Nunmehr haben die Parteien ihre Vorbringen „so rechtzeitig und voll-

35 VwGH 26.11.2015, 2012/15/0041; 21.9.2016, 2013/ 17/0610; 22.11.2017, Ra2016/13/0018; 26.5.2021, Ra2020/13/0073; siehe auch Ehrke-Rabel in Doralt/ Ruppe, Grundriss des österreichischen Steuerrechts II8 (2019) Rz1304.

36 Zum Überraschungsverbot des Beschwerdeführers siehe VwGH 17.11.2020, Ra2020/13/0064; siehe zur Verletzung des Überraschungsverbots aus Sicht der Abgabenbehörde zB VwGH 6.5.2022, Ra2021/13/0086.

37 Vgl EuGH 23.10.1974, Transocean Marine Paint Association/Kommission , C-17/74, Rn15; 24.10.1996, Kommission/Lisresta l, C-32/95P, Rn21; 21.9.2000, Mediocurso/Kommission, C-462/98P, Rn36; 9.6.2005, Spanien/Kommission , C-287/02, Rn37; 14.2.2008, Varec , C-450/06, Rn47 und 51; 18.12.2008, Sopropé, C-349/07, Rn37; 22.11.2012, M , C-277/11, Rn86; 3.7.2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C-129/13 und C-130/ 13, Rn39; ua.

38 Vgl EuGH 22.3.1961, S.N.U.P.A.T./Hohe Behörde , C-42/59 und C-49/59; 10.1.2002, Plant/Kommission und South Wales Small Mines , C-480/99P, Rn24; 2.12.2009, Kommission/Irland ua, C-89/08P, Rn52; 4.6.2013, ZZ, C-300/11, Rn56; 16.10.2019, Glencore Agriculture Hungary, C-189/18, Rn62; 17.11.2022, Harman International Industries , C-175/21, Rn63; siehe auch VwGH 31.1.2018, Ra2016/15/0004; 22.11.2018, Ra2017/15/0002.

39 Vgl Gleiss/Hubmann, Neuerungsverbot nach mündlicher Verhandlung und Verfahrensförderungspflicht im BFGVerfahren, AVR2022, 202 (202); Knechtl, Verfahrensrechtliche Neuerungen im AbgÄG2022, taxlex2022, 291 (292); Ehrke-Rabel in Doralt/Ruppe , SteuerrechtII8 , Rz1371.

40 EuGH 5.6.2018, Kolev ua, C-612/15, Rn95; 13.6.2019, Moro, C-646/17, Rn52.

41 Abgabenänderungsgesetz 2022 (AbgÄG 2022), BGBlI 2022/108.

42 Näheres dazu siehe Houf, Die neue Verfahrensförderungspflicht, ögswissen3/2022, 20 (20); Unger, AbgÄG 2022 – Verfahrens- und orga nisationsrechtliche Auswirkungen für das BFG, AVR2022, 137 (140); Prodinger , Praktische Tipps bei der Einreichung von Beschwerden, ögswissen1/2023, 20 (21); Loser/Urtz, Die „Schließung der mündlichen Verhandlung“ nach §270 BAO idF AbgÄG 2022, ÖStZ2023, 29 (31).

ständig zu erstatten, dass das Verfahren möglichst rasch durchgeführt werden kann“ (§270 Abs2 BAO). In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass eine zu strenge Handhabung im Spannungsverhältnis zum Grundsatz auf Waffengleichheit, zum Recht auf Parteiengehör sowie zu den Verfahrensgrundrechten iSd GRC bzw EMRK stehen könnte,43 zumal berücksichtigt werden muss, dass nach Judikatur des EGMR Beschränkungen eines kontradiktorischen Verfahrens zur bloßen Verfahrenseffizienz unzulässig sind.44 Zur Sicherstellung des Parteiengehörs wird in strittigen Fällen die Vertagung der Verhandlung die bessere Wahl sein.45

3.Die Rolle des (Bundesfinanz-) Gerichts in einer mündlichen Verhandlung

Das BFG hat gemäß §279 Abs1 BAO iVm Art130 Abs4 B-VG46 vorzugsweise meritorisch zu entscheiden47 und ist daher zur amtswegigen Ermittlung der materiellen Wahrheit verpflichtet.48 Sohin dient eine mündliche Verhandlung aus Sicht des richterlichen Organs der ergänzenden Erörterung des Sachverhalts bzw der Klarstellung fraglicher Gesichtspunkte, um im Ergebnis ein angemessen begründetes Erkenntnis zu erlassen49 50 Es muss die „tragende Begründung der gerichtlichen Entscheidung“ enthalten sein51 52 Gemäß §275 Abs1 BAO hat der verhandlungsführende Richter Sorge zu tragen, dass „die Sache vollständig, erforderlichenfalls in Rede und Gegenrede, erörtert wird“. Vorgebrachte Beweismittel müssen vom Gericht mit größtmöglicher Sorgfalt und Unparteilichkeit zur Kenntnis genommen und in der Entschei-

43 Näheres dazu siehe Gunacker-Slawitsch, Das Verfahren vor dem Bundesfinanzgericht, in Ehrke-Rabel/GunackerSlawitsch, Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen (in Druck).

44 EGMR 18.2.1997, Nideröst-Huber gg Schweiz, Bsw18990/91, Rn30; 6.2.2001, Beer gg Österreich, Bsw30428/96, Rn18.

45 Vgl VwGH 24.2.1993, 92/13/0045.

46 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl 1930/1 idgF.

47 VwGH 9.9.2015, Ra2015/16/0037; 19.5.2021, Ra2020/ 15/0065; siehe auch Achatz, Zur Befugnis des Bundesfinanzgerichts, in der Sache selbst zu entscheiden, SWK27/2015, 1248.

48 Gunacker-Slawitsch, Amtswegigkeit und Mitwirkung im Abgabenverfahren (2020) 226ff; Gunacker-Slawitsch, Das Ermittlungsverfahren vor dem Bundesfinanzgericht –Verfahrensgrundsätze und amtswegige Ermittlungspflicht, taxlex2022, 111 (113); VwGH 18.10.2018, Ro2017/15/0022; 25.4.2019, Ro2017/13/0021; 5.3.2020, Ro2018/15/0004; 27.4.2020, Ra2015/15/ 0014; 26.5.2021, Ra2020/13/0073.

49 Näheres zur Begründungspflicht des BFG siehe Gunacker-Slawitsch, Amtswegigkeit und Mitwirkung, 138.

50 EGMR 21.1.1999, Garcia Ruiz gg Spanien, Bsw30544/ 96, Rn26; 21.4.2011, Nechiporuk und Yonkalo gg Ukraine, Bsw42310/04, Rn272; 11.7.2017, Moreira Ferreira gg Portugal, Bsw19867/12, Rn84.

51 Auch die Niederschrift gemäß §275 Abs7 BAO muss bei mündlicher Verkündung der gerichtlichen Entscheidung eine Begründung umfassen. VwGH 24.2.1993, 91/13/ 0149; 27.8.1998, 96/13/0180.

52 VfGH 7.11.2008, U67/08; 24.2.2009, U179/08; 24.2.2009, U1125/08.

Mündliche Verhandlung vor dem BFG 3/2023 108

dung berücksichtigt werden.53 Aus den Parteienrechten ist abzuleiten, dass es Aufgabe des Einzelrichters bzw Senatsvorsitzenden ist, beiden Parteien in einem ausgewogenen Verhältnis das Wort zu erteilen und sicherzustellen, dass sowohl der Beschwerdeführer als auch die Amtspartei über alle entscheidungsrelevanten Umstände in Kenntnis gesetzt sind.54 Nur in einem solchen Fall können die Parteien die Entscheidung nachvollziehen und Willkür ausschließen, wodurch das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit gestärkt wird.55 Da sich das Recht auf Parteiengehör aber nur auf die Kenntnis über die Sachverhaltswürdigung56 und nicht auf das rechtliche Ergebnis der gerichtlichen Beweiswürdigung erstreckt, muss das BFG die Parteien vor Erlass der Entscheidung nicht über seine rechtliche Würdigung unterrichten.57 In jenen Fällen, in denen rechtliche und faktische Würdigung ineinander fließen, ist jedoch zu beachten, dass das BFG die Parteien mit seinem Ergebnis nicht „überrascht“ 58 Aus dem Wortlaut des §275 Abs7 BAO ergibt sich zudem die Pflicht des Gerichts zur sorgfältigen Protokollierung der „wesentlichen Vorkommnisse“59 während einer mündlichen Verhandlung. Eine Niederschrift kann daher wie eine Zusammenfassung über den Inhalt der Verhandlung betrachtet werden.60

Falls eine Partei die Ordnung im Gerichtssaal stört oder das Verfahren übermäßig entschleunigt, ist das Gericht zur Setzung einer Maßnahme verpflichtet.61 So kann der Senatsvorsitzende bzw Einzelrichter nicht sachverhaltsaufklärende Fragen der Parteien bzw der Parteienvertreter zurückweisen (§275 Abs6 BAO) und einer Partei das Wort bei Missbrauch entziehen (§275 Abs1 BAO). Fischerlehner

53 Vgl EuGH 18.12.2008, Sopropé, C-349/07, Rn50; 21.12.2011, Frankreich/People’s Mojahedin Organization , C-27/09P, Rn65; 22.11.2012, M , C-277/11, Rn88; ua.

54 Vgl EuGH 2.12.2009, Kommission/Irland ua, C-89/ 08P, Rn56; siehe auch Joklik-Fürst , RdW2017, 128 (128).

55 EGMR 29.11.2016, Lhermitte gg Belgien, Bsw34238/ 09, Rn66f; 11.7.2017, Moreira Ferreira gg Portugal, Bsw19867/12, Rn84 ff; 27.2.2020, Lobzhanidze und Peradze gg Georgien, Bsw21447/11 ua, Rn65f; siehe auch VfGH 22.9.2014, B130/2014; 17.6.2020, E370/ 2020.

56 Vgl VwGH 18.2.1999, 98/15/0192; 26.7.2007, 2005/ 15/0051; 22.12.2010, 2007/08/0182.

57 EuGH 11.12.2014, Boudjlida, C-249/13, Rn55; siehe auch VwGH 30.5.2017, Ra2016/16/0087; 25.7.2019, Ra2019/22/0067; 31.8.2020, Ra2020/15/0022.

58 Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Gunacker-Slawitsch, Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen (in Druck); vgl auch Renner, VwGH zum Überraschungsverbot im Abgabenverfahren, taxlex2016, 123 (124); Ehrke-Rabel in Doralt/Ruppe, SteuerrechtII8, Rz1334.

59 Dazu zählen insbesondere Beweisanträge der Parteien während der mündlichen Verhandlung. VwGH 15.6.1993, 90/14/0213.

60 Vgl Fischerlehner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I3 (2021) §275 Rz19; Fiala, Zur Begründung mündlich verkündeter Beschwerdeentscheidungen, AVR2020, 186 (187f).

61 EGMR 27.5.2014, Margus gg Kroatien, Bsw4455/10, Rn90.

qualifiziert zB das wiederholte Vorbringen bereits dargelegter Ausführungen als Missbrauch, sofern damit die Verzögerung des Verfahrens beabsichtigt wird.62

Richterliche Organe müssen in Ausübung ihrer Tätigkeiten maximale Diskretion bezüglich anhängiger Rechtssachen aufweisen, um den Ruf der richterlichen Unabhängigkeit gemäß Art47 Abs2 GRC und die Würde des Richteramts zu wahren.63 Entscheidungen eines unabhängigen Gerichts stärken das Vertrauen der Steuerpflichtigen in Justiz und Rechtsstaat.64 Der Begriff der Unabhängigkeit erstreckt sich nach ständiger Rechtsprechung des EGMR und des EuGH sowohl auf die objektive als auch auf die subjektive Unabhängigkeit (sogenannte Unparteilichkeit), weshalb einerseits Mitglieder eines unabhängigen Gerichts unempfänglich für „Interventionen oder Druck von außen“ sein müssen und andererseits Richter in Bezug auf die Parteien und deren Rechtssache auf persönlicher Ebene eine neutrale Einstellung aufzuweisen haben.65 Diese beiden Aspekte sind aufgrund ihres engen Zusammenhangs zumeist gemeinsam zu prüfen,66 wobei dem äußeren Anschein bei der Feststellung der Unabhängigkeit große Bedeutung zukommt.67 Zweifel an der Unabhängigkeit eines Gerichts müssen objektiv begründet sein und sind nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen.68 Die objektive Unabhängigkeit des Gerichts ist zu bemängeln, wenn ein Richter bereits über ähnliche Rechts-

62 Fischerlehner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I3, §275 Rz6; vgl auch Ritz/Koran, BAO7, §275 Rz3a.

63 EGMR 16.9.1999, Buscemi gg Italien, Bsw29569/95, Rn67f; 15.12.2005, Kyprianou gg Zypern, Bsw73797/ 01, Rn120.

64 EGMR 22.10.1984, Sramek gg Österreich, Bsw8790/ 79, Rn42; 10.6.1996, Pullar gg Vereinigtes Königreich, Bsw22399/93, Rn38; EuGH 16.11.2021, Prokuratura Rejonowa w Minsku Mazowieckim ,C-748/19, Rn69; 15.7.2021, Kommission/Polen, C-791/19, Rn60.

65 Vgl EuGH 25.7.2018, PPU, C-216/18, Rn66; 11.7.2019, Kommission/Polen, C-619/18, Rn74; 5.11.2019, Kommission/Polen, C-192/18, Rn111; 16.11.2021, Prokuratura Rejonowa w Minsku Mazowieckim ,C-748/19, Rn67; 15.7.2021, Kommission/Polen , C-791/19, Rn59; 22.2.2022, PPU ua, C-562/21 und C-563/21, Rn69; EGMR 23.6.1981, Le Compte, Van Leuven und De Meyere gg Belgien, Bsw6878/75 ua, Rn57; 1.10.1982, Piersack gg Belgien, Bsw8692/79, Rn27; 24.11.1994, Beaumartin gg Frankreich, Bsw15287/89, Rn38; 28.1.2010, Puchstein gg Österreich, Bsw20089/06, Rn49; 28.1.2010, Stechauner gg Österreich, Bsw20087/06, Rn53; 6.10.2011, Agrokompleks gg Ukraine, Bsw23465/ 03, Rn125 und 137; ua.

66 EGMR 12.1.2016, Miracle Europe KFT gg Ungarn, Bsw57774/13, Rn55; 6.11.2018, Ramos Nunes de Carvalho gg Portugal, Bsw55391/13 ua, Rn146; 3.10.2019, Pastörs gg Deutschland, Bsw55225/14, Rn55.

67 Vgl EGMR 17.1.1970, Delcourt gg Belgien, Bsw2689/ 65, Rn31; 26.10.1984, De Cubber gg Belgien, Bsw9186/ 80, Rn26; 15.10.2009, Micallef gg Malta, Bsw17056/06, Rn98; 6.11.2018, Ramos Nunes de Carvalho gg Portugal, Bsw55391/13 ua, Rn149; 3.10.2019, Pastörs gg Deutschland, Bsw55225/14, Rn55; ua.

68 EGMR 6.11.2018, Ramos Nunes de Carvalho gg Portugal, Bsw55391/13 ua, Rn148 mwN; siehe auch Lenneis, Ablehnung eines Richters, BFGjournal2021, 363 (368).

Mündliche Verhandlung vor dem BFG 3/2023 109

sachen entschieden und aus früheren Entscheidungen eine Art „Voreingenommenheit“ in Bezug auf solche Rechtssachen entwickelt hat.69 In diesem Zusammenhang ist auch die subjektive Unabhängigkeit zu hinterfragen, wenn ein konkreter Richter bereits zu Beginn einer mündlichen Verhandlung einen bestimmten Verfahrensausgang beabsichtigt.70 Respektlose Bemerkungen eines richterlichen Mitglieds gegenüber einer Partei während der Verhandlung71 und unterschiedliche Rechtsmeinungen zwischen einem Richter und den Parteien72 begründen jedoch noch keine objektiven Bedenken. Nach der Judikatur des VwGH steht ein außergerichtlicher Austausch zwischen einem Richter und einer Partei, um Teile der Rechtssache „neutral“ zu erörtern, nicht in Konflikt mit der Unabhängigkeit, sofern im Zuge dieses Austausches die Rechtssache nicht entschieden wird.73 Überdies ist im Rahmen eines solchen „informellen“ Austausches der Grundsatz der Waffengleichheit zu wahren, weshalb die Ansetzung eines Erörterungstermins (§269 Abs3 BAO) in diesem Fall die bessere Wahl wäre.

4.Der Unmittelbarkeitsgrundsatz im Abgabenverfahren?

In einem direkten Konnex zu den Parteienrechten und in weiterer Folge zum subjektiven Rechtsschutz steht auch der Unmittelbarkeitsgrundsatz. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit ist ein wichtiger Bestandteil in Straf-, Zivil- und (allgemeinen) Verwaltungsverfahren und umfasst einerseits die unmittelbare Aufnahme und Erhebung von entscheidungsrelevanten Beweisen in der mündlichen Verhandlung (Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme)74 und andererseits die Fällung der Entscheidung durch jene Richter, die an der Verhandlung teilgenommen haben (Grundsatz der Unmittelbarkeit des Verfahrens).75 Für einen möglichst „ungefilterten“ Eindruck ist die unmittelbare Sachverhaltserforschung durch die entscheidungsbefugten Richter in einer mündlichen Verhandlung von erheblichem Vorteil.76

Nach herrschender Lehre und ständiger Rechtsprechung des VwGH existiert im Abgabenverfahren kein Grundsatz der Unmittelbar-

69 EGMR 25.7.2013, Khodorkovskiy gg Russland, Bsw11082/06 ua, Rn547 und 555.

70 EGMR 16.9.1999, Buscemi gg Italien, Bsw29569/95, Rn68; 15.12.2005, Kyprianou gg Zypern, Bsw73797/ 01, Rn129ff; 7.8.1996, Ferrantelli und Santangelo gg Italien, Bsw19874/92, Rn59f.

71 EGMR 26.10.1984, De Cubber gg Belgien, Bsw9186/ 80, Rn25; 4.12.2018, Ilnseher gg Deutschland, Bsw10211/12, Rn288f.

72 Sinn und Zweck des Prinzips der Unparteilichkeit ist nicht die „Abwehr einer unrichtigen Rechtsauffassung des Organwalters“ . VwGH 29.4.2015, Ra2015/13/ 0004; 28.5.2015, 2012/15/0167.

73 VwGH 4.9.2014, 2013/15/0291.

74 Vgl §25 Abs6 VwGVG; §276 ZPO; §13 Abs1 StPO.

75 Vgl §25 Abs8 VwGVG; §13 Abs3 StPO.

76 Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO (2012) §13 Rz7.

keit der Beweisaufnahme.77 Die Literatur stützt ihre Ansicht teilweise auf die richterliche Möglichkeit der Erteilung von Ermittlungsaufträgen gemäß §269 Abs2 BAO.78 Allerdings ist zu untersuchen, ob es nicht doch zumindest eine beschränkte Form der unmittelbaren Beweisaufnahme im abgabengerichtlichen Verfahren gibt. Dies ist auf mehrerlei Art zu begründen. Erstens kann aus dem Wortlaut des §274 BAO betreffend die amtswegige Anberaumung einer mündlichen Verhandlung entnommen werden, dass ein Einzelrichter oder Senatsmitglied die unmittelbare Beweisaufnahme in bestimmten Fällen für „erforderlich hält“. Zweitens liegt es im Ermessen der Parteien, zu entscheiden, auf welche Weise sie im Rahmen ihres Rechts auf Parteiengehör Stellung nehmen möchten.79 Drittens ist aus dem Wortlaut des §275 Abs2 BAO die Pflicht des Einzelrichters bzw Berichterstatters zu erblicken, bisher erörterte Sachverhaltsfeststellungen am Beginn einer mündlichen Verhandlung gründlich darzulegen, damit die Parteien über alle wesentlichen Tatsachen und Umstände in Kenntnis gesetzt sind und nicht von der Entscheidung des BFG „überrascht“ werden. Auch nach Ansicht von Merli/EhrkeRabel muss das BFG entscheidungsrelevante Tatsachen und Umstände grundsätzlich in einer beantragten mündlichen Verhandlung ermitteln.80 Im Ergebnis ist von einer „Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme“ im abgabengerichtlichen Verfahren auszugehen.81

In Bezug auf die Unmittelbarkeit des Verfahrens vor dem BFG hat der VwGH festgestellt, dass auch eine vertagte mündliche Verhandlung vor einem neu zusammengesetzten Senat ohne Wiederholung der bisher aufgenommenen Beweise fortgesetzt werden darf, sofern aufgrund der Akten und Niederschriften die Vermittlung eines klaren Bildes der bisherigen Ergebnisse erreicht werden kann.82

77 Vgl VwGH 22.2.1963, 2163/59; 10.1.1964, 0166/63; 14.2.1978, 2691/76; 11.9.1997, 95/15/0132; 3.8.2000, 97/15/0190; VfGH 25.6.1999, B2380/97; Ellinger/Sutter/Urtz, BAO, §275 Anm17; Urtz/Wimpissinger, Sachverhaltsermittlung und Delegation von Ermittlungsbefugnissen, in Holoubek/Lang , Das Senatsverfahren in Steuersachen (2001) 203 (210); Aichlreiter, Unmittelbarkeit und mündliche Verhandlung, in Holoubek/Lang , Das Senatsverfahren in Steuersachen, 193 (194ff); Gunacker-Slawitsch, Die Entscheidung des Bundesfinanzgerichts über die Bescheidbeschwerde, taxlex2014, 16 (18).

78 Ellinger/Sutter/Urtz, BAO, §275 Anm6; Urtz/Wimpissinger in Holoubek/Lang, Das Senatsverfahren in Steuersachen, 203 (210); Gunacker-Slawitsch, Das Verfahren vor dem Bundesfinanzgericht, in Ehrke-Rabel , Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen (2013) 37 (56); Gunacker-Slawitsch, taxlex2014, 16 (18f).

79 Näheres dazu siehe Pkt2.

80 Merli/Ehrke-Rabel in Ehrke-Rabel/Merli, Die belangte Behörde in der neuen Finanz- und Verwaltungsgerichtsbarkeit (2014) 167 (198) mwN.

81 Ähnliche Ansicht siehe Aichlreiter in Holoubek/Lang, Das Senatsverfahren in Steuersachen, 193 (194ff).

82 VwGH 22.2.1963, 2163/59; 11.9.1997, 95/15/0132; 28.11.2001, 97/13/0138.

Mündliche Verhandlung vor dem BFG 3/2023 110

Auf den Punkt gebracht

Ziel des ersten Teils des Beitrags ist die Aufarbeitung des subjektiven Rechtsschutzes in einer mündlichen Verhandlung vor dem BFG, um letztlich ein Bewusstsein für die einzelnen Rechte und Pflichten der Parteien im Rahmen einer solchen Verhandlung sowie für die Rolle des richterlichen Organs zu schaffen.

Sohin können zusammenfassend folgende drei Thesen aufgestellt werden:

 Zur effektiven Wahrung der Parteienrechte des Beschwerdeführers ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung essenziell.

 Die Rolle des Richters in einer mündlichen Verhandlung geht weit über jene eines bloßen Moderators hinaus. Das Gericht ist für die sorgfältige Ermittlung der materiellen Wahrheit verantwortlich.

 In Abgabenverfahren ist von einer beschränkten Form der unmittelbaren Beweisaufnahme auszugehen.

Der zweite Teil dieses Beitrags, der gesondert in der AVR erscheinen wird, befasst sich mit der objektiven Rechtmäßigkeit einer mündlichen Verhandlung in abgabengerichtlichen Verfahren vor dem BFG.

Der Autor dankt herzlich Frau Univ-Prof.in Dr.in Tina Ehrke-Rabel für wertvolle Anmerkungen und die kritische Durchsicht des Manuskripts.

Der „Deal“ vor dem Abgabengericht?

Teil 2 – Zur Frage der Zulässigkeit und etwaigen Bindungswirkung von Einigungen im Anwendungsbereich der BAO

Am 9.3.2023 fand an der Universität Graz der Verfahrensrechtstag 2023 „Rechtsmittelverfahren in Abgabensachen: Aktuelle Herausforderungen und neue Ansätze“ statt. Im Zuge der Veranstaltung befasste sich die Autorin mit der kontrovers diskutierten Frage der Zulässigkeit und Bindungswirkung von etwaigen Einigungen –sogenannten „Deals“ – vor den Verwaltungsgerichten in Abgabensachen. Das dem Vortrag zugrunde liegende Manuskript bildet die Grundlage des gegenständlichen Beitrags, der in zwei Teilen erscheint und sich in zweierlei Hinsicht mit den Deals vor dem Abgabengericht beschäftigt: Der bereits erschienene erste Teil1 befasste sich mit der Frage, ob im abgabenbehördlichen Verfahren getroffene Vereinbarungen in einem anschließenden gerichtlichen Verfahren Bindungswirkung für die Verwaltungsgerichte in Abgabensachen erzeugen. Der gegenständliche Teil 2 zeigt auf, welche Möglichkeiten im Anwendungsbereich der BAO im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten in Abgabensachen offenstehen, um seitens der Abgabenbehörde verbindliche Einigungen mit dem Steuerpflichtigen über strittige Punkte zu treffen; ob demzufolge ein „Deal“ auch im finanzgerichtlichen Verfahren zwischen Abgabenbehörde und Steuerpflichtigen (noch) möglich ist.

1.Zulässigkeit und Bindungswirkung von Vereinbarungen im abgabenbehördlichen Verfahren

Teil1 der vorliegenden Abhandlung hat aufgezeigt, dass aufgrund der Komplexität der Sach-

und Rechtsmaterie die österreichische steuerrechtliche Literatur2 der letzten zwanzig Jahre einen dem Legalitätsprinzip entsprechenden Beurteilungsspielraum, der offen für Vereinbarungen zwischen Abgabenbehörden und Steuerpflichtigen ist, bejaht. Einen Raum für zulässige Einigungen gibt es im Sinne der jüngeren Literatur zum einen dort, wo der Sachverhalt –unter Beachtung des erforderlichen Beweismaßes – nicht, nicht vollständig oder nur mit unzumutbarem Aufwand seitens der Abgabenbehörde ermittelt werden kann.3 Zum anderen auch bei der Rechtsfolgenbestimmung, und zwar dort, wo ein gewisser Beurteilungs- und Konkretisierungsspielraum seitens der Abgabenbehörde vorliegt und es in der Regel zur Abwägung zwischen mehreren gleich wahrschein-

2 Ruppe, Einfachgesetzliche Ansätze und verfassungsrechtliche Grenzen von Vergleichen im österreichischen Abgabenrecht, in Leitner, Finanzstrafrecht 2002 (2003) 9 (9ff); Ehrke, Konsenstechniken im Abgabenrecht –Frankreich als Inspiration für Österreich? (2002) 115ff, 127ff; Achatz, Verständigung im Steuerrecht, in Pezzer, Vertrauensschutz im Steuerrecht, DStJG 27 (2004) 161 (161ff); Achatz, Zur Rechtsstaatlichkeit der Bindungswirkung tatsächlicher Verständigungen im österr Abgabenrecht, in Tanzer, Die BAO im 21.Jahrhundert, FS Stoll (2005) 27 (27ff); Gunacker-Slawitsch, Einigung im finanzgerichtlichen Verfahren? in Ehrke-Rabel/Merli, Die belangte Behörde in der neuen Finanz- und Verwaltungsgerichtsbarkeit (2014) 61 (69); Ehrke-Rabel/Gunacker-Slawitsch, Governance im Steuerrecht, SWK23/ 24/2014, 1054 (1059); Ehrke-Rabel in Doralt/Ruppe , SteuerrechtII8 (2019) Rz28; anderer Ansicht Mayer, Der öffentlich-rechtliche Vertrag im österreichischen Abgabenrecht, JBl1976, 632 (635); Stoll, Das Steuerschuldverhältnis (1972) 82; Stoll, BAO I (1994) 64ff; Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger , BAO: Stoll Kommentar (2021) §255 Rz2.

3 Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Gunacker-Slawitsch, Rechtsmittelverfahren2 (2023) 67 (in Druck).

Dr. Mag. Anna-Maria

Anderwald, LL.M. (Columbia) ist post-doc Universitätsassistentin am Institut für Finanzrecht der Karl-FranzensUniversität Graz, finanziert über das Hertha-FirnbergProgramm des FWF-Der Wissenschaftsfonds.

Der „Deal“ vor dem Abgabengericht? 3/2023 111
Der „Deal“ vor dem Abgabengericht?
1 Anderwald, Der „Deal“ vor dem Abgabengericht? (Teil1), AVR2023, 52.

lich oder vertretbar erscheinenden Alternativen kommt.4 Sowohl bei Sachverhalts- als auch bei Rechtsfragen gibt es nach jüngeren Literaturmeinungen einen Raum für zulässige Vereinbarungen zwischen Abgabenbehörde und Steuerpflichtigen.

Der VwGH5 lehnt zwar weiterhin außerhalb einer explizit gesetzlich vorgesehenen Vereinbarungsmöglichkeit die Bindung sowohl der Parteien als auch in weiterer Folge der Verwaltungsgerichte in Abgabensachen (im Folgenden kurz: Abgabengericht) an den Inhalt entsprechender Vereinbarungen ab, ein ausdrückliches gesetzliches Verbot für außerhalb gesetzlicher Ermächtigungen getroffene Vereinbarungen zwischen Abgabenbehörde und Steuerpflichtigen findet sich in der BAO aber nicht.6 Ganz im Gegenteil: Der BAO selbst ist ein Konsens zwischen Abgabenbehörde und Steuerpflichtigen im abgabenbehördlichen Verfahren nicht fremd, was nach der Lehre für die grundsätzliche Zulässigkeit einer Bindungswirkung spricht.7

Einigkeit besteht in der jüngeren steuerrechtlichen Literatur8 auch insoweit, als beide Parteien – sowohl der Steuerpflichtige als auch die Abgabenbehörde – an das tatsächlich Vereinbarte, sofern dieses innerhalb des dem Legalitätsprinzip innewohnenden Beurteilungsspielraums liegt und frei von Willensmängeln erfolgte, für das weitere Verfahren gebunden sind. Da die BAO etwa selbst das Rechtsinstitut des antizipierten Rechtsmittelverzichts gemäß §255 Abs2 BAO kennt, der auf Basis eines bestimmten künftigen Bescheidinhalts seitens des Steuerpflichtigen ausgesprochen wird, muss diesem Verzicht – so die Lehre9 – eine Bindung eben dieser Abgabenbehörde an den bekanntgegebenen Bescheidinhalt gegenüberstehen. Diesen Überlegungen folgend kann die Abgabenbehörde nicht ohne Weiteres ein innerhalb des gesetzlichen Beurteilungsspielraums „vereinbartes“ Auslegungsergebnis durch ein anderes innerhalb desselben Beurteilungsspielraums liegendes Ergebnis im nachfolgenden Abgabenbescheid ersetzen.10 Weicht die Abgabenbehörde vom Inhalt des Vereinbarten ab, erweist sich der Abgabenbescheid vielmehr selbst dann

4 Vgl auch die Ausführungen von Ruppe in Leitner, Finanzstrafrecht 2002, 21f, 31.

5 VwGH 20.11.1964, 2234/63; 27.7.1994, 92/13/0058; 12.8.1997, 93/17/0126; 28.2.2000, 99/17/0323; 16.3.2005, 2003/14/0005; 25.10.2011, 2008/15/0299; 15.3.2012, 2011/17/0139.

6 Achatz in Tanzer, BAO im 21.Jahrhundert, 31.

7 Ruppe in Leitner, Finanzstrafrecht 2002, 24; Ehrke, Konsenstechniken, 127ff; Achatz in Pezzer, Vertrauensschutz, 169; Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/ Merli, Die belangte Behörde, 75.

8 Ehrke, Konsenstechniken, 143ff; Achatz in Pezzer, Vertrauensschutz, 176ff; Achatz in Tanzer , BAO im 21.Jahrhundert, 32; Gunacker-Slawitsch in EhrkeRabel/Gunacker-Slawitsch, Rechtsmittelverfahren2, 66; anderer Ansicht Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO, §255 Rz2.

9 Achatz in Tanzer, BAO im 21.Jahrhundert, 30.

als rechtswidrig, wenn der Inhalt des Bescheides noch innerhalb jenes Rahmens liegt, den das Gesetz vorgibt.11

Vereinbarungen zwischen der Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen sind somit innerhalb des dem Legalitätsprinzip innewohnenden Beurteilungsspielraums nicht nur zulässig, sondern erzeugen sowohl für den Steuerpflichtigen als auch für die Abgabenbehörde Bindungswirkung. Wie im Teil 1 des Beitrags näher ausgeführt wurde, ist aufgrund der vollen Kognitionsbefugnis des BFG – insbesondere auch in Bezug auf Ermessensfragen – aber eine Bindungswirkung des BFG an zwischen der Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen getroffene Vereinbarungen, die zwar innerhalb des dem Legalitätsprinzip innewohnenden Beurteilungsspielraums und frei von Willensmängeln erfolgten, abzulehnen. Weicht das BFG von einer zulässigen Vereinbarung zwischen der Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen ab, bedarf es hierfür allerdings einer entsprechenden Begründung seitens des BFG.

2.Konsensuale Interaktion zwischen den Parteien im finanzgerichtlichen Verfahren

Aufgrund der prinzipiellen Zulässigkeit von Vereinbarungen im abgabenbehördlichen Verfahren stellt sich nun in einem weiteren Schritt die Frage, ob entsprechende Vereinbarungen zwischen Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen auch im finanzgerichtlichen Verfahren zulässig sind und Bindungswirkung entfalten.

Folgendes Beispiel soll die Thematik veranschaulichen:

Beispiel

Zwischen dem Steuerpflichtigen und der Abgabenbehörde ist im abgabenbehördlichen Verfahren der angemessene Preis für den Verkauf einer Maschine zwischen nahen Angehörigen strittig. Die Abgabenbehörde erlässt in weiterer Folge einen Bescheid, der seitens des Steuerpflichtigen angefochten wird. Gibt es im finanzgerichtlichen Verfahren die Möglichkeit, dass sich der Steuerpflichtige und die Abgabenbehörde auf einen angemessenen Preis einigen, der letztlich auch für das Abgabengericht bindend ist?

Ähnlich der im abgabenbehördlichen Verfahren geführten Diskussion ist auch im finanzgerichtlichen Verfahren zum einen zwischen der Zulässigkeit der Vereinbarung und zum anderen den etwaigen Rechtswirkungen derartiger Vereinbarungen zu unterscheiden: Denn eine der Bindungswirkung vorgelagerte Frage ist, ob derartige Vereinbarungen grundsätzlich zulässig sind. Verneint man bereits die Zulässigkeit von

10 Achatz in Tanzer, BAO im 21.Jahrhundert, 32. 11 Achatz in Tanzer, BAO im 21.Jahrhundert, 35.

Der „Deal“ vor dem Abgabengericht? 3/2023 112

Vereinbarungen im finanzgerichtlichen Verfahren, dürfte auch der Inhalt entsprechender Einigungen keine Bindungswirkung für das Abgabengericht entfalten.

3.Zur Zulässigkeit von Vereinbarungen im finanzgerichtlichen Verfahren

Ab Vorlage der Beschwerde12 verliert die Abgabenbehörde grundsätzlich die Verfahrensherrschaft, welche ab diesem Zeitpunkt den Verwaltungsgerichten in Abgabensachen zukommt.13 Damit verbunden ist ein Übergang der Entscheidungsbefugnis von der Abgabenbehörde auf das Abgabengericht.14 Daraus folgend dürfen Abgabenbehörden bei sonstiger Nichtigkeit grundsätzlich keine Bescheide mehr abändern oder aufheben.

Die BAO hält aber auch für das Verfahren vor dem Abgabengericht mehrere Vorschriften bereit, die ein einvernehmliches Handeln – eine „Beilegung des Rechtsstreits“ – zwischen der Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen ermöglichen.15 Dabei hat der Gesetzgeber allerdings darauf Bedacht genommen, dass die grundsätzliche Entscheidungsbefugnis des Abgabengerichts von den Parteien nicht einseitig übergangen werden kann.

3.1.Erörterungstermin zur Beilegung des Rechtsstreits nach §269 Abs3 BAO

Insbesondere aus §269 Abs3 BAO, der den Einzelrichter bzw den Berichterstatter16 zur Ladung der Parteien zur Erörterung der Sach- und Rechtslage sowie zur Beilegung des Rechtsstreits ermächtigt, kann widerspruchsfrei geschlossen werden, dass der Gesetzgeber auch im Verfahren vor dem Abgabengericht Vereinbarungen als ein Phänomen der Rechtswirklichkeit anerkennt.17 Laut Achatz18 setzt diese Vor-

12 Bzw ab Einbringung einer Vorlageerinnerung (§264 Abs6 BAO) bzw in den Fällen, in denen eine Bescheidbeschwerdevorentscheidung unterbleibt (§262 Abs2 bis 4 BAO), ab Einbringung der Bescheidbeschwerde, vgl §300 Abs1 BAO.

13 Vgl auch die Ausführungen von Ehrke-Rabel, Das Instrument der Klaglosstellung im Abgabenrecht, in EhrkeRabel/Merli, Die belangte Behörde, 147 (151); GunackerSlawitsch in Ehrke-Rabel/Merli, Die belangte Behörde, 63.

14 VwGH 22.10.2015, Ro2015/15/0035, mit Verweis auf Fischerlehner, Abgrenzung zwischen abgabenbehördlicher und verwaltungsgerichtlicher Entscheidungsbefugnis, in Koran/Moser , Die BAO im Zentrum der Finanzverwaltung, FS Ritz (2015) 59 (62); Brennsteiner in Fischerlehner/Brennsteiner , AbgabenverfahrenI 3 (2021) §300 BAO Rz1.

15 Hierzu umfassend Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/ Merli, Die belangte Behörde, 61ff.

16 Im Senatsverfahren obliegen dem Berichterstatter sowohl die Ladung als auch die Durchführung des Erörterungstermins; Ritz/Koran, BAO7 (2021) §269 Rz16.

17 Achatz in Pezzer, Vertrauensschutz, 169ff; Achatz in Tanzer, BAO im 21.Jahrhundert, 31, mit Verweis auf Ruppe in Leitner, Finanzstrafrecht 2002, 23; GunackerSlawitsch in Ehrke-Rabel/Merli, Die belangte Behörde, 102.

18 Achatz in Pezzer, Vertrauensschutz, 170.

schrift „dem Grunde nach die Möglichkeit einer Einigung nach dem Konzept voraus […]“. Unabhängig davon, dass in der Praxis laut dem Tätigkeitsbericht des BFG19 von dieser Möglichkeit selten Gebrauch gemacht wird – tatsächlich wurde im Jahr 2021 in nur 2,5%20 der Verfahren ein Erörterungstermin durchgeführt21 –, sieht der Gesetzgeber die Beilegung des Rechtsstreits zwischen den Parteien – zwischen der Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen –ausdrücklich als Option vor. Ein Rechtsanspruch des Steuerpflichtigen oder der Abgabenbehörde auf Durchführung eines Erörterungstermins besteht jedoch nicht.22 Die Durchführung steht vielmehr im alleinigen Ermessen des Gerichts. Der Steuerpflichtige kann dies lediglich beantragen.

3.2.Einigungsverfahren nach §300 Abs1 BAO

Auch aus §300 BAO kann auf die prinzipielle Zulässigkeit von Streitbeilegungen zwischen der Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen im finanzgerichtlichen Verfahren geschlossen werden. §300 Abs1 BAO regelt laut Kommentarliteratur23 das „Einigungsverfahren“ und soll insbesondere zur Verfahrensbeschleunigung bei „Streitbeilegungen“ dienen. Zwar dürfen Abgabenbehörden im finanzgerichtlichen Verfahren

Bescheide bei sonstiger Nichtigkeit weder abändern noch aufheben,24 §300 BAO normiert hiervon allerdings eine ausdrückliche Ausnahme: §300 BAO bietet der Abgabenbehörde im finanzgerichtlichen Abgabenverfahren die Möglichkeit, eine Aufhebung oder Abänderung des angefochtenen Bescheides zu bewirken, sofern sich der Spruch als unrichtig erweist, der Beschwerdeführer der Aufhebung zustimmt und die Zustimmungserklärung durch das Abgabengericht an die Abgabenbehörde weitergeleitet wird.25

Nach dem Gesetzeswortlaut bezieht sich die Zustimmungserklärung des Steuerpflichtigen zwar nur auf die Bescheidaufhebung, nicht jedoch auf den Inhalt des Ersatzbescheides, es ist

19 BFG, Tätigkeitsbericht 2021 (2022) 61.

20 Dabei handelt es sich um keine pandemiebedingte Erscheinung, denn auch in den Jahren zuvor lag die praktische Bedeutung zwischen 1,5% und 2,5% der Fälle.

21 Siehe Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO, §269 Rz26; die geringe praktische Bedeutung eines Erörterungstermins steht im Gegensatz zu den deutschen Finanzgerichten, bei denen der weitaus überwiegende Teil der Verfahren im Wege der gütlichen Streitbeilegung beendet wird.

22 VwGH 20.9.2020, Ra2020/15/0047.

23 Rzeszut/Turpin in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO, §300 Rz1; Althuber in Althuber/Tanzer/Unger, BAO-Handbuch (2015) 815; Ritz/Koran , BAO 7 , §300 Rz1; vgl auch ErlRV 2007 BlgNR 24.GP, 21.

24 §300 Abs1 BAO.

25 §300 Abs1 BAO; vgl auch Ehrke-Rabel in Ehrke-Rabel/ Merli, Die belangte Behörde, 151; Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Merli , Die belangte Behörde, 79f; Fischerlehner in Koran/Moser, BAO im Zentrum der Finanzverwaltung, 67f.

Der „Deal“ vor dem Abgabengericht? 3/2023 113

jedoch – mit Gunacker-Slawitsch – davon auszugehen, dass ein Steuerpflichtiger seine Zustimmung zur Aufhebung nur dann erteilen wird, wenn er mit dem von Seiten der Abgabenbehörde in Aussicht gestellten Inhalt des Ersatzbescheides einverstanden ist, wenn insoweit Konsens zwischen den Parteien vorliegt. Eine Zustimmungserklärung des Beschwerdeführers wird vor allem dann in Betracht kommen, wenn er nachträglich mit der Abgabenbehörde Einvernehmen über die Beschwerdeerledigung erzielen konnte.26

Laut Kommentarliteratur27 werden Aufhebungen nach §300 BAO seitens der Abgabenbehörden vor allem dann infrage kommen, wenn im Rahmen eines Erörterungstermins oder im Zuge der mündlichen Verhandlung über einzelne oder sämtliche Streitpunkte Einvernehmen zwischen dem Beschwerdeführer und der Abgabenbehörde erzielt werden konnte. Diesbezüglich liegen auch bereits – vereinzelt veröffentlichte – Entscheidungen des BFG28 vor: Etwa kann einem Beschluss des BFG29 aus dem Jahr 2018 entnommen werden, dass „in der dem Bundesfinanzgericht vorgelegten Beschwerde die Wahl der Verrechnungspreismethode sowie die in diesem Zusammenhang durchgeführte Datenbankstudie, die Nichtanerkennung von Anlaufverlusten und die Festsetzung der Ergebnisse [strittig waren]. In nachträglichen Erörterungsgesprächen konnte Einvernehmen zwischen der Beschwerdeführerin und der belangten Behörde erzielt werden.“ Auch dem Beschluss des BFG30 vom 26.11.2019 liegt eine ähnliche Vorgehensweise zugrunde, wonach „im Rahmen umfangreicher Ermittlungen des Bundesfinanzgerichtes ein Erörterungstermin gem §269 Abs3 BAO im Bundesfinanzgericht [stattfand]. Im Zuge dessen hat die Bf einer Aufhebung des gegenständlichen Bescheides sowie der als Beschwerdevorentscheidung zu behandelnden Berufungsvorentscheidung nach §300 Abs1 zweiter Satz BAO zugestimmt […].“ Die belangte Behörde erließ in beiden Verfahren unter Zustimmung des Beschwerdeführers innerhalb der vom Gericht festgesetzten Frist entsprechende Aufhebungsbescheide und verband damit zugleich neue Sachbescheide, sogenannte „Ersatzbescheide“ 31

3.3.Einigungen sind im finanzgerichtlichen Verfahren zulässig

Insgesamt verdeutlichen diese Bestimmungen, dass der Gesetzgeber auch während des finanz-

26 BFG 30.7.2018, RV/7105614/2017; 26.11.2019, RV/ 7102143/2012; Ritz/Koran, BAO7, §300 Rz14.

27 Rzeszut/Turpin in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO, §300 Rz20; Ritz/Koran , BAO7 , §300 Rz14; Fischerlehner/ Brennsteiner, AbgabenverfahrenI3, §300 BAO Rz19.

28 Vgl BFG 30.7.2018, RV/7105614/2017; 26.11.2019, RV/ 7102143/2012; 8.11.2021, RV/7102104/2021; 3.1.2022, RV/5100361/2013; 31.3.2022, RV/7100563/2022.

29 BFG 30. 7. 2018, RV/7105614/2017.

30 BFG 26. 11. 2019, RV/7102143/2012.

31 Vgl §300 Abs3 BAO.

gerichtlichen Verfahrens ein einvernehmliches Vorgehen von Abgabenbehörde und Steuerpflichtigem für zulässig erachtet.32 Denn aus dem Fehlen einer Vorschrift, die explizit die Unzulässigkeit derartiger Verständigungen anordnet und aus dem gesetzgeberischen Konzept der BAO bzw einem Zusammenspiel aus §§269 Abs3, 300 BAO, unter Umständen iVm §255 Abs2 BAO, ist abzuleiten, dass auch im Verfahren vor dem Abgabengericht Formen der Einigung zwischen der Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen zulässig sind.33

Auch hier gilt selbstverständlich, dass diese Vereinbarungen innerhalb des dem Legalitätsprinzip entsprechenden Beurteilungsspielraums zu liegen und frei von Willensmängeln seitens der Parteien zu erfolgen haben. Keinesfalls ermächtigen die §§269 Abs3, 300 BAO dazu, dass sich in einem Erörterungstermin oder in der mündlichen Verhandlung die Parteien auf einen Sachverhalt oder die Rechtsfolge einigen, statt diesen unter Ausschöpfung aller verfügbar zumutbaren Beweismittel zu ermitteln.

Hinsichtlich der im Beispiel aufgeworfenen Frage, ob es auch im finanzgerichtlichen Verfahren die Möglichkeit gibt, dass sich der Steuerpflichtige mit der Abgabenbehörde auf einen angemessenen Preis einigt, ist festzuhalten, dass aus dem gesetzgeberischen Konzept der BAO auch im Verfahren vor dem Gericht Formen der Einigung zwischen der Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen zulässig sind. Der Gesetzgeber erkennt auch im Verfahren vor dem Abgabengericht Vereinbarungen als ein Phänomen der Rechtswirklichkeit an.

4.Zur Bindungswirkung von Einigungen im finanzgerichtlichen Verfahren

Strittig ist in der Literatur aber bislang, ob der Erörterungstermin bzw die mündliche Verhandlung nur für unverbindliche, wenn auch formelle Gespräche zwischen der Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen – unter Aufsicht des Abgabengerichts – genutzt werden kann, oder ob auch bindende Einigungen sowohl für die Parteien (Steuerpflichtiger und Abgabenbehörde) als auch für das Abgabengericht geschlossen werden können. Zumindest nach den ErlRV34 und der herrschenden Meinung35 bietet weder §269 Abs3 BAO noch §300 BAO

32 Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Merli, Die belangte Behörde, 102.

33 Achatz in Pezzer, Vertrauensschutz, 170; Achatz in Tanzer, BAO im 21.Jahrhundert, 31; Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Merli, Die belangte Behörde, 102.

34 ErlRV 1002 BlgNR 21.GP, 39; vgl auch Ritz/Koran, BAO7, §269 Rz15.

35 Ritz/Koran, BAO7, §269 Rz15 mwN; Fischerlehner in Fischerlehner/Brennsteiner, AbgabenverfahrenI3, §269 BAO Rz14; Althuber in Althuber/Tanzer/Unger, BAO, 749; anderer Ansicht Gunacker-Slawitsch in EhrkeRabel/Merli , Die belangte Behörde, 96ff; GunackerSlawitsch in Ehrke-Rabel/Gunacker-Slawitsch, Rechtsmittelverfahren2, 64.

Der „Deal“ vor dem Abgabengericht? 3/2023 114

eine Rechtsgrundlage für rechtsverbindliche Zusagen (etwa der Abgabenbehörde), für Verzichte seitens des Steuerpflichtigen oder für öffentlich-rechtliche Verträge zwischen Abgabenbehörde und Steuerpflichtigen.

Diese pauschale Aussage geht aber zu weit: Hinsichtlich einer rechtlichen Bindungswirkung ist vielmehr zwischen den Parteien und dem Abgabengericht zu differenzieren:

Entsprechend den Überlegungen zum abgabenbehördlichen Verfahren sind auch im finanzgerichtlichen Verfahren beide Parteien an das tatsächlich Vereinbarte, sofern dieses innerhalb des rechtlichen Rahmens und frei von Willensmängeln erfolgte, gebunden.36 Gegen eine rechtliche Bindung des Abgabengerichts an getroffene Vereinbarungen der Parteien spricht hingegen die von der BAO normierte verfahrensrechtliche Vorgehensweise: Verfahrensrechtlich kann eine im rechtlichen Rahmen zulässige „Beilegung des Rechtsstreits“ zwischen den Parteien – etwa im Erörterungstermin oder in der mündlichen Verhandlung – nur innerhalb der Grenzen, die die BAO selbst vorgibt, erfolgen; folglich nur durch eine Aufhebung und anschließende Abänderung des angefochtenen Bescheides durch die Abgabenbehörde nach §300 Abs1 BAO, unter Umständen in Kombination mit einer teilweisen Zurücknahme der Beschwerde durch den Beschwerdeführer iSd §256 BAO.37 §300 BAO legt allerdings einen verfahrensrechtlichen Ablauf fest, der gegen eine Bindungswirkung seitens des Abgabengerichts an getroffene Einigungen zwischen den Parteien spricht.

4.1.Fehlende Bindung des Abgabengerichts

Denn §300 BAO verlangt für die Aufhebung bzw anschließende Abänderung des angefochtenen Bescheides durch die Abgabenbehörde im finanzgerichtlichen Verfahren mehrere Voraussetzungen: Der Spruch muss sich als unrichtig erweisen, der Beschwerdeführer muss der Aufhebung ausdrücklich zustimmen, und die Zustimmungserklärung ist durch das Abgabengericht an die Abgabenbehörde „unter Setzung einer angemessenen Frist zur Aufhebung“38 weiterzuleiten.39

Die zwingend erforderliche Zustimmungserklärung seitens des Beschwerdeführers ist nach dem gesetzgeberischen Konzept des §300 BAO gegenüber dem Abgabengericht abzuge-

36 Vgl Anderwald, AVR 2023, 52.

37 Ritz/Koran, BAO7, §269 Rz16.

38 §300 Abs1 lita und b BAO; Ehrke-Rabel in EhrkeRabel/Merli , Die belangte Behörde, 151; GunackerSlawitsch in Ehrke-Rabel/Merli, Die belangte Behörde, 79f.

39 §300 Abs1 BAO; vgl auch Ehrke-Rabel in Ehrke-Rabel/ Merli, Die belangte Behörde, 151; Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Merli , Die belangte Behörde, 79f; Fischerlehner in Koran/Moser, BAO im Zentrum der Finanzverwaltung, 67f.

ben; das soll ausschließen, dass dem Abgabengericht ohne seine Kenntnis bzw gegen seinen Willen die Zuständigkeit zur Erledigung entzogen wird. Laut Kommentarliteratur40 besteht jedoch keine Pflicht des Abgabengerichts zur Freigabe einer abgabenbehördlichen Aufhebung; es steht dem Abgabengericht vielmehr offen, die Weiterleitung der Zustimmungserklärung an die Abgabenbehörde zu unterlassen und selbst über die Beschwerde zu entscheiden. Bereits daraus wird deutlich, dass das Abgabengericht an etwaige Vereinbarungen der Parteien, die im Erörterungstermin oder in der mündlichen Verhandlung getroffen wurden, nicht gebunden ist.

Zusätzlich gilt, dass weder mit dem Aufhebungsbescheid noch mit dem Ersatzbescheid die beim Abgabengericht anhängige Beschwerde erledigt ist.41 Die Beschwerde gilt vielmehr nach §253 BAO auch als gegen den „Ersatzbescheid“ gerichtet.42 Der Ersatzbescheid wird zwar in den meisten Fällen mit dem zuvor Vereinbarten übereinstimmen, das Abgabengericht hat die Bescheidbeschwerde aber erst insoweit nach §261 Abs1 BAO als gegenstandslos zu erklären, als der Ersatzbescheid der in der Zustimmungserklärung abgebildeten Abänderung des Beschwerdebegehrens entspricht.43 Gerade durch die Beteiligung des Abgabengerichts wird sichergestellt, dass das zwischen den Parteien tatsächlich Vereinbarte Gegenstand des Ersatzbescheides wird und der Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen entsprechend gewahrt ist. Etwas anderes gilt hingegen in Bezug auf eine Bindungswirkung der Abgabenbehörde:

4.2.Gebundenes Ermessen der Abgabenbehörde

§300 BAO räumt zwar grundsätzlich der Abgabenbehörde die Möglichkeit ein, die Frist zur Aufhebung verstreichen zu lassen oder entsprechend §300 Abs1 litc BAO dem Abgabengericht mitzuteilen, dass sie in weiterer Folge keine Aufhebung vornehmen wird, allerdings liegt die Inanspruchnahme des §300 BAO – demnach die Aufhebung des angefochtenen Bescheides

40 Ritz/Koran, BAO7, §300 Rz9; Ellinger/Sutter/Urtz, BAO 3 (2018) §300 Anm10; Fischerlehner in Koran/ Moser, BAO im Zentrum der Finanzverwaltung, 68.

41 Rzeszut/Turpin in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO, §300 Rz21; Ritz/Koran, BAO7, §300 Rz12; Ellinger/Sutter/ Urtz , BAO 3 , §300 Anm14; Gunacker-Slawitsch in Ehrke-Rabel/Merli, Die belangte Behörde, 80.

42 Rzeszut/Turpin in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO, §300 Rz21; Ritz/Koran, BAO7, §300 Rz12; Ellinger/Sutter/ Urtz , BAO 3 , §300 Anm14; Fischerlehner in Koran/ Moser , BAO im Zentrum der Finanzverwaltung, 70; Brennsteiner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I3, §300 BAO Rz21.

43 BFG 30.7.2018, RV/7105614/2017; 3.1.2022, RV/ 5100361/2013; vgl auch die Ausführungen in Rzeszut/ Turpin in Rzeszut/Tanzer/Unger , BAO, §300 Rz23; Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3, §300 Anm14; Brennsteiner in Fischerlehner/Brennsteiner , AbgabenverfahrenI 3 , §300 BAO Rz25.

Der „Deal“ vor dem Abgabengericht? 3/2023 115

(verbunden mit der Erlassung eines Ersatzbescheides) – nicht im freien, sondern im gebundenen Ermessen der Abgabenbehörde.44

Denn bei der Ermessensausübung sind laut Rechtsprechung45 zum einen das Interesse an der Einfachheit, Raschheit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Vollziehung zu beachten. Zum anderen hat die Abgabenbehörde ihr Ermessen nach Billigkeit und unter Berücksichtigung aller in Betracht kommender Umstände zu treffen.46 Unter Billigkeit versteht die ständige Rechtsprechung,47 dass die Abgabenbehörde bei der Ermessensausübung auch die berechtigten Interessen des Steuerpflichtigen zu beachten und zu würdigen hat. Die Billigkeit gebietet etwa die Berücksichtigung von Treu und Glauben sowie des Verhaltens der Parteien.48 Bei einer Ermessensübung hat die Abgabenbehörde daher eine Interessenabwägung zwischen den Interessen des Steuerpflichtigen (nach Billigkeit) und dem öffentlichen Interesse an der Einbringung der Abgaben (nach Zweckmäßigkeit) vorzunehmen und entsprechend zu würdigen. Das gilt gerade auch bei der Inanspruchnahme von §300 BAO:

Einigt sich die Abgabenbehörde innerhalb ihres Entscheidungsspielraums mit dem Steuerpflichtigen und erhält die Behörde seitens des Abgabengerichts das Recht, nach §300 BAO vorzugehen, hat der Steuerpflichtige jedenfalls ein Interesse daran, dass sich die Abgabenbehörde an das Vereinbarte hält. Einer getroffenen Einigung geht regelmäßig ein Diskussionsprozess voraus und stellt das Vereinbarte einen Kompromiss zwischen den Interessen der Abgabenbehörde und des Steuerpflichtigen dar, den die Abgabenbehörde auch aus gewissen eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen eingegangen ist.

Die Aufhebung und anschließende Abänderung nach §300 BAO steht daher zwar im Ermessen der Abgabenbehörde, die Abgabenbehörde ist aber bei ihrer Ermessensausübung insoweit gebunden, als sie eine Interessenabwägung zwischen der Zweckmäßigkeit und der Billigkeit vorzunehmen hat. In Bezug auf die Billigkeit ist insbesondere das Interesse des Steuerpflichtigen, dass auch die Abgabenbehörde an getroffene Vereinbarungen nach dem Grundsatz von Treu und Glauben gebunden ist, entsprechend mitzuberücksichtigen. Die Abgabenbehörde ist daher

44 Vgl ErlRV 2007 BlgNR 24.GP, 21; Rzeszut/Turpin in Rzeszut/Tanzer/Unger , BAO, §300 Rz20; Ritz/Koran, BAO 7 , §300 Rz8; Ellinger/Sutter/Urtz , BAO 3 , §300 Anm10; Brennsteiner in Fischerlehner/Brennsteiner, AbgabenverfahrenI3, §300 BAO Rz19; Fischerlehner in Koran/Moser, BAO im Zentrum der Finanzverwaltung, 68.

45 BFG 19. 8. 2016, RV/7102821/2016.

46 Vgl §20 Satz2 BAO; Ritz/Koran, BAO7, §20 Rz6.

47 VwGH

3.7.2003, 2000/15/0043; 17.5.2004, 2003/17/ 0132; 24.2.2011, 2009/15/0161; 18.12.2019, Ro2018/ 15/0025; vgl Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3 , §20 Anm8; Ritz/Koran, BAO7, §20 Rz7.

48 Ritz/Koran, BAO7, §20 Rz7.

innerhalb ihrer Ermessensentscheidung nach §300 BAO nicht völlig frei, einseitig von einer im abgabengerichtlichen Verfahren getroffenen zulässigen Vereinbarung abzuweichen.

4.3.Begrenzte Anfechtungsmöglichkeit seitens des Steuerpflichtigen

Entsprechendes muss auch auf Seite des Steuerpflichtigen gelten: Zwar steht es dem Steuerpflichtigen laut Gesetzeswortlaut zu, den Aufhebungsbescheid nach §300 Abs1 BAO neuerlich mit Bescheidbeschwerde anzufechten,49 was auch ein Ausscheiden des Ersatzbescheides ex lege aus dem Rechtsbestand bedeuten würde,50 allerdings steht es dem Steuerpflichtigen nicht ohne Weiteres zu, einseitig vom bereits Vereinbarten mit der Abgabenbehörde abzuweichen.

Vielmehr sind sowohl der Steuerpflichtige als auch die Abgabenbehörde an gültig zustande gekommene Vereinbarungen auch im finanzgerichtlichen Verfahren gebunden. Zum Rechtsgrund der Bindungswirkung gelten die Ausführungen zum abgabenbehördlichen Verfahren sinngemäß.51

Auf den Punkt gebracht

Aus mehreren Bestimmungen der BAO geht auch für das finanzgerichtliche Verfahren hervor, dass der Gesetzgeber ein einvernehmliches Vorgehen zwischen Behörde und Steuerpflichtigem für zulässig hält. Denn für das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten wird durch §269 Abs3 BAO und §300 BAO deutlich, dass es nach dem gesetzgeberischen Konzept der BAO der Abgabenbehörde innerhalb ihres Entscheidungsspielraums zusteht, auch während des Verfahrens vor dem Abgabengericht mit dem Steuerpflichtigen Einvernehmen zu erzielen. Die Zulässigkeit derartiger Vereinbarungen lässt sich aus diesen Vorschriften erschließen, in denen stillschweigend vom Vorliegen entsprechender Vereinbarungen ausgegangen wird. Werden zwischen der Abgabenbehörde und dem Steuerpflichtigen derartige Vereinbarungen getroffen, sind die Parteien an diese für das weitere Verfahren gebunden.

Gegen eine rechtliche Bindung des Abgabengerichts an getroffene Vereinbarungen der Parteien spricht hingegen die von der BAO normierte verfahrensrechtliche Vorgehensweise: Denn §300 BAO legt einen klaren verfahrensrechtlichen Ablauf fest, der gegen eine Bindungswirkung des Abgabengerichts an getroffene Vereinbarungen spricht.

49 Ritz/Koran, BAO7, §300 Rz17.

50 Siehe §300 Abs3 BAO; vgl auch die Ausführungen von Rzeszut/Turpin in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO, §300 Rz24; Ritz/Koran, BAO7, §300 Rz17.

51 Anderwald, AVR2023, 52 (54).

Der „Deal“ vor dem Abgabengericht? 3/2023 116

Die digitale mündliche Verhandlung vor dem Bundesfinanzgericht gemäß §48j BAO

§48j BAO sieht seit 1.7.2022 die Möglichkeit vor, mündliche Verhandlungen vor dem BFG digital durchzuführen. Dieser Beitrag behandelt die dafür geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen und beleuchtet die Ermessensbestimmung vor dem Hintergrund der Verfahrensgrundsätze und Verfahrensgrundrechte.

1.Historische Entwicklung des §48j BAO

Aufgrund der COVID-19-Pandemie war in §323c Abs4 BAO1 eine Durchführung mündlicher Verhandlungen in Präsenz nur vorgesehen, soweit dies zur Aufrechterhaltung einer geordneten Rechtspflege unbedingt erforderlich war. Sofern die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unbedingt erforderlich sei, könne sie „in Abwesenheit aller anderen Beteiligten unter Verwendung geeigneter technischer Kommunikationsmittel durchgeführt werden“.2 Eine erneute Änderung des §323c BAO sah vor, dass „mündliche Verhandlungen […] unter Verwendung geeigneter technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung durchgeführt werden [können]“.3 Sofern der Amtshandlung Parteien beizuziehen waren, waren diese aufzufordern, bekanntzugeben, ob ihnen entsprechende technische Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung zur Verfügung stehen. Sollte dies nicht der Fall sein, schloss die Vorgängerbestimmung4 zu §48j BAO ausdrücklich aus, dass die mündliche Verhandlung in Abwesenheit der Parteien durchgeführt werde.5

Diese befristete Bestimmung wurde mehrmals bis einschließlich 30.6.2022 verlängert.6 Durch das Abgabenänderungsgesetz 2022 wurde die Regelung schließlich mit erneuten Änderungen betreffend die digitale mündliche Verhandlung unbefristet in §48j BAO übernommen.

§48j Abs1 BAO sieht vor, dass „mündliche Verhandlungen […] unter Verwendung geeigneter technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung durchgeführt werden [können]“ 7 Die „Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung“ bedeutet, dass eine

1 §323c Abs4 BAO, BGBl 1961/194 idF BGBlI 2020/16.

2 §323c Abs4 BAO idF BGBlI 2020/16.

3 §323c Abs4 Z2 BAO idF BGBlI 2020/96.

4 §323c Abs4 Z3 BAO idF BGBlI 2020/96.

5 §323c Abs4 Z3 BAO idF BGBlI 2020/96; Knechtl, Verfahrensrechtliche Neuerungen im AbgÄG 2022, taxlex 2022, 291 (291).

6 §323c Abs4 BAO idF BGBl I 2021/3, BGBlI 2021/52 und BGBlI 2021/228.

7 §48j Abs1 BAO idF BGBlI 2022/108.

Nora Schreier

„synchrone audiovisuelle Kommunikation zwischen wenigstens zwei an verschiedenen Orten befindlichen Menschen vermittels informationstechnologischer Systeme“8 stattfindet, wie dies von Wimmer in Bezug auf Bestimmungen des allgemeinen verwaltungsbehördlichen und -gerichtlichen Verfahrens verstanden wird.

2.1.Geeignete technische Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung

Die digitale mündliche Verhandlung ist über audiovisuelle Kommunikationskanäle durchzuführen, es müssen demnach kumulativ Bild und Ton übertragen werden. Die eingesetzten technischen Einrichtungen haben zudem „geeignet“ für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu sein. Die Maßstäbe, nach denen die Geeignetheit elektronischer Einrichtungen zur Bild- und Tonübertragung zu beurteilen ist, werden in der Bestimmung selbst nicht konkretisiert. Auch die Gesetzesmaterialien enthalten keine konkretisierenden Informationen.9 Der Literatur zufolge können die technischen Rahmenbedingungen für die Wort- und Bildübertragung durch den Einsatz von Programmen wie Skype, Microsoft Teams, Zoom oder Webex geschaffen werden.10 Die Festlegung der technischen Rahmenbedingungen erfolgt nach den Gesetzesmaterialien durch das BFG und ist den Parteien zur Kenntnis zu bringen, zB in der Vorladung.11

2.2.Rechte der Parteien

Entscheidet der Richter, die mündliche Verhandlung mittels elektronischer Einrichtungen durchzuführen, sind gemäß §48j Abs2 BAO die Parteien des Verfahrens aufzufordern, bekanntzugeben, ob ihnen solche technischen Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung zur Verfügung stehen.12 Sofern eine Partei nicht über die entsprechenden technischen Einrichtungen verfügt, kann sie einen Antrag stellen, dass von der Verwendung technischer Einrichtungen zur Wortund Bildübertragung abgesehen wird.13 Wird

8 Vgl im Hinblick auf §51a AVG, BGBl 1991/51 idF BGBlI 2018/57, und §25 Abs6b VwGVG, BGBlI 2013/33 idF BGBlI 2018/57, die vorsehen, dass eine „Vernehmung unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung durchgeführt werden“ kann, Wimmer, Audiovisuelle Verfahrensführung vor Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichten, ZVG2020, 477 (478).

9 ErlRV 1534 BlgNR 27.GP, 30.

10 Rzeszut/Capek/Turpin, Regierungsvorlage zum Abgabenänderungsgesetz 2022 – viele Neuerungen in der BAO, SWK18/2022, 770 (770); Thorbauer/Statzinger, Abgabenänderungsgesetz 2022: Wesentliche Änderungen in der BAO, ZSS2022, 121 (121).

11 ErlRV 1534 BlgNR 27.GP, 30.

12 §48j Abs2 Satz2 BAO.

13 §48j Abs2 Satz2 BAO.

Die digitale mündliche Verhandlung 3/2023 117
Die digitale mündliche Verhandlung
2.Der Tatbestand des §48j BAO Nora Schreier ist Universitätsassistentin am Institut für Finanzrecht der Universität Graz.

kein entsprechender Antrag gestellt, kann die mündliche Verhandlung auch in Abwesenheit der Partei durchgeführt werden.14 Diesfalls ist jedoch den Parteien, die nicht über die entsprechenden technischen Einrichtungen verfügen, um an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, in sonst geeigneter Weise Gelegenheit zu geben, ihre Rechte auszuüben bzw bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken.15 Wird einem Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung in Präsenz nicht stattgegeben, ist dies nach Ansicht von Knechtl eine nicht eigenständig anfechtbare verfahrensleitende Verfügung,16 die erst im Zuge der Bekämpfung des Erkenntnisses als wesentlicher Verfahrensfehler geltend gemacht werden kann.17

3.Bedeutung der mündlichen Verhandlung im bundesfinanzgerichtlichen Verfahren

Im Verfahren vor dem BFG ist die mündliche Verhandlung nicht der Regel-, sondern der Ausnahmefall. Das zeigt sich daran, dass eine mündliche Verhandlung über die Beschwerde gemäß §274 BAO von vornherein nur dann stattzufinden hat, wenn sie vom Steuerpflichtigen beantragt wird oder wenn es der Richter für erforderlich hält.18 Auch in quantitativer Hinsicht ist eine Entscheidung des BFG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung der weitaus häufigere Fall: So wird im Tätigkeitsbericht des BFG für das Jahr 2021 dargelegt, dass nur ca 23% der Erledigungen eine mündliche Verhandlung vorangeht.19

Nichtsdestoweniger spielt die mündliche Verhandlung eine bedeutende Rolle sowohl für den subjektiven Rechtsschutz als auch für die objektive Rechtmäßigkeitskontrolle.20 Die mündliche Verhandlung im Verfahren vor dem BFG schafft den Rahmen dafür, dass sich die Parteien in Rede und Widerrede zum Sachverhalt und den rechtlichen Implikationen äußern können. Als Teil des Ermittlungsverfahrens ist ihr Zweck, die wesentlichen Sachverhaltsfeststellungen zu treffen;21 sie dient zudem der Wahrung des Parteiengehörs in einem kontradiktorischen Verfahren.22 Dadurch schafft die mündliche Verhandlung die Möglichkeit für die Parteien, ihre Standpunkte dem Gericht in kom-

14 §48j Abs2 Satz2 BAO.

15 §48j Abs2 letzter Satz BAO; Rzeszut/Capek/Turpin, SWK18/2022, 770 (771).

16 Knechtl, taxlex 2022, 291 (291).

17 Wimmer, ZVG2020, 477 (483).

18 §274 Abs1 BAO idF BGBlI 2014/13.

19 In 1.761 Fällen (monokratische Entscheidungen und Senatsentscheidungen addiert) wurde eine mündliche Verhandlung durchgeführt, bei einer Gesamtzahl an Erledigungen von 7.784: BFG , Tätigkeitsbericht des Bundesfinanzgerichts für das Jahr 2021 (2022) 66.

20 Gunacker-Slawitsch, Das Ermittlungsverfahren vor dem Bundesfinanzgericht – Verfahrensgrundsätze und amtswegige Ermittlungspflicht, taxlex2022, 111 (114).

21 Fischerlehner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I3 (Stand 1.2.2021, rdb.at) §274 BAO Rz1.

22 Fischerlehner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I 3, §274 BAO Rz1; vgl VwGH 14.9.2017, Ra2016/15/0015, Rz18.

primierter Form darzulegen23 – obwohl im Bescheidbeschwerdeverfahren kein Unmittelbarkeitsgrundsatz gilt.24 Zudem wird durch die grundsätzliche Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung25 die rechtsstaatlich notwendige Kontrolle der Gerichtsbarkeit durch den „public watchdog“ sichergestellt und das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerichtsbarkeit gestärkt.26

4.Ermessenskriterien für die digitale Durchführung einer mündlichen Verhandlung

Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung mittels technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung liegt im Ermessen des BFG. Dies ergibt sich aus der Formulierung des §48j Abs1 BAO als „Kann“-Bestimmung und aus den Gesetzesmaterialien.27

Die relevanten Ermessenskriterien ergeben sich einerseits aus dem Zweck der Norm28 und andererseits aus den allgemeinen Kriterien des §20 BAO. Danach „sind Ermessensentscheidungen nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu treffen“.29 Während unter Billigkeit die „Angemessenheit in Bezug auf berechtigte Interessen der Partei“ zu verstehen ist,30 ist im Rahmen der Zweckmäßigkeit das öffentliche Interesse an der Einbringung der Abgaben zu berücksichtigen. Zudem ist das Gebot der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit der Vollziehung zu beachten.31 Eine effiziente Abwicklung von gerichtlichen Verfahren ist dabei auch im Sinne des Rechts auf eine gute Verwaltung.32 Die Eingliederung des §48j BAO in der Regierungsvorlage unter den Abschnitt Digitalisierung33 zeugt vom Ziel, durch die digitale mündliche Verhandlung eine Effizienzsteigerung des Rechtsmittelverfahrens zu bewirken. In Ausübung des Ermessens hat eine „Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände“ zu erfolgen.34 Die berechtigten Interessen der Partei sind dabei gegen das öffentliche Interesse der raschen und effizienten Verfahrens-

23 Staringer, Das Verfahren der Bescheid-(Administrativ-)Beschwerde vor dem Bundesfinanzgericht, in Holoubek/Lang , Das Verfahren vor dem BVwG und dem BFG (2014) 33 (43).

24 VwGH 14.12.2022, Ra2019/13/0068, Rz15; 11.6.2021, Ro2020/13/0005, Rz56; 15.5.2019, Ra2018/13/0006, Rz18 mwN; 22.11.2018, Ra2018/15/0022, Rz22; Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3 (Stand 15.4.2018, rdb.at) §183 Anm5 und §269 Anm9; Sutter, Die Kontrolldichte des Bundesfinanzgerichts, in Holoubek/Lang, Grundfragen der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (2017) 225 (243).

25 §275 Abs3 BAO idF BGBlI 2013/14.

26 Meyer in Karpenstein/Mayer, EMRK (2012) Art6 Rz60.

27 ErlRV 1534 BlgNR 27.GP, 30.

28 Ritz, BAO6 (2017) §20 Tz8.

29 §20 BAO.

30 Ritz, BAO6, §20 Tz7; VwGH 30.6.2021, Ra2019/15/ 0125, Rz36; 24.4.2014, 2010/15/0159, mwN.

31 Ritz, BAO6, §20 Tz9.

32 Art41 GRC; Gunacker-Slawitsch, Amtswegigkeit und Mitwirkung im Abgabenverfahren (2020) 136 bis 138; Sander in Holoubek/Lienbacher , GRC-Kommentar 2 (Stand 1.4.2019, rdb.at) Art41 Rz14.

33 ErlRV 1534 BlgNR 27.GP, 3.

34 §20 Satz2 BAO.

Die digitale mündliche Verhandlung 3/2023 118

erledigung abzuwägen. Die relevanten Ermessenskriterien werden im Folgenden diskutiert.

4.1.Pflicht zur amtswegigen Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts

Im finanzgerichtlichen Verfahren gilt die Offizialmaxime:35 Das BFG ist von Amts wegen verpflichtet, den relevanten Sachverhalt zu ermitteln und die materielle Wahrheit zu erforschen.36 Der Untersuchungsgrundsatz gewährleistet nicht nur die im öffentlichen Interesse gelegene Sicherung des Abgabenanspruches,37 sondern trägt auch dem individuellen Rechtsschutzbedürfnis der Steuerpflichtigen Rechnung.38 Nicht Aufgabe des BFG im Beschwerdeverfahren ist hingegen, weitreichende Erstermittlungen anzustellen.39 Nichtsdestoweniger muss das BFG „alle erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen […] treffen […], die für eine abschließende Beurteilung der Frage erforderlich sind“.40 Die selbständige Sachverhaltsermittlung schafft schließlich die Grundlage für die grundsätzlich meritorische Entscheidung durch das BFG.41

Die mündliche Verhandlung vor dem BFG stellt ein wesentliches Instrument zur Eruierung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts als Grundlage für die Entscheidung in der Sache dar.42 Obwohl Zeit- und Kosteneffizienz für einen zunehmenden Einsatz von Bild- und Tonübertragung für die Durchführung der mündlichen Verhandlung sprechen, entbindet dies nicht von einer umfassenden Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls. So kann es, wie Unger ausführt, durchaus verfahrensfördernd sein, einzelne Zeugen, die eine besonders umständliche Anreise zum Gericht auf sich nehmen müssten, digital zu vernehmen.43 Auch in diesem Fall ist aber die Bedeutung der Zeugenaussage im konkreten Fall zu berücksichtigen und gegen potenzielle Einschränkungen des Erkenntnisgehalts in Bezug auf die Zeugenaussage abzuwägen, die die digitale Einvernahme mit sich bringen kann.

35 §269 Abs1 BAO idF BGBlI 2022/108 iVm §115 BAO idF BGBlI 2017/136; Gunacker-Slawitsch, taxlex2022, 111 (113).

36 Sutter in Holoubek/Lang, Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit, 242; Das BFG darf den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abändern, §279 Abs1 BAO idF BGBlI 2013/14; §269 Abs1 BAO iVm §115 BAO; Achatz, Zur Befugnis des Bundesfinanzgerichts, in der Sache selbst zu entscheiden, SWK27/2015, 1248 (1252); Gunacker-Slawitsch, taxlex2022, 111 (113).

37 Renner, Das Ermittlungsverfahren durch das Bundesfinanzgericht, in Holoubek/Lang, Verwaltung und Verwaltungs-/Finanzgerichtsbarkeit (2020) 163 (169).

38 Gunacker-Slawitsch, taxlex2022, 111 (115).

39 Gunacker-Slawitsch, taxlex2022, 111 (114).

40 VwGH 25.4.2019, Ro2017/13/0021, Rz23; Lawson, VwGH zur Ermittlungspflicht des BFG, LexisNexis Rechtsnews 33415 vom 19.12.2022.

41 Renner in Holoubek/Lang, Verwaltung und Verwaltungs-/Finanzgerichtsbarkeit, 170.

42 Sutter in Holoubek/Lang, Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit, 242f.

43 Unger, AbgÄG 2022 – Verfahrens- und organisationsrechtliche Auswirkungen für das BFG, AVR2022, 137 (138).

Die Ermessensentscheidung, eine mündliche Verhandlung mittels Videokonferenz durchzuführen, ist hingegen dann nicht im Sinne des Gesetzes, wenn die mündliche Verhandlung gerade der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks durch den Richter dient und diese durch die Bildund Tonübertragung beeinträchtigt werden könnte. Ist nämlich die Glaubwürdigkeit einer Aussage zentraler Streitpunkt im Verfahren und könnte deren richtige Beurteilung durch eine digitale Übertragung von Bild und Ton kompromittiert werden, so widerspricht eine digitale Vernehmung der Verpflichtung zur Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts und führt überdies nicht zu einem Gewinn an Verfahrenseffizienz. Dies könnte zB der Fall sein, wenn Mimik oder Körpersprache einer vernommenen Person aufgrund mangelhafter Bildqualität oder eines zu kleinen Bildausschnittes nur eingeschränkt wahrnehmbar sind. Nicht kontrollierbar durch das Gericht ist zudem, ob Personen, die mittels Videokonferenz zugeschaltet werden, alleine im Raum sind oder ob eine Einflussnahme von nicht sichtbaren Dritten erfolgt. Je bedeutender also die unmittelbare, uneingeschränkte persönliche Wahrnehmung eines Vorbringens für die richterliche Entscheidung in der Sache ist, desto eher spricht die amtswegige Ermittlungspflicht des BFG für eine mündliche Verhandlung in Präsenz.

4.2.Öffentlichkeit

Die mündliche Verhandlung im Beschwerdeverfahren vor dem BFG ist grundsätzlich öffentlich.44 Das Öffentlichkeitserfordernis ergibt sich aus Rechtsstaatlichkeitserwägungen und dient der Umsetzung eines mit Art47 GRC und Art6 EMRK konformen Verfahrens.

Die Vorgängerregelung des §48j BAO, §323c Abs4 Z2 BAO,45 implizierte nach der Literatur einen Ausschluss der Öffentlichkeit.46 Aufgrund des identischen Wortlauts der nunmehr unbefristet geltenden Bestimmung des §48j BAO dürfte dies auch nach geltendem Recht der Fall sein. Zwar ist durchaus nachvollziehbar, dass die Übertragung einer mündlichen Verhandlung, die gänzlich digital durchgeführt wird, für die Öffentlichkeit schon alleine aufgrund des §275 Abs5 BAO problematisch wäre. Nichtsdestoweniger darf die Öffentlichkeit, der im Verfahren vor dem BFG eine zentrale Kontrollfunktion zukommt,47 nicht grundsätzlich in jedem Falle der Durchführung einer mündlichen Verhandlung mittels elektronischer Tools ausgeschlossen werden.

Es stellt sich sodann die Frage, wie der Öffentlichkeit Zugang zur elektronisch durchgeführten mündlichen Verhandlung zu verschaf-

44 §275 Abs3 BAO.

45 §323c Abs4 Z2 BAO idF BGBlI 2021/228.

46 So Fischerlehner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I3, §275 BAO Rz16.

47 Einerseits werden die Parteien geschützt, andererseits ist die grundsätzliche Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung aber auch Voraussetzung für das Vertrauen in die Rechtsprechung innerhalb der Gesellschaft, siehe Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3, §275 Anm11.

Die digitale mündliche Verhandlung 3/2023 119

fen ist. Teilnehmer digital mittels eines öffentlich zugänglichen Links zur Verhandlung zuzulassen ist sicherlich im Rahmen des technisch Möglichen,48 steht aber nach Meinung der Verfasserin im Spannungsverhältnis zum Verbot von Fernseh- und Hörfunkaufnahmen und -übertragungen des §275 Abs5 BAO, da die Zielsetzung dieses Verbots unterlaufen würde. §275 Abs5 BAO, der inhaltlich §22 MedienG49 entspricht, soll die unbeeinflusste Wahrheitsfindung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens gewährleisten. Zur Vorgängerregelung des §48j BAO wurde daher in der Kommentarliteratur angemerkt, dass eine (nur) durch das Gericht veranlasste Bild- und Tonübertragung im Einklang mit §275 Abs5 BAO stehe.50 Dass die erhöhte Missbrauchsgefahr bei frei zugänglichen Onlineübertragungen von Stimmen in der Literatur iZm dem gleichlautenden Verbot im Strafprozessrecht als notwendiges – und durch Zwangsstrafen in den Griff zu bekommendes – Übel abgetan wird,51 ist mE im Kontext der derzeitigen Lage zu kurz gegriffen. Da §48j BAO nicht mehr vorrangig dem Gesundheitsschutz dient, ist die Gestattung der Teilnahme an der Verhandlung mittels öffentlich zugänglicher Links nicht mehr die einzige Möglichkeit, ein Mindestmaß an Öffentlichkeitsbeteiligung zuzulassen. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zu den Umständen während der COVID-19-Pandemie. Da die vorrangige Zielsetzung der unbefristeten Regelung des §48j BAO Effizienzsteigerung durch Digitalisierung ist, spricht nichts dagegen, bei einer nur teilweisen elektronischen Übertragung der Verhandlung Zuseher nur in Präsenz im Gerichtssaal zuzulassen. Diesfalls ist nämlich eine Unterbindung etwaiger unzulässiger Bild- und Tonmitschnitte im gleichen Ausmaß möglich wie bei einer vollständig in Präsenz abgehaltenen Verhandlung. Dennoch ist die Zulassung der Öffentlichkeit von umso größerer Bedeutung, je weiter die Tragweite des zu entscheidenden Falles ist. Geht die Relevanz der Entscheidung in einer bestimmten Rechtssache über den Einzelfall hinaus, ist dem öffentlichen Interesse eher in Form einer physischen Teilhabe an der mündlichen Verhandlung Rechnung zu tragen.

4.3.Grundrecht auf ein faires Verfahren

Das Grundrecht auf ein faires Verfahren gemäß Art47 GRC gilt bei mittelbarem Vollzug von Unionsrecht.52 Dabei ist gemäß Art52 Abs3 GRC die Rechtsprechung des EGMR zur EMRK insofern relevant, als die in der GRC vorgesehenen Grund-

48 Wimmer, ZVG2020, 477 (483).

49 §22 MedienG, BGBl 1981//314 idF BGBlI 2020/148.

50 Fischerlehner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I3, §275 BAO Rz18.

51 Wimmer, Der Öffentlichkeitsgrundsatz bei audiovisuellen Gerichtsverhandlungen, NLMR2021, 119 (124).

52 EuGH 7.5.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, Rn21; Wimmer, ZVG2020, 477 (482); Wimmer, Die Anwendung der Grundrechte-Charta durch Verwaltungsbehörden und nicht-oberstinstanzliche Gerichte als Normenkontrollmaßstab, ZÖR2015, 511 (518 bis 520).

rechte den in der EMRK verbrieften Grundrechten entsprechen.53 Obgleich Art6 EMRK dem Wortlaut nach nicht auf Steuerrechtsstreitigkeiten anwendbar ist, sofern diese nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen,54 wurde diese Einschränkung durch die VwGH-Judikatur relativiert: Es stehe dem Gesetzgeber so grundsätzlich frei, „[…] die Anwendbarkeit der Grundsätze des Art6 EMRK auszudehnen“ 55 Im Zuge der Verwaltungsgerichtsbarkeitsnovelle hat der Gesetzgeber seinen Willen kundgetan, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren den Anforderungen des Art6 EMRK zu entsprechen.56 Die Bezugnahme auf Art6 EMRK in den Materialien zur befristeten Vorgängerbestimmung bekräftigt diese gesetzgeberische Entscheidung.57

Der Rechtsprechung des EGMR zu Art6 EMRK zufolge kommt der mündlichen Verhandlung im Rechtsmittelverfahren dann besondere Bedeutung zu, wenn in der Rechtsmittelinstanz nicht nur Rechtsfragen erläutert werden, sondern sich die Kognitionsbefugnis des Gerichts auf Sachverhaltsfragen erstreckt.58 Die digitale Durchführung einer mündlichen Gerichtsverhandlung steht dem EGMR zufolge dem Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art6 EMRK nicht von vornherein entgegen.59 Obwohl die diesbezügliche Rechtsprechung des EGMR in der Rs Marcello Viola gegen Italien in Bezug auf ein Strafverfahren ergangen ist, sind die herangezogenen Entscheidungskriterien auch in Steuerrechtssachen relevant: So sprechen die grundsätzliche Pflicht des BFG, in der Sache zu entscheiden, die amtswegige Ermittlungspflicht sowie die freie Beweiswürdigung auch in Steuersachen dafür, dass besonderes Augenmerk auf den der rechtlichen Beurteilung zugrunde liegenden Sachverhalt zu legen ist. Eine rein digitale Durchführung der mündlichen Verhandlung mittels Videokonferenz droht aber die freie Beweiswürdigung60 des BFG insofern einzuschränken, als die Körpersprache und Mimik einer Person wesentlich die Glaubhaftigkeit ihres Vorbringens beeinflussen können.61 Eine Videoübertragung,

53 Art52 Abs3 GRC.

54 Art6 EMRK; Meyer in Karpenstein/Mayer, EMRK, Art6 Rz17.

55 VwGH 4.9.2014, 2013/15/0291; vgl weiterführend dazu Gunacker-Slawitsch, Amtswegigkeit und Mitwirkung im Abgabenverfahren, 132f.

56 ErlRV 1618 BlgNR 24.GP, 3.

57 ErlRV 287 BlgNR 27.GP, 10.

58 EGMR 5.10.2006, Marcello Viola gg Italien, Bsw45106/ 04, Rn55.

59 EGMR 16.2.2016, Yevdokimov ua gg Russland, Bsw 27236/05, Rn43.

60 §167 Abs2 BAO iVm §269 Abs1 BAO sieht vor, dass das Verwaltungsgericht „unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Abgabenverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen [hat], ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen ist oder nicht“

61 Grundsätzlich sind alle Beweismittel gleichwertig, siehe Ritz, BAO6, §167 Tz6. Im Rahmen der Glaubwürdigkeitsprüfung kommen der Gestik, Mimik und Sprache eine bedeutende Rolle bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Aussage durch den Richter zu: vgl zum Strafprozess Sautner, Aussagebeurteilung von Opferzeuginnen und Opferzeugen als forensische Herausforderung, in Schwarz-Schläglmann/Ulrich , Aktuelle Entwicklungen im Gewaltschutz (2014) 172 (185).

Die digitale mündliche Verhandlung 3/2023 120

bei der etwa die Mimik nicht gut erkennbar ist oder gar nur ein Ausschnitt der aussagenden Person zu sehen ist, kann die umfassende Würdigung dieser Faktoren einschränken und damit das Recht auf ein faires Verfahren verletzen.62

Die mündliche Verhandlung dient der Wahrung des Parteiengehörs63 und ist als kontradiktorisches Verfahren64 angelegt. Dies setzt eine Gegenseitigkeit der Kommunikation voraus. Wird die Kommunikation aufgrund von technischen Problemen beim Einsatz technischer Mittel zur Bild- und Tonübertragung für eine Partei eingeschränkt, weil etwa die Verbindung unterbrochen wird, darf dies nicht zu einer Einschränkung der Partei in der Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte führen.65 Die Parteien müssen demnach nicht nur technisch ungestört zu Wort kommen können; ebenso wichtig ist, dass sie uneingeschränkt am Verfahren teilhaben können, indem sie den Richter und die anderen anwesenden Personen sehen und hören können.66

4.4.Abwägung des Parteieninteresses gegen Effizienzsteigerung durch digitale Durchführung der mündlichen Verhandlung

Im Verfahren über eine Bescheidbeschwerde hat eine mündliche Verhandlung von vornherein nur dann stattzufinden, wenn sie vom Gericht für erforderlich gehalten oder vom Steuerpflichtigen beantragt wird.67 Zentraler Zweck der mündlichen Verhandlung ist der unmittelbare kontradiktorische Austausch. Die mündliche Verhandlung dient dazu, dass sich der Richter einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit oder Stringenz eines Vorbringens verschaffen kann. Die digitale mündliche Verhandlung ist aber nicht äquivalent zur Präsenzverhandlung: Die Wahrnehmbarkeit von Gestik und Mimik ist eingeschränkt, möglicherweise ist der sichtbare Bildausschnitt nur klein. Es besteht demnach die Gefahr, dass Aspekte der nonverbalen Kommunikation verloren gehen und dies die freie richterliche Beweiswürdigung behindert.

Die digitale Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterliegt als Abweichung von der Norm – der Verhandlung in Präsenz, sofern eine

62 EGMR 16.2.2016, Yevdokimov ua gg Russland, Bsw 27236/05, Rn43; Wimmer, ZVG2020, 477 (483).

63 Sutter in Holoubek/Lang, Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit, 248. Das Parteiengehör muss insofern gewahrt werden, als der Entscheidung des BFG nur Tatsachen zugrunde gelegt werden dürfen, zu denen sich der Steuerpflichtige vorher äußern konnte, vgl Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3, §183 Anm62.

64 Gunacker-Slawitsch, taxlex2022, 111 (112).

65 EGMR 5.10.2006, Marcello Viola gg Italien, Bsw45106/04, Rn74; 23.2.1994, Stanford gg Vereinigtes Königreich, Bsw16757/90, Rn27.

66 EGMR 16.2.2016, Yevdokimov ua gg Russland, Bsw 27236/05, Rn43. Dafür spricht auch, dass das Wesen einer mündlichen Verhandlung nach dem traditionellen Verständnis der Verfahrensvorschriften durch eine gegenseitige akustische und optische Wahrnehmung geprägt ist, vgl Wimmer, ZVG2020, 477 (484).

67 §274 Abs1 BAO.

mündliche Verhandlung durchgeführt wird –einem Rechtfertigungsbedarf. Das Ermessen ist iSd §20 BAO auszuüben; insbesondere hat der Richter die Effizienzgewinne gegen potenzielle Beeinträchtigungen der Verfahrensgrundrechte und Einschränkungen der Verfahrensgrundsätze abzuwägen.

Der Anspruch des Abgabenänderungsgesetzes 2022 war, das finanzgerichtliche Verfahren mittels digitaler Tools effizienter zu machen. Im Begriff der Effizienz kommt bereits zum Ausdruck, dass das Ziel – nämlich effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten – im gleichen Ausmaß erreicht werden muss, aber auf möglichst ressourcenschonende Weise. Je wichtiger der unmittelbare Eindruck des Richters vom persönlichen Vorbringen für die Entscheidung der Rechtsfrage ist, desto weniger kommt eine digitale mündliche Verhandlung infrage. Je größer das öffentliche Interesse in Bezug auf die zu klärende Rechtsfrage ist, desto eher wird diesem durch eine mündliche Verhandlung in Präsenz Rechnung getragen.

Zudem ist in der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen, dass die Parteien der Durchführung der mündlichen Verhandlung auf digitalem Wege nicht zustimmen müssen. Zwar kann ein Antrag auf Absehen von der digitalen Durchführung gestellt werden, die Ablehnung des Antrags ist aber nach dem Gesetzeswortlaut eine nicht eigens anfechtbare verfahrensleitende Verfügung. Außerdem soll ein solcher Antrag nach dem Gesetzeswortlaut nur dann möglich sein, wenn die Partei nicht über entsprechende technische Voraussetzungen verfügt. Eine Überprüfung dieser Angabe durch das BFG erscheint aber weder effizient machbar noch sinnvoll. Wenn jemand triftige Gründe für das Absehen von einer digitalen Durchführung der mündlichen Verhandlung anführt, ist darauf in der richterlichen Ermessensentscheidung besonders Bedacht zu nehmen, um dem individuellen Rechtsschutzbedürfnis der Partei gerecht zu werden.

Auf den Punkt gebracht

Vor dem Hintergrund der umfassenden Kognitionsbefugnis des BFG, der Rolle der mündlichen Verhandlung im Rahmen des Beschwerdeverfahrens und der Einschränkungen, die sich durch deren digitale Durchführung ergeben, unterliegt die Anwendung von §48j BAO als Abweichung von der Norm der Präsenzverhandlung einem Rechtfertigungsbedarf. Bei der Ermessensübung ist auf die Umstände des Einzelfalls Bedacht zu nehmen, wobei voraussichtlicher Erkenntnisgehalt einer mündlichen Verhandlung und öffentliches Interesse an der Rechtssache relevante Abwägungskriterien sind. Die digitale Durchführung der mündlichen Verhandlung darf überdies nicht zur Beschränkung der Verfahrensgrundrechte der Steuerpflichtigen führen.

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Die Berichtigung von „Rechenfehlern“ des BFG nach §293 BAO

Der VwGH hatte vor Kurzem darüber zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen das BFG „Rechenfehler“ mittels Berichtigung nach §293 BAO beseitigen kann.1 Grundsätzlich steht es dem BFG – wie auch der Abgabenbehörde – offen, unterlaufene Schreib- und Rechenfehler oder andere offenbar auf einem ähnlichen Versehen beruhende tatsächliche oder ausschließlich auf dem Einsatz einer automationsunterstützten Datenverarbeitungsanlage beruhende Unrichtigkeiten nach §293 BAO zu berichtigen. Ihre Grenze findet diese Berichtigungsmöglichkeit jedoch dort, wo ein Fehler in der Willensbildung vorliegt. Solche Willensbildungsfehler sind allein im Wege einer Revision behebbar. In diesem Beitrag sollen die wesentlichen Aussagen des VwGH gewürdigt werden. Es gilt in diesem Zusammenhang auch die Situation zu analysieren, in der sich die Parteien nach der Aufhebung einer fälschlichen Berichtigung befinden.

1.Ausgangsfall

Im Jahr 2010 veräußerte eine als Gruppenträger fungierende Gesellschaft, die mittlerweile in die Revisionswerberin verschmolzen wurde, ihren gesamten Betrieb sowie internationale Beteiligungen an einen französischen Konzern. Als Gegenleistung wurde die Zahlung von 12Mio€ und zusätzlich eine Schuldübernahme vereinbart, wodurch sich insgesamt ein Kaufpreis iHv ca 15Mio€ ergab. Die veräußernde Gesellschaft teilte diesen Veräußerungserlös in einen steuerfreien Anteil für die Beteiligungsveräußerung im Ausmaß von 6,3Mio€ (was 42% des Kaufpreises entspricht) und einen steuerpflichtigen Anteil für den Betrieb iHv 8,7Mio€ (58% des Kaufpreises).

Im Rahmen einer im Jahr 2018 durchgeführten Außenprüfung für die Jahre 2010 bis 2015 konnte das Finanzamt dieser Aufteilung allerdings nicht folgen und nahm an, dass die Aufteilung nicht nach dem wahren Wert, sondern in Steuervermeidungsabsicht erfolgte. Hieraus folgte eine neuerliche Aufteilung, die mangels anderer Unterlagen mittels Schätzung nach Buchwerten erfolgte. Der steuerpflichtige Anteil des Betriebs am Veräußerungserlös wurde dabei auf 10,05Mio€ (67% des Kaufpreises) geschätzt. Anschließend nahm das Finanzamt die Verfahren betreffend Körperschaftsteuer 2011 und Einkommensfeststellung Gruppenträger 2014 wieder auf. Die Körperschaftsteuer 2011 wurde neu festgesetzt, das Einkommen Grup-

penträger 2014 neu festgestellt und die Körperschaftsteuer (Gruppe) 2015 erstmals festgesetzt. Die Revisionswerberin, in welche die veräußernde Gesellschaft zwischenzeitlich verschmolzen wurde, erhob gegen diese Bescheide Beschwerde. Das BFG wies mit Erkenntnis die Beschwerden hinsichtlich Wiederaufnahme Körperschaftsteuer 2011 und Wiederaufnahme Feststellungsbescheid Gruppenträger 2014 sowie Körperschaftsteuer 2011 und Feststellungsbescheid Gruppenträger 2014 als unzulässig zurück und jene Beschwerde hinsichtlich Körperschaftsteuer (Gruppe) 2015 als unbegründet ab.2 Hiergegen erhob die Revisionswerberin außerordentliche Revision, woraufhin das angefochtene BFG-Erkenntnis durch den VwGH aufgehoben wurde.3 Im fortgesetzten Verfahren wurden die Beschwerden vom BFG im Hinblick auf die Wiederaufnahme Körperschaftsteuer 2011 abgewiesen und im Hinblick auf die Wiederaufnahme Feststellungsbescheid Gruppenträger 2014 als gegenstandslos erklärt. Die Bescheide betreffend Körperschaftsteuer 2011 und Körperschaftsteuer (Gruppe) 2015 sowie der Feststellungsbescheid Gruppenträger 2014 wurden jedoch aufgrund neuerlicher Berechnungen durch das BFG zugunsten des Steuerpflichtigen abgeändert.4 Das entsprechende Erkenntnis erging am 9.8.2022. Da das Finanzamt die Berechnungen des BFG nicht nachvollziehen konnte, nahm es mit diesem am 11.8.2022 per E-Mail Kontakt auf.5 Hieraufhin berichtigte das

2 BFG 4.6.2020, RV/7101804/2019: Bei den Beschwerden gegen die Bescheide betreffend Wiederaufnahme Körperschaftsteuer 2011, Körperschaftsteuer 2011, Wiederaufnahme Feststellungsbescheid Gruppenträger 2014 und Feststellungsbescheid Gruppenträger 2014 handelte es sich nach Ansicht des BFG um in rechtsmissbräuchlicher Absicht mangelhaft eingebrachte „Leerbeschwerden“. Die vorgenommene Mängelbehebung erfolgte nach Ansicht des BFG verspätet. Lediglich die Beschwerde hinsichtlich Körperschaftsteuer 2015 enthielt eine Begründung, war jedoch als unbegründet abzuweisen.

3 VwGH 18.1.2021, Ra 2020/13/0065: Das Nachreichen der Begründungen erfolgte – entgegen der Ansicht des BFG – noch innerhalb der (gehemmten) Frist zur Mängelbehebung. Siehe hierzu zB Beiser, Mängelbehebung bei „leeren“ (begründungslosen) Beschwerden, AVR2021, 31; Bodis, Notwendigkeit der Mängelbehebung bei begründungslosen Beschwerden, SWK11/ 2021, 715.

4 BFG 9.8.2022, RV/7100256/2021.

5 Siehe VwGH 1.3.2023, Ra2022/13/0105, Rz10: „[E]s sei versucht worden, die Berechnungen für Körperschaftsteuer 2011 und 2014 sowie die Verlustvorträge nachzuvollziehen; das Finanzamt komme dazu aber zu anderen Ergebnissen. Es werde ersucht, darzulegen, ob das Erkenntnis missverstanden worden sei oder ob ein Denkfehler bei den Berechnungen der belangten Behörde vorliege. Es folgte dazu eine umfangreiche Korrespondenz (per E-Mail) zwischen dem Bundesfinanzgericht und den Verfahrensparteien.“

Berichtigung von „Rechenfehlern“ 3/2023 122
Berichtigung von „Rechenfehlern“
Michael Hubmann, LL.M. (WU) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Österreichisches und Internationales Steuerrecht der WUWien. 1 VwGH 1.3.2023, Ra 2022/13/0105.

BFG am 25.8.2022 das zuvor erlassene Erkenntnis – zumindest betreffend Körperschaftsteuer 2011 und Körperschaftsteuer (Gruppe)

20156 – aufgrund des Vorliegens eines „Rechenfehlers“7 mit Beschluss gemäß §293 BAO, woraus sich eine höhere Bemessungsgrundlage und somit auch eine höhere Körperschaftsteuer ergaben.8 Gegen diesen Beschluss wendete sich die gegenständliche außerordentliche Revision, in der vorgebracht wurde, dass die Berichtigung gemäß §293 BAO zu Unrecht erfolgt sei.

2.Entscheidung des VwGH vom 1.3.2023, Ra2022/13/0105

Der VwGH erachtete die außerordentliche Revision als zulässig und begründet.9 §293 BAO ermöglicht der Abgabenbehörde sowie dem BFG – betreffend eigene Entscheidungen – die Berichtigung von unterlaufenen Schreib- und Rechenfehlern oder anderen offenbar auf einem ähnlichen Versehen beruhenden tatsächlich oder ausschließlich auf dem Einsatz einer automationsunterstützten Datenverarbeitungsanlage beruhenden Unrichtigkeiten. Wie der VwGH darlegt, dient §293 BAO aber gerade nicht dazu, Irrtümer der Abgabenbehörde oder des BFG bei der Auslegung des Gesetzes zu berichtigen. Eine Berichtigung nach §293 BAO soll nur zur Beseitigung eines infolge von Fehlerquellen auftretenden erkennbaren Auseinanderklaffens von Absicht und formeller Erklärung des Willens dienen.10 Dagegen sind jene Fehler, die der Abgabenbehörde oder dem BFG im Zuge der Willensbildung unterlaufen sind, nicht berichtigungsfähig iSd §293 BAO.11 Werden Fakten während der Willensbildung schlicht vergessen, können sie nicht Gegenstand der Willensbildung sein. Soweit derartige Fakten für die Entscheidung relevant wären, führt deren Weglassen zu einer unrichtigen oder unvollständigen Willensbildung. Es kann nach der Ansicht des VwGH in einem solchen Fall aber keine Berichtigung gemäß §293 BAO vorgenommen werden.12 Derartige Fehler können nur im Wege einer Revision mit allfälliger Klaglosstellung durch das BFG iSd §289 BAO behoben werden.

6 Die Berechnungen betreffend Feststellungsbescheid 2014 wurden vom Berichtigungsbeschluss nicht erfasst. Siehe VwGH 1.3.2023, Ra2022/13/0105, Rz11.

7 Siehe VwGH 1.3.2023, Ra2022/13/0105, Rz12: „In der Begründung führte das Bundesfinanzgericht aus, in das Erkenntnis vom 9.August 2022 hätten sich ,Rechenfehler eingeschlichen‘.“

8 Beschluss des BFG vom 25.8.2022, RV/7100256/2021.

9 Siehe zur gegenständlichen Entscheidung bereits: Beiser, Berichtigungen erlassener Entscheidungen (Bescheide, Erkenntnisse) nach §293 BAO – die Abgrenzung von Erklärungsfehlern gegenüber Fehlern in der Willensbildung, ÖStZ2023, 193; Coenen, VwGH zur Berichtigung von „Rechenfehlern“ des BFG gem §293 BAO, LexisNexis-Rechtsnews 34043 vom 19.5.2023.

10 Siehe VwGH 1.3.2023, Ra 2022/13/0105, Rz20.

11 Vgl VwGH 27.8.2020, Ra2020/13/0020, mwN.

12 Der VwGH verweist hierbei auf VwGH 20.6.1990, 89/ 13/0113, und Stoll, BAO (1994) 2818.

Nach Ansicht des VwGH ist nicht erkennbar, dass die im ursprünglichen Erkenntnis getroffene Entscheidung des BFG von dessen Entscheidungsabsicht abgewichen wäre. Insbesondere liegt kein – wie in der Begründung des Berichtigungsbeschlusses behauptet – bloßer „Rechenfehler“ vor. Strittig war im gegenständlichen Fall betreffend Körperschaftsteuer 2011 letztlich, in welcher Höhe im ursprünglich erklärungsgemäß ergangenen Bescheid Veräußerungserlöse enthalten waren. Nach Ansicht des VwGH kann eine konkrete Entscheidungsabsicht des BFG zu diesem Thema aus dem Akteninhalt nicht abgeleitet werden, weshalb hier allenfalls ein nicht berichtigungsfähiger Fehler im Rahmen der Willensbildung vorliegt.13 Betreffend Körperschaftsteuer (Gruppe) 2015 hat das BFG – wie es in der E-Mail-Korrespondenz mit dem Finanzamt auch einräumt – schlicht auf Verlustvorträge betreffend die Körperschaftsteuer Gruppe 2014 „vergessen“.14 Es liegt daher im gegenständlichen Fall ein „Vergessen“ oder „Übersehen“ von entscheidungsrelevanten Fakten, also ein Fehler in der Willensbildung, vor. Derartige Fehler sind aber einer Berichtigung iSd §293 BAO gerade nicht zugänglich.15 Der angefochtene Berichtigungsbeschluss war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Damit steht das BFG-Erkenntnis in seiner ursprünglichen –nicht berichtigten – Form wieder in Geltung. Seitens des Finanzamts sind aus diesem Grund daher bereits ein Wiedereinsetzungsantrag – wohl betreffend die Revisionsfrist – und außerordentliche Amtsrevision eingebracht worden.

3.Würdigung

3.1.Berichtigung nach §293 BAO

3.1.1.Anwendbarkeit im Rechtsmittelverfahren

Der Anwendungsbereich von §293 BAO ist entgegen seinem Wortlaut, der bloß die Abgabenbehörde und Bescheide anspricht, auch auf Beschwerdevorentscheidungen sowie gemäß §93a BAO auch auf Erkenntnisse und Beschlüsse eines Verwaltungsgerichts und damit im Speziellen des BFG anzuwenden.16 §272 Abs5 BAO unterstreicht dies noch zusätzlich, indem er anordnet, dass Berichtigungen von Erkenntnissen und Beschlüssen nach §293 BAO im Verfahren vor dem Einzelrichter von diesem und ansonsten vom Senat vorzunehmen sind. §293 BAO ist überdies auch auf Erledigungen des VwGH anwendbar, sofern dieser in der Sache selbst entscheidet.17 Die Berichtigung eines Erkenntnisses

13 Siehe VwGH 1.3.2023, Ra2022/13/0105, Rz22.

14 Siehe VwGH 1.3.2023, Ra2022/13/0105, Rz21.

15 Siehe VwGH 1.3.2023, Ra2022/13/0105, Rz23.

16 Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO: Stoll Kommentar 2 (2023) §293 Rz1; Ritz/Koran , BAO 7 (2021) §293 Tz15.

17 Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz1.

Berichtigung von „Rechenfehlern“ 3/2023 123

oder Beschlusses erfolgt durch einen zu diesem hinzutretenden verfahrensrechtlichen Beschluss, der seinerseits mit Revision an den VwGH oder Beschwerde an den VfGH anfechtbar ist.18

3.1.2.Berichtigungsfähige Fehler

Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH,19 die er auch im gegenständlichen Fall erneut bestätigt,20 soll §293 BAO die Möglichkeit schaffen, Fehler zu berichtigen, die in einem Auseinanderklaffen des tatsächlichen Willens und der formellen Erklärung ebendieses Willens bestehen.21 Im Wortlaut des §293 BAO wird zwischen „Schreib- und Rechenfehlern“, „anderen offenbar auf einem ähnlichen Versehen beruhenden tatsächlichen Unrichtigkeiten“ und „ausschließlich auf dem Einsatz einer automationsunterstützten Datenverarbeitungsanlage beruhenden Unrichtigkeiten“ unterschieden. Die ersten beiden Fehlerkategorien zeichnen sich nach Stoll durch eine Wechselbezogenheit der jeweiligen Eigenschaften aus. Beide verbindet ein „ähnliches Versehen“. Da sich Schreib- und Rechenfehler auch im Bereich des Denkens und Schlussfolgerns vollziehen können, müssen stets auch die Eigenschaften der „tatsächlichen Unrichtigkeiten“ hinzugedacht werden, um zum von §293 BAO erfassten Wesen eines Fehlers zu gelangen.22 Die erfassten Fehler können daher stets nur solche sein, die nicht der Willensbildung, sondern allein deren Mitteilung anhaften und somit zu jenem vom VwGH angesprochenen „Auseinanderklaffen“ führen.23

Schreibfehler können zB Abschreibfehler, ein Verschreiben bei Namen sowie Datumsangaben oder Rechtschreibfehler sein.24 Das Erfordernis, dass ein Fehler als solcher auch offenbar – die Unrichtigkeit also offenkundig – sein muss,25 kann nach der Rechtsprechung des VwGH zumindest in Bezug auf Schreib- und Rechenfehler verneint werden.26 Als Rechenfehler gelten ua Additionsfehler,27 Fehler durch unrichtiges Ab-

18 Brennsteiner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I3 (Stand 1.2.2021, rdb.at) §293 BAO Rz4.

19 VwGH 13.10.1982, 82/13/0122; 26.5.2004, 2002/14/ 0015; 20.5.2010, 2008/15/0280; 9.7.2008, 2005/13/ 0020, 0028; 24.11.2011, 2008/15/0205; 23.5.2013, 2010/15/0076; 12.6.2020, Ra2019/15/0123; 27.8.2020, Ra2020/13/0020.

20 Siehe VwGH 1.3.2023, Ra 2022/13/0105, Rz20.

21 Siehe auch Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz1; Brennsteiner in Fischerlehner/Brennsteiner , Abgabenverfahren I 3 , §293 BAO Rz1; Althuber in Althuber/Tanzer/Unger, BAO-Handbuch (2015) 801f; Ellinger/Sutter/Urtz , BAO3 (Stand 1.1.2017, rdb.at) §293 Anm19 mwN.

22 Stoll, BAO, 2814f; Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/ Unger, BAO2, §293 Rz3f.

23 Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz4; Ringhofer, Die österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze I (1987) 558.

24 Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz2 mwN.

25 Vgl zur Relevanz dieses Kriteriums Stoll, BAO, 2815f und 2819f.

26 Der VwGH lässt Berichtigungen von Schreib- und Rechenfehlern gemäß §293 BAO auch zu, wenn diese nicht offenbar sind. Vgl VwGH 11.8.2004, 2004/17/ 0002; 29.1.2009, 2008/16/0055; Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz6.

27 VwGH 18.10.1984, 83/16/0130.

lesen von Beträgen oder Vertippen an einer Rechenmaschine.28 Unter die Kategorie der „anderen offenbar auf einem ähnlichen Versehen beruhenden Unrichtigkeiten“ fallen zB Fehler in der Ausdrucksweise. Hierbei muss jedoch erkennbar (offenbar) sein, dass eine Formulierung dem erschließbaren Gestaltungswillen nicht entspricht.29 Auch die dritte Fehlerkategorie der „ausschließlich auf dem Einsatz einer automationsunterstützten Datenverarbeitungsanlage beruhenden Unrichtigkeiten“ erfasst nach Stoll nicht generell alle Fehler, die beim Einsatz automationsunterstützter Datenverarbeitungsanlagen anfallen können, sondern nur solche, die den programmierten und aus der Ausfertigung erschließbaren Inhalt einer Erledigung erkennbar unzutreffend zum Ausdruck bringen; nicht aber auch „logische“ Fehler, die zu einem konzeptionsbedingten fehlerhaften Inhalt führen.30 Ob nun auch Programmfehler berichtigungsfähig sind, ist umstritten.31 Nach der Rechtsprechung des VwGH sind aber jedenfalls all jene Fehler erfasst, die ihre Wurzel in der Unkenntnis über den Programmablauf haben oder durch ungewollte (nicht gedankliche) Fehler der Dateneingabe entstehen.32

Aus allen drei Kategorien lässt sich zusammenfassend ableiten, dass Fehler, die im Zuge der Willensbildung unterlaufen, nicht vom Fehlerbegriff des §293 BAO umfasst sind. Unrichtige rechtliche Beurteilungen, Fehler der Beweiswürdigung oder Fehler aus dem Übersehen von entscheidungsrelevanten Fakten (zB Aktenteilen) sind keiner Berichtigung gemäß §293 BAO zugänglich.33 Auch derartige Fehler, die durch eine Partei indiziert werden (zB durch übernommene offensichtlich irrtümliche Angaben in Abgabenerklärungen), fallen nicht in den Anwendungsbereich des §293 BAO. Hierfür schafft aber (zumindest teilweise) §293b BAO Abhilfe.34

28 VwGH 19.12.1958, 1837/57; siehe Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz4 mwN.

29 Fraglich ist jedoch, für wen dies erkennbar sein muss; nach der Rechtsprechung des VwGH ist meist auf die Erkennbarkeit durch die Parteien des Verfahrens (VwGH 29.10.1991, 91/05/0161), gelegentlich auf die der Parteien und der Behörde (VwGH 21.6.1990, 89/06/0104), abzustellen. Vgl Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz6.

30 Stoll, BAO, 2822f; so auch (weiterhin) in Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz20.

31 Siehe hierzu Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz20, und Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz7. Nach Ellinger/Wetzel, BAO (1980) 223, können sowohl solche Fehler, die ihre Ursache in EDV-Programmen haben, als auch solche, die anlässlich der Verarbeitung mittels EDV-Anlagen auftreten, berichtigt werden. Nach Ott, Berichtigung von Schreib- und Rechenfehlern, ähnlichen Versehen und EDV-Unrichtigkeiten (§293 BAO), ZGV1989/1-2, 4, seien auch Fehler beim Programmieren den Schreib- und Rechenfehlern zuzuordnen. Nach Ellinger/Sutter/Urtz, BAO3, §293 Anm14, können aber nur jene Programmfehler berichtigt werden, die nicht auf eine unrichtige rechtliche Beurteilung zurückzuführen sind.

32 VwGH 13.10.1982, 82/13/0122; 4.6.1986, 85/13/0076; Siehe Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz21; Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz7.

33 Siehe Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz8 mwN.

34 Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz12.

Berichtigung von „Rechenfehlern“ 3/2023 124

Im gegenständlichen Fall versuchte das BFG zu argumentieren, dass sich in das ergangene Erkenntnis bloße „Rechenfehler eingeschlichen“ hätten.35 Wie sich aus der späteren Korrespondenz zwischen BFG und Finanzamt jedoch ergibt, spricht selbst das BFG später von einem „Denkfehler“. 36 Wie bereits dargestellt, kann unter einem berichtigungsfähigen Rechenfehler nur ein tatsächlich in der Berechnung liegender Fehler verstanden werden. Die der Rechnung zugrunde liegende Überlegung muss für sich genommen aber bereits richtig gewesen sein. Im gegenständlichen Fall handelte es sich daher – wie vom VwGH erkannt –um keinen berichtigungsfähigen Fehler iSd §293 BAO, weil die Mäng el nicht in der jeweiligen Berechnung, sondern in der zugrunde liegenden Überlegung und damit der Willensbildung lagen.37

3.1.3.Berichtigungsfrist und Rechtsfolgen einer Berichtigung durch das BFG

Eine Berichtigung nach §293 BAO ist grundsätzlich gemäß §302 Abs1 BAO bis zum Ablauf der Verjährungsfrist zulässig. Ob dabei die Festsetzungs- oder die Einhebungsverjährungsfrist relevant ist, hängt von der zu berichtigenden Erledigung ab.38 Eine Berichtigung könnte darüber hinaus auch nach eingetretener Verjährung gemäß §209a Abs2 BAO erfolgen, wenn eine solche vor Verjährungseintritt beantragt wurde. Weiters darf eine Berichtigung gemäß §302 Abs2 lita BAO stets innerhalb eines Jahres ab Rechtskraft der zu berichtigenden Erledigung oder, wenn der Antrag auf Berichtigung innerhalb dieses Jahres eingebracht wurde, auch nach Ablauf dieses Jahres erfolgen. Dies gilt auch dann, wenn sich das an die Rechtskraft anschließende Jahr über die Verjährungsfrist39 erstreckt.40

Wird ein Erkenntnis des BFG durch Beschluss nach §293 BAO berichtigt, so tritt dieser Berichtigungsbeschluss nicht an die Stelle des fehlerhaften Erkenntnisses. Das ursprüngliche Erkenntnis bleibt vielmehr aufrecht und erfährt lediglich eine Ergänzung durch den nun hinzutretenden Berichtigungsbeschluss. Der Berichtigungsbeschluss und das nunmehr berichtigte Erkenntnis bilden ab dem Zeitpunkt der Erlassung des Berichtigungsbeschlusses eine Einheit.41 Die Berichtigung erfolgt also rückwirkend auf den Zeitpunkt der Erlassung der zu berichtigenden

35 Siehe VwGH 1. 3. 2023, Ra 2022/13/0105, Rz12.

36 Siehe VwGH 1. 3. 2023, Ra 2022/13/0105, Rz21.

37 Siehe VwGH 1. 3. 2023, Ra 2022/13/0105, Rz21 bis 23.

38 Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293

Rz39; Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz14.

39 Dies inkludiert auch die absolute Verjährungsfrist.

40 Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293

Rz39; Ott, ZGV1989/1-2, 4; Ritz/Koran, BAO7, §293

Tz14.

41 BFG 11. 12. 2017, RV/7104441/2017; so auch bei der Berichtigung eines Bescheides: Ritz/Koran , BAO 7 , §293 Tz19 mwN; Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/ Unger, BAO2, §293 Rz34.

Erledigung.42 Der Spruch des Berichtigungsbeschlusses hat lediglich auszusprechen, inwieweit der Spruch des fehlerhaften Erkenntnisses eine Berichtigung oder Ergänzung erfahren soll.43

3.1.4.Rechtsschutz gegen Berichtigungsbeschlüsse des BFG

Wird eine Entscheidung des BFG durch Beschluss iSd §293 BAO berichtigt, so kann dieser Beschluss durch Beschwerde an den VfGH oder durch Revision an den VwGH bekämpft werden.44 Die Anfechtung der Berichtigung kann sich aber nur gegen Grund, Umfang und Inhalt der Berichtigung wenden.45 Die Berichtigung lässt sich nur insoweit anfechten, als sie den Spruch der berichtigten Erledigung ändert und dadurch in Rechte der Partei eingreift, wie dies zuvor – also vor Ergehen der Berichtigung –nicht der Fall war.46 Die Anfechtung der Berichtigung kann sich grundsätzlich nicht auch gegen die ursprüngliche und nunmehr berichtigte Erledigung selbst richten.47 Nur dann, wenn sich erst aus der berichtigten Fassung einer Erledigung ein Eingriff in die Rechte oder rechtlichen Interessen des Adressaten erkennen lässt,48 ist nicht nur die Überprüfung der Zulässigkeit der Berichtigung, sondern auch die Überprüfung der Erledigung in ihrer berichtigten Fassung möglich.49 Die Rechtsmittelfrist ist dabei von der Zustellung der Berichtigung an zu berechnen; prozessual ist nur diese (wenn auch in inhaltlicher Verbindung mit der berichtigten Erledigung) anfechtbar.50 Hervorzuheben ist, dass es auf Seiten des Finanzamts keinen „Eingriff in die Rechte oder rechtlichen Interessen“ geben kann. Die Amtsrevision dient der objektiven Rechtsrichtigkeit und nicht der Geltendmachung subjektiver Rechte. Sie kann daher grundsätzlich uneingeschränkt wegen behaupteter Rechtswid-

42 VwGH 28. 2. 2019, Ra 2018/16/0214; 12.6.2020, Ra2019/15/0012; Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz28 mwN; Brennsteiner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I3, §293 BAO Rz6.

43 BFG 11. 12. 2017, RV/7104441/2017; zur Berichtigung eines Bescheides siehe VwGH 3.10.1990, 89/13/0203, 89/13/0214; Ritz/Koran , BAO 7 , §293 Tz18; Tanzer/ Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz34.

44 Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz33.

45 VwGH 3. 10. 1990, 89/13/0203, 89/13/0214; Tanzer/ Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO 2 , §293 Rz34; Brennsteiner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I3, §293 BAO Rz7.

46 VwGH 18. 6. 1974, 0278/74; Tanzer/Unger in Rzeszut/ Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz35.

47 Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz20; Brennsteiner in Fischerlehner/Brennsteiner, Abgabenverfahren I3, §293 BAO Rz7.

48 Hierunter ist wohl jener Fall zu verstehen, in dem erst durch die berichtigte Fassung ein erstmaliger oder veränderter Eingriff in die Rechte des Adressaten auftritt, weil diese eingreifende Rechtsfolge erst durch die berichtigte Fassung deutlich und wirksam zu werden vermag.

49 VwGH 18. 6. 1974, 0278/74; 31.7.2013, 2010/13/0003; 20.4.2016, 2013/17/0344; Ritz/Koran , BAO 7 , §293 Tz20 mwN; vgl hierzu auch die Überlegungen von Stoll, BAO, 2827f; auch enthalten in Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz37.

50 Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz37.

Berichtigung von „Rechenfehlern“ 3/2023 125

rigkeit erhoben werden.51 Begehrt das Finanzamt im Zuge der Amtsrevision nicht nur die Überprüfung der Zulässigkeit der Berichtigung, sondern auch die Überprüfung der Erledigung in ihrer berichtigten Fassung, wird somit wohl darauf abzustellen sein, ob sich die behauptete Rechtswidrigkeit erst aus der berichtigten Fassung der Erledigung erkennen ließ.

Es gilt zu beachten, dass nach §293 BAO nur bereits vorhandene Spruchbestandteile berichtigt werden können. Eine Neuschöpfung wäre eine unzulässige neue Willensbildung und keine bloße Korrektur einer missglückten Willensäußerung.52 Ein von der Berichtigung nicht erfasster Spruchbestandteil der berichtigten Erledigung erfährt in seiner Rechtsbeständigkeit keine Änderung und kann somit auch nicht angefochten werden.53

Im gegenständlichen Fall bestritt die Revision allein die Zulässigkeit der Berichtigung. Es wurden dabei keine Gründe vorgebracht, die sich auch gegen das ursprüngliche Erkenntnis richteten.

3.2.Die trügerische Sicherheit der Berichtigung

3.2.1.Perspektive des Finanzamts

Aus Sicht des Finanzamts hat sich die Situation aufgrund der im gegenständlichen Fall vorgenommenen Berichtigung nach §293 BAO zuerst – zumindest scheinbar – verbessert und anschließend verschlechtert. Das Erkenntnis vom 9.8.2022 führte aufgrund der neuerlichen Berechnungen des BFG zunächst zu einer Abänderung der Bescheide betreffend Körperschaftsteuer 2011 und Körperschaftsteuer (Gruppe) 2015 sowie des Feststellungsbescheides Gruppenträger 2014. In der Folge trat das Finanzamt, das die falsche Berechnung des BFG erkannte, per E-Mail an dieses heran. Hierbei handelte es sich aber nicht um einen Antrag iSd §85 BAO, der auf die Durchführung einer Berichtigung nach §293 BAO gerichtet war – ein solcher wäre hier gar nicht möglich.54 Vielmehr versuchte das Finanzamt die Berechnungen nachzuvollziehen. Erst durch die amtswegige Berichtigung durch das BFG mittels Beschlusses vom 25.8.2022 wurde ein für das Finanzamt „anscheinend hinnehmbarer“ Zustand hergestellt. Es wurde jedenfalls keine Amtsrevision gegen das ursprüngliche Erkenntnis oder den Berichtigungsbeschluss erhoben. Für das Finanzamt dürfte hierzu auch

51 Leeb in Korinek/Holoubek/Bezemek/Fuchs/Martin/Zellenberg , Österreichisches Bundesverfassungsrecht (18.Lfg, 2023) Art133/5-8 Rz34.

52 Siehe zu den Grenzen von §293 BAO Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz35.

53 Tanzer/Unger in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO2, §293 Rz36.

54 Antragsbefugt ist nur die Partei iSd §78 BAO. Die „Amtspartei“ iSd §265 Abs5 BAO ist nicht zur Stellung eines Antrags auf Berichtigung durch das BFG befugt. Siehe Ritz/Koran, BAO7, §293 Tz11; Ellinger/Sutter/ Urtz, BAO3, §293 Anm11.

kein Anlass bestanden haben, weil die Berichtigung innerhalb der sechswöchigen Revisionsfrist des §26 Abs1 VwGG erfolgte. Wie sich zeigt, bot die Berichtigung aber nur höchst trügerische Sicherheit für das Finanzamt. Durch die außerordentliche Revision, die zur Aufhebung des Berichtigungsbeschlusses führte, trat nämlich wieder das Erkenntnis vom 9.8.2022 in seiner nicht berichtigten Form in Geltung. Die Einheit aus Erkenntnis und Berichtigungsbeschluss ist zerfallen. Es stellt sich nun die Frage, ob und wie das Finanzamt nun noch gegen dieses Erkenntnis mit seinen – wie auch seitens des BFG eingeräumt – falschen Berechnungen vorgehen kann.

3.2.2.Amtsrevision noch möglich?

Die sechswöchige Frist zur Erhebung einer Amtsrevision beginnt gemäß §26 Abs1 Z2 VwGG grundsätzlich mit dem Tag der Zustellung des Erkenntnisses an die belangte Behörde – also mit Einlangen in der Einlaufstelle.55 Diese Frist ist nicht erstreckbar.56 Eine Hemmung des Fristenlaufs ist nur nach §26 Abs3 VwGG iZm der Stellung eines Verfahrenshilfeantrags57 und nach §26 Abs4 VwGG iZm einem Abtretungsbeschluss des VfGH58 möglich, was für eine Amtspartei jedoch irrelevant ist. Eine darüber hinausgehende Hemmung, Unterbrechung oder Verlängerung ist grundsätzlich – von sondergesetzlichen Ausnahmen wie zB durch §1 COVID-19VwBG59 abgesehen – nicht vorgesehen. Im gegenständlichen Fall verstrich die Revisionsfrist ungenutzt. Auch die vorgenommene Berichtigung nach §293 BAO konnte daran nichts ändern, weil diese die Revisionsfrist nicht beeinflusst. Das Finanzamt hätte rechtzeitig Amtsrevision erheben müssen und nicht auf eine Berichtigung hoffen dürfen. Auch nach Ergehen der Berichtigung hätte das Erkenntnis mit Amtsrevision bekämpft werden können (und wohl auch müssen).

3.2.3.Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als Ausweg?

Das Finanzamt hat in Reaktion auf die gegenständliche aufhebende Entscheidung des VwGH einen Wiedereinsetzungsantrag – wohl betreffend die Revisionsfrist – und eine außerordentliche Amtsrevision eingebracht.60 Es darf jedoch

55 Jantschgi in Brandtner/Köhler/Schmelz, VwGVG Kommentar (2020) §26 VwGG Rz10.

56 VwGH 13.9.2017, Ra 2017/16/0086; Fister/Fuchs/ Sachs , Verwaltungsgerichtsverfahren 2 (Stand 1.10.2018, rdb.at) §26 VwGG Anm2; Jantschgi in Brandtner/Köhler/Schmelz, VwGVG, §26 VwGG Rz2.

57 Jantschgi in Brandtner/Köhler/Schmelz, VwGVG, §26 VwGG Rz21ff.

58 Jantschgi in Brandtner/Köhler/Schmelz, VwGVG, §26 VwGG Rz25ff.

59 Die Regelungen des verwaltungsrechtlichen COVID-19Begleitgesetzes (COVID-19-VwBG idF BGBlI 2020/24) betrafen auch die Revisionsfrist vor dem VwGH. Siehe auch VwGH 17.3.2021, Ra2020/11/0098.

60 Siehe Anmerkungen in der Findok zu BFG 9.8.2022, RV/7100256/2021.

Berichtigung von „Rechenfehlern“ 3/2023 126

bezweifelt werden, dass dieser Weg zum gewünschten Ergebnis führt:

Das Ziel einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist grundsätzlich die Beseitigung von Rechtsnachteilen, die einer Partei daraus erwachsen, dass sie eine Frist ohne grobes Verschulden versäumt hat.61 Die Wiedereinsetzung in die Revisionsfrist ist in §46 VwGG geregelt. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Wiedereinsetzung sind die Versäumung einer Frist, ein dadurch entstandener Rechtsnachteil, das Vorliegen eines unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses und ein rechtzeitiger Antrag auf Wiedereinsetzung, der ebendieses Ereignis darzulegen hat.62 Außer in den Fällen einer unzutreffenden oder fehlenden Rechtmittelbelehrung iSd §46 Abs2 VwGG ist überdies auch zu prüfen, ob der Partei ein Verschulden an der Versäumung anzulasten ist, das über einen minderen Grad des Versehens hinausgeht.63 Die ersten beiden Voraussetzungen sind im gegenständlichen Fall wohl gegeben, denn schließlich wurde die Revisionsfrist tatsächlich versäumt, und auch der Umstand, dass die befristete Prozesshandlung nicht mehr vorgenommen werden konnte, begründet einen Rechtsnachteil.64 Ob der Antrag auf Wiedereinsetzung im gegenständlichen Fall rechtzeitig erfolgte, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Gemäß §46 Abs3 VwGG ist ein solcher Antrag binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des „Hindernisses“ zu stellen.65 Es drängt sich die Frage auf, was das Finanzamt in seinem Wiedereinsetzungsantrag als derartiges „Hindernis“ angeführt hat.66 Das Vorliegen eines unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses sowie das Fehlen von grobem Verschulden dürften höchst zweifelhaft sein. Im gegenständlichen Fall scheint das Finanzamt schlicht nicht erkannt zu haben, dass der gegebene Fehler einzig und allein im Wege der Revision behebbar gewesen wäre. Auch nach der vermeintlichen Berichtigung hätte erkannt werden können, dass diese nicht von §293 BAO gedeckt war. Nach der Rechtsprechung des VwGH kann zwar auch ein Rechtsirrtum oder mangelnde Rechtskenntnis ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Er-

61 VwGH 16.11.2011, 2007/17/0073.

62 Siehe zu den verschiedenen Kriterien und Eckpunkten der umfassenden Rechtsprechung des VwGH Gruber in Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Das neue Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte 2 (2017) §46 VwGG Rz1; Eder/Martschin/Schmid, Das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte (2019) §46 VwGG E13ff.

63 Gruber in Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte2, §46 VwGG Rz2.

64 Siehe zum Kriterium des Rechtsnachteils Eder/Martschin/Schmid, Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte, §46 VwGG E40f mwN; vgl zur Beurteilung des Rechtsnachteils in der BAO Ritz/Koran, BAO7, §308 Tz7.

65 Gruber in Götzl/Gruber/Reisner/Winkler, Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte2, §46 VwGG Rz3.

66 Das Finanzamt wird wohl zu argumentieren versuchen, dass in der Unkenntnis der Unrechtmäßigkeit des Berichtigungsbeschlusses ein Hindernis begründet war, das erst mit der aufhebenden Entscheidung des VwGH beseitigt wurde.

eignis sein, das eine Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen kann. Es ist dabei jedoch im konkreten Einzelfall zu prüfen, ob die Partei an der Unkenntnis der Rechtslage oder am Rechtsirrtum ein über den minderen Grad des Versehens – was leichter Fahrlässigkeit iSd §1332 ABGB entspricht67 –hinausgehendes Verschulden trifft.68 Gerade das Finanzamt als Amtspartei wird dabei einem strengen Maßstab unterliegen.69 Das Finanzamt hätte sich innerhalb der Revisionsfrist nicht auf eine Berichtigung nach §293 BAO verlassen dürfen. Wenn das Finanzamt davon überzeugt war, dass die Berechnungen des BFG fehlerhaft sind (wovon aufgrund der Nachfragen per EMail auszugehen ist), hätte es auch rechtzeitig Amtsrevision erheben müssen. Dies gilt auch nach Ergehen des Berichtigungsbeschlusses, trotz des Umstands, dass die innerhalb der Revisionsfrist vorgenommene Berichtigung eine Revision auf den ersten Blick überflüssig erscheinen hat lassen. Dem Finanzamt ist es mE zumutbar, die rechtlichen Voraussetzungen einer Berichtigung nach §293 BAO zu prüfen. Es hätte dabei erkennen können, dass der gegebene „Rechenfehler“ in Wahrheit ein Fehler in der Willensbildung und damit nicht berichtigungsfähig iSd §293 BAO war. Es hätte richtigerweise sowohl gegen den Berichtigungsbeschluss (aufgrund dessen Unzulässigkeit) als auch gegen das ursprüngliche Erkenntnis Amtsrevision erhoben werden müssen. Der Umstand, dass ebendies nicht geschah, dürfte wohl vom Finanzamt grob verschuldet worden sein und damit einer erfolgreichen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegenstehen. Als Konsequenz verbleibt daher das ursprüngliche Erkenntnis mitsamt seinen falschen Berechnungen im Rechtsbestand.

3.2.4.Vorsicht ist besser als Nachsicht

Wenn ein Berichtigungsbeschluss ergeht, sollte gründlich überprüft werden, ob dieser denn auch zulässig war. Das Ergehen eines Berichtigungsbeschlusses bietet nämlich – wie sich im gegenständlichen Fall zeigt – unter Umständen nur trügerische Sicherheit. Bestehen Zweifel darüber, ob eine Berichtigung nach §293 BAO zulässig war, sollte stets Revision gegen das ursprüngliche Erkenntnis erhoben werden. Stellt sich nämlich die Berichtigung nachträglich als unzulässig heraus und wurde innerhalb der sechswöchigen Frist keine Revision erhoben, besteht keine Möglichkeit mehr, das nachteilige und „berichtigungsbedürftige“ Erkenntnis noch zu bekämpfen.

67 VwGH 8.9.2015, Ra 2015/01/0125.

68 VwGH 30.3.2022, Ra 2020/19/0212; 25.5.2022, Ra 2021/19/0484.

69 Grundsätzlich ist an rechtskundige Parteienvertreter ein strengerer Maßstab anzulegen als an Rechtsunkundige. Vgl VwGH 26.4.2018, Ra2018/21/0030, 0031; 23.10.2018, Ra2018/06/0110 bis 0114. Das Finanzamt wird jedenfalls als rechtskundig gelten.

Berichtigung von „Rechenfehlern“ 3/2023 127

Auf den Punkt gebracht

§293 BAO ist auch auf Erkenntnisse und Beschlüsse des BFG anwendbar und dient zur Berichtigung von „Schreib- und Rechenfehlern“, „anderen offenbar auf einem ähnlichen Versehen beruhenden tatsächlichen Unrichtigkeiten“ und „ausschließlich auf dem Einsatz einer automationsunterstützten Datenverarbeitungsanlage beruhenden Unrichtigkeiten“.

Der VwGH bestätigt mit der gegenständlichen Entscheidung seine ständige Rechtsprechung, wonach nur solche Fehler einer Berichtigung nach

§293 BAO zugänglich sind, die in einem Auseinanderklaffen des tatsächlichen Willens und der formellen Erklärung ebendieses Willens bestehen. Fehler, die im Rahmen der Willensbildung unterlaufen, sind auch dann nicht berichtigungsfähig iSd §293 BAO, wenn sie als „Rechenfehler“ bezeichnet werden. Eine dennoch vorgenommene Berichtigung ist rechtswidrig und vermittelt trügerische Sicherheit. Es empfiehlt sich, eine Berichtigung stets auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls rechtzeitig Rechtsmittel gegen die ursprüngliche – vermeintlich zu berichtigende – Erledigung zu erheben.

Whistleblowing (von Steuerdaten) im Spannungsfeld zu nationalem Berufsgeheimnisschutz

Anmerkung zur EGMR-Entscheidung Halet

Erst vor Kurzem hat sich der EuGH in der Rs Orde van Vlaamse Balies ua1 mit dem Berufsgeheimnisschutz für Rechtsberater im Allgemeinen und jenem für Rechtsanwälte im Besonderen auseinandergesetzt. Dabei stellte die Große Kammer ausdrücklich fest, dass das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art7 GRC nicht bloß die Verteidigungstätigkeit als solche, sondern auch die Rechtsberatung, „und zwar sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt als auch im Hinblick auf ihre Existenz“,2 schützt. Mitgliedstaatliche oder unionale Maßnahmen, die zu einer Beeinträchtigung der Rechtsberatung führen, indem sie zB den Rechtsberater zur Offenlegung bestimmter klientenbezogener Informationen gegenüber Behörden oder anderen Dritten verpflichten, können demnach grundrechtswidrig sein; damit hat der EuGH den grundrechtlichen Berufsgeheimnisschutz für Rechtsberater innerhalb der Union im Ergebnis deutlich gestärkt.3 Nur rund zwei Monate nach dem wohl für viele überraschenden und wegweisenden Urteil des EuGH veröffentlichte der EGMR – ebenso in Formation der Großen Kammer – seine Entscheidung in der Rs Halet. 4 In dem medial stark begleiteten Fall, der Teil des im Jahr 2014 stattgefundenen LuxLeak-Steuerskandals ist, geht es um einen ehemaligen Arbeitnehmer (Beschwerdeführer) einer international tätigen

1 EuGH 8.12.2022, Orde van Vlaamse Balies ua, C-694/ 20; vgl dazu bereits Riedl, Der Berufsgeheimnisschutz für Rechtsberater im Lichte des EuGH-Urteils Orde van Vlaamse Balies ua, AVR2023, 20 (20ff).

2 EuGH 8.12.2022, Orde van Vlaamse Balies ua, C-694/ 20, Rn27.

3 Riedl, AVR2023, 20 (26ff).

4 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18.

Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungskanzlei, der mehrere der beruflichen Verschwiegenheit unterliegende Dokumente an einen Journalisten weitergegeben hatte und diese sodann öffentlich zugänglich machte. Die Straßburger Richter hatten in diesem Zusammenhang darüber zu entscheiden, ob der Beschwerdeführer als sogenannter „Whistleblower“ durch Art10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) geschützt ist und damit die – angesichts der Weitergabe der infrage stehenden (vertraulichen) Dokumente – nach nationalem (luxemburgischem) Recht verhängte Strafe konventionskonform erging. Im Rahmen dieses Beitrags soll die genannte Entscheidung des EGMR, die dem ersten Anschein nach für den (grundrechtlichen) Berufsgeheimnisschutz für Rechtsberater relativierend wirkt, kritisch untersucht werden, wobei hierzu eingangs das Vorfahren skizziert sowie die wesentlichen Aussagen des Urteils wiedergegeben werden sollen.

1.Überblick

1.1.„Whistleblower“ und deren Schutz durch Art10 EMRK

Der Begriff „Whistleblowing“5 ist seit den Enthüllungen durch Edward Snowden sowie der Panama oder Paradise Papers6 kein neuer mehr und hat unzweifelhaft in der breiten Öffentlichkeit Niederschlag gefunden. Bei einem „Whistleblower“ handelt es sich – simplifiziert ausge-

5 Vgl zum Whistleblowing allgemein auch Pabel, Der grundrechtliche Schutz des Whistleblowing, in Feik/ Winkler, FS Berka (2013) 161 (161ff).

6 Zum Whistleblowing in Steuerangelegenheiten näher Dourado, Whistle-Blowers in Tax Matters: Not Public Enemies, Intertax2018, 422 (422ff).

Berufsgeheimnisschutz 3/2023 128
Berufsgeheimnisschutz
Mario Riedl MSc (WU) BSc LL.B. (WU) ist Steuerberaterberufsanwärter bei Deloitte.

drückt – um eine Person, „die für die Allgemeinheit wichtige Informationen aus einem geheimen oder geschützten Zusammenhang an die Öffentlichkeit (oder an hierfür vorgesehene Stellen) bringt“.7 Typische Missstände, die in der Vergangenheit von Whistleblowern aufgegriffen wurden, sind Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Datenmissbrauch oder auch allgemeine Gefahren, die am Arbeitsplatz oder in anderen Zusammenhängen in Erfahrung gebracht werden.8 Wenngleich in vielen Fällen die Intention des Whistleblowers, etwaige Missstände aufzudecken, gewissermaßen nachvollziehbar erscheint, so ist Whistleblowing aus juristischer Sicht jedenfalls ein riskantes Unterfangen, welches insbesondere straf-, arbeits- sowie disziplinarrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann.9 In der Vergangenheit monierten deshalb mehrere Whistleblower die ihnen durch das Whistleblowing zuteil gewordenen nachteiligen Rechtsfolgen und wandten sich angesichts dessen an den EGMR, der Whistleblowing als Ausübungsform der Meinungsfreiheit und mithin vom Schutzbereich des Art10 EMRK (Freiheit auf Meinungsäußerung) als erfasst sieht.10 Etwaige als Reaktion auf das Whistleblowing ergehende staatliche Maßnahmen (wie zB strafrechtliche Verurteilungen) bewirken demnach einen Eingriff in Art10 EMRK. Eingriffe in die Meinungsfreiheit sind jedoch dann zulässig und konventionskonform, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, einem in Art10 Abs2 EMRK genannten legitimen Ziel dienen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, dh verhältnismäßig, sind.11 Der EGMR definierte in seiner Grundsatzentscheidung Guja, 12 in der er erstmals über den (grundrechtlichen) Schutz eines im öffentlichen Dienst stehenden Whistleblowers durch Art10 EMRK zu entscheiden hatte, explizit folgende sechs Kriterien, an denen zu messen ist, ob der jeweilige Eingriff insgesamt als (un)verhältnismäßig anzusehen ist:13

7 Raschauer, Begriffsabgrenzung, in Gruber/N. Raschauer, Whistleblowing (2015) XV; zur Begriffsdefinition weiters auch Traunwieser , Whistleblowing – Segen oder Fluch? in Gruber/N.Raschauer, Whistleblowing, 1 (3); Redder, Der verfassungsrechtliche Schutz von Whistleblowern (2020) 26ff.

8 Raschauer in Gruber/N.Raschauer, Whistleblowing, XVf; Dourado, Intertax2018, 422 (422).

9 Vgl auch Pabel in Feik/Winkler, FS Berka, 162; vgl zu etwaigen strafrechtlichen Konsequenzen aus österreichischer Sicht Wessely, Whistleblowing und Strafrecht, in Gruber/N.Raschauer, Whistleblowing, 85 (85ff).

10 Hofstätter in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Kommentar zum Bundesverfassungsrecht (Stand 1.1.2021, rdb.at) Art10 EMRK Rz14.

11 Muzak, B-VG6 (2020) Art10 EMRK Rz17; Hofstätter in Kahl/Khakzadeh/Schmid, Bundesverfassungsrecht, Art10 EMRK Rz24f.

12 EGMR 12.2.2008, Guja gg Moldawien, Bsw14277/04.

13 Vgl dazu auch Pabel in Feik/Winkler, FS Berka, 165; Weichselbaum, Whistleblowing – Der Meinungsfreiheit vertrauen und sich trauen? in Bielefeldt ua, Meinungsfreiheit – Qua vadis? Jahrbuch Menschenrechte 2012/ 2013 (2013) 213 (218ff); Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechts konvention (2020) §24 Rz772. Manche dieser Kriterien finden sich auch in der für die Mitgliedstaaten (rechtlich unverbindlichen) Re-

1.die Verfügbarkeit anderer wirksamer Mittel zur Behinderung des Fehlverhaltens als der Gang an die Öffentlichkeit,

2.das öffentliche Interesse an den enthüllten Informationen,

3.die Echtheit der enthüllten Informationen,

4.das Handeln des Whistleblowers in gutem Glauben,

5.der Schaden, den insbesondere der Arbeitgeber erlitten hat, und

6.die Art und Schwere der (verhängten) Sanktion(en).

Gelangt der EGMR nach Abwägung und Berücksichtigung der oben genannten Kriterien zum Schluss, dass der iZm dem Whistleblowing stattfindende Eingriff nicht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt, hat folglich eine Verletzung des Art10 EMRK stattgefunden, was wiederum im Ergebnis zu einer (partiellen) Neutralisierung der vom Whistleblower erlittenen nachteiligen Rechtsfolgen führt. Eine solche Verletzung hat auch die Große Kammer des EGMR – im Gegensatz zu der Entscheidung der 3. Sektion14 – in dem hier interessierenden Fall Halet angenommen, den es im Nachfolgenden aufzuzeigen und näher zu analysieren gilt.15

1.2.Ausgangssachverhalt

Der Beschwerdeführer ist vormaliger Arbeitnehmer einer international tätigen und renommierten Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungskanzlei und war dort mit der Erstellung von Steuererklärungen sowie der Einholung verbindlicher Steuerauskünfte (sogenannter „advance pricing agreements“, kurz: APA) betraut. Im Jahr 2012 kontaktierte der Beschwerdeführer aus eigener Initiative den Journalisten E.P. und überreichte diesem mehrere Dokumente (14 Steuererklärungen sowie zwei Begleitschreiben), die von der nach luxemburgischem Recht geltenden beruflichen Verschwiegenheitspflicht geschützte Informationen enthielten. Diese sowie zahlreiche weitere Unterlagen wurden sodann im Rahmen der sogenannten „LuxLeaks“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Infolge der Weitergabe der besagten Dokumente wurde der Beschwerdeführer – nach Ausschöpfung sämtlicher innerstaatlicher Rechtsmittel – schlussendlich zu einer Geld-

13 solution zum Schutz des Whistleblowings, auf die der EGMR in seiner Rechtsprechung zu Whistleblower oftmals rekurriert; vgl Resolution 1729 on the protection of „whistle-blowers“ (2010), hierzu auch Pabel in Feik/ Winkler, FS Berka, 177. Siehe zu den einzelnen Kriterien auch Redder , Der verfassungsrechtliche Schutz von Whistleblowern, 150ff, 175ff, 185f, 189f, 192f, 201f.

14 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18; vgl zu dieser Entscheidung im Überblick Nikolay/Oswald, Rechtsprechung des EGMR, ecolex2021, 863 (865f).

15 Siehe zum Urteil der Großen Kammer auch Gerdemann, Unrechtmäßige Verurteilung eines Whistleblowers im Lux Leaks-Skandal, AfP2023, 135 (135ff); Fila/Ostermeier, Strafrechtliche Verurteilung eines Whistleblowers als Verletzung der Meinungsfreiheit gemäß Art10 EMRK, CCZ2023, 118 (118ff).

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strafe iHv 1.000€ verurteilt. Anders als der Beschwerdeführer machte dem luxemburgischen Kassationsgericht zufolge ein weiterer ehemaliger Mitarbeiter derselben Kanzlei, der zuvor bereits mehrere Tausende vertrauliche Dokumente dem bereits genannten Journalisten zugespielt hatte, berechtigterweise von seinem Recht auf Meinungsäußerung (Art10 EMRK) Gebrauch und wurde infolgedessen freigesprochen. Dies monierte der Beschwerdeführer, der die Ansicht vertrat, die gegen ihn gerichtete weiterhin aufrecht gebliebene Verurteilung stelle ebenso einen unverhältnismäßigen Eingriff in Art10 EMRK dar. In der nach Abschluss des innerstaatlichen Verfahrens erhobenen Beschwerde an den EGMR wurde deshalb die Verletzung des Art10 EMRK geltend gemacht.

1.3.Entscheidung der 3. Sektion

In der Entscheidung vom 11.5.2021 hält die 3.Sektion des EGMR den Eingriff in Art10 EMRK, der sich in Form der verhängten Strafe zur Leistung eines Geldbetrags manifestiert, unter Zugrundelegung der Guja-Kriterien für insgesamt verhältnismäßig16 und kommt damit zu einem gänzlich anderslautenden Ergebnis als die Große Kammer, die sich dem streitgegenständlichen Fall später erneut annahm.17 Dieses (inhaltliche) Auseinanderklaffen der Entscheidungen der beiden Gremien scheint durchaus beachtlich und gibt Anlass dazu, die unterschiedlich eingenommenen Begründungslinien aufzuzeigen und diese im Rahmen der kritischen Würdigung einer näheren Analyse zuzuführen. Vor diesem Hintergrund soll nachfolgend in einem ersten Schritt das Urteil der 3.Sektion in seinen wesentlichen Eckpunkten wiedergegeben werden.

Zu Beginn ihrer Urteilsbegründung legt die 3.Sektion kursorisch den Schutzbereich sowie den materiellen Gesetzesvorbehalt des Art10 EMRK dar18 und führt in diesem Zusammenhang aus, dass sich nach der Rechtsprechung des EGMR die Meinungsäußerungsfreiheit auch auf die berufliche Sphäre erstreckt.19 Angesichts dessen bewirke die Verurteilung einer Person, die etwaige im Rahmen ihres privatrechtlichen Arbeitsverhältnisses erlangte und der nationalen Verschwiegenheitspflicht unterliegende Dokumente an externe Personen weitergegeben hat, unzweifelhaft einen Eingriff in Art10 EMRK,20 der gesetzmäßig ergangen ist und ein durch Abs2 leg cit vorgegebenes legitimes Ziel verfolgt.21 So-

16 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz112f.

17 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz206f; vgl hierzu näher Pkt2.

18 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz84.

19 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz86.

20 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz86.

21 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz87.

dann wendet sich die 3.Sektion der Frage zu, ob der vorgenommene Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war (Verhältnismäßigkeitsprüfung).22 Hierfür hält es die 3. Sektion anfangs für nützlich, auszumachen, ob der Beschwerdeführer als Whistleblower iSd Vorjudikatur zu qualifizieren ist und, davon abhängig, die Guja-Kriterien zur Anwendung gebracht werden müssen.23 In casu affirmieren die Straßburger Richter den Whistleblower-Status des Beschwerdeführers, insbesondere weil dieser – wie es für Whistleblower-Fälle charakteristisch ist –aufgrund seines Arbeitsverhältnisses einem gewissen Über- und Unterordnungsverhältnis, welches sich in der Pflicht zur Loyalität, Zurückhaltung und Verschwiegenheit ausdrückte, ausgesetzt war.24 Deshalb wendet sich die 3.Sektion im nächsten Schritt den in der Entscheidung Guja aufgestellten Kriterien zu, wobei lediglich das fünfte und sechste Kriterium, mithin der vom Arbeitgeber erlittene Schaden sowie die Art und Schwere der verhängten Sanktion, strittig sind.25 Mit Blick auf das fünfte Kriterium verortet die 3.Sektion eine Grundrechtskollision26 zwischen dem Recht auf Meinungsäußerung des Beschwerdeführers und des Rechts des Arbeitgebers auf Schutz seines guten Rufs.27 Im vorliegenden Fall hätten die nationalen Gerichte im Rahmen des Abwägungsprozesses die – angesichts der Offenlegung der von der Verschwiegenheitspflicht umfassten Dokumente – bewirkte Rufschädigung des Arbeitgebers sowie die Beeinträchtigung des Vertrauensverhältnisses zu etwaigen Klienten schwerwiegender bewertet als das öffentliche Interesse an den offengelegten Informationen.28 Als Begründung hierfür gaben die nationalen Gerichte an, dass die offenbarten Dokumente primär unternehmensbezogene Steuererklärungen betreffen und daher keine Rückschlüsse auf das (fiskalische) Vorgehen der nationalen Steuerverwaltungen gegenüber bestimmten Unternehmen zulassen würden.29 Ferner wäre die Offenlegung der infrage stehenden Dokumente nicht zwingend notwendig gewesen, um auf die –vorwiegend als moralisch verwerflich angesehenen und zum Teil vermeintlich illegalen – Steuerpraktiken der Unternehmen aufmerksam zu machen, zumal auf dieses Thema bereits zuvor durch die Veröffentlichung von mehreren Tausend (vertraulichen) Dokumenten seitens eines

22 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz88ff.

23 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz89.

24 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz91.

25 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz93ff.

26 Siehe zur Thematik der Grundrechtskollision im Allgemeinen Berka/Binder/Kneihs, Die Grundrechte2 (2019) 165f.

27 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz94.

28 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz98.

29 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz105.

Berufsgeheimnisschutz 3/2023 130

anderen (ehemaligen) Arbeitnehmers desselben Unternehmens hingewiesen wurde.30 Aus diesem Grund hätten – so die lokalen Gerichte – die durch den Beschwerdeführer an den besagten Journalisten weitergegebenen Dokumente keine wesentlich neuen oder bisher unbekannten Informationen zutage treten lassen.31 Dem Einwand des Beschwerdeführers, es hätte durch die nationalen Gerichte nur eine vermeintliche Interessenabwägung stattgefunden, konnte die 3. Sektion nichts abgewinnen, hatten sich diese doch den divergierenden Interessen ausführlich angenommen und mit der Rechtsprechung des EGMR auseinandergesetzt.32 Folglich nahm die 3. Sektion davon Abstand, eine eigenständige, die nationalen Gerichtsentscheidungen subsituierende Abwägung der Interessen vorzunehmen.33

Hinsichtlich des sechsten Kriteriums hält die 3.Sektion prägnant fest, dass die nationalen Gerichte den uneigennützigen Charakter des Handelns des Beschwerdeführers entsprechend gewürdigt und berücksichtigt hätten, weswegen eine „relativ geringe Strafe“34 verhängt wurde. Eine solche hat dem EGMR zufolge keine abschreckende Wirkung (sogenannter „chilling effect“) auf andere Arbeitnehmer und kann deshalb als insgesamt milde betrachtet werden. Aufgrund der vorangegangenen Überlegungen hält die 3.Sektion den streitgegenständlichen Eingriff für verhältnismäßig und demgemäß als mit Art10 EMRK vereinbar.35

2.Entscheidung der Großen Kammer

In Reaktion auf die Entscheidung der 3.Sektion beantragte der Beschwerdeführer auf Basis des Art43 EMRK36 die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer, die diesem Begehren noch im Jahr 2021 stattgab.37 In der Folge nahm sich die Große Kammer der Causa an und stellte Anfang 2023 einen unverhältnismäßigen Eingriff fest, der mangels Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu einem Verstoß gegen Art10 EMRK führte. Besondere Brisanz verleiht dieser Entscheidung nicht nur die Tatsache, dass die 3.Sektion noch zu einem anderslautenden Ergebnis gekommen war, sondern auch der Um-

30 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz105.

31 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz105, 109.

32 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz99, 106.

33 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz106, 110.

34 Übersetzung durch den Autor; vgl die authentische Sprachfassung „relatively modest fine“, EGMR (3. Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz111.

35 EGMR (3.Sektion) 11.5.2021, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz112f.

36 Vgl zu dieser Bestimmung im Überblick Schaffrin in Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar3 (2022) Art43 Rz1ff. Ausführlich Czech in Kneihs/Lienbacher, RillSchäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (17.Lfg) Art43 Rz1ff.

37 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz5.

stand, dass dem Antrag auf Verweisung an die Große Kammer durch den hierfür zuständigen Ausschuss überhaupt stattgegeben wurde.38 Denn im Allgemeinen sollen sich Verweisungen nach Art43 EMRK auf wirkliche Ausnahmefälle beschränken, was sich auch an den geringen Erfolgsquoten einer Stattgabe solcher Anträge zeigt.39 Schon allein deshalb kann das vorliegende Urteil der Großen Kammer als richtungsweisend und für zukünftige (Gerichts-)Entscheidungen prägend eingestuft werden.40

Einleitend stellt die Große Kammer – im Einklang mit den Ausführungen der 3.Sektion –einen Eingriff in Art10 EMRK fest, der gesetzlich vorgesehen ist und zumindest eines der in Abs2 leg cit statuierten legitimen Ziele, in concreto den Schutz des guten Rufs (des Arbeitgebers), verfolgt.41 Sodann wendet sich der EGMR der Frage zu, ob der streitgegenständliche Eingriff verhältnismäßig ist, und hält es für diesen Zweck erforderlich, vorab allgemeine Bemerkungen zur Meinungsäußerungsfreiheit im beruflichen Kontext zu treffen.42 In diesem Zusammenhang wird der in der vorangegangenen Judikatur herausgebildete besondere Schutz der Meinungsäußerung iSd Art10 EMRK für Personen, die in Verstoß gegen die für sie geltenden Regelungen im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses erlangte Informationen publik machen, unterstrichen. Ob und in welchem Ausmaß sogenannten Whistleblowern43 ein grundrechtlicher Schutz zugestanden wird, ist an den in der aus dem Jahr 2008 stammenden Entscheidung Guja entwickelten (sechs) Kriterien44 zu messen.45 Der Großen Kammer sind allerdings die seit der letztgenannten Entscheidung stattgefundenen Entwicklungen hinsichtlich der zunehmenden Bedeutung von Whistleblowern in einer demokratischen Gesellschaft sowie der Erlassung eines Europäischen und internationalen rechtlichen Rahmens für deren Schutz durchaus bewusst.46 In der Konsequenz hält sie es für angemessen, die zugrunde liegende Rechtssache zum Anlass zu nehmen, die in der Vorjudikatur her-

38 So auch Gerdemann, AfP2023, 135 (135).

39 Vgl hierzu Czech in Kneihs/Lienbacher, Rill-SchäfferKommentar (17.Lfg) Rz2 und 11; weiters Pabel, Die Rolle der Großen Kammer des EGMR bei Überprüfung von Kammer-Urteilen im Lichte der bisherigen Praxis, EuGRZ2006, 3 (3ff); Schmaltz , Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte –eine Annäherung an Abgabe- und Verweisungspraxis, EuGRZ2012, 606 (606ff).

40 So auch Gerdemann, AfP2023, 135 (135).

41 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz108.

42 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz109ff.

43 Dieser Terminologie hatte sich der Gerichtshof – wie er selbst einräumt – bis dahin nicht ausdrücklich bedient, vgl EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz112.

44 Vgl zu den einzelnen Kriterien bereits Pkt1.1.

45 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz112ff.

46 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz120.

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ausgebildeten Grundsätze zum (grundrechtlichen) Schutz von Whistleblowern zu bestätigen und zu festigen. Gleichzeitig ergreift die Große Kammer aber auch die Chance, zwei der sechs Guja-Kriterien47 auf abstrakter Ebene zu konkretisieren.48 Angesichts dieser vorgenommenen Präzisierung und zur Berücksichtigung etwaiger Besonderheiten des zugrunde liegenden Falls, die weitere Klarstellungen erfordern würden, entscheiden sich die Straßburger Richter, die Guja-Kriterien selbständig auf den vorliegenden Sachverhalt anzuwenden.49 Damit nimmt die Große Kammer im Ergebnis – im Vergleich zur 3.Sektion, die sich lediglich darauf beschränkte, zu überprüfen, ob die nationalen Gerichte eine im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung ausgewogene Abwägung der widerstreitenden Interessen vornahmen50 – die Rolle als Kontrollinstanz (sogenannte „supervisory jurisdiction“) ein.51

Nach wie vor unstrittig vor der Großen Kammer ist das (erste) Kriterium, wonach sich der Beschwerdeführer eines externen Kanals zur Enthüllung der betreffenden Informationen, in concreto der Weitergabe der Dokumente an den Journalisten E.P., bediente. Denn die vollzogenen Steueroptimierungspraktiken zugunsten der betreffenden Unternehmen sowie die Anfertigung etwaiger Steuererklärungen für diese durch den Arbeitgeber des Beschwerdeführers würden jedenfalls im Bereich des Legalen stattfinden.52 Angesichts der mangelnden Rechtswidrigkeit der (zuvor genannten) Praktiken und Tätigkeiten, die durchaus zum gewöhnlichen Geschäft des Arbeitgebers zählen, wäre ein etwaiger Versuch des Beschwerdeführers, diese auf unternehmensinternem Wege zu melden und zu monieren, nicht rechtfertigbar.53 In solchen Fällen wäre die unmittelbare Nutzung externer Berichterstattungskanäle als akzeptabel anzusehen.54 Aber auch am Vorliegen des (zweiten und dritten) Kriteriums, wonach die Authentizität der weitergeleiteten 14 Steuererklärungen sowie zwei Begleitschreiben gegeben war und der Beschwerdeführer weder aus Profit-Zwecken noch aus schädigender Absicht tätig wurde und demnach in gutem Glauben gehandelt hat, besteht nach dem EGMR – im Ein-

47 „Vereinfeinert“ werden insbesondere das Kriterium des öffentlichen Interesses an den enthüllten Informationen sowie jenes des erlittenen Schadens (des Arbeitgebers), dazu auch Gerdemann, AfP2023, 135 (136).

48 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz120, 131 bis148.

49 EGMR (Große Kammer) 14. 2. 2023, Halet gg Luxemburg, Bsw 21884/18, Rz158, 170ff.

50 EGMR (3. Sektion) 11. 5. 2021, Halet gg Luxemburg, Bsw 21884/18, Rz106ff.

51 Zum EGMR als Kontrollinstanz näher Pabel in Feik/ Winkler, FS Berka, 168ff.

52 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz171.

53 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz171f.

54 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz172.

klang mit den Feststellungen im innerstaatlichen Verfahren – kein Zweifel.55

Nach diesen Erwägungen widmet sich die Große Kammer ausführlich der Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an den enthüllten Informationen und den damit zusammenhängenden nachteiligen Wirkungen auf andere.56 In diesem Zusammenhang hält sie einleitend fest, dass im Rahmen des Abwägungsprozesses insbesondere auch die Hintergründe für die Enthüllung der betreffenden Informationen zu berücksichtigen sind.57 Wie die nationalen Gerichte erwogen haben, hätten die vom Beschwerdeführer weitergegebenen Dokumente zwar die Ergebnisse des Journalisten E.P. bestätigt, allerdings seien durch diese keine wesentlich neuen oder bisher unbekannten Informationen enthüllt worden, die zur Diskussion über „tax evasion“ beigetragen hätten.58 In Anbetracht dieses Umstands haben die nationalen Gerichte konklusiv den durch den Arbeitgeber erlittenen Schaden als gewichtiger beurteilt als das öffentliche Interesse an den offengelegten Informationen.59 Wie die Große Kammer aber diesbezüglich ergänzt, kann dem öffentlichen Interesse nicht nur im Fall einer etwaigen Enthüllung von wesentlich neuen oder bisher unbekannten Informationen gedient werden, sondern auch, wenn Enthüllungen rezente Ereignisse oder eine bereits laufende Debatte betreffen.60 Die bloße Tatsache, dass im konkreten Fall bereits eine öffentliche Debatte über diverse Steueroptimierungspraktiken in Luxemburg geführt worden war, schließt daher nicht automatisch die Möglichkeit aus, die durch den Beschwerdeführer offengelegten Informationen als dem öffentlichen Interesse dienend anzusehen.61 Infolge dieser Feststellungen untersucht die Große Kammer weiters, ob an den im zugrunde liegenden Fall enthüllten Informationen auch tatsächlich ein öffentliches Interesse bestand.62 Dies wurde mit Verweis auf die rechtliche Beurteilung der nationalen Gerichte ohne Zweifel bejaht, zumal sämtliche Enthüllungen, also jene des Beschwerdeführers sowie des anderen vormaligen Arbeitnehmers desselben Unternehmens, zu einer öffentlichen Debatte innerhalb Luxemburgs sowie auf europäischer Ebene führten. Dem Grunde nach besteht ein öffentliches Interesse an den Enthüllungen. Uneinigkeit besteht jedoch dahingehend, welches Maß

55 EGMR (Große Kammer) 14. 2. 2023, Halet gg Luxemburg, Bsw 21884/18, Rz 173, 174.

56 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz175ff.

57 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz180.

58 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz182.

59 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz35, 182.

60 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz184.

61 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz184.

62 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz185ff.

Berufsgeheimnisschutz 3/2023 132

an Relevanz den veröffentlichen Informationen beigemessen wird.63 Im Gegensatz zu den Feststellungen des nationalen Gerichts, das den durch den Beschwerdeführer enthüllten Informationen geringe Relevanz zuschrieb, ist es der Großen Kammer zufolge manchmal notwendig, auf bestimmte Missstände mehrmals aufmerksam zu machen, damit sich Behörden diesen effektiv annehmen oder um die Gesellschaft als solche zum Umdenken zu bewegen.64 Aus diesem Grund vermag – so der EGMR – der Umstand, wonach die Thematik rund um „tax avoidance“ und „tax optimisation“ in Luxemburg bereits öffentlich diskutiert wurde, nicht die Relevanz der betreffenden Enthüllungen durch den Beschwerdeführer zu reduzieren.65

Auch wenn die offenbarten Steuererklärungen keine konkreten Rückschlüsse auf etwaige (schädliche) Steuerpraktiken zulassen würden, so sind dem EGMR nach die betroffenen Steuererklärungen jedenfalls als relevante Information zu qualifizieren, die die deklarierten Gewinne der Unternehmen und die (fiskalpolitischen) Entscheidungen der luxemburgischen Steuerbehörden sowie deren Implikationen auf die Steuergerechtigkeit zutage treten lassen.66

Nachdem der EGMR die offengelegten Dokumente als eine für das öffentliche Interesse relevante Information beurteilt hatte, befasst er sich mit den durch die Enthüllung verursachten Nachteilen.67 Dabei entschließt sich der Gerichtshof, dieses Kriterium insofern zu erweitern, als nicht nur – wie bisher in seiner Rechtsprechung –die vom Arbeitgeber erlittenen Schäden zu berücksichtigen sind, sondern sämtliche nachteilige Wirkungen, die aus dem Whistleblowing resultieren.68 Wie auch die nationalen Gerichte befunden haben, hat – so die Große Kammer – der Arbeitgeber nicht nur einen potenziellen finanziellen Nachteil erlitten, sondern es ist auch sein Ruf und das Vertrauensverhältnis zu Klienten, die auf die Geheimhaltung ihrer Daten vertraut haben, geschädigt worden.69 Ferner gilt es nicht außer Acht zu lassen, dass die enthüllten Informationen erst nach missbräuchlicher Wegnahme aus der Arbeitgebersphäre dem Journalisten E.P. übermittelt werden konnten; insofern bestehe auch hinsichtlich des vorliegenden (Daten-)Diebstahls ein öffentliches Interesse an einer wirksamen Strafrechtsverfolgung.70 Überdies war der Be-

63 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz186.

64 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz187.

65 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz187.

66 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz190ff.

67 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz193ff.

68 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz193.

69 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz194.

70 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz197.

schwerdeführer nicht nur an arbeitsvertragliche Treuepflichten, sondern auch an berufsrechtliche Verschwiegenheitspflichten gebunden. In diesem Zusammenhang betont der EGMR:

„The preservation of professional secrecy is undeniably in the public interest, in so far as its aim is to ensure the credibility of certain professions by fostering a relationship of trust between professionals and their clients. It is also a principle of public policy, breach of which may be punishable under criminal law.“71

Nach all diesen Überlegungen gelangt die Große Kammer hinsichtlich der Interessensabwägung zu folgendem Ergebnis:

„In the light of its findings [...] as to the importance, at both national and European level, of the public debate on the tax practices of multinational companies, to which the information disclosed by the applicant has made an essential contribution, the Court considers that the public interest in the disclosure of that information outweighs all of the detrimental effects.“72

Im Hinblick auf das letzte Kriterium, in concreto die Art und Schwere der verhängten Sanktion, halten die Straßburger Richter die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers zur Leistung einer Geldstrafe iHv 1.000€ für nicht verhältnismäßig, insbesondere weil diese einen abschreckenden Effekt auf die Meinungsäußerungsfreiheit anderer Whistleblower haben kann.73 Unter Berücksichtigung sämtlicher Guja-Kriterien und der zuvor angestellten Überlegungen hält die Große Kammer schlussfolgernd den streitgegenständlichen Eingriff für unverhältnismäßig, der sich damit als Verletzung des Art10 EMRK erweist.

3.Kritische Würdigung der Entscheidung

3.1.Allgemeine Anmerkung

Das vorliegende Urteil der Großen Kammer enthält zum Teil klare und interessante Präzisierungen hinsichtlich des Schutzes von Whistleblowern durch Art10 EMRK, wirft allerdings auch Folgefragen auf und lässt Unschärfen erkennen. Positiv hervorzuheben ist – ungeachtet der Beurteilung des Ergebnisses – die vom EGMR angelegte Prüfungsdichte. Die Große Kammer setzt sich eingehend mit den vorgebrachten Argumenten auseinander und repliziert hierauf an unterschiedlichen Stellen. Ferner sind die betreffend das Verhältnis der in der Entscheidung Guja aufgestellten Kriterien zueinander getätigten Ausführungen zu begrüßen. So wird klarge-

71 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz197.

72 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz202.

73 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz204f.

Berufsgeheimnisschutz 3/2023 133

stellt, dass zwischen den Guja-Kriterien keine Hierarchie besteht; vielmehr gelten diese als allgemeine Bewertungsmaßstäbe, die eine spezifische (Prüfungs-)Rangfolge nicht erforderlich machen.74 Aufgrund ihrer gegenseitigen Abhängigkeit ist aber erst nach einer Gesamtabwägung sämtlicher Kriterien zu entscheiden, ob der jeweilige Eingriff im Lichte des Art10 EMRK (un)verhältnismäßig ist.75 Insgesamt scheint die Große Kammer in der hier dargelegten Entscheidung bemüht, die Voraussetzungen, unter denen ein Whistleblower vom Schutz des Grundrechts auf Meinungsäußerung profitiert, gewissenhaft festzulegen und damit eine erhöhte Rechtssicherheit zu erzielen, was sich auch am Umfang des Urteils erkenntlich zeigt. Dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil die vorliegende Thematik aus unterschiedlichen Gesichtspunkten besonders sensibel scheint und der EGMR somit ein etwaiges Akzeptanzproblem gegenüber den Mitgliedstaaten zu vermeiden versucht.76

3.2.Zum öffentlichen Interesse an den enthüllten Informationen

Im Rahmen der abstrakten Wiedergabe der Guja-Kriterien konzentrierte sich die Große Kammer insbesondere auf das öffentliche Interesse an den enthüllten Informationen. Dieses Kriterium scheint für die Straßburger Richter von außerordentlicher Bedeutung gewesen zu sein und wurde insofern entsprechend ausführlich behandelt.

Näher betrachtet werden sollen in diesem Zusammenhang die Ausführungen zu jenen (drei) Fallgruppen an Informationen, die – wie die Große Kammer festhält – im öffentlichen Interesse iSd Art10 EMRK gelegen sein können. Hinsichtlich der ersten zwei Fallgruppen rekurriert das Straßburger Gericht auf seine bisherige Rechtsprechung und führt aus:

„[T]he range of information of public interest which may justify whistle-blowing that is covered by Article 10 includes the reporting by an employee of unlawful acts, practices or conduct in the workplace, or of acts, practices or conduct which, although legal, are reprehensible.“77

Neu hinzugekommen ist dahingegen die dritte Fallgruppe, mit der eine deutlichen Ausweitung des Kriteriums des öffentlichen Interesses ein-

74 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz170; ebenso Fila/Ostermeier , CCZ2023, 118 (122). Zum Rangverhältnis der unterschiedlichen Kriterien zueinander auch Redder, Der verfassungsrechtliche Schutz von Whistleblowern, 209f.

75 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz170.

76 Vgl zum Akzeptanzproblem im Fall des EGMR als Superrevisionsinstanz ebenso Pabel in Feik/Winkler, FS Berka, 170f; im Ansatz auch Berka, Whistleblowing und Öffentliches Recht, in Gruber/N.Raschauer, Whistleblowing, 37 (47).

77 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz137.

hergeht.78 So heißt es diesbezüglich in der darauffolgenden Randziffer der Entscheidung:

„In the Court’s view, this could also apply, as appropriate, to certain information that concerns the functioning of public authorities in a democratic society and sparks a public debate, giving rise to controversy likely to create a legitimate interest on the public’s part in having knowledge of the information in order to reach an informed opinion as to whether or not it reveals harm to the public interest.“79

Im Ergebnis kann demnach ein öffentliches Interesse an Informationen bestehen, die ein „rechtswidriges Verhalten“, ein „verwerfliches, aber nicht rechtswidriges Verhalten“ aufzeigen, oder die –wie in der zugrunde liegenden Entscheidung nun dargelegt wurde – „das Funktionieren öffentlicher Stellen in einer demokratischen Gesellschaft betreffen und die eine öffentliche Debatte auslösen“. 80

Im nächsten Schritt nimmt die Große Kammer aber unmittelbar zur Relevanz der zuvor beschriebenen Informationen, an denen ein öffentliches Interesse iSd Art10 EMRK bestehen kann, Stellung, indem statuiert wird:

„Indeed, the Court deems it useful to note that the weight of the public interest in the disclosed information will vary depending on the situations encountered. […] In the Court’s view, information concerning unlawful acts or practices is undeniably of particularly strong public interest […]. Information concerning acts, practices or conduct which, while not unlawful in themselves, are nonetheless reprehensible or controversial may also be particularly important.“81

Das öffentliche Interesse und die Relevanz der Enthüllungen ist – so der EGMR – zudem nicht nur aus Sicht eines Staates, sondern aus supranationaler Perspektive zu analysieren.82

Im Folgenden gilt es diese (abstrakten) Ausführungen im Lichte des zugrunde liegenden Sachverhalts und die in Ergänzung zum konkreten Fall vom EGMR getroffenen Feststellungen näher zu beleuchten. Wie bereits in Pkt2. erläutert, bestand gemäß den nationalen Gerichten sowie dem EGMR an den vom Beschwerdeführer enthüllten Informationen dem Grunde nach ein öffentliches Interesse.83 Einer solchen Interpretation ist – mit Blick auf die bisherige EGMRRechtsprechung – zuzustimmen. Zu bemängeln ist allerdings die von der Großen Kammer ge-

78 Vgl dazu auch Fila/Ostermeier, CCZ2023, 118 (122).

79 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz138.

80 Übersetzung durch den Autor; siehe ebenso Fila/Ostermeier, CCZ2023, 118 (122); dazu weiters auch Gerdemann, AfP2023, 135 (136f).

81 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz140, 141.

82 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz143.

83 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz185.

Berufsgeheimnisschutz 3/2023 134

troffene Feststellung, wonach den offenbarten 14 Steuererklärungen (sowie zwei Begleitschreiben) eine gewichtige Relevanz zukommt.84 Dies unterscheidet sich zu den Erwägungen der nationalen Gerichte, denen zufolge die durch den Beschwerdeführer primär offenbarten Steuererklärungen weder einen Zusammenhang mit (legalen) Steueroptimierungspraktiken erkennen ließen noch diese zur Debatte über „tax evasion“ beigetragen hätten.85 Eben aus diesem Grund wurde seitens der nationalen Gerichte den zugrunde liegenden Enthüllungen lediglich eine geringe Relevanz zugesprochen.

Die Große Kammer schloss sich dieser Ansicht aber nicht an, sondern führt – iSd oben aufgezeigten abstrakten Ausführungen – aus, dass die (erhöhte) Relevanz der streitgegenständlichen offenbarten Informationen nicht durch die in Luxemburg bereits in Gang gesetzte Debatte über „tax avoidance“ und „tax optimisation“ beeinträchtigt werden könne.86 Sodann fährt der EGMR mit einigen – zugegebenermaßen diffusen – Feststellungen fort, die eine solch erhöhte Relevanz der Enthüllungen weiters unterstreichen sollten. So hätten die offenbarten Steuererklärungen die von den luxemburgischen Steuerbehörden und von bekannten multinationalen Unternehmen angewendeten Steuerpraktiken, durch die das Steuersubstrat anderer Staaten minimiert worden wäre, zutage treten lassen.87 Aber auch hätten sie einen „frischen Einblick“ hinsichtlich der Debatte über Steuervermeidung, Steuerbefreiung und Steuerhinterziehung/Steuerbetrug gegeben, indem Informationen veröffentlicht wurden, die die deklarierten Gewinne der betreffenden Unternehmen zeigen und etwaige in Luxemburg getroffene politische Entscheidungen hinsichtlich der Besteuerung von Unternehmen ersichtlich machen.88

84 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz186ff.

85 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz35, 182.

86 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz187.

87 Vgl hierzu die authentische Sprachfassung: „Thus, […] the disclosure of those two types of document nevertheless contributed, in the present case, to building up a picture of the taxation practices in force in Luxembourg, their impact at European level and the tax strategies put in place by renowned multinational companies in order artificially to shift profits to low-tax countries and, in so doing, to erode the tax bases of other States […]“, EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz188.

88 Vgl hierzu wieder die authentische Sprachfassung: „In those circumstances, the Court considers that the impugned information was not only apt to be regarded as ‚alarming or scandalous‘, as the Court of Appeal held, but also provided fresh insight, the importance of which should not be minimised in the context of a debate on ‚tax avoidance, tax exemption and tax evasion‘ […], by making available information about the amount of profits declared by the multinational companies in question, the political choices made in Luxembourg with regard to corporate taxation, and their implications in terms of tax fairness and justice, at European level“, EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/ 18, Rz189.

An diesen Ausführungen der Großen Kammer, wodurch die erhöhte Relevanz der enthüllten Steuererklärungen dargelegt werden sollte, gilt es Kritik zu üben: Denn Steuererklärungen geben nicht direkten Aufschluss über etwaige vermeintlich angewendete Steuerpraktiken (seien diese legal oder illegal), sondern bilden lediglich das Ergebnis steuerlicher Entscheidungen ab. Dabei lässt sich für Außenstehende nur schwer bis kaum erkennen, ob und in welcher Weise die darin veranschlagten Beträge im Einklang mit den Abgabevorschriften eines Staates deklariert wurden. Dies gilt umso mehr für im Bereich des Steuerrechts nicht bewanderte Personen. Auch der EGMR erkennt diese Tatsache, klingt dabei aber dezisionistisch, wenn er statuiert:

„Although the complex legal and financial structures on which tax optimisation practices are based are difficult for non-specialists […], the scope of tax returns which, as the Court of Appeal indicated, provide information on a company’s financial situation and assets […] is, on the other hand, much easier to grasp. Since they also concerned multinational companies known to the general public, those tax returns were highly illustrative of the tax practices in force in Luxembourg and the tax choices of the companies benefiting from those practices. Any taxpayer subject to tax is able to understand a document such as a tax return.“89

Wenngleich der Großen Kammer dabei zuzustimmen ist, dass Steuererklärungen – je nach Rechtsordnung zum Teil auch verpflichtend –die Finanz- und Vermögenslage eines Unternehmens, die sich wohlgemerkt grundsätzlich ebenso anhand der Bilanz eruieren lässt, (partiell) abbilden, so erscheint es doch schier unmöglich, auf Basis einer solch bloßen Erklärung auf das steuerliche Wohlverhalten und die Steuermoral eines Unternehmens zu schließen.

Beigepflichtet werden kann der Großen Kammer, wenn sie meint, sämtliche der offenbarten 14 Steuererklärungen (sowie der zwei Begleitschreiben) haben zur Steuertransparenz beitragen.90 Weniger überzeugend ist dahingegen die undifferenzierte Position, die die Straßburger Richter im Hinblick auf die veröffentlichten Unterlagen einnehmen: Wie sich nämlich den Feststellungen der nationalen Gerichte entnehmen lässt, wurden lediglich zwei Steuererklärungen in den Kontext (illegaler) Steuerhinterziehung/(ille-

89 EGMR (Große Kammer) 14. 2. 2023, Halet gg Luxemburg, Bsw 21884/18, Rz 190, 191.

90 Vgl EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz 191, wo erwogen wird: „Thus, the documents disclosed by the applicant contributed to the transparency of the tax practices of multinational companies seeking to benefit from locations where the tax system is most advantageous and could, in that sense, help the public to form an informed opinion on a subject which is of great technical complexity, such as corporate taxation, but which relates to important economic and social issues.“

Berufsgeheimnisschutz 3/2023 135

galen) Steuerbetrugs gestellt.91 Alle übrigen wurden von den nationalen Gerichten im Kontext (legaler) Steuerpraktiken gesehen, die zum Zeitpunkt der Weitergabe der streitgegenständlichen Unterlagen an den Journalisten E.P. bereits bekannt waren.92 Eine solche Differenzierung, die auch Auswirkung auf die Beurteilung des Grads an Relevanz haben kann, lässt die Entscheidung der Großen Kammer aber vermissen. Vielmehr werden die Thematiken (illegale) Steuerhinterziehung/(illegaler) Steuerbetrug sowie (legale) Steuerpraktiken miteinander vermengt und sämtliche Ausführungen für alle enthüllten Unterlagen undifferenziert für gültig erklärt. In diesem Zusammenhang lässt die Entscheidung die wesentliche Tatsache, dass in der Vergangenheit seitens der EU zahlreiche Regulatorien zur Erhöhung der Steuertransparenz eingeführt wurden (wie zB die DAC693 oder das öffentliche Country-by-Country-Reporting94), gänzlich unberücksichtigt. Vermeintlich aggressive (legale) Steuergestaltungen sowie zahlreiche weitere Steuerdaten sind demnach mittlerweile ohnehin den Behörden/der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wodurch die von der Großen Kammer angenommene erhöhte Relevanz weiter in Zweifel gezogen werden kann.

Auch der Umstand, wonach zahlreiche Schlagwörter und brisante Begrifflichkeiten eingesetzt werden, ist frappierend und lässt den Anschein entstehen, etwaige Zweifel an der Signifikanz der enthüllten Dokumente sollten restlos ausgeräumt werden. So sind an unterschiedlichen Stellen auszugsweise die Wortfolgen „tax avoidance“, „tax exemption“, „tax evasion“, „tax

91 Vgl EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz35, in der die Ausführungen des nationalen Berufungsgerichts wiedergegeben werden: „The documents removed by […] Halet were used by [the journalist] E.P. as part of the second Cash Investigation programme, which focused on tax evasion and the ‘billions we are missing’, […]. This programme was divided into three parts: [...] the second part concerned tax evasion by three multinational companies which have subsidiaries in France: [...] To illustrate the tax evasion practiced by these multinational companies, which were the focus of the report, the tax returns of companies A. and A.M. were displayed as examples.“

92 Vgl ebenso EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz35, wo es heißt: „In the light of the number of documents that had been misappropriated the previous year, and the transmission of the Cash Investigation programme, there was no compelling reason for […] Halet to commit a fresh violation of the law by appropriating and disclosing confidential documents, especially as the fourteen tax returns in question revealed nothing new about the practice of ATAs, their quantity or the tax optimisation technique.“

93 Richtlinie (EU) 2018/822 des Rates vom 25.5.2018 zur Änderung der Richtlinie 2011/16/EU bezüglich des verpflichtenden automatischen Informationsaustauschs im Bereich der Besteuerung über meldepflichtige grenzüberschreitende Gestaltungen, ABlL139 vom 5.6.2018, S1.

94 Richtlinie (EU) 2021/2101 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.11.2021 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Offenlegung von Ertragsteuerinformationen durch bestimmte Unternehmen und Zweigniederlassungen, ABlL429 vom 1.12.2021, S1.

fairness“, „tax justice“, „tax transparency“, „tax practices“, „tax strategies such as profit shifting“ und „tax optimisation“ zu finden, ohne diese ansatzweise einer näheren Analyse zuzuführen oder deren Bedeutung zu umreißen. Gesamthaft betrachtet wirkt die vorliegende Entscheidung demnach durchaus ergebnisorientiert und vermittelt – mit Blick auf die im Rahmen dieses Kriteriums getroffenen apodiktisch anmutenden Aussagen – den Eindruck, den Grad an Relevanz der enthüllten Informationen keinesfalls unterminieren lassen zu wollen.

3.3.Zum Schutz nationaler Berufsgeheimnisse als widerstreitendes Interesse

Im Rahmen des Abwägungsprozesses stellte die Große Kammer das öffentliche Interesse an den enthüllten Dokumenten sämtlichen entgegenstehenden Interessen gegenüber.95 Als solch ein Interesse wurden die hier zu diskutierenden nach nationalem (luxemburgischem) Recht bestehenden berufsspezifischen Verschwiegenheitspflichten, an die der Beschwerdeführer gebunden war und wogegen er aufgrund der Weitergabe der Unterlagen verstoßen hatte, ausgemacht.96 Wie der EGMR schlussendlich aber erwog, mussten sämtliche angesichts des Whistleblowings entstandene nachteilige Wirkungen, wie ua die Beeinträchtigung des besagten nationalen Berufsgeheimnisses, hinter das öffentliche Interesse an den Enthüllungen zurücktreten, was den Schluss zulassen könnte, der ansonst in der Rechtsprechung des Gerichtshofs stark ausgeprägte (grundrechtliche) Berufsgeheimnisschutz (für Rechtsberater) wurde dadurch graduell abgewertet. Um hierzu allgemeingültige Aussagen treffen zu können, gilt es vorweg auf die berufsrechtlichen Besonderheiten, die sich im luxemburgischen Recht finden und die im vorliegenden Fall einschlägig waren, einzugehen.

Wie sich der Entscheidung entnehmen lässt, sind gemäß den in Luxemburg geltenden nationalen Vorschriften etwaige Informationen, die im Rahmen steuerberatender Tätigkeiten erlangt werden, grundsätzlich vom Berufsgeheimnis der Buchhalter/Wirtschaftsprüfer umfasst, sofern –wie dies beim Beschwerdeführer der Fall war –der jeweilige Arbeitnehmer auch dem regulatorisch geregelten Beruf des Buchhalters/Wirtschaftsprüfers unterfällt.97 Ein eigenes Regelwerk wie in Österreich, das Steuerberater als regulierte Berufsgruppe gesondert anerkennt und das ex-

95 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz193ff.

96 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz196ff.

97 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz29, 86; vgl zu den berufsrechtlichen Vorschriften hinsichtlich steuerberatender Tätigkeiten in Luxemburg auch CFE, European Professional Affairs Handbook for Tax Advisers – Part I2 (2013) 5, 29; CFE, European Professional Affairs Handbook for Tax Advisers – Part II2 (2013) 199ff.

Berufsgeheimnisschutz 3/2023 136

plizite Vorschriften hinsichtlich des Berufsgeheimnisschutzes für diese vorsieht,98 existiert demnach in Luxemburg nicht.99 Dieser Umstand ist – wie die nachfolgenden Überlegungen zeigen werden – für das Gewicht, das dem Rechtsgut „Berufsgeheimnis“ vor dem EGMR als widerstreitendes Interesse zum Whistleblowing zugesprochen wird, nicht unbeachtlich.

Fraglich ist dabei, wie der Abwägungsprozess der Interessen und demgemäß das Ergebnis der Entscheidung ausgesehen hätte, hätte es sich beim Beschwerdeführer, der als Whistleblower iSd EGMR-Rechtsprechung agierte, um einen Rechtsanwalt, die zumindest innerhalb der EUMitgliedstaaten dem Grunde nach einheitlich einen privilegierten Status genießen,100 gehandelt. Denn der EGMR spricht dem Vertrauensverhältnis zwischen Rechtsanwalt und den Klienten erhöhten Schutz zu, indem er zB in der prominenten Entscheidung Michaud101 im Lichte des Rechts auf Privatsphäre (Art8 EMRK) wegweisend festhält:102

„It has pointed out in this connection that, by virtue of Article 8, correspondence between a lawyer and his client, whatever its purpose […], enjoys privileged status where confidentiality is concerned […]. It has also said that it ‚attaches particular weight‘ to the risk of impingement on the lawyer’s right to professional secrecy, ‚since it may have repercussions on the proper administration of justice‘ […] and professional secrecy is the basis of the relationship of confidence between lawyer and client. […] This is justified by the fact that lawyers are assigned a fundamental role in a democratic society, that of defending litigants. Yet lawyers cannot carry out this essential task if they are unable to guarantee to those they are defending that their exchanges will remain confidential. It is the relationship of trust between them, essential to the accomplishment of that mission, that is at stake.“

Der EGMR hat damit – im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung – die fundamentale Bedeutung von Rechtsanwälten für einen funktionierenden demokratischen Rechtsstaat eindeutig dargelegt.

Wenngleich die aufgezeigte Rs Michaud zu Art8 EMRK erging, ist wohl davon auszugehen, dass diese Ausführungen bei der Beurteilung des grundrechtlichen Schutzes eines Whistleblowers, der als (arbeitnehmender) Rechtsanwalt tätig ist

98 Vgl §80 WTBG 2017 (BGBlI 2017/137).

99 Hierzu auch CFE, European Professional Affairs2, 199ff.

100 Dazu auch Riedl, AVR2023, 20 (27).

101 EGMR 6.12.2012, Michaud gg Frankreich, Bsw12323/ 11, Rz117, 118; vgl zu dieser Entscheidung ebenso Holzinger/Paefgen, Rechtsprechungsübersicht EGMR, ecolex2013, 287 (290); Thienel, Rechtsprechung des EGMR 2012, ÖJZ2013, 654 (661); Lanser, Das anwaltliche Berufsgeheimnis: Der Schutz der Vertrauenssphäre zwischen Anwalt und Mandant in der Rechtsprechung des EGMR (2020) 64.

102 Vgl zum Fallrecht des EGMR in Bezug auf den grundrechtlichen Schutz des (rechtsanwaltlichen) Berufsgeheimnisses umfassend Lanser, Das anwaltliche Berufsgeheimnis, 1ff.

oder war, durch Art10 EMRK im Allgemeinen und hierbei im Rahmen des Kriteriums der nachteiligen Wirkungen auf andere im Besonderen gebührend zu berücksichtigen sind. Im konkreten Fall erübrigte sich freilich eine solche Berücksichtigung der iZm Rechtsanwälten getroffenen Erwägungen, handelte es sich beim Beschwerdeführer schließlich um eine Person, die als Buchhalter/ Wirtschaftsprüfer iSd luxemburgischen Rechts agierte. Damit zeigt sich aber gleichzeitig, dass für das Gewicht des (nationalen) Berufsgeheimnisses als widerstreitendes Interesse zum Whistleblowing wohl unterschiedliche Maßstäbe gelten: Während in Whistleblowing-Fällen, in denen etwaige enthüllte (Klienten-)Informationen aus der Sphäre eines Rechtsanwalts stammen, ein – angesichts des besonderen Vertrauensverhältnisses zum Klienten iSd oben aufgezeigten Judikatur des EGMR – strengerer Maßstab gelten wird, wird dieser umso geringer sein, als es sich – wie im zugrunde liegenden Fall – um Nicht-Rechtsanwälte handelt. Diese These wird dadurch gestützt, dass die Große Kammer im Rahmen ihrer Ausführungen zum öffentlichen Interesse an der Wahrung nationaler Berufsgeheimnisse auch nicht auf die im Jahr 2019 erlassene Whistleblower-RL103 einging,104 obwohl diese zu Beginn als einschlägige Rechtsgrundlage angeführt wurde. Diese Richtlinie soll Whistleblower innerhalb der EU zur Aufdeckung von bestimmten Missständen ermutigen und vor Repressalien schützen, gelangt allerdings nicht auf Informationen zur Anwendung, die vom „Schutz der anwaltlichen Verschwiegenheitspflichten“ (Art3 Abs3 litb WhistleblowerRL) umfasst sind. Möglicherweise hat die Große Kammer in casu angesichts des Umstands, dass der Beschwerdeführer als Buchhalter/Wirtschaftsprüfer und nicht als Rechtsanwalt tätig war, bewusst davon abgesehen, auf die zuvor genannte Ausnahme des (sachlichen) Anwendungsbereichs, die ebenso die besondere Bedeutung des rechtsanwaltlichen Berufsgeheimnisses erkennen lässt, Bezug zu nehmen.

Aus österreichischer Perspektive unklar ist ferner, wie ein ähnlich gelagerter Fall vom EGMR entschieden werden würde, wenn es sich bei dem Whistleblower um einen Steuerberater iSd WTBG 2017 handelt. Steuerberater befinden sich nämlich – zumindest aus innerstaatlicher Sicht – in einer mit Rechtsanwälten iSd RAO105

103 Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, ABlL305 vom 26.11.2019, S17; hierzu im Überblick Hansch , Whistleblowing-Richtlinie EU 2019/1937: Neue Compliance-Anforderungen für Unternehmen (Teil I), DSB2020, 175 (175ff); Hansch, Whistleblowing-Richtlinie EU 2019/1937: Neue Compliance-Anforderungen für Unternehmen (TeilII), DSB2020, 266 (266ff); Teichmann/Weber, Die Whistleblowing-Richtlinie, ihr Missbrauchspotential und Implikationen für Compliance-Beauftragte, CB2022, 157 (157ff).

104 EGMR (Große Kammer) 14.2.2023, Halet gg Luxemburg, Bsw21884/18, Rz197, 198.

105 RGBl 1868/96.

Berufsgeheimnisschutz 3/2023 137

durchaus vergleichbaren Stellung.106 Ob und in welchem Umfang daher die in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichts zu Rechtsanwälten getroffenen Feststellungen hinsichtlich des privilegierten Schutzes des Vertrauensverhältnisses auf (österreichische) Steuerberater übertragbar sind, wurde vom EGMR bis dato noch nicht beantwortet und bleibt insofern offen.107

Auf den Punkt gebracht

Das im Rahmen dieses Beitrags besprochene Urteil der Großen Kammer des EGMR bestätigt und konkretisiert (partiell) die in der Entscheidung Guja aufgestellten Kriterien, an denen im Allgemeinen der Schutz von Whistleblowern, den Art10 EMRK verlangt, zu messen ist. Wenngleich die Ausführungen des Straßburger Gerichts interessante und klärende Aspekte zutage treten lassen, wirkt die Entscheidungsfindung gewissermaßen ergebnisorientiert. Dies wird an den Erläuterungen zur erhöhten Relevanz der enthüllten Steuererklärungen besonders deutlich. Bemerkenswert scheint zudem, dass sämtliche mit dem Whistleblowing verbundene nachteilige Wirkungen hinter das öffentliche Interesse an den Enthüllungen zurücktreten mussten, darunter auch der nationale Berufsgeheimnisschutz. Anhand der Entscheidung konnte allerdings gezeigt werden, dass dieser die Berufsgruppe der (nach luxemburgischem Recht tätigen) Buchhalter/Wirtschaftsprüfer und nicht – wie sonst so häufig vor dem EGMR streitgegenständlich – jenen der Rechtsanwälte betraf. Vermutlich hat der EGMR aus diesem

106 Vgl zB OGH 20.1.2000, 6Ob 304/99w; in diese Richtung implizit auch VfGH 3.12.1984, G24/83, G50/83, G51/83, G52/83, G89/83, G107/84, VfSlg10.291/ 1984.

107 Hierzu auch Sendke, Die Bedeutung der Unionsgrundrechte im harmonisierten Steuerrecht – zugleich Anmerkung zum Urteil des EuGH v. 8.12.2022 – C-694/ 20, ISR2023, 11 (18); Riedl, AVR2023, 20 (27).

Veranstaltungshinweis

Grund den im Vergleich zu Rechtsanwälten ansonsten stark (grundrechtlich) ausgeprägten Schutz des nationalen Berufsgeheimnisses als weniger gewichtiges Gegeninteresse angesehen. Für vergleichbare Whistleblowing-Fälle, in denen etwaige enthüllte (Klienten-)Informationen aus der Sphäre eines Rechtsanwalts stammen, könnte demnach ein anderer (strengerer) Maßstab gelten. Ein solcher verstärkter Schutz von klientenbezogenen Informationen, die in der Sphäre eines Rechtsberaters (wie insbesondere Rechtsanwälte, und aus österreichischer Sicht auch Steuerberater) angesiedelt sind, erscheint schon aus rechtsstaatlichen Gründen geboten. Denn damit der Rechtsberater die Interessen des Klienten effektiv wahrnehmen kann, bedarf es eines ungehinderten Informationsaustauschs, der wiederum einen entsprechenden Geheimhaltungsschutz von etwaigen (Klienten-)Daten voraussetzt. Nur wenn der Rechtsberater einen solch ausreichenden Geheimhaltungsschutz gewährleisten kann, wird er seiner rechtsstaatlichen Funktion als Organ der Rechtspflege gerecht werden können.108 Der grundrechtliche Schutz von Whistleblowern nach Art10 EMRK, wie er in der vorliegenden Entscheidung dargelegt wurde, weist damit auch rechtsstaatliche Implikationen auf. Insgesamt erweist sich das zugrunde liegende Urteil des EGMR ohne Zweifel als richtungsweisend, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Große Kammer dem (bereits durch die 3.Sektion entschiedenen) Fall auf Basis des Art43 EMRK erneut annahm und damit schon der Ausnahmefallcharakter dieser Rechtssache zum Ausdruck kommt.

Der Autor dankt Herrn DDr. Patrick Weninger, LL.M. und Herrn Markus Mittendorfer, LL.M. (WU) herzlich für die Diskussion, die wertvollen Anregungen und die Durchsicht des Manuskripts.

108 Vgl zur rechtsstaatlichen Bedeutung von Rechtsberatern auch Riedl, Der Rechtsberater und seine Hilfskräfte als Zeugen im Abgabenverfahren, AVR2022, 169 (173).

27. Finanzstrafrechtliche Tagung am 21. 9. 2023

Die hochkarätige Fachtagung widmet sich unter dem Thema „Die gehörige Sorgfalt im (Finanz-)Strafrecht“ den folgenden Schwerpunkten:

 Von der Regel zum Standard – Diffuses Strafrecht

 Fahrlässigkeit – grobe Fahrlässigkeit – Vorsatz im Finanzstrafrecht

 Sorgfaltsmaßstab bei Digitalisierung der Steuerfunktionen

 Die hinterzogene Abgabe in der Rechtsprechung des VwGH

 Business Judgement Rule im Wirtschaftsstrafrecht

 Anforderungen an den Anfangsverdacht bei Einleitung von Finanzstrafverfahren und Wirtschaftsstrafverfahren

Die Tagung bieten wir auch dieses Jahr wieder als Hybridveranstaltung an und freuen uns über Ihre Teilnahme im LENTOS Kunstmuseum Linz oder online. Details sowie Informationen zur Tagungsgebühr finden Sie unter: leitnerleitner.com.

Anmeldung: meeting.leitner@leitnerleitner.com.

Berufsgeheimnisschutz 3/2023 138

Update aus der Verwaltungspraxis

Richtlinien zur Zuständigkeit der Finanzämter – ZustRL-Wartungserlass 2023

Erlass des BMF vom 27. 2. 2023, 2023-0.126.849, BMF-AV 2023/35.

Durch diesen Erlass erfolgen die seit Erlassung notwendig gewordenen Anpassungen aufgrund von gesetzlichen Änderungen, höchstgerichtlicher Judikatur sowie Klarstellungen und formale Korrekturen.

EStR-Wartungserlass 2023

Erlass des BMF vom 31. 3. 2023, 2023-0.039.376, BMF-AV 2023/47.

Durch diesen Erlass erfolgt die Anpassung der EStR 2000 insbesondere aufgrund der Änderungen durch diverse seit 2021 veröffentlichte Gesetze und Verordnungen.

Erlass zur Akteneinsicht gemäß § 90 BAO

Erlass des BMF vom 17. 4. 2023, 2023-0.291.356, BMF-AV 2023/48.

Der Erlass behandelt umfassend das Thema Akteneinsicht gemäß §90 BAO. Es werden die Voraussetzungen für deren Gewährung, die Gründe für ihre Versagung, der Umfang und der Gegenstand der Akteneinsicht sowie Ausnahmen von der Akteneinsicht näher dargestellt.

Bereinigung

Erlass des BMF vom 14. 6. 2023, 2023-0.418.865, BMF-AV 2023/71.

Der Erlass des BMF vom 17.2.1999, Auslegungsfragen zum DBA Deutschland; Ergebnisprotokoll vom 29.1.1999, 04 1482/13-IV/4/99, AÖF 1999/62, wird aufgehoben.

Erlass betreffend Zinsanpassung bei Stundungs-, Anspruchs-, Aussetzungs- Beschwerde- und Umsatzsteuerzinsen

Erlass des BMF vom 16. 6. 2023, 2023-0.433.685, BMF-AV 2023/72.

Die Höhe der Stundungs-, Aussetzungs-, Anspruchs- Beschwerde- und Umsatzsteuerzinsen ist vom jeweils geltenden Basiszinssatz abhängig (§§212 Abs2, 212a Abs9, 205 Abs2, 205a Abs4, 205c Abs5 BAO).

Dieser Erlass ersetzt den Erlass des BMF vom 13. 3. 2023, 2023-0.192.676.

Konsultationsvereinbarung mit Belgien betreffend Ansässigkeitsbestätigungen

Erlass des BMF vom 21. 6. 2023, 2023-0.451.130, BMF-AV 2023/75

Die Konsultationsvereinbarung betrifft die Beweisführung für die Ansässigkeit von Personen in Belgien und Österreich iSd Art4 Abkommen zwischen Österreich und Belgien. Sie gilt im Verfahren zur Entlastung an der Quelle bzw zur Rückerstattung von belgischen und österreichischen Quellensteuern nach innerstaatlichem Recht.

Besteuerung von Geschäftsführerbezügen gemäß Art 15 DBA Japan

EAS-Auskunft 3444 des BMF vom 5. 6. 2023, 2022-0.764.830.

Begründet eine in Japan ansässige natürliche Person, deren Lebensmittelpunkt in Japan bleibt, in Österreich temporär einen Wohnsitz und baut sie hier als unselbständig tätiger, nicht beteiligter Geschäftsführer den Betrieb einer österreichischen GmbH auf, während sie weiterhin als nicht beteiligter Managing Director eines in Japan ansässigen Unternehmens unselbständig tätig ist, stellt sich die Frage, ob Österreich ein Besteuerungsrecht an den Bezügen aus den beiden Dienstverhältnissen zusteht.

Infolge der Begründung des Wohnsitzes in Österreich wird die Person unbeschränkt steuerpflichtig. Aus zwischenstaatlicher Sicht ist die Person gemäß Art4 Abs2 lita DBA Japan aufgrund des Mittel-

Update aus der Verwaltungspraxis 3/2023 139
Update aus der Verwaltungspraxis
Wirksamkeit ab Basiszinssatz Stundungszinsen Aussetzungszinsen Anspruchszinsen Beschwerdezinsen Umsatzsteuerzinsen 8. 2. 2023 2,38 % 4,38 % 4,38 % 4,38 % 4,38 % 4,38 % 22. 3. 2023 2,88 % 4,88 % 4,88 % 4,88 % 4,88 % 4,88 % 21. 6. 2023 3,38 % 5,38 % 5,38 % 5,38 % 5,38 % 5,38 %

punkts der Lebensinteressen weiterhin in Japan ansässig. Die Bezüge aus den Tätigkeiten als Geschäftsführer und Managing Director sind als Einkünfte aus einer nichtselbständigen Tätigkeit iSd §25 Abs1 Z1 lita EStG einzustufen (zur Einordnung von Geschäftsführerbezügen aus innerstaatlicher Sicht siehe im Detail EAS3431).

Die Bezüge aus der Tätigkeit als Geschäftsführer der österreichischen Gesellschaft sind als Aufsichtsrats- und Verwaltungsratsvergütungen iSd Art15 DBA Japan einzustufen, da dieser – abweichend von Art16 OECD-MA – auch den Aufsichtsrats- oder Verwaltungsratsvergütungen „ähnliche Zahlungen“ erfasst und in Z3 des Protokolls zum DBA Japan festgelegt wurde, „dass sich Artikel15 des Abkommens auf die in diesem Artikel genannten Zahlungen bezieht, unabhängig davon, ob ein Mitglied des Aufsichts- oder Verwaltungsrats oder eines ähnlichen Organs einer Gesellschaft eine Aufsichtstätigkeit oder eine leitende Tätigkeit ausübt“. Hierdurch soll dem japanischen Verständnis der Bestimmung gefolgt werden, demgemäß auch leitende Funktionen von Art15 DBA Japan erfasst sein sollen (siehe ErlRV6 BlgNR 26.GP). Infolgedessen sind die Einkünfte in Österreich als Ansässigkeitsstaat der Gesellschaft steuerpflichtig. Japan hat gemäß Art 23 Abs2 DBA Japan die in Österreich erhobene Steuer anzurechnen.

Grundsätzlich wären auch die Bezüge aus der Tätigkeit als Managing Director des japanischen Unternehmens von Art15 DBA Japan erfasst, allerdings fehlt es in diesem Fall an der Voraussetzung einer in einem anderen Staat ansässigen Gesellschaft, da sowohl die Person als auch die Gesellschaft in Japan ansässig sind. Daher sind diese Bezüge als Einkünfte aus unselbständiger Tätigkeit iSd Art14 DBA Japan einzustufen. Sofern die Tätigkeit in Österreich ausgeübt wird, dürfen die Vergütungen ebenfalls in Österreich besteuert werden, es sei denn, die Person hält sich hier nicht länger als 183Tage auf (Art14 Abs2 lita DBA Japan). Dementsprechend sind die Bezüge – je nachdem – nur in Japan als Ansässigkeitsstaat der Person steuerpflichtig bzw müsste Japan eine in Österreich erhobene Steuer anrechnen.

Automatischer Informationsaustausch über Finanzkonten nach §91 GMSG –Liste der teilnehmenden Staaten

Info des BMF vom 21. 6. 2023, 2023-0.415.373.

Diese BMF-Info listet alle Staaten und Territorien auf, welche für den Meldezeitraum 2023 zwecks automatischen Austausches von Informationen über Finanzkonten als teilnehmende Staaten nach §91 GMSG gelten, und führt darüber hinaus jene Staaten und Territorien an, für die im Kalenderjahr 2023 Informationen gemäß §4 GMSG an das zuständige Finanzamt übermittelt werden müssen. Die Info des BMF vom 24.5.2022, 2022-0.381.507, wird aufgehoben und durch diese Information ersetzt.

Als teilnehmende Staaten gelten einerseits sämtliche Mitgliedstaaten der Europäischen Union (§ 91 Z 1 GMSG; vgl Richtlinie 2011/16/EU idF Richtlinie 2014/107/EU), andererseits Staaten und Territorien, die in § 1 der Verordnung des Bundesministers für Finanzen zu § 91 Z 2 GMSG über die Liste der teilnehmenden Staaten, BGBl II 2013/164, angeführt sind (§ 91 Z 2 GMSG), sowie jene Staaten und Territorien, mit denen die EU gesonderte Abkommen über den Austausch von Informationen über Finanzkonten abgeschlossen hat und die in einer von der Europäischen Kommission veröffentlichten Liste angeführt sind (§ 91 Z 3 GMSG).

Zwecks automatischen Austausches von Informationen über Finanzkonten gelten im Kalenderjahr 2022 folgende Staaten und Territorien als teilnehmende Staaten nach §91 GMSG (Änderungen ab 1.5.2023 fett):

Albanien, Andorra, Anguilla, Antigua und Barbuda, Argentinien, Aruba, Aserbaidschan, Australien, Bahamas, Bahrain, Barbados, Belgien, Belize, Bermuda, Brasilien, Britische Jungferninseln, Brunei Darussalam, Bulgarien, Cayman Islands, Chile, China, Cook Inseln, Costa Rica, Curaçao, Dominica, Ecuador, Dänemark, Deutschland, Estland, Färöer Inseln, Finnland, Frankreich (einschließlich Französisch-Guayana, Guadeloupe, Martinique, Mayotte, Réunion, Sankt Bartholomäus und St.Martin), Georgien, Ghana, Gibraltar, Grenada, Griechenland, Grönland, Guernsey, Hongkong, Indien, Indonesien, Irland, Island, Israel, Isle of Man, Italien, Jamaika, Japan, Jersey, Kanada, Kasachstan, Katar, Kenia, Kolumbien, Korea (Republik), Kroatien, Kuwait, Lettland, Libanon, Liberia, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Macau, Malaysia, Malediven, Malta, Marokko, Marshall-Inseln, Mauritius, Mexiko, Moldau, Monaco, Montenegro, Montserrat, Nauru, Neukaledonien, Neuseeland, Niederlande (einschließlich Bonaire, Saba und Sint Eustacius), Nigeria, Niue, Norwegen, Oman, Pakistan, Panama, Peru, Polen, Portugal, Rumänien, Russland (mit Stand vom 23.3.2022 ist der Informationsaustausch mit Russland aufgrund der Amtshilfekonvention suspendiert), Saint Kitts und Nevis, Saint Lucia, Saint Vincent und die Grenadinen, Samoa, San Marino, Saudi Arabien, Schweden, Schweiz, Seychellen, Singapur, Sint Maarten, Slowakei, Slowenien, Spanien (einschließlich Kanarische Inseln), Südafrika, Thailand, Tschechische Republik, Türkei, Turks und Caicos Inseln, Uganda, Ukraine, Ungarn, Uruguay, Vanuatu, Vereinigte Arabische Emirate, Vereinigtes Königreich und Zypern.

Update aus der Verwaltungspraxis 3/2023 140

§9 WTBG 2017

Rechtsprechung

AVR 2023/6

Widerruf der Steuerberater-Berufsbefugnis: Verurteilung auch eines ausländischen Gerichts beachtlich

VwGH 21. 2. 2023, Ra 2019/04/0114

[B]ei der Beurteilung einer möglichen Gefährdung der ordnungsgemäßen Berufsausübung [eines Wirtschaftstreuhänders steht] die jeweils konkrete Tathandlung im Vordergrund und nicht, ob die Verurteilung durch ein inländisches oder ausländisches Gericht erfolgte.

Sachverhalt: Der Revisionswerber, ein zur selbständiger Berufsausübung berechtigter Steuerberater, wurde im Jahr 2015 mit Urteil des LG München wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von eineinhalb Jahren verurteilt. Nach den Feststellungen des LG München hat der Revisionswerber mitgewirkt, Zahlungen an den früher verurteilten Dr.G zu vereinnahmen und zu verwalten, mit dem Ziel, diese Zahlungen in der deutschen Steuererklärung des Dr.G nicht offenzulegen. Im Urteil des LG München wurde nicht festgestellt, dass die in der Steuererklärung des Dr.G nicht erklärten Zahlungen aus kriminellen Handlungen herrühren würden.

Mit Bescheid vom 17.1.2019 widerrief die Kammer der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer (KSW) gemäß §8 Abs1 Z2 iVm §9 Abs1 litc iVm §11 Abs1 WTBG 2017 (kein Vorliegen der erforderlichen „besonderen Vertrauenswürdigkeit“ aufgrund einer rechtskräftigen Verurteilung eines Gerichts wegen eines Finanzvergehens) die Berechtigung des Revisionswerber zur selbständigen Ausübung des Steuerberaterberufs.

Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das LVwG Salzburg mit Erkenntnis vom 1.9.2019 als unbegründet ab. Der dem Urteil des LG München zugrunde liegende Sachverhalt sei auch in Österreich rechtlich relevant. Das gegenständliche Strafurteil sei daher mit einer inländischen Verurteilung gleichzustellen. Mangels Vertrauenswürdigkeit aufgrund einer gerichtlichen Verurteilung sei die erteilte Berechtigung zur selbständigen Ausübung des Wirtschaftstreuhandberufes Steuerberater zu widerrufen, weshalb sich die Beschwerde als unbegründet erweise.

Gegen das Erkenntnis des LVwG Salzburg erhob der Revisionswerber außerordentliche Revision.

Rechtliche Beurteilung: Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit ua vor, es fehle Rechtsprechung des VwGH zur Frage, ob und inwieweit eine strafrechtliche Verurteilung im Ausland bei der Auslegung der besonderen Vertrauenswürdigkeit nach §9 Z1 WTBG 2017 überhaupt zu berücksichtigen sei. Selbst wenn dies zutreffe, stelle sich die Frage, ob eine ausländische Verurteilung nach §9 Z1 WTBG 2017 auch dann vergleichbar mit einer inländischen Verurteilung sei, wenn inländische Behörden (Finanzamt Salzburg, Staatsanwaltschaft Wien) denselben Sachverhalt, der im Ausland zu der Verurteilung geführt habe, anders dahingehend beurteilen würden, dass es im Inland zu

keiner strafrechtlichen Verurteilung gekommen wäre. […]

Die Revision ist zulässig. Sie erweist sich aus nachstehenden Erwägungen jedoch als nicht begründet. […]

Für eine Einbeziehung auch ausländischer Verurteilungen spricht – neben dem offenen Wortlaut der Bestimmung – […], dass die Ausübung eines Wirtschaftstreuhandberufes (wie im Übrigen jede Art von Treuhandschaft) besonderes Vertrauen der Klienten bzw Treugeber in eine korrekte, gesetzeskonforme Ausübung des Berufes bzw der Treuhandschaft voraussetzt (vgl dazu bereits VwGH 14.9.2001, 2000/02/0090).

Der VwGH hat in diesem Zusammenhang auch ausgesprochen, dass es bei der Beurteilung der Gefährdung der „ordnungsgemäßen Berufsausübung“ eines Wirtschaftstreuhänders auf die jeweilige konkrete Tathandlung ankommt und nur solche Tathandlungen, die in Beziehung zur ausgeübten Tätigkeit als Wirtschaftstreuhänder stehen, geeignet sind, die ordnungsgemäße Berufsausübung gefährdet erscheinen zu lassen (vgl erneut VwGH 14.9.2001, 2000/02/0090). Demnach steht bei der Beurteilung einer möglichen Gefährdung der ordnungsgemäßen Berufsausübung die jeweils konkrete Tathandlung im Vordergrund und nicht, ob die Verurteilung durch ein inländisches oder ausländisches Gericht erfolgte. […]

Die Revision bringt weiter vor, dass auch bei Anwendung des §9 Z1 WTBG 2017 ausländische gerichtliche Verurteilungen nicht schrankenlos, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen inländischen gerichtlichen Verurteilungen gleichzuhalten seien. Das Verwaltungsgericht habe sich jedoch nicht damit auseinandergesetzt, ob die ausländische Verurteilung des Revisionswerbers vergleichbar mit einer inländischen Verurteilung sei. Das LG München habe den Revisionswerber wegen einer Tat schuldig gesprochen, die nach österreichischem Recht nicht gerichtlich strafbar sei. Der OGH habe nämlich ausgesprochen, dass eine – wie die Revision entgegen dem Verwaltungsgericht ausdrücklich annimmt, vorliegend gegebene – kriminelle Geldbeschaffung (durch Veruntreuung oder Untreue) keine für Zwecke des §33 FinStrG erforderliche Abgabenverkürzung im Sinn von Einkünften aus Berufstätigkeit iSd EStG begründe. Die Vergleichbarkeit sei im Fall des Urteils des LG München darüber hinaus auch deshalb nicht gegeben, weil die Verurteilung hier nach einer Rechtsvorschrift erfolgt sei, die zwar mit einer auch in Österreich bestehenden Rechtsvorschrift vergleichbar sei, aber eine um fünfmal höhere Strafdrohung vorsehe.

Rechtsprechung 3/2023 141
Rechtsprechung
Florian Fiala, LL.M. (WU) ist Steuerberaterberufsanwärter bei Deloitte in Wien.

Das Verwaltungsgericht sei iZm der Frage der Vergleichbarkeit aber nur ansatzweise auf das (vom Revisionswerber in seiner Beschwerde erwähnte) Erkenntnis VwGH 23.5.2007, 2005/ 04/0196, eingegangen und habe dies damit begründet, dass eine Prüfung der Vergleichbarkeit nur vorzunehmen wäre, wenn die Einkünfte aus krimineller Geldbeschaffung stammten, was aber gegenständlich – nach den Feststellungen des LG München – nicht der Fall sei.

Der VwGH hat in dem von der Revision genannten Erkenntnis VwGH 2005/04/0196, ausgesprochen, dass ein „vergleichbarer Tatbestand“ iSd §13 Abs1 letzter Satz GewO 1994 nur dann gegeben ist, wenn die im Ausland erfolgte Verurteilung den Rechtsbrecher wegen einer Tat schuldig gesprochen hat, die auch nach österreichischem Recht gerichtlich strafbar ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die gesetzlichen Tatbestände oder Qualifikationen nach österreichischem und ausländischem Recht decken; vielmehr ist darauf abzustellen, ob der der ausländischen Verurteilung zugrunde liegende Sachverhalt im Inland zu einer Verurteilung, wenn auch wegen einer anderen strafbaren Handlung, hätte führen müssen. §13 Abs1 letzter Satz GewO 1994 ordnet an, dass die in §13 Abs1 leg cit getroffenen Bestimmungen betreffend den Ausschluss von der Gewerbeausübung auch gelten, wenn mit den angeführten Ausschlussgründen „vergleichbare Tatbestände im Ausland verwirklicht wurden“.

Das (zu §13 GewO 1994 ergangene) Erkenntnis VwGH 2005/04/0196 erweist sich im vorliegenden Fall jedoch als nicht einschlägig, weil §9 WTBG 2017 – anders als §13 Abs1 GewO 1994 – keine derartige Prüfung der Vergleichbarkeit verlangt (dass die Verurteilung durch das LG München in einem den Grundsätzen des Art6 EMRK entsprechenden Verfahren ergangen ist, wird nicht bestritten). Hinzu kommt, dass sich die Regelungstechnik des §9 WTBG 2017 von jener des §13 Abs1 GewO 1994 grundlegend unterscheidet. Während §13 Abs1 GewO 1994 konkrete Straftatbestände nennt (zB organisierte Schwarzarbeit [§153e StGB] oder betrügerische Krida [§156 StGB]), enthält §9 WTBG 2017 eine abstraktere Umschreibung der einschlägigen Tathandlungen (zB gerichtliche Verurteilung „wegen eines Finanzvergehens“). Dieser Unterschied spricht ebenfalls dagegen, die zu §13 Abs1 GewO 1994 ergangene Rechtsprechung und ihre Vorgabe zur Prüfung der Vergleichbarkeit auf §9 WTBG 2017 zu übertragen.

Damit ist aber auch der diesbezüglichen Rüge des Revisionswerbers, wonach das Verwaltungsgericht sich mit der Frage der Vergleichbarkeit nicht auseinandergesetzt habe bzw die Vergleichbarkeit im vorliegenden Fall nicht gegeben sei, der Boden entzogen.

Aus den dargelegten Gründen war die Revision gemäß §42 Abs1 VwGG abzuweisen.

Aussetzung der Einhebung bei mittelbarer Abhängigkeit

VwGH 29. 3. 2023, Ra 2021/15/0110

In verfassungskonformer Interpretation ist […] davon auszugehen, dass §212a BAO die Aussetzung der Einhebung des Streitgegenstands des Hauptverfahrens (Beschwerde gegen den Abgabenbescheid) auch für die Zeit ermöglicht, während der in einem Nebenverfahren geprüft wird, ob die Voraussetzungen einer Beschwerde vorliegen.

Sachverhalt: Nachdem eine Beschwerde gegen Umsatz- und Einkommensteuerbescheide als verspätet zurückgewiesen worden war, beantragte die mitbeteiligte Partei am 25.11.2019 die Wiedereinsetzung (§308 BAO) in die Beschwerdefrist und die Aussetzung der Einhebung (§212a BAO) der strittigen Abgaben, die mittelbar von der Erledigung der dem Antrag auf Wiedereinsetzung zugrunde liegenden Beschwerde gegen die ESt- und USt-Bescheide abhängen würden.

Das Finanzamt wies beide Anträge ab, woraufhin die mitbeteiligte Partei am 17.2.2020 Beschwerde gegen die Abweisung des Wiedereinsetzungsantrags erhob und am 5.5.2021 einen neuerlichen Aussetzungsantrag einbrachte. Begehrt wurde die Aussetzung bis zur Entscheidung über die Beschwerde vom 17.2.2020, da die Höhe der Abgabe mittelbar von der Erledigung dieser, gegen die Abweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung erhobenen, Beschwerde abhängen würde. Das Finanzamt wies die Beschwerde gegen die Abweisung des Wiedereinsetzungsantrags als auch den neuerlichen Aussetzungsantrag ab, woraufhin die mitbeteiligte Partei die Vorlage an das BFG beantragte.

Das BFG gab der Beschwerde gegen die Abweisung des Aussetzungsantrags statt und bewilligte die Aussetzung der Einhebung. Das Beschwerdeverfahren betreffend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betreffe mittelbar die Höhe der von der Einhebung bedrohten Abgaben. Es könne aus dem Antrag auf Wiedereinsetzung auch nicht ohne Weiteres geschlossen werden, dass dieses Beschwerdeverfahren wenig Aussicht auf Erfolg iSd §212a Abs2 lita BAO habe. Die Aussetzung sei daher zu bewilligen.

Das Finanzamt erhob Amtsrevision und brachte zur Zulässigkeit vor, es fehle an Rechtsprechung zur Frage, ob mit einer Beschwerde gegen die Abweisung eines Wiedereinsetzungsantrags ein Aussetzungsantrag verbunden werden könne, wenn das Ziel der Verfahrens eine Minimierung von Abgabenforderungen sei. Überdies fehle Rechtsprechung zur Frage, ob bei der Prüfung eines Aussetzungsantrags iZm einem Beschwerdeverfahren gegen die Abweisung eines Wiedereinsetzungsantrags die Prüfung der Erfolgsaussicht (§212a Abs2 lita BAO) nur auf Ebene des Wiedereinsetzungsverfahrens (oder auch auf Ebene der Beschwerde gegen die Sachbescheide) zu erfolgen habe.

Rechtliche Beurteilung: Die Revision ist zulässig und begründet. […]

Durch das Rechtsinstitut der Aussetzung der Einhebung soll sichergestellt werden, dass Rechtsschutzsuchende nicht generell einseitig mit allen Folgen einer potenziell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung bis zur endgültigen

Rechtsprechung 3/2023 142
§§212a, 308 BAO AVR 2023/7

Erledigung des Rechtsmittels belastet werden. Es verlangt nämlich das rechtsstaatliche Prinzip, dass der Beschwerde ein bestimmtes Mindestmaß an faktischer Effizienz zukommt (vgl VwGH 17.12.1998, 97/15/0085, mit Hinweis auf VfGH 11.12.1986, G119/86).

In verfassungskonformer Interpretation ist daher davon auszugehen, dass §212a BAO die Aussetzung der Einhebung des Streitgegenstands des Hauptverfahrens (Beschwerde gegen den Abgabenbescheid) auch für die Zeit ermöglicht, während der in einem Nebenverfahren geprüft wird, ob die Voraussetzungen einer Beschwerde vorliegen. Wird iZm der Beschwerde gegen einen Bescheid, der die den Gegenstand des Hauptverfahrens bildende Beschwerde ohne eine meritorische Entscheidung abschließend erledigt, der Antrag auf Aussetzung nach §212a BAO gestellt, so sind die Voraussetzungen für die Aussetzung unter Mitberücksichtigung der Gegebenheiten des Hauptverfahrens zu prüfen (vgl ein weiteres Mal VwGH 17.12.1998, 97/15/0085).

Das BFG sprach im Revisionsfall über einen Aussetzungsantrag ab, der mit der Beschwerde gegen die Abweisung eines Wiedereinsetzungsantrags verbunden war. Die mitbeteiligte Partei hat die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist für den Antrag auf Entscheidung über die Bescheidbeschwerde hinsichtlich Umsatz- und Einkommensteuer durch das Verwaltungsgericht beantragt. Die Höhe dieser Abgaben hängt somit „mittelbar“ von der Erledigung der Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung ab. Daher stößt es auf keine vom VwGH aufzugreifenden Bedenken, wenn das BFG die Aussetzung der Einhebung für zulässig erachtet hat.

Zu beachten ist allerdings, dass die Aussetzung der Einhebung gemäß §212a Abs2 lita BAO nicht zu bewilligen ist, soweit die Beschwerde nach Lage des Falles wenig erfolgversprechend erscheint. Wird iZm der Beschwerde gegen einen Bescheid, der die den Gegenstand des Hauptverfahrens bildende Beschwerde ohne eine meritorische Entscheidung abschließend erledigt, der Antrag auf Aussetzung nach §212a BAO gestellt, so sind die Voraussetzungen für die Aussetzung unter Mitberücksichtigung der Gegebenheiten des Hauptverfahrens zu prüfen (vgl VwGH 17.12.1998, 97/15/0085).

Dies hat das BFG versäumt und es unterlassen, anhand des Beschwerdevorbringens – unter Mitberücksichtigung der Gegebenheiten des Hauptverfahrens – die Erfolgsaussichten der Beschwerde zu beurteilen und allenfalls dazu erforderliche (ergänzende) Sachverhaltsfeststellungen zu treffen (vgl VwGH 31.1.2018, Ro2016/ 15/0020; 16.5.2002, 2000/13/0100, mwN).

Das angefochtene Erkenntnis des BFG war daher in seinem Spruchteil1, mit dem dem Antrag auf Aussetzung der Einhebung vom 5.5.2020 stattgegeben und die Aussetzung der Einhebung […] bewilligt wurde, gemäß §42 Abs2 Z1 VwGG wegen prävalierender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Anmerkung

Die Aussetzung der Einhebung nach §212a Abs1 BAO setzt an zwei Tatbestandselementen „unmittelbare oder mittelbare“ Abhängigkeit voraus: Zum einen muss Gegenstand der Aussetzung eine Abgabennachforderung sein, die „unmittelbar oder mittelbar“ auf einen Bescheid, der von einem Anbringen abweicht (oder auf einen Bescheid, dem kein Anbringen zugrunde liegt), zurückzuführen ist. Hier geht es um den „Ursprung“ der Nachforderung: Mittelbare Abhängigkeit liegt etwa vor, wenn die Grundlage der Nachforderung in einem nicht erklärungsgemäßen Feststellungsbescheid liegt; unmittelbare Abhängigkeit liegt dann vor, wenn die Nachforderung „direkt“ auf einen nicht erklärungsgemäßen Abgabenbescheid zurückzuführen ist. Eine Aussetzung setzt aber auch voraus, dass die Einhebung „unmittelbar oder mittelbar“ von der Erledigung „einer Bescheidbeschwerde“ abhängt. Hier geht es demnach um die Auswirkungen eines bestimmten Beschwerdeverfahrens auf die Abgabeneinhebung. Unmittelbare Abhängigkeit in diesem Sinn liegt etwa bei einer Beschwerde gegen einen Abgabenbescheid vor; mittelbare Abhängigkeit bei einer Beschwerde gegen einen Feststellungsbescheid, dessen Änderung „mittelbar“ Auswirkungen auf einen abgeleiteten Abgabebescheid und damit auf die Abgabeneinhebung hat (vgl zB Ritz/Koran, BAO7 [2021] §212a Rz7). Verfahrensrechtliche Konstellationen wie im gegenständlichen Fall geben Anlass dazu, sich gründlicher damit zu befassen, wann eine (un)mittelbare Abhängigkeit iSd §212a Abs1 BAO vorliegt, und insbesondere auch zu untersuchen, „von welcher“ Beschwerde iSd §212a Abs1 BAO – so mehrere Beschwerden auf unterschiedlichen Verfahrensebenen anhängig sind – diese Abhängigkeit abzuleiten ist. Im gegenständlichen Fall war über eine Konstellation zu entscheiden, in welcher im Zeitpunkt der Einbringung des relevanten Aussetzungsantrags (vom 5.5.2021) neben der als verspätet zurückgewiesenen Beschwerde gegen die Sachbescheide (Einkommen-, Umsatzsteuer) bereits die Beschwerde gegen den Bescheid, mit dem der Wiedereinsetzungsantrag abgewiesen wurde, anhängig war. Somit gab es prima facie zwei Bescheidbeschwerden, von deren Erledigung die Einhebung der Abgabe iSd §212a BAO abhängig sein könnte: die zurückgewiesene Beschwerde gegen die Sachbescheide und die Beschwerde gegen die Abweisung des Wiedereinsetzungsantrags. Wenn der VwGH ausführt, dass in einem derartigen Fall die Höhe der Abgabe „,mittelbar‘ von der Erledigung der Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung“ abhängt, sieht er das Tatbestandselement „von der Erledigung einer Bescheidbeschwerde abhängig“ durch die Beschwerde gegen den Wiedereinsetzungsantrag erfüllt. Ob die (vorerst) zurückgewiesene Beschwerde gegen die Sachbescheide auch dieses Tatbestandsmerkmal erfüllt, erschließt sich jedoch nicht; für die entscheidungsgegenständliche Konstellation war dies auch nicht ausschlaggebend.

Relevant wäre dies jedoch in einem Fall, wie er im gegenständlichen Verfahren zum Stand 25.11.2019 gegeben war: Eine Beschwerde gegen Sachbescheide

Rechtsprechung 3/2023 143

wird als verspätet zurückgewiesen, woraufhin ein Wiedereinsetzungsantrag und ein Aussetzungsantrag eingebracht werden – der Sachverhalt unterscheidet sich demnach zum zuvor besprochenen dahingehend, dass (noch) kein Beschwerdeverfahren gegen eine Abweisung des Wiedereinsetzungsantrags anhängig ist, also nur eine gegenständliche Beschwerde, nämlich jene zurückgewiesene gegen den Sachbescheid, iSd §212a BAO relevant sein kann. Ob in einem derartigen Fall (bereits) eine Aussetzung der Einhebung dem Grunde nach zulässig ist, ergibt sich aus der Rechtsprechung nicht eindeutig (vgl zu ähnlichen, allerdings im Detail verschieden gelagerten Fällen VwGH 17.12.1998, 97/15/0085; 9.4.1997, 96/13/0208). Wenn der VwGH in der gegenständlichen Entscheidung mit Verweis auf VwGH 17.12.1998, 97/15/0085, ausführt, dass „[…] §212a BAO [in verfassungskonformer Interpretation] die Aussetzung der Einhebung des Streitgegenstands des Hauptverfahrens (Beschwerde gegen den Abgabenbescheid) auch für die Zeit ermöglicht, während der in einem Nebenverfahren geprüft wird, ob die Voraussetzungen einer Beschwerde vorliegen“, spricht dies dafür, dass auch in der beschriebenen Verfahrenskonstellation eine Aussetzung der Einhebung zulässig ist. Denn ein Nebenverfahren (dh hier: Wiedereinsetzungsverfahren), in welchem geprüft wird, ob die Voraussetzungen einer Beschwerde (gegen einen Abgabenbescheid) vorliegen, wird bereits durch Einbringen des Wiedereinsetzungsantrags anhängig, nicht erst durch ein Beschwerdeverfahren gegen die Abweisung eines solchen. Nach einer derartigen Interpretation wäre die „Bescheidbeschwerde“ iSd §212a BAO, von der die Einhebung einer Abgabe mittelbar abhängt und welche Voraussetzung für eine Aussetzung der Einhebung ist, die wiedereinsetzungsverfahrensgegenständliche Beschwerde gegen die Sachbescheide. Dafür, dass diese Beschwerde iSd §212a BAO beachtlich ist und das Tatbestandsmerkmal erfüllen kann (und nicht als durch Zurückweisung „endgültig“ erledigt und damit unbeachtlich anzusehen ist), lässt sich wiederum die hier besprochene Entscheidung anführen, nach welcher bei der Beurteilung, ob „die Beschwerde“ iSd §212a Abs2 lita BAO (wenig) erfolgversprechend ist, (auch) die Gegebenheiten im Hauptverfahren (dh die Erfolgsaussicht im durch Zurückweisung vorläufig erledigten Beschwerdeverfahren gegen die Sachbescheide) zu beachten sind. Zudem spricht für diese Ansicht, dass auch in einer derartigen Konstellation das Aussetzungsbegehren gemäß §212a Abs1 BAO auf jenen Betrag beschränkt ist, der sich bei einer dem Begehren des Abgabepflichtigen Rechnung tragenden Beschwerdeerledigung ergibt, womit wiederum die Beschwerde gegen den Sachbescheid zu berücksichtigen ist. Schließlich wäre es auch von Sinn, Zweck und Systematik des Instituts der Aussetzung der Einhebung her ein unbefriedigendes Ergebnis, wenn bei Anhängigkeit einer Beschwerde gegen Sachbescheide eine Aussetzung zulässig wäre, nach Zurückweisung der Beschwerde und dem Einbringen eines Wiedereinsetzungsantrags nicht (mehr), nach Abweisung des Wiedereinsetzungsantrags und Einbringens einer Beschwerde gegen den Abweisungsbescheid aber doch wieder.

Ein gegenteiliges Ergebnis lässt sich auch nicht aus VwGH 9.4.1997, 96/13/0208, ableiten: Im dort gegenständlichen Fall wurde eine Sachbeschwerde als unzulässig, weil verspätet, zurückgewiesen, in der Folge wurden ein Wiedereinsetzungsantrag und ein Aussetzungsantrag gestellt. Die FLD wies den Aussetzungsantrag zurück, und der VwGH bestätigte diese Entscheidung, da keine Beschwerde iSd §212a BAO vorliege, von welcher die Einhebung abhänge. Die dortige Begründung des VwGH trägt heute jedoch nicht mehr – ihr liegt augenscheinlich jene nicht mehr fortgeführte Rechtsprechung zu §308 Abs3 BAO zugrunde, wonach die versäumte Handlung (die Beschwerde) gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag nachzuholen ist. Zumal im dortigen Fall keine mit dem Wiedereinsetzungsantrag verbundene (neuerliche) Berufung eingebracht wurde (sondern lediglich ein Wiedereinsetzungsantrag eingebracht wurde, welcher auf die bereits zurückgewiesene Beschwerde verwies), wäre nach Ansicht der FLD und des VwGH über die Sachbeschwerde schon (durch Zurückweisungsbescheid) entschieden worden; somit liege keine Beschwerde iSd §212a BAO vor. Für den dort in Form eines obiter dictum behandelten Fall einer Verbindung des Wiederaufnahmeantrags mit einer neuerlichen Beschwerde gegen den Sachbescheid ließ der VwGH die Zulässigkeit einer Aussetzung offen, befand das Vorliegen einer mittelbaren Abhängigkeit der Einhebung iSd §212a BAO aber für denkbar: „Es erübrigt sich daher ein Eingehen auf die Frage, ob von der Erledigung einer solchen, tatsächlich nicht eingebrachten Berufung die Höhe einer Abgabe auch nur mittelbar im Sinne des §212a Abs1 BAO abhing“. Der VwGH wies daher für die Frage, ob eine Beschwerde iSd §212a BAO vorlag, augenscheinlich der Tatsache Bedeutung zu, ob mit einem Wiedereinsetzungsantrag neuerlich Beschwerde eingebracht (verbunden) wird, oder ob (lediglich) auf die verspätet eingebrachte Beschwerde verwiesen wird. Nach der herrschenden Meinung ist das Erfordernis der Nachholung der versäumten Handlung iSd §308 Abs3 BAO jedoch auch dann erfüllt, wenn sich der Wiedereinsetzungsantrag auf eine frühere, bereits förmlich zurückgewiesene Verfahrenshandlung bezieht (vgl Capek/Rzeszut/Turpin in Rzeszut/Tanzer/Unger, BAO: Stoll Kommenar2 [2023] §308 Rz17). So wie es für die Zulässigkeit eines Wiedereinsetzungsantrags keinen Unterschied macht, ob über die Versäumnis bereits mit Zurückweisungsbescheid entschieden wurde oder ob die versäumte Handlung (Beschwerde) erstmals zusammen mit dem Wiedereinsetzungsantrag nachgeholt wird, kann dies mE auch für die Frage, ob eine Beschwerde iSd §212a BAO vorliegt, keinen Unterschied machen. Schließlich kommt es in beiden Fällen durch den Wiedereinsetzungsantrag zu einem „Nebenverfahren“ iSd Rechtsprechung zu §212a BAO (VwGH 17.12.1998, 97/15/0085, und der hier besprochenen Entscheidung), in welchem das Vorliegen der Voraussetzung für eine Beschwerde geprüft wird und in welchem die Aussetzung der Einhebung zulässig sein sollte.

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THE DATE

27. Finanzstrafrechtliche Tagung

Donnerstag, 21. September 2023

DIE GEHÖRIGE SORGFALT IM (FINANZ)STRAFRECHT

Von der Regel zum Standard - Diffuses Strafrecht

Fahrlässigkeit - grobe Fahrlässigkeit - Vorsatz im Finanzstrafrecht

Sorgfaltsmaßstab bei Digitalisierung der Steuerfunktionen

Die hinterzogene Abgabe in der Rechtsprechung des VwGH Business Judgement Rule im Wirtschaftsstrafrecht

Anforderungen an den Anfangsverdacht bei Einleitung von Finanz strafverfahren und Wirtschaftsstrafverfahren

REFERENTEN

Dr.in Raphaela Bauer-Raschhofer LL.M., Wirtschaftsuniversität Wien

Univ.-Prof. MMag. Dr. Thomas Bieber, Universität Linz

Dr. Rainer Brandl, LeitnerLeitner Wirtschaftsprüfer Steuerberater

Prof. Dr. Jens Bülte, Universität Mannheim

Prof. Dr. Dr. h.c. Gerhard Dannecker, Universität Heidelberg

Univ.-Prof.in Dr.in Tina Ehrke-Rabel, Universität Graz

o.Univ.-Prof. Dr. Martin Karollus, Universität Linz

Univ.-Prof. Dr. Robert Kert, Wirtschaftsuniversität Wien

EStA Mag.a Cornelia Koller, Staatsanwaltschaft Graz Mag. Johannes Prillinger, LeitnerLeitner Wirtschaftsprüfer

Steuerberater

Mag. Mario Schmieder, Edthaler Leitner-Bommer Schmieder & Partner Rechtsanwälte GmbH

Details sowie Informationen zur Tagungsgebühr finden Sie unter: leitnerleitner.com

Anmeldung: meeting.leitner@leitnerleitner.com

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