Leseprobe bau aktuell | Linde Verlag

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von

SCHWERPUNKT Nachhaltigkeit

Interview mit Werner Sobek

„Die Verfügbarkeit von Baustoffen rückt in den Vordergrund“

Konrad Bergmeister

Klimaverträglich und ressourceneffizient konstruieren

Lukas Hausberger / Florian Gschösser

Nachhaltigkeit von Verkehrsinfrastrukturen

Hafize Stöhr

Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes

Georg Karasek / Clemens M. Berlakovits

Voraussetzungen des werkvertraglichen Entschädigungsanspruchs

Christoph Wiesinger

Prokuristen in der Bauwirtschaft

Gerald Fuchs

Schadenersatz aus Verkehrssicherungspflichtverletzung

Leopold Winkler

Organisation von Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsprojekten

Wolfgang Hussian

Aus der aktuellen Rechtsprechung

Das letzte Wort hat Rainer Kurbos

Herausgegeben Gerald Goger | Detlef Heck | Georg Karasek | Andreas Kletecˇka | Arnold Tautschnig 14. Jahrgang / Juli 2023 / Nr. 4

Reihe Immobilienentwicklung

Holzbau in der

Immobilienentwicklung

System-/Hybrid-/Massivholzbau aus interdisziplinärer Sicht

z Überblick und Prognosen zu Marktfähigkeit und Marktentwicklung

z Eignung System-/Hybrid-/Massivholzbau für alle Assetklassen?

z Prozesse und Kalkulationen bei Holzbauentwicklungen – und wozu „Slots“?

z Holzbau als Beitrag zum Klimaschutz – Vorteil bei Behördenverfahren?

z Rechtliche Rahmenbedingungen von BTVG bis öffentliches Recht

z Erfahrungsberichte und Trends aus Sicht (international) erfahrener Hersteller

Konzeption und fachliche Leitung: Evelyn Susanne ERNST

14.9.2023 13:30–17:30 Wien lindecampus.at
DI Evelyn Susanne ERNST DIe ERNST Ing. Roman FRITZ, MBA,

Dass die Nachhaltigkeit gerade auch in der Bauwirtschaft das Gebot der Stunde ist, steht außer Zweifel. Es war daher mehr als nur naheliegend, sie zum Schwerpunktthema dieses Heftes von bau aktuell zu machen.

Unser Herausgeberkollege Detlef Heck hat Werner Sobek, einen der Initiatoren der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB), zum Interview gebeten. Ich möchte Ihnen dieses –beidseits äußerst klug geführte – Gespräch sehr ans Herz legen. Es geht darin unter anderem um das hohe Nachhaltigkeitspotenzial der Bauwirtschaft, die globale Baustoffverknappung und die Themen „Ausbildung“ und „Digitalisierung“.

Nachhaltiges Bauen beginnt klarerweise bei der Konstruktion. Konrad Bergmeister befasst sich daher in seinem selbst für mich als Juristen äußerst aufschlussreichen Beitrag mit diesem Thema. Bergmeister streicht heraus, dass der Konstrukteur durch Variantenvergleiche die ökologisch beste, bautechnisch sinnvollste und wirtschaftlich vertretbare Bauwerksvariante entwickeln muss. Er fordert, dass neben den Nachweisen der Tragsicherheit und Gebrauchstauglichkeit auch jener der Klimaverträglichkeit zu verlangen ist.

Lukas Hausberger und Florian Gschösser wenden sich in ihrem Aufsatz der Nachhaltigkeitsbewertung der Verkehrsinfrastruktur zu. Sie regen eine Standardisierung der Bewertung von Nachhaltigkeit an und bringen mit dem Forschungsprojekt LZinfra gleich einen Vorschlag für ein solches Lebenszyklustool.

Der Beitrag von Hafize Stöhr ist besonders für Vermieter interessant, die ihr Miethaus mit einer Photovoltaikanlage ausstatten wollen. Neben elektrizitätswirtschaftsrechtlichen Regelungen wird vor allem die Frage behandelt, welche Kosten der Vermieter dem Mieter verrechnen darf.

Kein Heft ohne einen Beitrag zu den Mehrkostenforderungen (MKF). In diesem Heft steigen wieder einmal unser Herausgeberkollege Georg Karasek und der Schriftleiter Clemens M. Berlakovits in den Ring. Natürlich steht auch bei ihnen die Entscheidung des OGH vom 21. 12. 2022, 6 Ob 136/22a, im Zentrum. Richtig ist sicher, dass – wie auch Wolfgang Hussian bereits angemerkt hat – diese Entscheidung mehr offenlässt, als sie beantwortet. Mit einigen ihrer Ausführungen haben Karasek/Berlakovits sichergestellt, dass auch in Zukunft bau aktuell nicht ohne MKF­Beitrag auskommen muss.

Christoph Wiesinger behandelt den Prokuristen in der Bauwirtschaft. Dabei wird der Schwerpunkt auf den Kollektivvertrag gelegt.

Einen kritischen Blick auf die Judikatur zu den Verkehrssicherungspflichten wirft Gerald Fuchs. Der Beitrag ist für Eigentümer und Verwalter enorm wichtig. Trotz einer einmal erteilten Benützungsbewilligung ist nämlich die bauliche Sicherheit des Hauses oder der Anlage laufend zu überprüfen. Wer das nicht tut, geht ein Haftungsrisiko ein.

Mit dem Beitrag von Leopold Winkler kehrt das Heft wieder zum Schwerpunkt „Nachhaltigkeit“ zurück. Er zeigt auf, dass die Wahl der Organisationsform Auswirkungen auf die Unternehmensziele Nachhaltigkeit und Digitalisierung haben kann.

Wolfgang Hussian hat wieder zwei spannende Entscheidungen für seine Judikaturübersicht ausgewählt.

„Das letzte Wort“ von Rainer Kurbos ist möglicherweise ein Abgesang auf das Vergaberecht, oder doch nicht? Lassen Sie sich überraschen!

Juli 2023 141 Editorial Editorial
Univ.-Prof. Dr. Andreas Kletečka für das Herausgeberteam Univ.-Prof. Dr. Andreas Kletečka ist Inhaber eines Lehrstuhls für Bürgerliches Recht an der Universität Salzburg.

Steuer- und Sozialbetrug: Fehlbeurteilungen

vermeiden, Strafen vorbeugen

Vollständig, übersichtlich & leicht verständlich

2. Auflage 2023

160 Seiten, kart. 978-3-7073-4514-8

€ 28,–*

€ 35,–

digital erhältlich

*Sonderpreis für SWK Abonnent*innen

„Neben der Klimaneutralität rückt die Verfügbarkeit von Baustoffen immer mehr in den Vordergrund“

und merkantiler Minderwert (OGH 25. 4. 2023, 10 Ob 59/22g)

Herausgeber: Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Gerald Goger, Wien. Univ.-Prof. Dr.Ing. Detlef Heck, Graz. RA Dr. Georg Karasek, Wien. Univ.-Prof. Dr. Andreas Kletečka, Salzburg. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Arnold Tautschnig, Innsbruck.

Schriftleiter: RA Mag. Clemens M. Berlakovits, Wien.

Wissenschaftlicher Beirat: RA Dr.-Ing. Helmuth Duve, Stuttgart. Mag. Wolfgang Hussian, Wien. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Andreas Kropik, Wien. RA Dr. Georg Seebacher, Graz. Dipl.-Ing. Dr. Markus Spiegl, Innsbruck. Hon.-Prof. RA Dr. Irene Welser, Wien.

Medieninhaber und Medienunternehmen: LINDE VERLAG Ges.m.b.H., A-1210 Wien, Scheydgasse 24; Telefon: 01/24 630 Serie; Telefax: 01/24 630-723; E-Mail: office@lindeverlag.at; http://www.lindeverlag.at

DVR 0002356; Rechtsform der Gesellschaft: Ges.m.b.H.; Sitz: Wien; Firmenbuchnummer: 102235x; Firmenbuchgericht: Handelsgericht Wien; ARA-Lizenz-Nr. 3991; ATU 14910701; Gesellschafter: Anna Jentzsch (35 %) und Jentzsch Holding GmbH (65 %); Geschäftsführung: Mag. Klaus Kornherr und Benjamin Jentzsch.

Erscheinungsweise und Bezugspreise: Periodisches Medienwerk: bauaktuell –Baurecht – Baubetriebswirtschaft – Baumanagement. Grundlegende Richtung: Interdisziplinäre Fachinformationen rund um das Thema „Bauen“. Erscheint sechsmal jährlich. Jahresabonnement 2023 (6 Hefte) zum Preis von EUR 212,50 (Print) bzw. EUR 244,90 (Print & Digital) – jeweils inkl. MwSt., exkl. Versandspesen. Einzelheft 2023: EUR 53,60 (inkl. MwSt., exkl. Versandspesen). Abbestellungen sind nur zum Ende eines Jahrganges möglich und müssen bis spätestens 30. November schriftlich erfolgen. Unterbleibt die Abbestellung, so läuft das Abonnement automatisch ein Jahr und zu den jeweils gültigen Konditionen weiter. Preisänderungen und Irrtum vorbehalten.

Nachdruck – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher Bewilligung des Verlages gestattet. Es wird darauf verwiesen, dass alle Angaben in dieser Fachzeitschrift trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr erfolgen und eine Haftung des Verlages, der Redaktion oder der Autoren ausgeschlossen ist.

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Anzeigenverkauf und -beratung: Gabriele Hladik, Tel.: 01/24 630-719; E-Mail: gabriele.hladik@lindeverlag.at. P.b.b.m Verlagspostamt 1210 Wien –Erscheinungsort Wien

ISSN: 2077-4737

Hersteller: Druckerei Hans Jentzsch & Co. Gesellschaft m.b.H., 1210 Wien, Scheydgasse 31; Tel.: 01/278 42 16-0; E-Mail: office@jentzsch.at; mehrfach umweltzertifiziert (www.jentzsch.at)

Juli 2023 143 Inhaltsverzeichnis
Impressum Inhaltsverzeichnis Editorial 141 Interview
Baurecht – Betriebswirtschaft – Baumanagement
Detlef Heck im Gespräch mit Werner Sobek .............................................. 144 Fachbeiträge Konrad Bergmeister Klimaverträglich und ressourceneffizient konstruieren ......................... 147
Hausberger / Florian Gschösser Nachhaltigkeit von Verkehrsinfrastrukturen 154 Hafize Stöhr Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes 159 Georg Karasek / Clemens M. Berlakovits Die Voraussetzungen des werkvertraglichen Entschädigungsanspruchs 165 Rechtsprechung Wolfgang Hussian Aus der aktuellen Rechtsprechung 172
des gerichtlich bestellten Sachverständigen (OGH 21. 3. 2023, 2 Ob 7/23b) Service News – Aktuelles aus der Branche ............................................. 158, 171, 181 betreut von Christoph Wiesinger Prokuristen in der Bauwirtschaft 175 Aktuelles aus dem öffentlichen Baurecht betreut von Gerald Fuchs Schadenersatz aus Verkehrssicherungspflichtverletzung 177 Digitalisierung und Nachhaltigkeit betreut von Leopold Winkler Organisation von Digitalisierungs- und Nachhaltigkeitsprojekten ....... 182 Veranstaltungstipps der Redaktion 183 Das letzte Wort hat Rainer Kurbos Anbietermarkt: Vergaberecht am Ende? ................................................ 184 Schwerpunkt Schwerpunkt Schwerpunkt Schwerpunkt Schwerpunkt
Lukas
Haftung des Subunternehmers
Haftung

Baustoffen immer mehr in den Vordergrund“

Prof. Dr. Dr. E.h. Dr. h.c. Werner Sobek, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Werner Sobek AG und einer der Initiatoren der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB), im Gespräch über klimaneutrales Bauen und die begrenzte Verfügbarkeit von Baustoffen, das Bauen im Bestand sowie die Digitalisierung der Bauindustrie als Mittel zum schonenden Ressourceneinsatz im Bau.

Werner Sobek, Jahrgang 1953, ist deutscher Bauingenieur und Architekt.

Er war ordentlicher Professor an der Universität Stuttgart und Gründer des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK). Damit erfuhr der wissenschaftsorganisatorische Rahmen der Stuttgarter Schule des Konstruktiven Ingenieurbaus eine bedeutsame Weiterentwicklung.

Des Weiteren ist Sobek ist Gründer der Werner Sobek AG. Aktuell hat er die Position des Vorsitzender des Aufsichtsrats inne.

Er ist schließlich einer der Initiatoren der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB), deren Präsident er von 2008 bis 2010 war.

Heck: Schon heute könnten beim Bauen 50 Prozent der bisher jährlich verbauten natürlichen Ressourcen und damit auch 50 Prozent des emittierten CO2 eingespart werden? Die Frage ist im Konjunktiv gestellt. Woran scheitert es in der Realität?

Sobek: Richtig! Bei der Beantwortung der Frage, warum dies bislang nicht in dem Umfang geschieht, in dem es geschehen könnte, sehe ich zwei

Ebenen:

Erstens: Es gibt eine offensichtliche, eine moralische, aber keine gesetzliche Forderung zum Einsparen von Baustoffen. Dass ein moralischer Imperativ bei vielen nicht zieht, ist ein Kernproblem unserer Gesellschaft. Also rufen alle nach Verboten, Geboten oder finanziellen Anreizsystemen. Das aber erhöht die Regelungsdichte noch mehr, macht alles noch komplizierter. Ich denke, wir müssen die Baustoffe zumindest vorübergehend höher besteuern. Leider. Aber nur dann wird automatisch mit weniger Material gebaut und wird weniger Abfall produziert. Um das Bauen nicht noch teurer zu machen, als es ist, kann man gleichzeitig andere baurelevante Steuern senken.

Zweitens: Mit weniger Material zu bauen bedeutet sorgfältigere Berechnungen, sei es in Bezug auf das Tragwerk, die Auslegung der haustechnischen Anlagen und anderes. Das bedeutet mehr Arbeit. Und natürlich liegt bei den Planern, je mehr man sich den Grenzen nähert, desto mehr Verantwortung. Ähnliches gilt für die Baustellen: Je weniger Material eingesetzt wird, desto höher die erforderliche Sorgfalt bei der Verarbeitung.

Wir müssen zu einem einfachen Bauen zurück, dem „Gebäudetyp E“, bei dem die Planer, insbesondere die Ingenieure und Ingenieurinnen, ebenso wie die Ausführenden zeigen, was sie können, und bei dem sie für ihr Können anerkannt und für ihre Mehrarbeit vernünftig bezahlt werden.

H: Nachhaltigkeit ist ein globales Thema, wird in der Bauwirtschaft aber sehr regional gedacht. Ist bekannt, welche Rohstoffe zum Bauen wo auf der Welt in den kommenden 20 Jahren benötigt werden

und wo sie vorhanden sind? So ist in gewissen Bereichen Asiens schon von einem Mangel an Sand zu hören.

S: Es ist tatsächlich nur bruchstückhaft bekannt, welche Baustoffe in den kommenden 20 Jahren wo auf der Welt benötigt werden – und noch weniger, wo sie vorhanden sind. In Band 1 und 2 meiner Trilogie „Non nobis“ habe ich deshalb versucht, dieses Thema aufzuhellen und erste Antworten zu geben. Man gewinnt fast den Eindruck, dass niemand der Verantwortlichen aus Politik, Industrie und Wissenschaft wirklich wissen will, wie sich der weltweite Baustoffbedarf entwickeln wird und wie (beziehungsweise ob) er gedeckt werden kann. Bauen wird zukünftig hauptsächlich in der sogenannten Dritten Welt stattfinden. Grob die Hälfte aller verbauten Baustoffe befindet sich in der sogenannten Ersten Welt mit ihren 1,4 Milliarden Menschen, die zweite Hälfte gehört den anderen 6,6 Milliarden Menschen. Allein der „Nachholbedarf“ der Dritten Welt umfasst ein Bauvolumen, das dem Doppelten der heute gebauten Welt entspricht. Hinzu kommt ein Bevölkerungszuwachs bis 2050 von zirka zwei Milliarden Menschen, also mehr als die heutige Erste Welt umfasst. Und schließlich das Bauen für diejenigen, die ihre Heimat aus klimatischen oder anderen Gründen verlassen werden. Je nach Szenario sprechen wir hier von 100 Millionen bis zu mehr als einer Milliarde Menschen. Bis 2050. Ich glaube nicht, dass wir zur Befriedigung dieser Nachfrage in den bis dahin verbleibenden 27 Jahren die industrielle Produktion der Standardbaustoffe Beton, Holz, Stahl, Ziegel und Glas in der erforderlichen Menge erhöhen, geschweige denn komplett auf Emissionsfreiheit umbauen können. Neben einer drastischen Reduktion der Nutzflächen werden viel mehr Erdbaustoffe wie Lehm und Naturstein in Kombination mit Holz und Bambus (wo er wächst) sowie Beton, Stahl und Glas in deutlich reduzierten Anteilen zum Einsatz kommen. Rezyklate werden nur in den Ländern der Ersten Welt eine Rolle spielen,

144 Juli 2023 Interview
„Neben der Klimaneutralität rückt die Verfügbarkeit von
© René Müller

denn in den Ländern der Dritten Welt gibt es nicht viel zu rezyklieren.

In Summe gesehen: Ihre Frage berührt ein Problem von ungeheurem Ausmaß, an dessen Lösung bisher viel zu wenig gearbeitet und über das viel zu wenig gesprochen wurde.

H: Wenn es uns gelingt, die Herstelltechnologien der wichtigsten Baustoffe so zu optimieren, dass klimaschädliche Emissionen vermieden werden, würden Aspekte wie Verfügbarkeit, Langlebigkeit oder Recyclingfähigkeit stärker in den Vordergrund rücken. Welche Materialien würden sich hier besonders eignen?

S: Ich bin optimistisch, dass uns die Entwicklung von Technologien gelingt, mit denen wir unsere Baustoffe klimaneutral herstellen können. Wir werden das schaffen. Wir wissen aber auch, dass dies alles ein Rennen gegen die Zeit ist. Wenn wir nicht schnell genug sind, dann werden wir auch die 2 Grad­Marke der Erderwärmung reißen Die Zeit läuft uns davon.

Neben der Klimaneutralität rückt die Verfügbarkeit von Baustoffen immer mehr in den Vordergrund. Wenn wir lange Transportwege wegen der damit verbundenen Emissionen ausschließen wollen, dann wird das Bauen zunehmend ein Bauen mit regional vorhandenen Baustoffen sein. Die Gewichtungen auf der Baustoffpalette werden sich dabei verändern.

H: Es ist kein Geheimnis mehr, dass der Bausektor einen großen Beitrag zum Klimawandel leistet. Müssen wir nicht bei der Aus- und Weiterbildung ansetzen, um langfristig Klimaneutralität zu erreichen? Was muss sich in den Ausbildungsstätten ändern, damit die große Transformation gelingt?

S: Völlig richtig – die große Transformation kann nur gelingen, wenn sich auch unsere Ausbildung ändert. Bedauerlicherweise hängen hier viele Bauingenieurfakultäten hinterher. An dem von mir gegründeten Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) in Stuttgart lehren wir deshalb seit fast 30 Jahren Studierenden der Architektur und des Bauingenieurwesens gemeinsam (!), worum es wirklich geht. Bei vielen Seminaren, Entwürfen und Vorlesungen binden wir zudem Kollegen und Kolleginnen wie auch Studierende aus anderen Disziplinen ein. Gemeinsame Entwürfe über das Bauen auf dem Mond, das Habitat minimaler Größe, das Leben in Raumstationen, Kooperationen mit dem Lehrstuhl für textiles Gestalten der Akademie der Künste oder auch gemeinsame Entwurfsklassen mit Harvard, wo ich zeitweise lehrte, weiten den Blick zusätzlich. Wir qualifizieren die Studierenden also zu mehr als zu einem Beherrschen inhaltlich eng beschränkter Einzelfächer. Ein interdisziplinäres, wissenschaftlich gut basiertes Studium, in dem die Studierenden eine Qualifikation zum Verstehen des Gesamten erlangen sowie eine Sprach­ und Sprechkompetenz – das ist unser Ziel.

H: Sie haben das nachhaltige Bauen maßgeblich geprägt. Ihr Schaffen brachte Vorzeigeprojekte hervor, die zugleich innovativ und nachhaltig sind.

Ihre Neubauprojekte tragen einer ressourcenschonenden, energieeffizienten und kreislaufgerechten Planung Rechnung. Doch Neubau hat auch ökologische Nachteile, er versiegelt Flächen und verbraucht große Mengen an Ressourcen. Welche Rolle spielt zukünftig das Bauen im Bestand?

S: Das Bauen im Bestand wird zukünftig eine große Rolle spielen. Bei uns in Europa. Durch eine möglichst lange Nutzung unseres Gebäudebestands reduzieren wir unseren Ressourcenverbrauch und die damit zusammenhängenden grauen Emissionen. Das Bewusstsein hierfür ist vielerorts entstanden, der „Markt“ schwenkt langsam in diese Richtung um. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass Klimawandel und Ressourcenschwund globale Probleme sind. Selbst wenn wir in Mitteleuropa jegliche Bautätigkeit einstellen könnten – das Gleiche von den Menschen in Afrika oder Asien zu verlangen, würden von diesen sicher nur als höhnisch empfunden werden. Der hieraus resultierende bauliche Nachholbedarf wird, zusammen mit der Schaffung einer gebauten Heimat für die bis 2050 zu unserer Weltgemeinschaft hinzukommenden zwei Milliarden Menschen sowie den zu erwartenden Migrantenströmen, eine gigantische Nachfrage nach Baustoffen erzeugen. Können wir diesen Wunsch nach einer Annäherung an unsere eigenen Lebensumstände unterdrücken? Sicher nicht, wir haben das Glück im Konsum ja lange genug als ultimatives Lebensziel verkündet. Müssen wir uns damit auseinandersetzen und global anwendbare Methoden und Technologien entwickeln, die eine nachhaltige Gestaltung unserer Umwelt für kommende Generationen ermöglichen? Ja, davon bin ich fest überzeugt.

H: Ressourcenschonung im Bau und Betrieb von Gebäuden ist das Gebot der Stunde und schon seit Jahren eine Priorität in Ihrer Arbeit. Die Förderung einer Kreislaufwirtschaft auch im Baugewerbe ist hierzu ein Schlüssel; diese beginnt mit der intensiveren Nutzung des Bestands. Wie sehen Sie die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Gestalt unserer Städte und die Baukultur?

S: Eine intensivere Nutzung des Bestands führt zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der architektonischen Qualität des Bestehenden. Ich denke, wenn man mit dem zur Verfügung Stehenden auskommen muss, wenn nur ganz bestimmte Veränderungen möglich sind, dann schaut man sich das Bestehende intensiver, genauer an, sucht seine Qualitäten, seine Schönheiten – und sucht Chancen in der Verbesserung des Kleinen anstatt im Totalersatz. Für unsere Baukultur kann dies alles nur vorteilhaft sein.

Letztlich technisch: Die intensivere Nutzung des Bestands wird auch die Erkenntnis verstärken, dass alle unsere Gebäude so konstruiert und gebaut sein müssen, dass wir sämtliche Bestandteile am Ende ihres Nutzungszeitraums in biologische oder technische Kreisläufe zurückführen können.

H: Wie gelingt es uns, Solar- und Windenergie mit dem Denkmalschutz in Übereinstimmung zu bringen?

Juli 2023 145 Interview
Interview

S: Ich votiere dafür, denkmalgeschützte Gebäude prinzipiell nicht mit Photovoltaikanlagen oder Anlagen zur Gewinnung von Energie aus Wind auszustatten. Warum? Wir würden diesen Gebäuden damit einen erheblichen Teil dessen nehmen, weswegen wir sie zu Denkmälern erhoben haben. Nach meinem Dafürhalten ist es nicht erforderlich, jedes einzelne Gebäude mit Photovoltaik­ oder Windkraftanlagen auszustatten. Die Summe aller Dach­ und Fassadenflächen unserer Gebäude ist zu klein, um den Bedarf der Gebäude zu decken. Wir müssen deshalb das Prinzip einer Systemgrenze um jedes einzelne Gebäude herum aufheben zugunsten einer Systemgrenze um Gebäudeagglomerationen herum, also um Quartiere, Stadtviertel, ganze Städte oder Regionen. Diese neuen „Einheiten“ müssen innerhalb ihrer Systemgrenzen die gesamtgesellschaftliche Forderung nach Emissionsfreiheit im Betrieb und nach einer sehr limitierten Zufuhr an Elektrizität von außen erfüllen. Die limitierte Stromzufuhr von außen spiegelt die Tatsache wider, dass wir vorerst nicht in der Lage sein werden, den gesamtem Strombedarf (und unsere Zukunft sind elektrische Häuser und Städte) von außen, also beispielsweise aus Strom auf See, zu decken. Es handelt sich hierbei also nicht um ein Preis­, sondern um ein Verfügbarkeitsproblem. Die Erzeugung von Strom und Wärme innerhalb der neuen, jetzt erweiterten Systemgrenzen muss neben den Dach­ und Fassadenflächen nicht denkmalgeschützter Häuser auch auf Industriegebäuden und Einrichtungen der Infrastruktur, also entlang von Straßen und Bahntrassen, gegebenenfalls komplettiert durch Agri­Photovoltaik erfolgen. Nicht alle Gebäude können die gesamtgesellschaftlichen Vorgaben nach Energieeffizienz und Energieproduktion gleichermaßen erfüllen. Manche sind dafür besser geeignet, zum Beispiel weil sie stärker in der Sonne stehen und so mehr Energie gewinnen können. Andere sollte man so stehen lassen, wie sie sind. Wichtig ist, die Gebäude zum Teil eines vernetzten Energiemanagements im Quartier oder einer Stadt werden zu lassen, nach dem Motto: Wir lösen das Energieproblem und das Emissionsproblem gemeinsam – und nicht jeder für sich.

H: Die Themen des nachhaltigen Bauens sind so aktuell wie nie. Was müssen Planungsbüros heute tun, um glaubhaft zu sein und ihren aktiven Beitrag zur Senkung der CO2-Emissionen, zum Schutz der Ressourcen und zum Erhalt beziehungsweise zur Regeneration der Biodiversität zu leisten?

S: Natürlich können und müssen Planungsbüros schon heute einen aktiven Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit leisten. Sie tun dies auf zwei Ebenen: durch die Ideen, Mittel und Methoden, die sie in ihr tägliches planerisches Handeln einbringen, um das Bauschaffen nachhaltig, das heißt zukunftsfähig zu machen, und durch das, wie sie ihr eigenes Leben gestalten, also weitestgehender Verzicht auf Flugreisen, Umstiege auf öffentlichen Personennahverkehr und Elektromobilität, sorgsamer Umgang mit Essen, fleischarme Ernährung, Abfallminimierung et cetera. Das sind viele kleine Schritte, die in der

Summe einen Unterschied machen. Hinzu kommen wichtige nicht materielle Komponenten der Nachhaltigkeit wie die voraussetzungslose Wertschätzung des anderen als eines Menschen von gleicher Würde und die Nächstenliebe.

H: Durch die Digitalisierung der Bauindustrie kann die Nachhaltigkeit signifikant erhöht werden, da die Effekte auf die Umwelt und die Gesellschaft frühzeitig bewertet und optimiert werden können. Durch den Einsatz digitaler Methoden, Technologien und Lösungen kann auch eine bessere Überwachung und Steuerung von Ressourcenverbrauch, Energieeffizienz und Nachhaltigkeit im Betrieb erreicht werden. Liegt der Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit also in der Digitalisierung?

S: Eine durchgehende Digitalisierung entlang der ganzen Wertschöpfungskette des Bauwesens ist Voraussetzung und zugleich Hilfsmittel für eine bessere Steuerung des Ressourcenverbrauchs und der Emissionen unserer gebauten Umwelt – über den gesamten Lebenszyklus hinweg. Dies erleichtert auch die dezentrale Gewinnung, Speicherung und Verteilung von Energie aus nachhaltigen Quellen. Neben der Digitalisierung aufseiten der Planenden und Bauenden kann und sollte es aber auch eine Digitalisierung aufseiten der Nutzenden geben. Selbstlernende prädiktive Gebäudeautomationssysteme können zum Beispiel einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den Verbrauch von Heizenergie in Bestandsgebäuden zeitnah und drastisch zu senken, ohne dass hierfür umfangreiche Sanierungsarbeiten vorgenommen werden müssten.

H: Ist das 1,5 Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens überhaupt noch erreichbar?

S: Das 1,5 Grad­Ziel ist nicht mehr erreichbar. Selbst wenn wir hier in unserer sogenannten Ersten Welt sofort jedwede bauliche Aktivität einstellen würden, ist es nicht mehr erreichbar. Ich selbst gehe von mehr als 2 Grad im Jahr 2050 aus. Wie wir wissen, wird die überwiegende Menge an Emissionen zukünftig in anderen Ländern entstehen, sei es aus einem Nachholbedarf der Menschen in der sogenannten Dritten Welt heraus, sei es infolge des Zuwachses der Weltbevölkerung oder durch Migrationen. Wir benötigen also weltweite Lösungen.

Wir müssen das nicht mehr zu vermeidende Überschreiten der 1,5 beziehungsweise 2 GradMarke durch massive CO2­Entnahme baldmöglichst zurückfahren. Nach meinem Dafürhalten geht dies derzeit nur mit massivem Aufwuchs von Wäldern und dem Anlegen von Wiesen. Die technischen Ansätze eine Extraktion von CO2 aus der Atmosphäre sind zu langsam und zu teuer in ihrer Umsetzung.

H: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Univ.­Prof. Dr.­Ing. Detlef Heck, Institut für Baubetrieb und Bauwirtschaft der Technischen Universität Graz, Geschäftsführer eines auf bauwirtschaftliche Fragestellungen spezialisierten Beratungsunternehmens.

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Klimaverträglich und ressourceneffizient konstruieren

Der vorliegende Beitrag skizziert Ansätze zum klimaverträglichen und ressourceneffizienten Konstruieren.

1. Die aktuelle Konstruktionsstrategie überdenken

Seit der Einführung der Veröffentlichung der „Mathematischen Prinzipien der Philosophie der Natur“ durch Isaac Newton im Jahr 1687 werden im Bauwesen möglichst mechanisch nachvollziehbare Modelle zur Bewertung des Tragverhaltens verwendet. Ein wichtiger Schritt zur mathematischen Formulierung der von Newton entwickelten Geometrischen Mechanik waren die Arbeiten von Leonhard Euler im Jahr 1736.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Technische Mechanik als Grundlage der Konstruktionslehre für die Ingenieurbauwerke. Die mechanischen Themen wurden in eine Einwirkungsseite und in eine Widerstandsseite unterteilt. Dabei war es die Baustatik, welche ausgehend von geometrischen Überlegungen eine enorme Entwicklung hin bis zu den Finite-element­Berechnungen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts erlebte.1

In aktueller Zeit schreitet die künstliche Intelligenz mit generativen Konstruktionswerkzeugen schnell voran und wird schon bald die Tragwerksplanung unterstützen. Damit können gewünschte Parameter (wie bestimmte Nachhaltigkeits­ oder Dauerhaftigkeitsanforderungen, Robustheit, Traglasten oder Baustoffkennwerte) selbständig ein Modell mit optimierten Varianten entwickeln.2 Derzeit sind das noch Forschungsprojekte, die aber schon punktweise in der Ingenieurpraxis (beispielsweise bei komplexen Tragwerksmodellierungen oder bei der Schadensidentifikation von Bauwerken) auftauchen.

Derzeit erleben wir eine intensive Diskussion und teilweise Ratlosigkeit zur Klimaveränderung.

Viele bestehende Bauwerke genügen nach jahrzehntelangem Betrieb und unter Berücksichtigung geänderter Umweltexpositionen nicht mehr den Anforderungen an die Tragsicherheit. Teilweise kann dies auf eine Veränderung der Einwirkungen zurückzuführen sein, die in der zeitlichen Entwicklung größer geworden sind als im Entwurfsstadium (beispielsweise Verkehrslasten auf vielen Brücken). Ein weiterer Grund kann eine zeitlich abhängige und umweltbasierte Baustoffdegradation sein, welche zu einer Verringerung der Tragfähigkeit infolge reduzierter mechanischer Eigenschaften und eines Verlustes der Querschnittsfläche von Beton oder Stahl führt. Auch wurden die Bauwerke auf der Grundlage von Bemessungsregeln aus der 1 Kurrer, Geschichte der Baustatik (2016).

Vergangenheit geplant und konstruiert, die heutigen Sicherheitsansprüchen nicht mehr entsprechen. Heute stellt sich vielfach die Frage, wie sich die Bauwerke unter bestimmten Umwelteinwirkungen entwickeln und wie hoch die verbleibende Nutzungsdauer sein wird. Wenn wir im vergangenen Jahrhundert normativ von einer Nutzungsdauer von 50 Jahren ausgingen, so werden heute die Nutzungsdauern aufgrund von Schadensfolgeklassen festgelegt und gehen bis über 200 Jahre (siehe Abbildung 1).

Die bautechnischen Normen entstanden am Beginn des 20. Jahrhunderts (1901 wurde in Großbritannien das erste nationale Normungsinstitut, das Engineering Standards Committee, heute bekannt als British Standards Institution, gegründet).

Eine effiziente Möglichkeit zur Verbesserung der Nachhaltigkeit besteht in der Verlängerung der Lebensdauer bestehender Bauwerke. Mithilfe von Zuverlässigkeitsbewertungen des Zustands der Bauwerke, basierend auf Bauwerksüberwachung und Inspektionen (visuell sowie digital), kann die verbleibende Nutzungsdauer abgeschätzt und Instandsetzungen können zeitgerecht und im Voraus effizienter geplant werden.

Um klimaverträglicher und ressourceneffizienter zu konstruieren, müssen wir einen geschlossenen Baustoffkreislauf und somit eine nahezu 100%ige Verwendung recyclierter Baustoffe für neue Bauwerke anstreben.

Die aktuelle Art des Planens, Konstruierens und Bauens muss sich dabei dramatisch wandeln! Einerseits müssen wir unseren Bestand viel effizienter nutzen und es muss aus einem stetigen Mehr an Fläche und Ressourcen ein Weniger werden. Andererseits müssen wir sowohl in der Instandhaltung als auch beim Neubau nur mehr emissionsarme Baustoffe verwenden und viel mehr Zeit für die Optimierung der Planung unter Einbezug von BIM verwenden. Diese Zeit und die dabei notwendige geistige Dienstleistung muss auch entsprechend honoriert werden!

Aus der Sicht eines verantwortlichen, nachhaltigen Planens und Konstruierens müssen wir folgende Priorisierungen vornehmen:3

● Bestandserhaltung unterstützt durch zeitgerechte Instandhaltung und Verlängerung der Nutzungsdauer;

● Nutzungsänderung oder reduzierte, eingeschränkte Nutzung (zB Reduktion der Fahrbahnen auf Brücken);

3 Glock/Haist/Bergmeister/Voit/Beyer/Heckmann/Hondl/Hron/ Pürgstaller/Schack, Klima­ und ressourcenschonendes Bauen mit Beton, in Bergmeister/Fingerloos/Wörner, Beton­Kalender 2024 (im Erscheinen).

Univ.­Prof. Dipl.­Ing. DDr. Konrad Bergmeister, MSc., Ph.D. ist Leiter des Instituts für Konstruktiven Ingenieurbau an der Universität für Bodenkultur in Wien.

Juli 2023 147 Klimaverträglich und ressourceneffizient konstruieren Fachartikel
2 Fisch/Stecker/M. A. Kraus, Maschinelles Lernen beim Entwurf und Bemessung von Stahlrahmenhallen, Stahlbau 2023, 332.

Klasse der Nutzungsdauer Nutzungsdauer (in Jahren) Schadensfolgeklassen Beispiele

1 10 CC1 Tragwerke mit befristeter Standzeit

2 20 bis 25 CC2 Lagerhallen

3 30 CC1 Landwirtschaftlich genutzte Tragwerke

4 50 CC2 Gebäude und andere gewöhnliche Tragwerke

5 100 CC3 Monumentale Gebäude, Brücken, Tunnel, Staudämme

61) >100 bis 1502) und 2003) CC4 Strategisch wichtige Infrastruktur­ und Bauprojekte sowie Schlüsselschutzbauwerke

Abbildung 1: Technische Lebensdauer von Bauwerken und zugeordnete Schadensfolgeklassen

(Quelle: Strauss/Bergmeister, Kann die Lebensdauer von Ingenieurbauwerken verlängert werden?

ÖIAZ 167 [November 2022], 34)

1) Für den Lebens­ und Wirtschaftsraum wichtige Bauwerke; nicht im Eurocode vorgesehen.

2) Nutzungsdauer des Koralmtunnels und des Semmering­Basistunnels.

3) Nutzungsdauer des Brenner Basistunnels.

● Wiederverwendung (reuse oder rebuild) mit Nutzung einzelner Bauelemente aus nicht mehr benötigten Bauwerken in neuen Baustrukturen;

● Kreislaufwirtschaft mit der Wiederverwertung (Recycling) von Baustoffen (wie Beton und Stahl) sowie der Wiederverwendung von diesen zur Herstellung von neuen Bauteilen und Bauwerken;

● stoffliche Aufwertung (Upcycling) von Baustoffen durch gezielte baustoffliche oder bautechnische Optimierungen.

Aufgrund des hohen Material­ und Energieverbrauchs sowie des immer noch sehr hohen Abfallaufkommens auf Baustellen muss das zukünftige Bauen viel schneller, emissions­ und abfallärmer sowie sicherer verlaufen. Das ist ein Auftrag an die Modularisierung und Automatisierung der Bauprozesse!

Einerseits müssen die Baustoffe eine wesentlich bessere Klimaverträglichkeit haben und andererseits müssen wir mit weniger Ressourcen aufgrund der Verknappung auskommen. Dazu wurden in den letzten Jahren zahlreiche Anstrengungen auf europäischer und nationaler Ebene unternommen, um das Nachhaltigkeitsbewusstsein zu schärfen und das Erreichen der Klimaneutralität sowie einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft zu beschleunigen.

2. Ressourcen sparen und Rezyklate verwenden

Es war der chinesische Philosoph Konfuzius (551 –479 v. Chr.), der sagte: „Wenn sich Wohlstand einstellt, brauche ihn nicht vollständig auf!“ Aktuell sind Sand, Kies und Schotter nach Wasser die meistgeförderten Rohstoffe der Welt. Diese dienen primär der Bauindustrie und werden dort in großen Mengen gewonnen und verwendet, wo gebaut wird. Weltweit werden nach Schätzungen der UNUmweltorganisation UNEP 47 bis 59 Mrd Tonnen an Material gefördert, wobei Sand und Kies den Großteil davon (68 bis 85 %) einnehmen.4

4 United Nations Environment Programme, Sand and Sustainability: Finding new solutions for environmental governance of global sand resources (2019).

Der nationale und globale Verbrauch von Rohstoffen zur Gewinnung von Gesteinskörnungen ist aufgrund der stetig steigenden Nachfrage, der zunehmenden Verstädterung, des Bevölkerungswachstums und der Entwicklung der Infrastruktur sehr hoch. Entsprechend ist das Wachstum der Nachfrage im Allgemeinen deutlich höher als jenes des Bevölkerungszuwachses.

Ist das Angebot an natürlichen Ressourcen aus geologischer Sicht zumindest im DACH­Raum (Deutschland, Österreich und Schweiz) zwar kaum limitiert, so sind die gewinnbaren (natürlichen) Ressourcen zur Herstellung von Gesteinskörnungen aufgrund umwelttechnischer, ökonomischer und gesetzlicher Vorgaben dennoch endlich.5

Gerade in der Nähe von städtischen Zentren macht es aufgrund von Transport­ und Logistikschwierigkeiten sowie aufgrund zunehmender mangelnder sozialer Akzeptanz sehr viel Sinn, dort gezielt die Kreislaufwirtschaft anzuwenden.

Die EU zielt durch rechtliche Vorgaben im Rahmen der Taxonomie­Verordnung6 auf eine Verwendungsquote von mindestens 70 % solcher Bauund Abbruchabfälle durch Recycling ab.

Die verfügbaren Mengen an qualitativ hochwertigen Recyclinggesteinskörnungen sind derzeit knapp und stehen einer deutlich höheren Nachfrage gegenüber. Aktuell sind Gesteinskörnungen aus Recyclingmaterial nach der EN 126207 nur begrenzt verfügbar. Beispielsweise können in Österreich derzeit nur zirka 10 % des Bedarfs an

5 Hilgers/Becker, Geologische Aspekte und Umfeldanalyse zur überregionalen Rohstoffverfügbarkeit von Beton – Sand, Kalkstein, Gips, in Karlsruher Institut für Technologie, Ressourceneffizienter Beton – Zukunftsstrategien für Baustoffe und Baupraxis (2020) 21; L. Weber, Der Österreichische Rohstoffplan (2012); Bundesamt für Landestopografie swisstopo, Bericht über die Versorgung der Schweiz mit nichtenergetischen mineralischen Rohstoffen (Bericht mineralische Rohstoffe) (2017), online abrufbar unter https://www.swisstopo.admin.ch/de/swiss topo/dokumente.detail.document.html/swisstopo­internet/de/ documents/lg­documents/Bericht_LG_Rohstoffe_dt.pdf.html

6 Verordnung (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. 6. 2020 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/2088, ABl L 198 vom 22. 6. 2020, S 13.

7 ÖNORM EN 12620: Gesteinskörnungen für Beton (Ausgabe: 15. 2. 2014).

148 Juli 2023 Klimaverträglich und ressourceneffizient konstruieren Fachartikel

Gesteinskörnungen durch Rezyklierung von Baurestmassen abgedeckt werden. Es steht nämlich einer Abbruchmenge von etwa 3,7 Mio Tonnen ein jährlicher Verbrauch von zirka 37 Mio Tonnen gegenüber.

Genau hier kommt der Kreislaufwirtschaft eine bedeutende Rolle zu. Mit Datenbanken könnten die möglichen Abbruchmengen und verwertbaren Rezyklatstoffe erfasst und gezielt in der näheren Umgebung (Transportdistanzen unter 100 km sind zu empfehlen) als Recyclingkörnung wieder eingesetzt werden.

Bei Fertigteilen ist die Rückführung des Betonabbruchs in den Kreislauf zur Herstellung neuer Fertigteile in Bezug auf die Minimierung des Ressourcenverbrauchs sehr erstrebenswert. Die Verwendung von Recyclingzuschlägen (selbst wenn die Anteile unter 2 oder 4 mm mit Natursand ersetzt werden) führt in Bezug auf die Nachhaltigkeit zu geringerem Ressourcenverbrauch und nur in optimierten Fällen auch zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen.8 Betrachtet man die Indikatoren (wie zB das Treibhauspotenzial der Betonherstellung), so ist der Einfluss der Gewinnung bzw Erzeugung natürlicher Gesteinskörnung eher begrenzt, wie die Darstellung des jeweiligen Treibhauspotenzials der einzelnen Komponenten am Beispiel der Herstellung eines Betons der Druckfestigkeitsklasse C30/37 veranschaulicht (siehe Abbildung 2).

Aus ressourcentechnischer und ökologischer Sicht ist eine Aufbereitung und Wiederverwertung von Betonabbruchmaterial gegenüber der Deponierung grundsätzlich zu bevorzugen. Ob die Verwendung rezyklierter Gesteinskörnung in der Ökobilanz der Betonherstellung zu einer Verminderung der Umweltwirkungen führt, ist daher für jeden Einzelfall zu betrachten und hängt insbesondere vom jeweiligen Verhältnis der Transportentfernungen von natürlicher zu rezyklierter Gesteinskörnung ab.

3. Hinweise zum klimaverträglichen und ressourceneffizienten Konstruieren

3.1. Baustoffe

Eine wichtige Rolle beim klimagerechten Konstruieren spielen die Baustoffe (wie Beton, Stahl Holz etc). Ein Planer wird nach Zielkriterien zur Erreichung der Funktionen, der Ästhetik, der Tragsicherheit, der Gebrauchstauglichkeit und der Dauerhaftigkeit, aber auch der Wirtschaftlichkeit und der Umweltverträglichkeit die Baustoffe optimal auswählen.

Neben einigen besonders emissionsstarken Baustoffen (wie Zement und Stahl) müssen auch die Transporte und die Baumethoden betrachtet werden. Die Untergliederung des Lebenswegs von Baumaterialien und Bauwerken in Lebenszyklusabschnitte ist in der EN 158049 festgelegt. Der Le­

8 Glock/Hondl, Fertigteile aus Recyclingbeton – Ergebnisse des Forschungsprojektes SeRaMCo, Bauingenieur 2022, 215.

9 ÖNORM EN 15804: Nachhaltigkeit von Bauwerken – Umweltproduktdeklarationen – Grundregeln für die Produktkategorie Bauprodukte (Ausgabe: 15. 2. 2022).

Zusatzstoffe

020406080100 Gesteinskörnung

Sons ges % Zement Gesteinskörnung Zusatzstoffe Sons ges 65 11915

bensweg wird dabei in die Module A bis D unterteilt. Die Module A1 bis A3 beschreiben die Herstellungsphase, die Module A4 und A5 die Errichtungsphase (Transport zur Baustelle und Bau bzw Einbau), die Module B1 bis B7 die Nutzungsphase, die Module C1 bis C4 die Phasen der Entsorgung inklusive des Abbruchs und der Transporte und das Modul D die Recycling­, Rückgewinnungs­ oder Wiederverwendungspotenziale für eine weitere Lebensphase eines Baustoffs.

Wie in Abbildung 3 aufgezeigt, sollten wir die emissionsstärksten Elemente entlang des Lebensweges (Phasen A, B und C) optimieren. Hierbei zeigt sich, dass wir die Hebel bei den Baustoffen (soweit möglich), beim Betrieb und in Europa auch bei den Transporten und den Baumethoden anset

zen müssen!

Die Grundlagen und emissionsrelevanten Treibhausgasemissionen (global warming potential) sind von Land zu Land je nach Herstellung der Baustoffe verschieden und müssen sehr sorgfältig überprüft werden. Dazu wurden im Rahmen der Österreichischen Bautechnik Vereinigung (ÖBV)10 für Infrastrukturen auf der Basis des Forschungsprojekts „Decarbonisation first“ gemeinsam mit dem Umweltbundesamt ein Berechnungswerkzeug LCCO2 mit abgesicherter environmental product declaration (ist eine Typ III­Umweltdeklaration, also eine ökologische Information entlang des Lebenswegs eines Baustoffs) erstellt.

Nachdem Beton als der wichtigste Baustoff weltweit gilt und Zement für bis zu 8 % der weltweiten jährlichen CO2­Emissionen verantwortlich ist, stehen die Zementindustrie und damit die ge­

Abbildung 3: Einschätzung der Emissionen für Gebäude und Infrastrukturbauwerke (Quellen: Bergmeister, The Beauty of Simplicity and Recyclability; Kasuga, Sustainable Approaches for the future, beide fib Symposium Istanbul 2023)

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A1 – A3 (herstellen) A4 – A5 (bauen) B1 – B7 (betreiben) C1 – C4 (entsorgen) EU Infrastrukturen 42 % 17 % 37 % 4 % EU Gebäude 38 % 15 % 42 % 5 % Japan Gebäude und Infrastrukturen 36 % 2 % 60 % 2 %
Siehe https://www.bautechnik.pro/Arbeitskreise/forschung
Abbildung 2: Einflussgrößen auf das Treibhauspotenzial der Herstellung eines Betons der Druckfestigkeitsklasse C30/37 (Quelle: Haist ua, Nachhaltig konstruieren und bauen mit Beton, in Bergmeister/Fingerloos/ Wörner, Beton-Kalender 2022 [2022] 421) Zement

samte Wertschöpfungskette von Zement und Beton vor großen Herausforderungen. Hintergrund ist, dass bei der Herstellung von Zement bzw seinem Vorprodukt Zementklinker große Mengen an CO2 freigesetzt werden. Rund zwei Drittel davon entfallen auf rohstoffbedingte Prozessemissionen aus der Entsäuerung des Kalksteins und rund ein Drittel auf energiebedingte CO2­Emissionen aus dem Einsatz der für den Entsäuerungsprozess notwendigen Brennstoffe. Als ein wesentliches Element müssen die Klinkergehalte im Zement gesenkt und verstärkt fossile Energieträger eingesetzt werden.

Künftig werden die calcinierten Tone eine wichtige Rolle als Zusatzstoff für den Zement spielen. Gegenüber dem im Drehofen gebrannten Klinker weisen sie eine deutlich geringere CO2­Menge auf, die sich im Mittel auf etwa 150 kg CO2 pro Tonne gebrannter Ton beläuft.

Die Bewehrung von Beton erfolgt durch Einlegen von Betonstahl, Spannstahl oder neuerdings auch durch Carbonbewehrung (Stab­ und Mattenbewehrung) oder die Zumischung von Fasern aus Stahl, Glas, Basalt, Carbon oder anderen verstärkten Kunststoffen.

Weltweit werden jährlich zirka 160 Mio Tonnen Bewehrungsstahl verbaut. Derzeit werden für die Herstellung von Stahl das Sauerstoffblasverfahren und das Elektrolichtbogenverfahren verwendet. Im ersten Fall werden Roheisen und/oder Stahlschrott im Hochofen zu Stahl verarbeitet. Im zweiten Fall wird Stahlschrott zu flüssigem Stahl geschmolzen. Im Jahr 2019 wurde Stahl in Europa zu 59,1 % durch Sauerstoffblasstahlerzeugung und zu 40,9 % mithilfe des Elektrolichtbogenofens hergestellt.11 Beide Verfahren unterscheiden sich bezüglich ihrer durchschnittlichen Umweltwirkungen durch Verwendung von Kohle als primärem Brennstoff im ersten sowie Stahlschrott und Strom im zweiten Fall. Für die Hochofenroute gilt: Um eine Tonne Rohstahl zu erzeugen, sind zirka zwei Tonnen Rohstoffe notwendig!

Aktuell wird mit der Hybridtechnologie ein schrittweiser Umstieg von der kohlebasierten Hochofen­ auf eine grünstrombasierte Elektrostahlroute versucht. Dabei zählen neben Schrott auch flüssiges Roheisen und Eisenschwamm zu den wichtigsten Vormaterialien für die zukünftige CO2­neutrale Herstellung hochqualitativen Stahls. Die CO2­Emissionen können durch diese Hybridtechnologie um rund 30 % gesenkt werden.

Im Rahmen von mehreren Forschungsprojekten (zB SuSteel – Sustainable Steelmaking) versucht die voestalpine gemeinsam mit Universitäten, Rohstahl ohne CO2­Emission zu erzeugen.12

In nur einem Verfahrensschritt soll mittels Wasserstoffplasmas das im Erz zugeführte Eisen von seinem Sauerstoffbegleiter (Reduktion) getrennt und für die weitere Verarbeitung geschmolzen auf. Daher wird dieses Verfahren auch „hydrogen plasma smelting reduction“ genannt.

11 Haist ua, Nachhaltiger Betonbau – Vom CO2­ und ressourceneffizienten Beton und Tragwerk zur nachhaltigen Konstruktion, in Fouad, Bauphysik­Kalender 2023 (2023) 259.

12 Siehe https://www.voestalpine.com/blog/de/verantwortung/ forschungsprojekte­fuer­eine­gruene­stahlproduktion

Im Hochbau­ und Infrastrukturbau werden für den Stahl­ und Spannbeton je nach Konstruktionsart Stahlmengen zwischen 50 und 250 kg/m3 verwendet. Der Betonstahl trägt mit zirka 15 bis 60 % (je nach Bewehrungsgehalt, Herstellverfahren und Transportweg des Stahls) zu den ausgangsstoffbedingten CO2­Emissionen eines konstruktiven Betonbauteils bei.

Daher müssen wir die Bauteile optimiert konstruieren und nur so viel Bewehrungs­ und Spannstahl einlegen, als konstruktiv notwendig ist!13 Gerade auch im Mindestbewehrungsanteil liegt noch ein großes Optimierungspotenzial, das beispielsweise auch im Rahmen eines ÖBV­Forschungsprojekts aktuell untersucht wird.

3.2. Bauwerke ressourceneffizient und klimaverträglich konstruieren

Ziel eines ressourceneffizienten Entwerfens, Bemessens und Konstruierens ist die Ausrichtung der Tragstruktur unter Berücksichtigung der Ästhetik auf den lastabtragenden Kraftfluss. Es sollte nur so viel Material verwendet werden, was unbedingt notwendig ist!

Häufig werden in aktuellen Forschungen Tragwerke als Stabwerke oder Bögen ausgebildet. Auch werden mit Optimierungsmethoden Formen aus der Natur (wie von Bäumen, Pflanzen oder Muskelstrukturen) verwendet, um eine bionische Tragstruktur zu entwickeln.

Das reale Bauen ist aber komplexer!

Neben der primären Lastabtragung werden Tragelemente auch für Ein­ und Ausbauten verwendet. Daher sollten neu konstruierte Tragstrukturen sowohl für eine lange Nutzungsdauer als auch für eine möglichst flexible Nutzung geplant werden!

Ganz allgemein müssen wir das Augenmerk auf ein digital basiertes Planen und Konstruieren (BIM) sowie auf eine schnelle und effiziente Bauabwicklung legen. Dabei spielt das modularisierte Bauen mit Fertigteilen eine wichtige Rolle.

Fertigteile werden im Hochbau für Wände, Decken, Fundamente, Stützen, Stiegen, Fassaden, im Infrastrukturbau (zB Tübbinge, Stützwände, Hohlkastenelemente, Brückenbalken und ­platten), in der Umwelttechnik (Behälter, Rohre, Auffangbecken, Schächte, Abdeckungen etc), in der Landwirtschaft (Behälter, Bunker, Silos, Futtertröge, Zaunelemente, Weideroste, Bodenelementen etc), im Straßen­ und Eisenbahnbau und mittlerweile auch im Innenausbau verwendet.

Die Digitalisierung hat gerade in der Fertigteilindustrie von der Planung über die automatisierte Herstellung bis hin zum Einbau bereits Einzug gehalten. Dabei werden die BIM­basierten Konstruktionspläne online in das Fertigteilwerk direkt zu den CAM­Anlagen für die Herstellung der Fertigteile gesandt. Mittels QR­Codes werden die einzelnen Fertigteile gekennzeichnet und haben damit die besten Voraussetzungen in einer späteren Zeitphase wiederverwendet zu werden.

13 Putke/Bergmeister/Mark, Wirtschaftliches Konstruieren und Bewehren, in Bergmeister/Fingerloos/Wörner, Beton­Kalender 2016 (2016) 695.

150 Juli 2023 Klimaverträglich und ressourceneffizient konstruieren Fachartikel

Auch unterstützen neue Vertragsmodelle und partnerschaftliche Realisierungsmodelle die nachhaltige Optimierung der Lebenszyklusphasen. Planung muss als ein Gestaltwerdungsprozess einer Idee verstanden werden, der schleifen­ oder stufenartig und iterativ über die Zeitachse entsteht. Bei diesem stufenweisen Such­ und Entscheidungsprozess wechseln sich regelmäßig kreative, analytische und interdisziplinäre Phasen ab, die durch Rückkopplungen miteinander verbunden sind und aufeinander aufbauen. Um klimaverträgliche und ressourcenschonende Bauwerke zu erstellen, müssen die Chancen innovationsgetriebener Unternehmen genutzt und die Risiken durch analytische und phänomenologische Methoden begrenzt werden.14 Die Entwicklung solcher Realisierungskonzepte ist die logische Konsequenz, um den zukünftigen Anforderungen sowie der steigenden Komplexität gerecht zu werden.

Beispielhaft werden für den Hochbau einige Deckensysteme in Bezug auf deren Klimaverträglichkeit (CO2­Emission) verglichen.15 Allgemein kann festgehalten werden, dass das statische System einen relativ geringen Einfluss auf die Ökobilanz hat. Bei den Spannweiten zeigt sich jedoch mit zunehmender Länge (quadratischer Anteil beim Biegemoment) eine lineare Zunahme des Eigengewichts und damit eine erhöhte Wirkung auf die Ökobilanz. Bereits im Markt verfügbare und praxiserprobte Deckensysteme (wie beispielsweise Hohlkörperdecken, Spannbetonhohldielen, Rippendecken oder Holz­Beton­Verbunddecken) sind bereits ressourceneffiziente und emissionsarme Tragelemente.

Die ökologische Bewertung für die Bauteile erfolgte sowohl für die Herstellungsphase (Module A1 bis A3) als auch für die Entsorgungsphase (Module C3 und C4).

Es wurden statisch bestimmte Systeme mit Spannweiten zwischen 5 und 10 m mit einer Nutzlasteinwirkung von 5 kN/m2 betrachtet.

Die massive Stahlbetondecke weist die größten Emissionswerte auf und wurde mit 100 % angesetzt. Mit einer Hohlkörperdecke, vorgespannten Hohldiehlen, Plattenbalkendecke oder einer teilweisen Substitution von Beton und Stahl mit Holz (siehe Holz­Verbund­Decke) kann eine Reduktion der Treibhausgasemissionen erzielt werden.

Die Brettsperrholzdecke weist die geringsten CO2­Äquivalente auf. Jedoch müssen bei diesen Decken aus Holzwerkstoffen mit zunehmender Spannweite die Gebrauchstauglichkeit sowie vor allem die akustischen Wirkungen (Vibrationen) berücksichtigt werden.

Durch die Verwendung von emissionsreduzierten Zementen (beispielsweise gibt es in Österreich bereits vier zugelassene emissionsarme CEM II/C

14 Bergmeister, Holistisches Chancen­Risiken­Management von Großprojekten (2021).

15 Heckmann/Glock, Ökobilanz im Bauwesen – Treibhausgasemissionen praxisüblicher Deckensysteme, Beton­ und Stahlbetonbau 2023, 110; Kromoser, Analyse des ökologischen Einflusses von konstruktiv verwendeten Baumaterialien, ÖIAZ 167 (November 2022), 7.

für die Betonarten B1, B2 und B3) können die Emissionswerte vom Beton um zirka 40 % reduziert werden. Diese nur durch Wahl des Zements möglichen reduzierten Emissionswerte wurden in Abbildung 4 auch qualitativ erfasst.

Wesentlich sind auch die Herstellungsart und die Transportlänge des Stahls (Bewehrungs­, Spann­ und Profilstahl).

Bei solchen allgemeinen ökologischen Vergleichsbetrachtungen sollen nur relative und nicht absolute Werte dargestellt werden, da die absoluten Global-warming-potential­Werte sehr individuell von den verwendeten Baustoffen und deren Bestandteilen sowie Herstellungsverfahren abhängen.

Gewölbedecken oder Stahlbeton­Rippen­ oder Hohlkörperdecken aus der Vergangenheit waren bereits ressourceneffizient. Wichtig ist festzuhalten, dass für den Hochbau nicht nur die Decken, sondern vor allem auch die Wände, Fundamente, Dächer und die aussteifenden Kerne optimiert werden müssen.

3.4. Brückenbau

Im Brückenbau werden je nach Spannweite, Konstruktionsart und Brückentyp vielfach Beton und Stahl verwendet. Holzbrücken werden vorzugsweise für Fußgänger­ und Fahrradbrücken sowie solche kleineren Spannweiten verwendet. Auch spielen im Brückenbau die ästhetische Formfindung und die Landschaftseinbindung eine ganz entscheidende Rolle.

Beispielhaft wird eine integrale Fuß­ und Radfahrbrücke mit einer Spannweite von zirka 30 m erläutert. Es handelt sich um den Herzogsteg in Eichstätt (Deutschland), der 2022 mit dem Bayerischen Ingenieurbaupreis ausgezeichnet wurde (siehe Abbildungen 5 bis 7).16

16 Siehe https://bayerischer­ingenieurpreis.de/ip/preistraeger2023/ index.php

Abbildung 4: Relative Gegenüberstellung des Treibhauspotenzials (global warming potential) von Deckensystemen (Einfeldträger 5 m < l < 12 m, Lebenszyklusphasen A1, A2, A3, C3 und C4)

Juli 2023 151 Klimaverträglich und ressourceneffizient konstruieren Fachartikel
3.3. Hochbau

Abbildung 5: Längsschnitt des Herzogstegs

Abbildung 6: Querschnitt mit Längs­ und Querkraftbewehrung aus nicht rostendem, warmgewälztem Betonstabstahl B670B NR „Top 12“, Werkstoffnummer 1.4003

tet. Die maxinale Plattendicke am Anschnitt zum Widerlager beträgt 90 cm, jene am Scheitel 50 cm. Im Querschnitt verjüngt sich die Brücke stromlinienförmig zu den Rändern hin (siehe Abbildung 6). Die ausgerundete Brückenuntersicht soll dem Hochwasser und dessen Treibgut möglichst wenig Angriffsfläche entgegensetzen und Umlenkungsmöglichkeiten in Fließrichtung bieten. Im Falle eines Hochwassers ist das Geländer einfach händisch innerhalb kürzester demontierbar.

Zum Nachweis der Dauerhaftigkeit (die Fahrbahnplatte wurde nur hydrophobiert ausgeführt) erfolgte eine Versagenswahrscheinlichkeitsberechnung für eine Nutzungsdauer von 100 Jahren. Dabei wurde eine mittlere Betondeckung von 42 mm mit einer Standardabweichung von 9 mm gewählt. Der geforderter Zuverlässigkeitsindex β0 zum Ende der vereinbarten Nutzungsdauer wurde für eine Expositionsklasse XD3 mit β = 0,5 angenommen. Auch wird davon ausgegangen, dass die Brücke regelmäßig inspiziert und gewartet wird.18

3.5. Tunnelbau

Im Tunnelbau kann die Ressourceneffizienz vor allem durch die Verwendung des Tunnelausbruchmaterials verbessert werden. Tunnelausbruchmaterial fällt gemäß AWG 2002 grundsätzlich in das Abfallregime. Tunnelausbruch und Bodenaushub sind vom Geltungsbereich der RBV19 ausgenommen, da beide noch nicht als Baustoff im Einsatz waren. Tunnelausbruch darf bei Einhaltung der Qualitätskriterien einer zulässigen Verwertung zugeführt werden und verliert bereits durch eine zweckerfüllende Nutzung seine Abfalleigenschaft.20

Abbildung 7: Ansichten des Herzogstegs in Eichstätt (Entwurf: Bergmeister Ingenieure und J2M Mayr Metz Architekten PartGmbB; Tragwerksplanung und Bauaufsicht: Bergmeister Ingenieure)

Die über zirka 30 m freitragende integrale Fußund Radwegbrücke ist lager­ und fugenlos konzipiert und wurde mit minimalem Ressourceneinsatz konstruiert.17

Die Rahmenwirkung wird durch die Kleinbohrpfähle mit den kräftig ausgebildeten Widerlagern aktiviert. Die Einspannmomente werden über Gegengewicht der Widerlager und Kräftepaare aus der Pfahlgründung abgetragen.

Die Brücke weitet sich im Grundriss trompetenförmig auf, sodass die Brückenbreite auf einer Seite 5,5 bis 9,8 m auf der anderen Seite aufwei­

17 Bergmeister/Taferner, The Beauty of Simplicity and Recyclability, in Ilki/D. Çavunt/Y. S. Çavunt, Building fort he Future: Durable, Sustainable, Resilient I (2023) 13.

Während karbonatische und magmatische Gesteinskörnungen aus dem Tunnelvortrieb einem Steinbruchmaterial sehr ähnlich sind (in Abhängigkeit der Löseart), zeigen metamorphe Gesteinskörnungen aufgrund der teilweise vorhandenen Schieferung bzw des unter Umständen hohen Schichtsilikatanteils stark anisotrope Eigenschaften. Ein erhöhter Schichtsilikatanteil hat außerdem oftmals eine verminderte Gesteinsfestigkeit zur Folge. Beides muss bei der Konzeption des Aufbereitungsprozesses bedacht werden, um die Eigenschaften der Gesteinskörnung und folglich die betontechnologischen Eigenschaften nicht negativ zu beeinflussen.21

Bei der Verwendung von Tunnelausbruch müssen die Eigenschaften des Ausbruchmaterials gemäß EN 12620 detailliert untersucht werden.22 Dabei soll auf die chemischen Eigenschaften des

18 Ingenieurbüro Schiessl Gehlen Sodeikat GmbH, Gutachterliche Stellungnahme zur Dauerhaftigkeitsbemessung (unveröffentlicht).

19 Verordnung des Bundesministers für Land­ und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft über die Pflichten bei Bau­ oder Abbruchtätigkeiten, die Trennung und die Behandlung von bei Bau­ oder Abbruchtätigkeiten anfallenden Abfällen, die Herstellung und das Abfallende von Recycling­Baustoffen (RecyclingBaustoffverordnung – RBV), BGBl II 2015/181 in der Fassung BGBl II 2016/290.

20 ÖBV­Richtlinie „Verwendung von Tunnelausbruch“ (2015).

21 Voit/Zeman/Murr/Bergmeister/R. Arnold, Aufbereitung und Wiederverwertung von Tunnelausbruchmaterial beim Brenner Basistunnel, Beton­ und Stahlbetonbau 2015, 832.

22 Voit/Hron/Bergmeister, Das Potential rezyklierter Gesteinskörnung für einen nachhaltigen Betonbau, ÖIAZ 167 (November 2022), 36.

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Gesteins, welche die Dauerhaftigkeit der daraus hergestellten Baustoffe stark beeinflussen (zB die Widerstandsfähigkeit gegenüber einer AlkaliKieselsäure­Reaktion), besonderes Augenmerk gelegt werden.23 Bei den langen Basistunnels in der Schweiz und Österreich wurden und werden im Mittel bis zu 40 % vom Tunnelausbruch für die Betonherstellung wiederverwendet.

Ein wichtiger Punkt im Tunnelbau ist das ressourceneffiziente Konstruieren der Tunnelschalen. Einerseits können beim maschinellen Vortrieb die Tübbinge geometrisch optimiert werden und andererseits die Bewehrungsmenge entsprechend den statischen Gebirgseinwirkungen und Bauzuständen optimiert werden. Zu diesem Themenbereich wurden an der Ruhr­Universität Bochum im Rahmen des Sonderforschungsbereichs SFB 837 „Interaktionsmodelle für den maschinellen Tunnelbau“ (77309832) vorbereitende Untersuchungen über materialeffiziente Tübbinge mit Hybridbewehrung durchgeführt (siehe Abbildung 8).24

Auch kann durch die Verwendung von emissionsarmen (aber sulfatbeständigen) Zementen die Klimaverträglichkeit ganz wesentlich verbessert werden.

Gerade im Tunnelbau kann sowohl mit den Baustoffen als auch mit einer optimierten Baulogistik25 und mit kürzeren Transportwegen die Nachhaltigkeit wesentlich verbessert werden. Einen ganzheitlichen Bewertungsansatz zur Betrachtung der Nachhaltigkeit von Tunnelbauwerken haben J. Schwarz/Keuser/Engelhardt vorgeschlagen.26

Besonders sollte auf Nachhaltigkeit bei langen Basistunnels aufgrund ihrer enormen Ausmaße und des großen Ressourceneinsatzes und auch aufgrund ihrer Leuchtturmwirkung geachtet werden.27

Ausblick

Eine der größten aktuellen Herausforderungen im Bauwesen ist ein effizientes, klimaverträgliches und ressourceneffizientes Konstruieren und Bauen. In Österreich hat man durch die Schaffung einer ÖBV­Arbeitsgruppe zur Nachhaltigkeit im Bauwesen wesentliche Grundlagen geschaffen, sämtliche Akteure vernetzt und herzeigbare Forschungsprojekte vorangetrieben. Mit Methoden der Ökobilanzierung und der Umweltproduktdeklarationen (environmental product declarations) kann vom Ausgangsrohstoff bis zur Entsorgungsphase eine ökologische Bewertung durchge­

23 Murr/Cordes/M. Hofmann/Bergmeister, Autarkic aggregate supply with recycled tunnel spoil at the Brenner Base Tunnel, in Peila/Viggiani/Celestino, Tunnels and Underground Cities: Engineering and Innovation Meet Archaeology (2019) 495.

24 Petraroia/Ahrens/Mark, Materialeffiziente Tübbings mit Hybridbewehrung – Entwurf, Herstellung und Bauteilexperimente, Beton­ und Stahlbetonbau 2023, 98.

25 Lückmann, Ökobilanz von Tunnelvortrieben im Vergleich von TBM­Vortrieb zur Spritzbetonbauweise mit Band­ oder Dumperschutterung (Masterarbeit, Universität der Bundeswehr München 2012).

26 J. Schwarz/Keuser/Engelhardt, Nachhaltigkeit im Tunnelbau, in Bergmeister/Fingerloos/Wörner, Beton­Kalender 2014 (2013) 469.

27 Bergmeister, Überblick über lange Basistunnels und deren Herausforderungen, Vortrag am 7. Münchner Tunnelbau Symposium am 8. 7. 2022.

Abbildung 8: Beispiele von Tunnelinnenschalen mit möglichen Aussparungen oder mit unterschiedlichen Betons (Quelle: Petraroia/Ahrens/ Mark, Materialeffiziente Tübbings mit Hybridbewehrung – Entwurf, Herstellung und Bauteilexperimente, Beton­ und Stahlbetonbau 2023, 98)

führt werden (cradle to grave). Dazu wurde für die Ökobilanzierung von Infrastrukturbauwerken eine eigene mit dem Umweltbundesamt abgestimmte Datenbank erstellt. Das ist ein ganz wichtiger Schritt zur Vergleichbarkeit von Konstruktionen, jedoch ist damit noch kein Klimaziel erreicht!

Der Konstrukteur muss durch Variantenvergleiche unter Einbezug aktueller Forschungsergebnisse die ökologisch beste, bautechnisch sinnvollste und wirtschaftlich vertretbare Bauwerksvariante entwickeln. Um diese Ziele zu erreichen, soll zukünftig neben den Nachweisen der Tragsicherheit und Gebrauchstauglichkeit auch ein Nachweis der Klimaverträglichkeit durchgeführt werden.

Bei diesem Nachweis der Klimaverträglichkeit28 wurde ein zeitabhängiger Grenzzustand definiert, um in zeitlichen Abständen die notwendigen Ziele der Emissionsreduktionen zu erreichen. Daher fließen in diese Betrachtung auch die Leistungsfähigkeit und die Nutzungsdauer (je nach Betrachtungsebene) der Bauteile oder Bauwerke ein.

Allgemein muss die Betrachtung der Klimaverträglichkeit sowohl auf der Baustoff­ sowie auf der Bauteil­ und Bauwerksebene erfolgen. Für Infrastrukturbauwerke ist besonders die Netz­ oder Korridorebene entscheidend. Gerade bei längeren Verkehrsumleitungen, wenn Instandhaltungs­ oder Neubauarbeiten durchgeführt werden, erreichen die CO2Emissionen solcher Verkehrsumleitungen bis zu 1.000­fach höhere Werte als die Emissionen der Bauphase.

„Nur wer sein Ziel kennt, findet den Weg“, sagte der chinesische Philosoph Laotse im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Wir kennen mittlerweile das Ziel, daher werden wir auch die Wege finden!

28 Haist ua, Nachhaltig konstruieren und bauen mit Beton, in Bergmeister/Fingerloos/Wörner, Beton­Kalender 2022 (2022) 421; Bergmeister, Grenzzustand der Klimaverträglichkeit in der Tragwerksplanung, in Viet Tue/Krüger/Freytag/Laggner,

5. Grazer Betonkolloquium 2022 (2022) 19.

Juli 2023 153 Klimaverträglich und ressourceneffizient konstruieren Fachartikel

Nachhaltigkeit von Verkehrsinfrastrukturen

Bewertung auf drei Ebenen

Der vorliegende Beitrag gibt Einblicke in aktuelle Forschungsaktivitäten im Bereich der Nachhaltigkeitsbewertung von Verkehrsinfrastrukturen. Gemäß den entsprechenden Planungs­ bzw Projektphasen wird hier zwischen den drei Bewertungsebenen Korridor, Bauwerk und Baustelle unterschieden. Als Beispielstudie wird dazu auf der Bauwerksebene die ökologische Untersuchung von Eisenbahnoberbauten im Tunnel und auf freier Strecke am Brennerkorridor präsentiert.

1. Einleitung

In der Bauwirtschaft ist das Thema „Nachhaltigkeit“ vor allem auf dem Gebäudesektor bereits seit Längerem etabliert. Weltweit existiert eine breite Anzahl an Zertifizierungssystemen für Gebäude.1 Im Infrastrukturbereich kommt der Nachhaltigkeitsgedanke bis dato etwas schleppender voran, findet jedoch in der jüngeren Vergangenheit vor allem bei großen Infrastrukturbetreibern immer öfter Berücksichtigung. Nachhaltigkeitsbewertungen von Infrastrukturbauten sind jedoch in der Regel sehr komplex und durch das Fehlen von standardisierten Bewertungssystemen mit hohem Aufwand verbunden. Die Umsetzung einer nachhaltigen Verkehrsinfrastruktur stellt daher die agierenden Ingenieure,2 aber auch die verwendeten Materialien sowie sämtliche Prozesse des Bauens und Instandhaltens der Infrastrukturen vor große Herausforderungen. Um die Nachhaltigkeitsthematik auf dem (Verkehrs­)Infrastruktursektor langfristig und vor allem effizient zu implementieren, ist auch hier die Entwicklung von standardisierten Bewertungssystemen zur Garantie der kontinuierlichen Verbesserung und Optimierung von Konstruktionen, Materialien, Bau­ und Instandhaltungsprozessen sowie der Netzentwicklung essenziell. Die kontinuierliche Weiterentwicklung leistet dabei einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals),3 der EU (europäischer Grüner Deal)4 und nationaler österreichischer Ziele5 sowie einer effizienten, kreislaufbezogenen, ressourcenschonenden, klimaverträglichen und nachhaltigen Baukultur.

2. Das laufende Forschungsprojekt LZinfra

Das laufende FFG­Forschungsprojekt LZinfra –Lebenszyklustool zur Nachhaltigkeitsbewertung von Verkehrsinfrastrukturen widmet sich den oben genannten Herausforderungen und verfolgt das vordergründige Ziel, ein standardisiertes Tool bzw

1 Friedrichsen, Nachhaltiges Planen, Bauen und Wohnen2 (2018).

2 Personenbezogene Bezeichnungen in diesem Beitrag beziehen sich auf alle Geschlechter. Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird das generische Maskulinum verwendet.

3 Vereinte Nationen, Ziele für nachhaltige Entwicklung. Bericht 2016 (2016), online abrufbar unter https://www.un.org/sustain abledevelopment

4 Siehe https://commission.europa.eu/strategy­and­policy/priori ties­2019­2024/european­green­deal_de

5 Siehe https://www.bmk.gv.at/themen/klima_umwelt/agenda2030/ bericht­2020/nachhaltigkeit.html

eine erste prototypische Umsetzung zur Nachhaltigkeitsbewertung von Verkehrsinfrastrukturen zu entwickeln. Die ökologische und die ökonomische Nachhaltigkeitsanalyse sollen dabei auf den drei Bewertungsebenen Korridor, Bauwerk und Baustelle erfolgen und Infrastrukturen der Straße und Bahn inklusive der Betrachtung von Tunnelund Brückenbauwerken analysieren (siehe Abbildung 1).

Durch die implementierten Ökobilanz­ und Lebenszykluskostenrechner, welche spezifische österreichische Datensätze von Materialien, Baustoffen, Bauprodukten und Prozessen hinterlegt haben, wird eine einheitliche, transparente und österreichweit abgestimmte Bewertung gewährleistet. Nicht aufeinander abgestimmte, komplexe und kostenintensive Einzelstudien können dadurch vermieden werden.

Das Bewertungswerkzeug LZinfra unterstützt durch die flexible Einsetzbarkeit branchenweit bei der Entscheidungsfindung und der fortlaufenden Optimierung von Konstruktionen, Materialien und Bauprozessen. Gerade eröffnen sich für Infrastrukturbetreiber, aber auch für Planer, Bauunternehmen und Materialhersteller neue und effiziente Möglichkeiten, ihre Infrastrukturelemente einer Nachhaltigkeitsbewertung zu unterziehen, um so geforderte Beiträge zur Erreichung von Umweltund Nachhaltigkeitszielen sicherzustellen.

3. Bewertung auf drei Ebenen

3.1. Vorbemerkung

Bei der Nachhaltigkeitsbewertung im Infrastrukturbau erfolgt die Betrachtung im Detail auf den drei Ebenen Korridor, Bauwerk und Baustelle. Die gesamthafte Reflexion liefert dann die nachhaltigste Lösung. Je nach Betrachtungsebene variiert der Detaillierungsgrad der vorhandenen Informationen und somit variieren auch die Möglichkeiten, bereits in frühen Projektstadien nachhaltig zu agieren. Nachfolgend werden im Sinne einer nachhaltigen Verkehrsinfrastruktur einige mögliche Optimierungsziele je Bewertungsebene aufgezeigt.

3.2.

Bei der Korridorebene spielt das Anlegen der Verkehrstrasse die entscheidendste Rolle, da vor allem die spätere verkehrliche Nutzung als Hauptemittent über den Lebenszyklus gilt.

Die Beispielstudie einer ökologischen Gegenüberstellung einer Passstraße und eines neu gebau­

154 Juli 2023 Nachhaltigkeit von Verkehrsinfrastrukturen Fachartikel
Korridorebene Dipl.­Ing. Lukas Hausberger, BSc. ist Universitätsassistent am Arbeitsbereich Baumanagement, Baubetrieb und Tunnelbau der Universität Innsbruck. Assoz. Prof. Dipl.­Ing. Dr. Florian Gschösser lehrt am Arbeitsbereich Baumanagement, Baubetrieb und Tunnelbau der Universität Innsbruck.

ten Scheiteltunnels mit Einbeziehung der verkehrlichen Nutzung verdeutlicht die bedeutende Rolle der richtigen Trassenwahl. So amortisieren sich die aufgewendeten Umweltbelastungen durch den Bau des Tunnels bereits nach 10 Jahren, da durch den Wegfall der erhöhten Betriebsemissionen durch das Fahren in der Steigung und das Bremsen im Gefälle generelle Einsparungen resultieren.6

Die nachhaltigste und ressourceneffizienteste Trassenvariante ist somit geprägt von geringen Steigungen, kurzen Wegstrecken, nachhaltigen und dauerhaften Bauwerken sowie unbeeinträchtigt fließendem Verkehr.

3.3. Bauwerksebene

Auf Bauwerksebene hat die Art und Weise des Entwerfens und Konstruierens des Bauwerks den größten Einfluss auf die Umweltbelastungen. Ein ressourceneffizientes und nachhaltiges Bauwerk sollte dadurch einige Konstruktionsgrundsätze verfolgen:

● Die Querschnittsgestaltung sollte im Sinne von optimierten Tragformen unter sparsamem Einsatz von Materialien möglichst an den Kraftfluss herangeführt werden.

● Die Bauwerke, Konstruktionen und verwendeten Bauprodukte sollten möglichst dauerhaft sein, sodass eine möglichst lange Lebensdauer erreicht wird.

● Die Lebensdauer von bestehenden Bauwerken sollte durch gezielten strategischen Einsatz von Instandhaltungsarbeiten verlängert werden. Die lange Lebensdauer stellt dabei den größten Hebel zur Verbesserung der Nachhaltigkeit dar, da die vollen System­ und Nutzungsreserven der Bauwerke ausgeschöpft und das Herstellen von neuen Bauwerken langfristig hinausgezögert werden kann. Zudem sollen Instandhaltungsarbeiten weitestgehend während des Betriebs durchgeführt werden, da verkehrliche Umleitungen und Sperren hohe Umweltbelastungen hervorrufen. Das zeigt auch die ökobilanzielle Studie am Beispiel einer Variantenuntersuchung an der Bahnbrücke der Strecke Bamberg – Rottendorf. Hier stellte sich heraus, dass eine eintägige Sperrung der Bahnstrecke den doppelten Ausstoß an CO2­Äquivalenten

6 Gschösser/Purrer/Sander, Environmental Effects of an Alpine Summit Tunnel, in Habert/Schlueter, Expanding Boundaries: Systems Thinking for the Built Environment (2016) 352.

(CO2 eq) verursacht, als die gesamten Instandhaltungsmaßnahmen emittieren.7

3.4. Baustellenebene

Auf der Ebene der Baustelle sind nachhaltige Baustoffe bzw die Bauprozesse in der Errichtung für das Nachhaltigkeitsergebnis maßgebend. Aus ökologischer und baustofftechnologischer Sicht sind vor allem Parameter wie die Herkunft der Energie für die Materialherstellung, die Anteile von Primär­ und Sekundärrohstoffen, die Menge an verwendeten Zumahl­ bzw Zusatzstoffen (zB kalzinierte Tone) etc ausschlaggebend. Nebst den Stoffrezepturen gilt die logistische Baustellenabwicklung im Sinne einer nachhaltigen, ökosozialen und kooperativen Bauabwicklung als jenes Potenzial zur Minimierung von Umweltbelastungen.8 Vor allem sind baubetriebliche Grundsätze (wie beispielsweise das Prinzip der kurzen Wege) und die eingesetzten Energieträger für die Baustelleneinrichtung und Transporte von Bedeutung.

4. Ökobilanz von Eisenbahnoberbauten9

4.1. Vorbemerkung

Als Beispiel für eine Bewertung auf Bauwerksebene wird eine ökologische Untersuchung von Eisenbahnoberbauten an der entstehenden Hochleistungsstrecke am Brennerkorridor auf der freien Strecke und im Tunnel vorgestellt. Die Analyse folgt dabei in ihrer Form der Methodik gemäß ISO 14040.10

4.2. Ziel

Zur Unterstützung der Entscheidungsfindung für die weitere Planung am Brenner Basistunnel verfolgt die Ökobilanzstudie das Ziel, die ökologischen Einflüsse von drei Schotteroberbauten mit besohlten Betonschwellen und einem Festen Fahr­

7 Gschösser/R. Schneider/Tautschnig/Feix, Retrofitting Measure vs. Replacement – LCA Study for a Railway Bridge, in Habert/ Schlueter, Expanding Boundaries: Systems Thinking for the Built Environment (2016) 472.

8 Österreichische Bautechnik Vereinigung, Ökologisierung & Nachhaltigkeit im Bauwesen – Sachstand (2022).

9 Auszug aus Hausberger/Cordes/Gschösser, Life Cycle Assessment of High­Performance Railway Infrastructure, Analysis of Superstructures in Tunnels and on Open Tracks, Sustainability 2023, 7064.

10 ÖNORM EN ISO 14040: Umweltmanagement – Ökobilanz –Grundsätze und Rahmenbedingungen (Ausgabe: 1. 3. 2021).

Abbildung 1: Die Inhalte und Bewertungsebenen von LZinfra

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bahnsystem im Tunnel und auf freier Strecke zu untersuchen.

Besonderes Augenmerk wird auf die Untersuchung der Auswirkungen einer Variation der minimalen und maximalen Lebensdauer gelegt, um verschiedene Streckenbedingungen (zB Gradienten, mehrere Kurvenfolgen) abzudecken.

Die Ergebnisse werden anhand der Herstellungsphase (A1 bis A3), der Errichtungsphase (A4 und A5), der Nutzungsphase (B2 bis B5) und der Entsorgungsphase (C1 bis C4) dargestellt und diskutiert.

4.3. Untersuchungsrahmen

Die funktionelle Einheit wird als die Bereitstellung von 1 km Oberbau definiert. Unter Einbeziehung der Richtlinien der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) und den örtlichen Gegebenheiten ergeben sich folgende Anforderungen für die Strecke:11

● Einspurige Strecke.

● Der betrachtete Abschnitt verläuft in einer Geraden: – Streckenrang S+ oder S – v max ≥ 160 km/h.

● Belastung > 50.000 Bruttotonnen pro Tag.

● Schienenprofil: 60E1.

● Stahlsorte der Schiene: R 260.

● Der Unterbau ist stets in gutem Zustand. Im Rahmen der Studie wird ein Cradle-to-cradleAnsatz mit einer Closed-loop-Recycling­Methode angewandt, da die Komponenten der Eisenbahninfrastruktur nach Angaben der ÖBB Infra AG nur teilweise für Hochleistungsstrecken wiederverwendet werden können. ZB können 40 % der Betonelemente, 50 % der Schienen und 30 % des Gleisschotters recycelt werden. Die übrigen Anteile werden deponiert oder entsorgt. Alle Lebenswegabschnitte von der Materialgewinnung (A1) bis zur Entsorgung (C4), ausgenommen die Phasen der Nutzungsanteile B1, B6, B7 und B8, werden berücksichtigt.

4.4. Sachbilanz

Die Ökobilanz der Oberbaukomponenten basiert hauptsächlich auf spezifischen Daten. Daten zu Betonmischungen, Rohstoffversorgung, Herstellungsverfahren, Energieverbrauch etc wurden durch Abfragen bei Herstellern, beim Bahnbetreiber bzw aus der Literatur12 erhoben. Wenn relevante spezifische Daten nicht zur Verfügung standen, wurden generische Daten aus der Datenbank ecoinvent 3.813 verwendet.

11 ÖBB Infra AG, Regelwerk 07.02.01 Schotteroberbau – Gleise: Planung und konstruktive Ausführung (2020); dieselbe, Regelwerk 07.05.01 Feste Fahrbahn (2018).

12 Gschösser/Cordes/Lumetzberger/Tautschnig/Bergmeister, Railway transport systems’ contribution to sustainable development, IOP Conference Series: Earth and Environmental Science 588 (2020) 052024; Gschösser/Lumetzberger/E. Burtscher/ Tautschnig, Ökologische Nachhaltigkeit von Großumbaumaschinen bei Ober­ und Unterbausanierungen von Bahntrassen, Bautechnik 2020, 462; siehe auch https://www.plassertheurer. com/de/machine/technologie/uebersicht

13 Siehe https://ecoinvent.org/the­ecoinvent­database/data­releases/ ecoinvent­3­8

4.5. Wirkungsabschätzung

Ausgehend von der Sachbilanz und dem definierten Produktsystem werden in der Wirkungsabschätzung die Umweltwirkungen quantifiziert und je Indikator präsentiert. Die folgenden Ergebnisse werden anhand des ausgewählten Indikators Klimawandel gesamt (global warming potential –GWP) in kg CO2 eq dargestellt und diskutiert.

4.6. Ergebnisse

Grundsätzlich zeigen die Life-cycle-assessment­Ergebnisse (Abbildung 2), dass die Herstellungs­ und Nutzungsphasen die größten Auswirkungen auf die Umwelt haben. Gerade in der Nutzungsphase (B2 bis B5) fallen die meisten Emissionen an. Diese Umweltbelastungen werden nicht durch den Betrieb (B1 oder B8) der Bahn verursacht, sondern durch die begrenzte Lebensdauer der jeweiligen Produkte herbeigeführt. Sobald eine Lebensdauer oder die maximal mögliche Liegedauer erreicht ist, wird das Bauteil ausgetauscht. Der Zeitraum zwischen erstmaligem Einbau und dem Austausch prägt die Umweltauswirkungen, da diese immer mit Herstellungs­, Bau­, Transport­ und Entsorgungsprozessen der neu ein­ und auszubauenden Oberbaukomponenten gekoppelt sind. Diese Arbeitsschritte des Austausches werden gemäß Punkt 6.2.4. der EN 1580414 den Umweltwirkungen der Nutzungsphase (B2 bis B5) zugeschrieben.

Die Lebenszyklusphasen der Errichtung (A4 und A5) und der Entsorgung (C1 bis C4) haben mit etwa 3 % nur einen marginalen Anteil an den gesamthaften Auswirkungen. Dies resultiert aus der großteils bahngebundenen Herstellung und der hohen Recyclingquote.

Im Falle des Schotteroberbaus (Abbildung 2a) ist die Umweltbelastung in der Herstellungsphase (A1 bis A3) relativ gering, in der Nutzungsphase (B2 bis B5) aufgrund des erhöhten Wartungsaufwands jedoch höher. Bei der Festen Fahrbahn (Abbildung 2b) zeigt sich, dass die Emissionen in den Phasen A1 bis A3 deutlich höher als bei der Schotteroberbauweise sind, in der Nutzungsphase jedoch aufgrund des wartungsarmen Gleises niedriger ausfallen. Bei Betrachtung der Lebensdauern der Oberbauprodukte (zB Schwellen 30 bis 40 Jahre, Feste Fahrbahn 80 bis 100 Jahre) zeigen sich die großen Unterschiede im Instandhaltungsaufwand und in den Austauschaktivitäten in der Nutzungsphase B2 bis B5. Abbildung 3 zeigt die untersuchten Oberbauvarianten während des Lebenszyklus.

Die Schwellen und Gleistragplatten mit längerer Lebensdauer können folglich länger im Gleiskörper verbleiben, wodurch der Wartungsaufwand geringer ausfällt. Dieser Effekt und die geringere Anzahl der Auswechslungen spiegeln sich in der Menge der emittierten CO2 eq wider. Eine Verlängerung der Lebensdauer zB der Betonschwellen um 10 Jahre bzw bei der Festen Fahrbahn um 20 Jahre führt daher zu einer Minimierung des GWP­Ergebnisses von zirka 31 %. In absoluten Zahlen wird eine Reduktion von zirka 1.100 Tonnen CO2 eq

14 ÖNORM EN 15804: Nachhaltigkeit von Bauwerken – Umweltproduktdeklarationen – Grundregeln für die Produktkategorie Bauprodukte (Ausgabe: 15. 2. 2022).

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pro Streckenkilometer über einen Zeitraum von 80 Jahren erreicht.

4.7. Fazit

Die Ergebnisse haben gezeigt, dass häufigere Modernisierungszyklen und die damit verbundene Neuherstellung von Oberbauelementen einen erheblichen Anteil an den gesamten Umweltauswirkungen haben. Anhand von Best­ und Worst-caseSzenarien wurde in der Studie festgestellt, dass eine Verlängerung der Lebensdauer von Oberbaukomponenten zu Einsparungen von rund 31 % an CO2 eq und zu einem geringeren Instandhaltungsaufwand führt. Die Umweltauswirkungen können durch eine Optimierung der Produkte hinsichtlich einer längeren und dauerhafteren Lebensdauer re­

duziert werden, was zu längeren Austauschzyklen führen wird. Das heißt, es kann der Einsatz neuer Produkte im Sinne der Ressourcenschonung in der Nutzungsphase (B2 bis B5) reduziert werden. Die Zunahme der Umweltauswirkungen aufgrund möglicher Konstruktionsänderungen (zB größeres Betonvolumen, Massenänderungen) in der Phase A1 bis A3 wird durch die längere Lebensdauer in der Nutzungsphase (B2 bis B5) kompensiert und führt zu allgemeinen Gesamteinsparungen.

Conclusio

Die Zahl an Nachhaltigkeitsbewertungen auf dem Infrastruktursektor ist in letzter Zeit stark gestiegen, wodurch der Bedarf für standardi­

Abbildung 2: Prozentuale Verteilung pro Lebenszyklusphase für (a) die Schwelle 1 und (b) die Festen Fahrbahn auf der freien Strecke bei Betrachtung der maximalen Lebensdauer bei einem Analysezeitraum von 80 Jahren

Abbildung 3: Vergleich der minimalen und maximalen Lebensdauer der Schwellen­ und Festen­FahrbahnVarianten je Lebenszyklusphase bei einem Analysezeitraum von 80 Jahren

Juli 2023 157 Nachhaltigkeit von Verkehrsinfrastrukturen Fachartikel Nachhaltigkeit von Verkehrsinfrastrukturen
(a) (b)

sierte Bewertungssysteme wächst. Beispielsweise bietet das laufende Forschungsprojekt LZinfra, welches ökologische und ökonomische Bewertungen miteinbezieht, künftig ein derartiges prototypisches Lebenszyklustool.

Wie die laufende Forschung bzw die durchgeführten Studien zeigen, bedarf es bei Nachhaltigkeitsbewertungen von Infrastrukturen einer Drei­Ebenen­Betrachtung, um bestmögliche Maßnahmen zur Klimaverträglichkeit zu setzen. Es ist erkennbar, dass gerade auf der Korridorebene mit der Trassenwahl die größten Potenziale zur Verringerung von Umweltbelastungen vorhanden sind. A fortiori ist die Einbeziehung von möglichen Verkehrsszenarien bei der Trassenwahl und bei Instandhaltungsarbeiten am Bauwerk zu berücksichtigen. Generell geht es auf Bauwerksebene

News – Aktuelles aus der Branche (I)

Kosten für Wohnhaus- und Siedlungsbau auch im Juni 2023 unter Vorjahresniveau

Der Baukostenindex für den Wohnhaus­ und Siedlungsbau lag im Juni 2023 bei 124,1 Indexpunkten. Verglichen mit Juni 2022 entspricht das einem Rückgang von 0,2 % und gegenüber dem Vormonat Mai 2023 einem Minus von 0,7 %.

Im Tiefbau sind die Kosten im Vorjahresvergleich nur im Brückenbau gesunken, in den anderen beiden Sparten sind die Baukosten gestiegen. Der Index für den Straßenbau erreichte 131 Punkte und lag damit um 0,8 % über dem Wert von Juni 2022; im Vergleich zum Mai 2023 zeigt sich ein Rückgang um 0,1 %. Der Brückenbau hielt bei 126,6 Indexpunkten. Die Kosten sanken im Jahresabstand somit um 4,2 %; im Vergleich zum Vormonat fiel der Index um 0,9 %. Die Kosten für den Siedlungswasserbau (127,1 Punkte) stiegen gegenüber Juni 2022 um 2,2 %; gegenüber Mai 2023 fiel der Index um 0,1 %.

Im Vergleich zum Juni 2022 verzeichneten die durch Stahlprodukte geprägten Warengruppen starke Kostenrückgänge, was sich insbesondere im Brückenbau ausgewirkt hat. Auch die Kosten für Kunststoffwaren sanken erheblich. Deutliche Kostenanstiege gegenüber dem Vorjahresmonat gab es bei der Warengruppe Transportbeton, Fertigmörtel sowie Natursteine, Bruchsteine, was vor allem in den Tiefbausparten (insbesondere im Straßenbau) die Kosten steigen ließ. In den Warengruppen Gusseisenwaren und ­rohre, Kunststoffrohre sowie Betonrohre kam es ebenfalls zu starken Kostenanstiegen, was vor allem im Siedlungswasserbau die Baukosten gegenüber dem Vorjahr erhöhte

VMF Immobilien: Dachgleiche bei Wohnbauprojekt mit Homeoffice-Konzept

Anfang Juli 2023 wurde beim neuen Projekt der VMF Immobilien in der Schillgasse 16­18 in 1210 Wien die Dachgleiche gefeiert. Bis Dezember 2023 werden auf dem erschlossenen Grundstück mit einer Grundstücksfläche von 996 m2 42 Eigentumswohnungen mit Wohnnutzflächen zwischen 30 und 104 m2 final fertiggestellt werden. Das Besondere an dem Projekt ist, dass sieben Einheiten über eine angeschlossene Bürofläche verfügen. Horst

darum, dass Konstruktionen entsprechend den Kraftflüssen weiter optimiert und dauerhaft für eine lange Lebensdauer entworfen werden. Dies zeigen auch die Ergebnisse der Eisenbahnoberbau­Ökobilanz, wo die Lebenszyklusverlängerung von 10 bzw 20 Jahren in einer Einsparung von 31 % an CO2 eq resultiert. Auf Baustellenebene erweisen sich Maßnahmen im Sinne der Kreislaufwirtschaft und der Einsatz von emissionsarmen Baustoffen mit kurzen Transportdistanzen als adäquate Mittel für eine nachhaltige Infrastrukturbaustelle.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Nachhaltigkeitsbewertung zukünftig größere Bedeutung gewinnen wird. Die ökologische Nachhaltigkeit wird dabei noch stärker in Planung, Ausschreibung, Ausführung, Instandhaltung und Entsorgung miteinfließen.

Lukaseder, Mitglied der Geschäftsführung VMF Immobilien: „Wohnen in ruhiger Lage mit guter Infrastruktur und nachhaltiger Beheizung sind charakteristisch für die Wohnanlagen von VMF Immobilien. Mit diesem Projekt gehen wir einen weiteren Schritt und bieten eine einzigartige Kombination aus nachhaltigem Wohnen und Arbeiten an. Durch die Integration von sieben Wohnungen mit angeschlossenen Büroflächen kommen wir dem Kundenwunsch nach einer modernen und professionellen Homeoffice-Lösung entgegen.“

Beheizung und Aufbereitung von Warmwasser erfolgen nachhaltig über die Wiener Fernwärme. Für hohen Wohnkomfort sind die Eigentumswohnungen hochwertig ausgestattet, bieten offene und flexible Grundrisse und verfügen über Freiflächen wie Balkone, Loggien und Terrassen. Hochwertige Wandfliesen sowie Bodenbeläge runden die Ausstattung ab. In der hauseigenen Tiefgarage stehen 21 Garagenplätze zur Verfügung. Für die Gesamtplanung ist die Kunath Trenkwalder ZT OG, für die Ausführung die Steiner­Bau GmbH verantwortlich.

Auch die Infrastruktur rund um das Projekt ist ausgezeichnet. Ein Nahversorger liegt gleich um die Ecke, zwei weitere 5 Gehminuten entfernt. In fußläufiger Entfernung befinden sich die Volksschule Schillgasse, eine Apotheke und eine Arztpraxis für Allgemeinmedizin.

Ebenfalls zu Fuß erreichbar sind der Franz­Polly­Park und die Lorettowiese/Aupark. Bis zum Bahnhof Jedlersdorf sind es 12, zur Buslinie 34A fünf, zur Buslinie 36A zwei und zum Bahnhof Floridsdorf 26 Gehminuten. Auch die Donauinsel und das Donauzentrum sind mit dem Auto in wenigen Minuten erreichbar.

DECK ZEHN gewinnt 5-Star Award beim diesjährigen

European Property Award in London

Ende Juni 2023 fand in London die Verleihung der diesjährigen European Property Awards statt. In der Kategorie „Residential Development 20+ Units Austria“ konnte – wie bereits im Vorjahr – das BUWOG­Projekt DECK ZEHN überzeugen, heuer allerdings konnte das Ergebnis getoppt werden: Das BUWOG­Projekt erhielt den 5­Star­Award und qualifizierte sich damit für die Teilnahme an den International Property Awards.

158 Juli 2023 Service

Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes

Ein elektrizitätswirtschaftsrechtlicher und mietrechtlicher Überblick zur Photovoltaikanlage

In Österreich werden derzeit mehr Photovoltaikanlagen gebaut als je zuvor. Der Trend, Gebäude mit erneuerbaren Stromerzeugungsanlagen zu versorgen, zeigt sich auch bei Mietobjekten. Im nachfolgenden Beitrag soll ein Überblick für Vermieter, die ihr Miethaus mit einer Photovoltaikanlage ausstatten wollen, über die wesentlichen Bestimmungen des Elektrizitätswirtschaftsrechts einerseits und des Mietrechts andererseits gegeben werden. Dabei soll insbesondere beleuchtet werden, welche Kosten der Anlage der Vermieter dem Mieter verrechnen darf.

1. Einleitung: Der Trend zur Photovoltaik

Im Jahr 2022 wurde in Österreich beim Ausbau von Photovoltaikanlagen ein Rekordwert von über 1.000 Megawatt zusätzlicher Kapazität überschritten. Nicht zuletzt setzen zahlreiche Förderungen hier Anreize für den Ausbau.

Rezente Novellen im Bereich des Bau­ und Wohnrechts spiegeln diesen deutlichen Trend wider, die Errichtung von Photovoltaikanlagen voranzutreiben. In diesem Sinn dient die letzte WEGNovelle 2022, BGBl I 2021/222, unter anderem auch der Erleichterung, Änderungen wie die Installation von Sonnenstromanlagen zur Eigenversorgung durchzuführen. Zuvor wurden durch die Schaffung der elektrizitätswirtschaftsrechtlichen Grundlagen für neue Formen der gemeinschaftlichen Energieerzeugung und ­nutzung wichtige Weichen gestellt, um die Photovoltaikanlage (aber auch andere Formen der erneuerbaren Stromerzeugung) in den urbanen Raum zu bringen. Am Beginn stand dabei die sogenannte Kleinen Ökostromnovelle, BGBl I 2017/108, die mit der Einführung der gemeinschaftlichen Erzeugungsanlage (§ 16a ElWOG 2010) die wichtigste Grundlage für den Betrieb von Photovoltaikanlagen innerhalb einer Liegenschaft mit mehreren Stromabnehmern geschaffen hat.

Nachfolgend soll ein Überblick über die Grundsätze des Elektrizitätswirtschaftsrechts und des Mietrechts zum Betrieb einer Photovoltaikanlage für Vermieter gegeben werden, die ihr Miethaus mit eigenproduzierten Strom aus einer Photovoltaikanlage versorge wollen.

2. Energieregulatorischer Rechtsrahmen

2.1. Die möglichen Betriebsmodelle

2.1.1. Allgemeines

Vermietern stehen grundsätzlich mehrere Modelle des Betriebs von Photovoltaikanlagen offen, wenn sie sich dazu entscheiden, auf ihrer Liegenschaft eine Photovoltaikanlage errichten zu lassen. Liegenschaftseigentümer können grundsätzlich die Anlage selbst betreiben und den produzierten

Strom für die Bewirtschaftung des eigenen Gebäudes bzw die eigene Betriebsstätte einsetzen. Auch besteht die Möglichkeit, die Anlage von einem Dritten betreiben zu lassen, der den produzierten Strom (in der Regel über eine Direktleitung nach § 70 ElWOG 2010) an sie veräußert oder (zur Gänze) in das öffentliche Netz einspeist. Der Liegenschaftseigentümer würde in der letztgenannten Variante durch die Flächennutzung Einnahmen lukrieren (Pachtzins).

Diese Modelle der Betriebsführung nehmen in unterschiedlichen Ausprägungen Einfluss auf die energieregulatorische Stellung des Liegenschaftseigentümers, insbesondere dahin, ob dieser als Erzeuger im Sinne des § 7 Abs 1 Z 17 ElWOG 2010 zu qualifizieren ist und ob mit dem Betrieb der Photovoltaikanlage ein Elektrizitätsunternehmen nach § 7 Abs 1 Z 11 ElWOG 2010 vorliegt. Diese Überlegungen stellen auch Vorfragen zum Netzzugang dar. Der Liegenschaftseigentümer wählt unter diesen Aspekten aus den unterschiedlichen Angeboten das passende Modell.

Mit der Qualifikation als Elektrizitätsunternehmen sind besondere regulatorische Verpflichtungen verbunden. Elektrizitätsunternehmen unterliegen beispielsweise speziellen Rechnungslegungsverpflichtungen (sogenannte buchhalterische Entflechtung) nach § 8 ElWOG 2010 und Auskunfts­ und (Buch­)Einsichtsverpflichtungen nach § 10 ElWOG 2010. Weiters sind Elektrizitätsunternehmen im Allgemeinen von der Teilnahme an Erneuerbare­Energie­Gemeinschaften ausgenommen. Erzeuger­Elektrizitätsunternehmen können nur eingeschränkt unter den Bedingungen des § 16c Abs 1 ElWOG 2010 an einer ErneuerbareEnergie­Gemeinschaft teilnehmen, sofern sie in ein Niederspannungs­ oder Mittelspannungsnetz nach § 16c Abs 2 ElWOG 2010 einspeisen und nicht von einem Versorger (§ 7 Abs 1 Z 74 ElWOG 2010), Stromhändler (§ 7 Abs 1 Z 65 ElWOG 2010) oder Lieferanten (§ 7 Abs 1 Z 45 ElWOG 2010) kontrolliert werden. An Bürgerenergiegemeinschaften dürfen Elektrizitätsunternehmen zwar teilnehmen, sind allerdings – und zwar unabhängig von der Unternehmensgröße – von der Ausübung von Kontrollfunktionen ausgeschlossen (§ 16b Abs 2 Z 3 ElWOG 2010). Eine wesentliche Rechtsfolge ist

Juli 2023 159 Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes Fachartikel
Dr. Hafize Stöhr ist Rechtsanwältin und Leiterin der Praxisgruppe Sustainability bei der KWR Karasek Wietrzyk Rechtsanwälte GmbH in Wien. © Georg Wilke

außerdem, dass § 2 Abs 1 Z 20 GewO 1994 den Betrieb von Elektrizitätsunternehmen vom Anwendungsbereich der GewO 1994 ausnimmt.1

Für den Vermieter, der das in seinem Eigentum stehende Miethaus mit der Photovoltaikanlage versorgen möchte, bestehen insofern dadurch regulatorische Vereinfachungen, als er zwar elektrizitätswirtschaftsrechtlich als Erzeuger gilt, allerdings in der Regel kein Elektrizitätsunternehmen betreibt.

2.1.2. Erzeuger und Elektrizitätsunternehmen

Im Allgemeinen lassen sich mehrere Arten von Elektrizitätsunternehmen unterscheiden. Ein Elektrizitätsunternehmen liegt vor, wenn in Gewinnabsicht von den Funktionen der Erzeugung, der Übertragung, der Verteilung, der Lieferung oder des Kaufs von elektrischer Energie mindestens eine wahrgenommen wird.2 Mit dem Betrieb einer Photovoltaikanlage liegt damit dann ein Elektrizitätsunternehmen nach § 7 Abs 1 Z 11 ElWOG 2010 vor, wenn eine juristische oder natürliche Person (oder eine eingetragene Personengesellschaft)

Elektrizität in Gewinnabsicht erzeugt (Erzeuger im Sinne des § 7 Abs 1 Z 17 ElWOG 2010).3 Auf den Hauptzweck des Unternehmens kommt es dabei nicht an.4 Als Erzeugung definiert § 7 Abs 1 Z 18 ElWOG 2010 die Produktion von Elektrizität, dies ohne jede Einschränkung und Spezifikation.5

Da bei der Beurteilung auf die jeweils konkrete Unternehmenstätigkeit bzw Funktion, nämlich die Erzeugung mit Gewinnerzielungsabsicht, abzustellen ist, betreibt jemand, der für den eigenen Bedarf Strom produziert, kein Elektrizitätsunternehmen.6

Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Erzeuger den nicht selbst verbrauchten Überschussstrom gewinnbringend an einen Dritten (Stromhändler oder die OeMAG Abwicklungsstelle für Ökostrom AG) verkauft, zumal der Verkauf von Elektrizität (auch in Gewinnerzielungsabsicht) in der Aufzählung des § 7 Abs 1 Z 11 ElWOG 2010 nicht enthalten ist.7

Eine hiervon abweichende Beurteilung kann sich allenfalls dann ergeben, wenn der erzeugte Strom der Photovoltaikanlage den Eigenbedarf des Betreibers der Photovoltaikanlage regelmäßig übersteigt. Dann wird nämlich (nach einer vorzunehmenden Einzelfallbeurteilung) davon auszugehen sein, dass die Erzeugung in Gewinnabsicht erfolgt, sodass ein Elektrizitätsunternehmen vorliegen würde.

2.1.3. Pacht und Contracting

Die oben dargestellten Grundsätze gelten allgemein unabhängig von den Eigentumsverhält-

1 Stolzlechner/Th. Müller/Seider/Vogelsang/Höllbacher, GewO4 (2020) § 2 Rz 98.

2 Dies gemeinsam mit der Wahrnehmung von kommerziellen, technischen oder wartungsbezogenen Aufgaben im Zusammenhang mit diesen Funktionen.

3 VwGH 30. 11. 2006, 2005/04/0168; B. Raschauer, Handbuch Energierecht (2005) 46.

4 VwGH 30. 11. 2006, 2005/04/0168.

5 VwGH 30. 11. 2006, 2005/04/0168.

6 Stolzlechner ua, GewO4, § 2 Rz 98; Schramek in Ennöckl/ N. Raschauer/W. Wessely, GewO (2015) § 2 Rz 128; Hauer/ K. Oberdorfer, ElWOG (2007) § 7 Rz 10 und § 12 Rz 19; VwGH 30. 11. 2006, 2005/04/0168; 18. 9. 2019, Ro 2018/04/0010.

7 VwGH 18. 9. 2019, Ro 2018/04/0010.

nissen an der Photovoltaikanlage. In diesem Sinn kann auch dann – das Vorliegen eines Elektrizitätsunternehmens ausschließende – Eigenerzeugung vorliegen, wenn der Liegenschaftseigentümer die Photovoltaikanlage lediglich gepachtet hat, solange sich der Liegenschaftseigentümer „selbst um die Stromerzeugung kümmert“. 8

Die bestehenden regulatorischen Vereinfachungen bei der Eigenversorgung können grundsätzlich auch bei einem contracting gegeben sein. Entscheidend ist, dass der Liegenschaftseigentümer (als Contracting­Nehmer) und nicht der contractor auf den täglichen Betrieb der Photovoltaikanlage Einfluss nimmt. Ist dies gegeben, so kommt der Liegenschaftseigentümer die Eigenschaft als Erzeuger zu. Bei den unterschiedlichen ContractingModellen gibt die Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses den Ausschlag.9

Ist der Liegenschaftseigentümer der Erzeuger, so kann die Photovoltaikanlage damit auch für die Verwertung des Überschussstrom über den bestehenden Netzanschluss (Zählpunkt) des Liegenschaftseigentümers an das öffentliche Netz angeschlossen werden. Ansonsten ist für den contractor bzw Verpächter ein neuer Netzzugang herzustellen.10 Die gemeinsame Nutzung eines Zählpunktes durch zwei verschiedene Netzzugangsberechtigte ist grundsätzlich nicht zulässig.11

2.1.4. Überblick: Betriebsmodelle Photovoltaikanlage

In Abbildung 1 soll ein Überblick über die möglichen Betriebsmodelle gegeben werden.

2.2. Die gemeinschaftliche Erzeugungsanlage (§ 16a ElWOG)

2.2.1. Voraussetzungen für den Betrieb

Die gemeinschaftliche Erzeugungsanlage ermöglicht den gemeinschaftlichen Betrieb und die gemeinschaftliche Nutzung von Photovoltaikanlagen auf einem Gebäude durch mehrere Stromabnehmer. Der typische Anwendungsfall ist der Betrieb von Photovoltaikanlagen zur Versorgung eines Mehrparteienhauses. Der Anwendungsbereich ist allerdings nicht hierauf beschränkt, sodass auch Gewerbeparks und dergleichen mit einer gemeinschaftliche Erzeugungsanlage versorgt werden können (§16a Abs 2 ElWOG 2010).12

Die gemeinschaftliche Erzeugungsanlage wird in § 7 Abs 1 Z 23a ElWOG 2010 definiert als eine Erzeugungsanlage, die elektrische Energie zur Deckung des Verbrauchs der teilnehmenden Berech­

8 Stolzlechner ua, GewO4, § 2 Rz 98; Schramek in Ennöckl/ N. Raschauer/W. Wessely, GewO, § 2 Rz 128; Hauer/K. Oberdorfer, ElWOG, § 7 Rz 16; VwGH 29. 1. 2002, 2000/05/0152; 24. 2. 2004, 2002/05/0010.

9 Siehe zum contracting auch Stangl/Biley, Contracting & PPA, RdU 2023, 4.

10 Stangl/Biley, RdU 2023, 6.

11 E­Control Regulierungskommission 4. 3. 2020, R STR 05/19, online abrufbar unter https://www.e­control.at/documents/1785851/0/R+ STR+05_19+BescheidPV_indirekter+Anschluss+%281%29.pdf/ 6019bb91­3e4b­f1fd­2c43­fd30ef8863c6?t=1585120017439; Hodasz in Ennser, EAG (2022) § 16d ElWOG Rz 8; Stangl/Biley, RdU 2023, 6.

12 ErlRV 1519 BlgNR 25. GP, 10 f.

160 Juli 2023 Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes Fachartikel

Modell Eigenversorgung Modell Flächenverpachtung

Betriebsführung Der Liegenschaftseigentümer betreibt die Photovoltaikanlage. Der produzierte Strom wird für die Bewirtschaftung der Liegenschaft verwendet. Der Überschussstrom wird in das öffentliche Netz eingespeist.

Der Liegenschaftseigentümer überlässt dem Pächter Grundstücks­ bzw Dachflächen für den Betrieb der Photovoltaikanlage. Der Pächter betreibt eigenverantwortlich und selbständig auf der überlassenen Fläche die Photovoltaikanlage. Der produzierte Strom wird zur Gänze in das öffentliche Netz eingespeist.

Erzeuger (§ 7 Z 17 und 18 ElWOG 2010)

Der Liegenschaftseigentümer ist Erzeuger und Verbraucher (prosumer).

Netzanschluss Die Photovoltaikanlage wird über den Netzanschluss des Liegenschaftseigentümers (Zählpunkt) mit dem Netzsystem verbunden.

Abbildung 1

tigten erzeugt.13 Teilnehmende Berechtigte sind nach § 7 Abs 1 Z 66a ElWOG 2010 juristische oder natürliche Personen oder eingetragene Personengesellschaften, die mit ihrer Verbrauchsanlage einer gemeinschaftlichen Erzeugungsanlage zugeordnet sind.

Die teilnehmenden Berechtigten müssen nicht (Mit­ oder Wohnungs­)Eigentümer der Liegenschaft sein. Damit können jedenfalls auch Mieter (von Wohnungen oder Geschäftslokalen) oder Pächter von Betriebsstätten (gemeinsam mit oder ohne dem Liegenschaftseigentümer) teilnehmende Berechtigte einer gemeinschaftlichen Erzeugungsanlage sein.14

Die gemeinschaftliche Erzeugungsanlage wird an die Hauptleitungen (gemeinschaftliche Leitungsanlagen) des Gebäudes bzw der Liegenschaft angeschlossen. Gesetzlich definiert ist die Hauptleitung als „die Verbindungsleitung zwischen Hausanschlusskasten und den Zugangsklemmen der Vorzählersicherungen“ (§ 7 Abs 1 Z 24a ElWOG 2010).15

Der produzierte Strom wird ohne Inanspruchnahme des öffentlichen Verteilernetzes über die Hauptleitung auf die einzelnen Verbrauchsanlagen der teilnehmenden Berechtigten verteilt. Jeder teilnehmende Berechtigte ist dabei eigenständiger Netznutzer und behält seinen eigenen Zählpunkt; somit erfolgt auch eine eigene Verbrauchsmessung durch diesen.16 Der nicht verbrauchte Strom wird über einen eigenen Zählpunkt der gemeinschaft­

13 Der Begriff „gemeinschaftliche Erzeugungsanlage“ ist grundsätzlich technologieneutral, sodass neben der Photovoltaikanlage auch andere Stromerzeugungsanlagen (zB Kraft­WärmeKopplung­Anlagen) als gemeinschaftliche Erzeugungsanlage betrieben werden können.

14 ErlRV 1519 BlgNR 25. GP, 10 f; Th. Rabl/W. Brenner, Neues Energierecht 2017: Zur sogenannten „kleinen“ Ökostrom(gesetz) novelle, ecolex 2017, 1023 (1026).

15 Hierzu P. Oberndorfer/H. Pichler, § 16a ElWOG 2010: Rechtliche Fragestellungen im Zusammenhang mit der Errichtung und dem Betrieb von gemeinschaftlichen Erzeugungsanlagen, ZTR 2017, 108 (111).

16 Th. Rabl/W. Brenner, ecolex 2017, 1027; Kurzmann/Bochnicek, Rechtliche Rahmenbedingungen am Energiemarkt: Energiegemeinschaften in der Praxis, in Kurzmann/Fischl, Praxishandbuch Energiegemeinschaften und Alternativenergieprojekte (2023) 15 (18); P. Oberndorfer/H. Pichler, ZTR 2017, 114.

Der Grundstückspächter ist Erzeuger, aber nicht Verbraucher.

Der Grundstückspächter benötigt für den Betrieb der Photovoltaikanlage einen eigenen Netzanschluss (Zählpunkt).

lichen Erzeugungsanlage in das öffentliche Netz eingespeist.17

Der direkte Anschluss der gemeinschaftlichen Erzeugungsanlage an im Eigentum des Netzbetreibers stehende Anlagen oder die Durchleitung von eigenerzeugter Energie durch diese ist unzulässig (§ 16a Abs 2 ElWOG 2010). Aus diesem Umstand erfolgt eine örtliche Begrenzung des gemeinschaftlichen Betriebs auf das Mehrparteienhaus bzw die Liegenschaft, da keine Verteilung des Stroms über die Leitungsanlagen des öffentlichen Verteilernetzes erfolgen kann, um einen teilnehmenden Berechtigten zu versorgen. Die Nutzung einer gemeinschaftlichen Erzeugungsanlage ist damit gesetzlich ausgeschlossen, wenn zwischen der gemeinschaftlichen Erzeugungsanlage und den Verbrauchsanlagen der teilnehmenden Berechtigten Bestandteile des öffentlichen Netzes verlaufen.18

Die Teilnahme an der gemeinschaftlichen Erzeugungsanlage ist freiwillig. Die freie Lieferantenwahl der teilnehmenden Berechtigten darf durch den Betrieb der gemeinschaftlichen Erzeugungsanlage nicht beeinträchtigt werden (§ 16a Abs 1 ElWOG 2010). Die einzelnen Parteien des Gebäudes dürfen damit frei bestimmen, ob sie mit dem Strom aus der gemeinschaftlichen Erzeugungsanlage versorgt werden wollen oder stattdessen die Energieversorgung durch einen Stromlieferanten über das öffentliche Netz wählen.19

Dies bedeutet auch, dass grundsätzlich kein Teilnahmezwang für Mieter und Pächter besteht, wenn der Liegenschaftseigentümer eine gemeinschaftliche Erzeugungsanlage errichtet und betreibt. Auch bezüglich des durch die gemeinschaftliche Erzeugungsanlage nicht gedeckten Strombedarfs der teilnehmenden Berechtigten dürfen diese sich den Stromlieferanten frei wählen.20

17 ErlRV 1519 BlgNR 25. GP, 11; Stöger, Die (nicht so) „Kleine Ökostromnovelle“ 2017, ÖZW 2018, 8 (13).

18 ErlRV 1519 BlgNR 25. GP, 11; Th. Rabl/W. Brenner, ecolex 2017, 1027; Stöger, ÖZW 2018, 13; Kurzmann/Bochnicek, Rahmenbedingungen, 18.

19 ErlRV 1519 BlgNR 25. GP, 11; hierzu auch Stöger, ÖZW 2018, 13; Kurzmann/Bochnicek, Rahmenbedingungen, 19; P. Oberndorfer/H. Pichler, ZTR 2017, 110 und 114.

20 Stöger, ÖZW 2018, 13.

Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes

Juli 2023 161 Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes Fachartikel

2.2.2. Überblick: Die Versorgung eines Mehrparteienhauses

Handelt es sich bei der vermieteten Liegenschaft um ein Mehrparteienhaus, so stehen für den Vermieter grundsätzlich zwei Möglichkeiten für den Betrieb einer Photovoltaikanlage offen: Der erzeugte Strom der Photovoltaikanlage kann für die Bewirtschaftung der Allgemeinflächen des Miethauses eingesetzt werden oder die einzelnen Mietobjekte (Wohnungen und Geschäftslokale) versorgen.

Zur Bewirtschaftung der Allgemeinflächen der Liegenschaft kann der Vermieter die Photovoltaikanlagen grundsätzlich selbst betreiben. Für die Verwertung des Überschussstroms würde die Anlage über den bestehenden Netzanschluss des Vermieters an das öffentliche Netz angeschlossen werden.

Um mit dem aus der Photovoltaikanlage produzierten Strom die einzelnen Mietobjekte zu versorgen, ist in der Regel die Photovoltaikanlage als gemeinschaftliche Erzeugungsanlage zu betreiben.

In Abbildung 2 sollen diese beide Betriebsmodelle überblicksmäßig gegenübergestellt werden.

3. Mietrechtlicher Rechtsrahmen

3.1. Das Verhältnis des Elektrizitätswirtschaftsrechts zum Bestandrecht

Die gesetzlichen Bestimmungen des Elektrizitätswirtschaftsrechts berühren das Bestandrecht grundsätzlich nicht. Zur Beantwortung der Frage, ob der Vermieter bei Einsatz einer Photovoltaikanlage zur Bewirtschaftung des Miethauses den einzelnen Mieter die Kosten der Errichtung und des Betriebs (weiter)verrechnen kann, sind die bestandrechtlichen Bestimmungen beachtlich.

Die Fragen der Aufteilung der Kosten der Erzeugungsanlage berühren vorrangig die Erhaltung und Bewirtschaftung des Bestandgebäudes und die Betriebskostenabrechnung. Weder das MRG noch das Bestandrecht des ABGB kennen Sonderregeln für erneuerbare Stromerzeugungsanlagen, die das Bestandgebäude (gemeinschaftlich) oder die einzelnen Bestandobjekte versorgen.

Die gesetzlichen Bestimmungen des MRG zur Erhaltung und Verbesserung der allgemeinen Teile des Hauses (§§ 3 ff MRG), zur Betriebskostenabrechnung (§§ 21 ff MRG) sowie zu Gemeinschaftsanlagen (§ 24 MRG) sind ausschließlich im Vollanwendungsbereich des MRG beachtlich. Für alle anderen Mietverträge, die in den Teilanwendungsbereich des MRG fallen oder vom MRG ausgenommen sind, wie auch für Pachtverträge gelten grundsätzlich die allgemeinen zivilrechtlichen Regelungen des ABGB (§§ 1096 ff ABGB).

3.2. Das Mietrecht des ABGB

3.2.1. Allgemeines

Nach der dispositiven Regel des § 1099 ABGB trägt bei der Vermietung außerhalb der Vollanwendung des MRG der Bestandgeber alle Lasten und Abgaben. Jedenfalls als Lasten im Sinne des § 1099 ABGB sind alle Aufwendungen einzustufen, die unmittelbar mit dem Gebrauch des Be­

standobjekts verbunden sind, also im weiteren Sinn als Betriebskosten zu qualifizieren sind. Zu diesen zählen etwa die Kosten für Wasser und Beheizung, die Versicherungen, die Hausverwaltung, die Kanalgebühren und die Müllabfuhr, aber auch für die Beleuchtung und Gartenpflege.21

Nach § 1096 Abs 1 Satz 1 ABGB trifft den Bestandgeber zudem eine umfassende Verpflichtung zur Erhaltung des Bestandobjekts in „brauchbarem“ Zustand. Die Erhaltungspflicht des Bestandgebers erstreckt sich nicht nur auf das eigentliche Bestandobjekt mit allen seinen Teilen und allem (in Bestand gegebenen) Zubehör, sondern auch auf die Versorgungsleitungen und die allgemeinen Teile des Hauses, zu deren (Mit­)Benützung der Bestandnehmer nach dem Vertrag oder der Verkehrssitte berechtigt ist.22

§ 1096 Abs 1 Satz 1 sowie § 1099 ABGB ordnen zwar eine umfassende Kostentragungs­ und Erhaltungspflicht des Bestandgebers an, doch sind diese Regelungen nachgiebiges Recht. Die Pflicht zur laufenden Instandhaltung sowie auch die Bewirtschaftungskosten des Hauses können daher vertraglich auf den Bestandnehmer überwälzt werden.

Es ist somit prinzipiell zulässig, dass der Bestandnehmer als (teilweise) Gegenleistung für die Raum­ oder Gebäudebenützung die (einmalige) Instandsetzung und/oder (laufende) Instandhaltung der Bestandsache übernimmt.23 Auch bei Verbrauchergeschäften (zB bei Wohnungsmieten) kann nach herrschender Lehre und Rechtsprechung die Erhaltungspflicht des Vermieters nach § 1096 ABGB – trotz § 9 KSchG – abbedungen werden, solange die negative Leistungsbeschreibung nicht als versteckter Gewährleistungsausschluss bewertet werden muss.24

Außerhalb des Vollanwendungsbereichs des MRG bestimmt sich die Verpflichtung des Bestandnehmers zur Tragung der Betriebskosten gleichermaßen nach der mit dem Bestandgeber getroffenen Vereinbarung.

3.2.2. Die Verrechnung der Kosten der Photovoltaikanlage an die Mieter Errichtet und betreibt der Vermieter für die Bewirtschaftung des Miethauses eine Photovoltaikanlage, so sind die Kosten der Anlage im Allgemeinen als Bewirtschaftungskosten nach § 1099 ABGB sowie als Erhaltungskosten nach § 1096 ABGB zu qualifizieren. Für die Verrechnung dieser Kosten an die Mieter bedarf es damit einer vertraglichen Grundlage.

Derartige Überwälzungsvereinbarungen sind grundsätzlich als verkehrsüblich anzusehen. Werden Formular­ bzw Musterverträge verwenden, so ist allerdings zu bedenken, dass die Vertragsbestimmungen zur Kostenüberwälzung, die nicht im Einzelnen mit den Mietern ausverhandelt werden, der gesetzlichen Klauselkontrolle von allgemeinen

162 Juli 2023 Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes Fachartikel
21 Pesek in Schwimann/Kodek, ABGB5, § 1099 Rz 1. 22 Pesek in Schwimann/Kodek, ABGB5, § 1096 Rz 50. 23 Pesek in Schwimann/Kodek, ABGB5, § 1096 Rz 81. 24 Riss in Kletečka/Schauer, ABGB­ON1.02, § 1096 Rz 8.

Modell Bewirtschaftung

Allgemeinflächen

Betriebsführung Der Vermieter ist Betreiber und Erzeuger.

Modell § 16a ElWOG 2010-Anlage

Die Mieter als teilnehmende Berechtigte können selbst die Betriebsführung übernehmen oder einem Dritten (zB Vermieter oder contractor) überlassen. Die teilnehmenden Mieter schließen (mit dem betriebsführenden Dritten) den Errichtungs­ und Betriebsvertrag ab (§ 16a Abs 4 ElWOG 2010).

Netzanschluss Die Photovoltaikanlage wird über den Netzanschluss des Vermieters (Zählpunkt) mit dem Netzsystem verbunden.

Abbildung 2

Geschäftsbedingungen unterliegen (§ 864a und § 879 Abs 3 ABGB).25

Besonders strengen Transparenzregeln unterliegen KSchG­Verträge (zB Mietverträge über Wohnungen). Eine Vertragsbestimmung ist nach § 6 Abs 3 KSchG „unklar oder unverständlich“, wenn für einen durchschnittlich verständigen Mieter nicht absehbar ist, welche Kosten als „Betriebskosten“ allenfalls auf sie zukommen.26

Der Vermieter hat sohin die mit der Photovoltaikanlage anfallenden Kosten im Allgemeinen nachvollziehbar und vollständig in der vertraglichen Vereinbarung zu bezeichnen.27 Der Vermieter hat außerdem zu berücksichtigen, dass bei der Verrechnung von Betriebskosten von einer sparsamen Wirtschaftsführung auszugehen ist. Es können daher grundsätzlich nur wirtschaftlich sinnvolle und ortsübliche Kosten überwälzt werden.28 Sollen insofern „aus Gründen der Nachhaltigkeit“ Kosten der Erzeugeranlage verrechnet werden, die die sonst üblichen Stromkosten übersteigen, so ist es erforderlich, hierüber auch eine klare vertragliche Vereinbarung zu treffen.29

3.3. Das MRG­Mietrecht (Vollanwendungsbereich)

3.3.1. Photovoltaikanlagen und die Gemeinschaftsanlage im MRG (§ 24 MRG)

Im Vollanwendungsbereich des MRG regelt dessen § 24 die Aufteilung bzw Verrechnung der Kosten des Betriebs von Gemeinschaftsanlage.30 Das Gesetz gibt keine ausdrückliche Begriffsdefinition der Gemeinschaftsanlagen.31 Die Rechtsprechung stellt bei der Überwälzung von Betriebskosten von

25 RIS­Justiz RS0123499; OGH 28. 11. 2012, 7 Ob 93/12w; Höllwerth in H. Böhm/Pletzer/Spruzina/Stabentheiner, GeKo Wohnrecht I (2018) § 1099 ABGB Rz 5.

26 OGH 27. 7. 2021, 4 Ob 106/21y; Kronthaler in H. Böhm/ Pletzer/Spruzina/Stabentheiner, GeKo Wohnrecht II (2019) § 6 KSchG Rz 194.

27 Vgl zur Rechtsprechung Riss in Kletečka/Schauer, ABGB­ON1.02, § 1096 Rz 9/1.

28 RIS­Justiz RS0070462.

29 Arnter/Pugl in Zahradnik/Richter-Schöller, Handbuch Nachhaltigkeitsrecht (2021) Rz 7.30.

30 Egglmeier-Schmolke/Schinnagl in H. Böhm/Pletzer/Spruzina/ Stabentheiner, GeKo Wohnrecht I, § 24 MRG Rz 1.

31 Hausmann in Hausmann/Vonkilch, Österreichisches Wohnrecht – MRG4 (2021) § 24 Rz 3.

Der nicht verbrauchte Strom der § 16a ElWOG 2010­Anlage wird über einen eigenen Zählpunkt in das öffentliche Netz eingespeist.

Gemeinschaftsanlagen gemäß § 24 MRG auf die objektive Benützungsmöglichkeit der Mieter ab.32 Die Bestimmung ist insofern auch für Photovoltaikanlagen beachtlich.

Gemäß § 24 Abs 1 MRG kann der Vermieter die Kosten des Betriebs, nicht aber Erhaltungsarbeiten (Wiederherstellungs­ und Reparaturarbeiten) im Sinne des § 3 Abs 2 Z 3 MRG an Gemeinschaftsanlagen auf den Mieter überwälzen.33 Die in § 3 Abs 2 MRG normierten Erhaltungspflichten des Vermieters stellen zugunsten des Mieters relativ zwingendes Recht dar. Ein Verzicht des Mieters auf die Durchführung von Erhaltungsarbeiten kann im Vorhinein nicht wirksam erklärt werden.34

Die Kosten für Arbeiten, die zur Aufrechterhaltung des Betriebs der Gemeinschaftsanlage auflaufen, also jegliche Reparaturen, mögen diese auch noch so klein sein und auch regelmäßig anfallen, sind als Erhaltungsaufwand aus den Hauptmietzins(reserv)en zu decken.35

Der Vermieter ist grundsätzlich allerdings auch im Vollanwendungsbereich des MRG nicht verpflichtet, eine von ihm finanzierte Anlage gegen Tragung anteiliger Betriebskosten den Mietern zur Verfügung zu stellen.36 Keine Gemeinschaftsanlagen sind Anlagen, die (aus welchen Gründen auch immer) in der Sondernutzung einzelner Mieter unter Ausschluss der restlichen Mieter stehen oder bei denen die Benützung einer solchen Anlage von der Zahlung eines über die Beteiligung an den Kosten des Betriebs hinausgehenden Entgelts (in der Regel Errichtungskosten) abhängig gemacht wird.37

Die Kosten des laufenden Betriebs sowie der Wartung und Instandhaltung einer Anlage, die nicht als Gemeinschaftsanlage im Sinne des § 3 Abs 2 Z 3 und des § 24 Abs 1 MRG zu qualifizieren ist, sind gemäß der Vereinbarung zu tragen, die der Vermieter mit den Mitgliedern der Nutzungsgemeinschaft abgeschlossen hat.38 Auch

32 RIS­Justiz RS0069987; Reßler in Illedits, Wohnrecht Taschenkommentar4 (2022) § 24 MRG Rz 2 f.

33 Reßler in Illedits, Wohnrecht4, § 24 MRG Rz 2.

34 Beer/Vospernik in Illedits, Wohnrecht4, § 3 MRG Rz 1.

35 OGH 14. 5. 2008, 5 Ob 287/07b.

36 Hausmann in Hausmann/Vonkilch, MRG4, § 24 Rz 17.

37 RIS­Justiz RS0101592; OGH 12. 6. 1996, 5 Ob 2157/96h; Hausmann in Hausmann/Vonkilch, MRG4, § 24 Rz 4.

38 OGH 12. 10. 1999, 5 Ob 236/99p.

Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes

Juli 2023 163 Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes Fachartikel

Bewirtschaftung Allgemeinfläche

ABGB-Bestandrecht (Vollausnahme und Teilanwendungsbereich des MRG)

Möglichkeiten der Überwälzung der Kosten der Photovoltaikanlage auf die Mieter ist abhängig von einer vertraglichen Vereinbarung im Mietvertrag.

MRG-Bestandrecht (Vollanwendungsbereich des MRG)

Die Photovoltaikanlage gilt als Gemeinschaftsanlage (§ 24 MRG). Die Überwälzung der (tatsächlich angefallenen) Kosten des laufenden Betriebs auf die Mieter ist möglich, allerdings nicht jene der Errichtung und Instandhaltung.

Versorgung Mietobjekt (Wohnungen und Geschäftslokale)

In der Regel ist die Gründung einer § 16a ElWOG 2010Anlage erforderlich.

Abbildung 3

Die Mieter schließen für den Strombezug zur Versorgung der Mietobjekte in der Regel einen separaten Vertrag mit dem Vermieter (oder eventuell dem contractor) ab.

Die Kostentragung der § 16a ElWOG 2010­Anlage ist grundsätzlich im Errichtungs­ und Betriebsvertrag (§ 16a ElWOG 2010) zu regeln.

über Energieversorgungsanlagen (Wärmeversorgungsanlagen, Kühlanlagen etc) kann grundsätzlich eine Sondernutzungsvereinbarung getroffen werden.

3.3.2. Die Verrechnung der Kosten der Photovoltaikanlage an die Mieter Aufgrund der Unterscheidung zwischen Gemeinschaftsanlagen und Anlagen in Sondernutzung wird es bei erstmaliger Errichtung einer Photovoltaikanlagen dem Vermieter grundsätzlich freistehen, Mietern das Recht auf „Mitbenutzung“ der Photovoltaikanlage einzuräumen oder eine Sondernutzungsvereinbarung zu treffen, womit keine Gemeinschaftsanlage entstehen würde.39 Die Beurteilung als Sondernutzungsgemeinschaft setzt eine gültige Vereinbarung voraus; eine nicht individualisierte Mietvertragsklausel über eine Kostenbeteiligung ist dafür nicht ausreichend.40

Wird der produzierte Strom der Photovoltaikanlagen vom Vermieter ausschließlich für die Bewirtschaftung der Allgemeinflächen verwendet, so ist die Anlage allerdings als Gemeinschaftsanlage nach § 24 MRG zu beurteilen. Die Kostenverteilung hat dann nach den Grundsätzen des § 17 MRG zu erfolgen. Die Aufwendungen für Gemeinschaftsanlagen sind grundsätzlich mangels anderslautender Vereinbarung nach dem Verhältnis der Nutzflächen aufzuteilen.41

Der Vermieter kann mit den Mietern eine Sondernutzungsvereinbarung über die Anlage treffen. Dann gilt die Photovoltaikanlage grundsätzlich nicht als Gemeinschaftsanlage (§ 24 MRG). Der Vermieter kann diesfalls auch die Kosten der Errichtung und Instandhaltung (anteilig) auf die Mitglieder der Nutzungsgemeinschaft (teilnehmende Mieter) aufteilen. Der Errichtungs­ und Betriebsvertrag (§ 16a ElWOG 2010) wird grundsätzlich eine Sondernutzungsvereinbarung darstellen.

3.4. Überblick: Verrechnung der Kosten an die Mieter

In Abbildung 3 soll ein Überblick über die Verrechnung der Kosten an die Mieter gegeben werden.

Fazit und Ausblick

Immer mehr Vermieter legen Wert auf die nachhaltige Bewirtschaftung ihrer Mietobjekte und errichten hierfür auch Photovoltaikanlagen. Neben den ökologischen Vorteilen kann der Betrieb von Photovoltaikanlagen auch einen wirtschaftlichen Mehrwert für sie bieten: Mit der eigenen Stromproduktion werden nicht nur Kosteneinsparungen erzielt. Durch eine nachhaltige Gebäudeausstattung kann außerdem die Attraktivität der Liegenschaft am Immobilienmarkt für potenzielle Mieter und Investor gesteigert werden. Vermietern stehen grundsätzlich unterschiedliche Betriebsmodelle offen, wenn sie sich für die Ausstattung des Miethauses mit einer Photovoltaikanlage entscheidet. Bei der Gestaltung des Innenverhältnisses zu den Mietern, insbesondere hinsichtlich der Kostentragung der Photovoltaikanlage, besteht grundsätzlich auch ein Gestaltungsspielraum. Vermieter haben allerdings darauf zu achten, dass die engen gesetzlichen Regelungen des MRG einerseits und die AGB­Klauselkontrolle bei Mustermietverträgen andererseits hier nicht zu Stolpersteinen werden.

164 Juli 2023 Die nachhaltige Stromversorgung eines Mietgebäudes Fachartikel
39 Hausmann in Hausmann/Vonkilch, MRG4, § 24 Rz 3. 40 OGH 28. 1. 2010, 2 Ob 182/09t; Hausmann in Hausmann/Vonkilch, MRG4, § 24 Rz 3. 41 Hausmann in Hausmann/Vonkilch, MRG4, § 24 Rz 12.

Die Voraussetzungen des werkvertraglichen Entschädigungsanspruchs

Ende 2022 hat sich der OGH mit der Behauptungslast bei Mehrkostenforderungen beschäftigt.1 Kodek/ Plettenbacher2 und K. Müller/Ilg3 haben diese Entscheidung in der letzten Ausgabe von bau aktuell kommentiert und darüber hinausgehend zur Mehrkostendiskussion Stellung genommen. Bei einem Vortrag im Rahmen des Österreichischen Baurechtsforums im Mai des heurigen Jahres hat Hussian zutreffend darauf hingewiesen, dass die Entscheidung keine Antwort auf weitere wichtige Punkte der aktuellen Diskussion gibt. Anlass genug, um zu den strittigen Fragen nochmals Stellung zu nehmen.

1. Allgemeines123

1.1. Der Entschädigungsanspruch ist ein gesetzlicher Anspruch

Der Entschädigungsanspruch nach § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB ist ein „gesetzlicher“ Anspruch, der keine vertragliche Vereinbarung zwischen den Parteien voraussetzt.4

1.2. Der Anspruch auf Nachteilsabgeltung ist kein Schadenersatzanspruch

Nach zutreffender Lehre5 und Rechtsprechung6 ist der Anspruch nach § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB kein Schadenersatzanspruch, sondern ein Erfüllungsanspruch. Demnach kommt es weder auf ein Verschulden des Auftraggebers an der Verzögerung noch auf die Ermittlung eines Schadens (im schadenersatzrechtlichen Sinn) an. Insofern steht nicht ein Vermögensschaden des Auftragnehmers zur Diskussion, sondern ein nach den vereinbarten Vertragsregeln zustehendes Entgelt für geleistete Mehrarbeit oder eine Entgeltanpassung an geänderte Leistungsverhältnisse.7 Dann kommt es auf ein Verschulden des Auftraggebers oder seiner Erfüllungsgehilfen am Verzug nicht an. Es genügt, dass der Verzug – auch ohne Vorliegen eines Verschuldens – aus der Sphäre des Auftraggebers stammt und der Auftragnehmer die konkreten Folgen für die Bauzeit und den Nachteil unter Beweis stellt.

Ansprüche nach § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB können jedoch mit Schadenersatzansprüchen konkurrieren. Der Auftragnehmer kann seinen Mehrkostenanspruch auf die eine oder die andere Anspruchsgrundlage stützen oder auf beide. Schaden­

1 OGH 21. 12. 2022, 6 Ob 136/22a, bau aktuell 2023/2 (K. Müller).

2 Kodek/Plettenbacher, Schätzung oder Nachweis? bau aktuell 2023, 100.

3 K. Müller/Ilg, Aktuelle OGH­Rechtsprechung zu Mehrkostenforderungen, bau aktuell 2023, 107.

4 OGH 21. 10. 2008, 1 Ob 200/08f, ecolex 2009/76 (Friedl).

5 Krejci in Rummel, ABGB3, § 1168 Rz 28; Krejci/Böhler in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4, § 1168 Rz 43; Kletečka in Kletečka/Schauer, ABGB­ON1.04, § 1168 Rz 39; Rebhahn/ Kietaibl in Schwimann/Kodek, ABGB4, § 1168 Rz 38; vgl auch

M. Bydlinski in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB6 (2020)

§ 1168 Rz 7; Rummel, Das „Baugrundrisiko“, ein neuer Rechtsbegriff? in FS Strasser (1993) 309; W. Müller, Die Ermittlung und Prüfung behinderungsbedingter Mehrkosten, bau aktuell

2010, 237.

6 OGH 19. 3. 1985, 5 Ob 519/85; 27. 4. 2006, 2 Ob 248/05t; 17. 10. 2012, 3 Ob 180/12k.

7 Krejci, „Angemessene Entschädigung“ (§ 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB) und Schadenersatz, ZRB 2013, V.

ersatzansprüche haben andere Anspruchsvoraussetzungen als der Anspruch nach § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB. Sie setzen die rechtswidrige und schuldhafte Verursachung eines Schadens voraus. Beim Entgeltanspruch nach § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB kommt es nicht – wie beim Schadenersatzanspruch – darauf an, ob dem Auftragnehmer aus dem Zeitverlust oder der Erschwernis tatsächlich ein Schaden (im schadenersatzrechtlichen Sinn) erwachsen ist. Es genügt der Umstand, dass die Ursache für die höheren Entgeltansprüche aus der Sphäre des Auftraggebers stammt8 und dem Auftragnehmer durch den Zeitverlust ein Nachteil entstanden ist. Macht der Auftragnehmer einen Anspruch nach § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB geltend, hat der Auftraggeber nicht das Recht, dem Auftragnehmer lediglich einen eventuellen Schadenersatzanspruch zuzubilligen und von ihm zu verlangen, dass er die diesbezüglichen Anspruchsvoraussetzungen, insbesondere ein Verschulden, nachweist.

1.3. Anspruchsgrund und Anspruchshöhe sind getrennt zu untersuchen

Die Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers (die Ursache), deren Einwirkung auf die Bauzeit (der Zeitverlust) und die Verkürzung (der wirtschaftliche Nachteil) sowie die beiden Kausalitäten9 und die Leistungsbereitschaft gehören zum Grund des Anspruchs. Erst nach Prüfung des Anspruchsgrundes ist die monetäre Bewertung des Nachteils der Höhe nach möglich.

2. Übersicht über die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs im Sinne des § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB Anspruchsvoraussetzungen für einen Mehrkostenanspruch nach § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB dem Grunde nach sind:

● Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers,

● ein Zeitverlust,

● die Kausalität der Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers für den Zeitverlust,

● eine Verkürzung des Auftragnehmers,

● die Kausalität des Zeitverlustes für die Verkürzung (den Nachteil) und

● die Leistungsbereitschaft des Auftragnehmers.

8 Krejci, ZRB 2013, V.

9 Die Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers müssen den Zeitverlust verursacht haben; der Zeitverlust muss einen konkreten Nachteil verursacht haben.

Rechtsanwalt in Wien und auf die Beratung im Bereich des Bauwerkvertrags­ und Architektenrechts spezialisiert.

Juli 2023 165 Die Voraussetzungen des werkvertraglichen Entschädigungsanspruchs Fachartikel
Dr. Georg Karasek ist Rechtsanwalt in Wien mit Spezialgebiet Baurecht. Mag. Clemens M. Berlakovits ist

Erst wenn diese Voraussetzungen vorliegen, darf der Nachteil des Auftragnehmers monetär ermittelt und der Anspruch der Höhe nach bewertet werden.

3. Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers

3.1. Umstände, die die Werkausführung unmöglich machen

Die Umstände, die zu einer Störung der Leistungserbringung geführt haben, müssen aus der Sphäre des Auftraggebers stammen. Beispiele sind, dass die vom Auftraggeber beizustellende Baubewilligung nicht rechtzeitig vorliegt, dass der Auftraggeber Materialien, die von ihm vertragsgemäß beizustellen sind, zu spät liefert oder Pläne, zu deren Beistellung er sich verpflichtet hat, nicht rechtzeitig oder in entsprechender Qualität übergeben wurden oder Vorleistungen anderer Unternehmer, auf die der Auftragnehmer aufbauen muss, nicht rechtzeitig fertig werden.

Die störenden Umstände müssen dem Auftraggeber selbst oder seinen Beratern, die rechtlich seine Erfüllungsgehilfen sind, zurechenbar sein.10 Nicht notwendig ist, dass der Auftraggeber oder seine Gehilfen den Zeitverlust verschuldet haben, weil § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB eine Gefahrtragungsregel ist.11

3.2. Behauptungs­ und Beweislast für die Sphärenzuordnung

Den Auftragnehmer trifft die Behauptungs­ und Beweislast für die Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers.12

4. Zeitverlust

4.1. Leistungsverzögerung

Eine weitere Voraussetzung des Entschädigungsanspruchs ist ein Zeitverlust des Auftragnehmers. Unter einem Zeitverlust ist eine Leistungsverzögerung (eine Störung des Bauablaufs) zu verstehen. Der Zeitverlust des Auftragnehmers kann auf unterschiedliche Weise entstehen:

● durch verzögerten Beginn der Leistung,

● durch Verzögerungen während der Leistungserbringung oder

● durch eine Unterbrechung der Leistung.

4.2. Erschwernis

Im Schrifttum wird die Frage diskutiert, ob § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB nur eine Leistungsverzögerung oder auch Störungen des Bauablaufs ohne zeitliche Folgen erfasst.13 Sie werden als „Er-

10 Krejci in Rummel, ABGB3, § 1168 Rz 7; vgl auch Krejci/Böhler in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4, § 1168 Rz 13; Kletečka in Kletečka/Schauer, ABGB­ON1.04, § 1168 Rz 20.

11 OGH 27. 2. 2017, 1 Ob 16/17k.

12 Kletečka, Verwirrung um Mehrkostenforderungen und Beweislast, bau aktuell 2018, 52 (53); Berlakovits/Karasek, Der Kausalitätsnachweis bei Mehrkostenforderungen, bau aktuell 2017, 89; Kodek, Mehrkosten beim Bauvertrag: Dogmatische Grundfragen und praktische Anwendung, bau aktuell 2017, 135 (141); K. Müller/Goger, Der gestörte Bauablauf (2016) 91.

13 Krejci in Rummel, ABGB3, § 1168 Rz 25; derselbe, Bauvertrag: Wer trägt das Baugrundrisiko? (1995) 58; Krejci/Böhler in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4, § 1168 Rz 39; Kletečka in Kletečka/Schauer, ABGB­ON1.04, § 1168 Rz 42; Kodek, Mehrkosten beim Bauvertrag – Business as usual? in FS 40 Jahre

schwernisse“ bezeichnet. Auch Erschwernisse können zu Mehraufwendungen des Auftragnehmers führen. Sie zwingen den Auftragnehmer zu erhöhten Anstrengungen, erhöhtem Arbeitseinsatz, erhöhten Aufwendungen oder zu einer Änderung des Arbeitskonzepts.

Die Ermittlung der Bauzeitverlängerung in der bauablaufbezogenen Darstellung hat sich an der dem Werkvertrag zugrunde liegenden Leistungsintensität, wie sie etwa im Bauzeitplan und in den Leistungsansätzen der von der Störung betroffenen Positionen dokumentiert ist, zu orientieren.14 Die Fortschreibung von Zeiten ist aus der Auftragskalkulation herzuleiten.

Grundsätzlich können zwei Wege verfolgt werden:

● global über die vertraglich vereinbarte Leistungsintensität (globale Leistungsintensität) oder

● detailliert über Aufwandswerte und Leistungsansätze der Kalkulation (Detailleistungsintensität).

Bei der globalen Methode ist der Preisanteil Lohn des Bauvertrages durch die Bauzeit zu dividieren. Daraus ergibt sich ein Lohnumsatz je Zeiteinheit. Beträgt etwa der Lohnanteil des Vertrages 800.000 € und die Ausführungsfrist fünf Monate, ergibt sich eine globale durchschnittliche Leistungsintensität von 160.000 € je Monat.15 Diese Berechnungsmethode unterstellt eine lineare Leistungsintensität über die gesamte Bauzeit. Dies ist jedoch nur sehr selten der Fall.

Bei der zweiten Methode ist der Aufwandswert einer Position (zB Betoneinbau) zu ermitteln. Geht der Aufwandswert nicht ohnehin aus dem K­Blatt hervor, kann er bei Kenntnis des Einheitspreisanteils Lohn und der Mittellohnkosten rückgerechnet werden. Betragen etwa die Mittellohnkosten 40 € pro Stunde und der Einheitspreisanteil Lohn 20 € pro Kubikmeter in einer bestimmten Position, kann der Aufwandswert mit 0,5 h/m3 rückgerechnet werden.16 Betrifft eine Störung eine oder mehrere Positionen, kann der der Kalkulation zugrunde liegende Aufwandswert für die Bemessung der Fristverlängerung für die betroffene Leistung herangezogen werden.17

Da zur Erbringung des Kausalitätsnachweises und zur Feststellung der Sphäre jede Störung für

ÖGEBAU (2019) 219 (223 f); M. Bydlinski in Koziol/Bydlinski/ Bollenberger, ABGB6, § 1168 Rz 7; Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 134; Schachinger, Die Bauverzögerung (1999) 97; Hussian, Die angemessene Entschädigung des Unternehmers nach § 1168 ABGB, bau aktuell 2018, 15; derselbe, Rechtsfragen zur Preisgestaltung, in Heck/Lechner, Die Bedeutung der Kalkulation in der Vertragsabwicklung (2012) 161 (166);

K. Müller/Häusler, Kostenüberschreitung beim ÖNORM­Vertrag, bau aktuell 2010, 233 (mit einem Überblick über den Meinungsstand); anderer Ansicht Rummel, „Baugrundrisiko“, 321;

K. Schmid, Gefahrtragung hinsichtlich eines Mehraufwandes beim Werkvertrag, in FS 40 Jahre ÖGEBAU (2019) 367 (369); Rebhahn/Kietaibl in Schwimann/Kodek, ABGB4, § 1168 Rz 39.

14 OGH 23. 2. 1999, 1 Ob 58/98f; vgl auch Oberndorfer, Claim Management und alternative Streitbeilegung im Bau­ und Anlagenvertrag I2 (2010) 107.

15 Beispiel entnommen aus Kropik, Bauvertrags­ und Nachtragsmanagement (2014) 780.

16 Beispiel entnommen aus Kropik, Bauvertrags­ und Nachtragsmanagement, 781.

17 Kropik, Bauvertrags­ und Nachtragsmanagement, 783.

166 Juli 2023 Die Voraussetzungen des werkvertraglichen Entschädigungsanspruchs Fachartikel

sich in einer Einzelbetrachtung zu untersuchen ist, weil jede Störung verschiedene Ursachen, aber auch verschiedene Folgen haben kann, entspricht die zweite Berechnungsmethode dem rechtlich gebotenen Einzelnachweis.

4.3. Behauptungs­ und Beweislast

Die Behauptungs­ und Beweislast für den Zeitverlust trifft den Auftragnehmer.18 Zum Beweis des entstandenen Zeitverlustes gehört auch der Beweis der Dauer des Bauverzugs. Hat ein Planverzug (Ursache) zu einem Bauverzug (Wirkung) geführt, muss der Auftragnehmer auch die Dauer des Bauverzugs beweisen.

4.4. Beweismaß

Das Tatbestandsmerkmal des Zeitverlustes gehört zum Grund des Anspruchs. Daher hat der Auftragnehmer den Vollbeweis als Regelbeweismaß der ZPO zu erbringen.

5. Die Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers haben den Zeitverlust kausal verursacht

5.1. Conditio­sine­qua­non­Methode

Eine weitere Anspruchsvoraussetzung ist die Kausalität der Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers für den Zeitverlust. Die Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers sind die Ursache, der Zeitverlust des Auftragnehmers ist die Wirkung. In diesem Zusammenhang wird – vor allem in der bauwirtschaftlichen Literatur – vom „UrsacheWirkung-Prinzip“ gesprochen. Damit ist die Kausalität gemeint.

Behauptet der Auftragnehmer, dass ein Planverzug zu einem Bauverzug geführt habe, muss er beweisen, dass der Auftraggeber bei der Planlieferung verspätet mitgewirkt hat (Ursache), dass ein Bauverzug in einer bestimmten Dauer (Wirkung) entstanden ist und dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Planverzug und Bauverzug (Kausalität) besteht. Ob das störende Ereignis (der Planverzug) Folgen (den Bauverzug oder Erschwernisse) ausgelöst hat, ist durch die Conditio-sinequa-non­Methode zu überprüfen: Denkt man sich das störende Ereignis (den Planverzug) weg, ist zu fragen, ob der konkrete Erfolg (der Bauverzug oder die Erschwernis) entfiele. Kommt man zum Ergebnis, dass der Bauverzug oder das Erschwernis auch ohne den Planverzug eingetreten wäre, war der Planverzug für den Bauverzug nicht kausal.19

5.2. Behauptungs­ und Beweislast

Den Auftragnehmer trifft die Behauptungs­ und Beweislast für die Kausalität der Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers für den Zeitver­

18 Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten beim Bauvertrag2 (2022) 82; derselbe, Mehrkosten, 235; Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 133 und 135; OGH 25. 6. 2021, 8 Ob 14/21 (dazu Frad, Bemerkenswerte baurechtliche Entscheidungen des OGH im Jahre 2021, bau aktuell 2022, 147 [154]); 21. 12. 2022, 6 Ob 136/22a; Kletečka, Beweisfragen im Zusammenhang mit Mehrkostenforderungen beim Bauwerkvertrag (Teil II), bau aktuell 2017, 44 (47); derselbe, bau aktuell 2018, 53.

19 Berlakovits/Karasek, bau aktuell 2017, 89.

lust.20 Er muss etwa den kausalen Zusammenhang zwischen einem Planverzug und einem Bauverzug beweisen.21 Gelingt dem Auftragnehmer der Beweis, dass die Ursache der Behinderung aus der Sphäre des Auftraggebers stammt, muss er auch die Folgen der Behinderung (den entstandenen Zeitverlust) beweisen. Hat der Auftragnehmer den Planverzug einmal bewiesen (Ursache), steht noch nicht fest, dass deshalb ein Zeitverlust mit der Bauleistung (Folge) eingetreten ist, auch wenn es in aller Regel zu einer Verzögerung des Bauablaufs kommt, wenn Pläne nicht rechtzeitig geliefert werden. Dies entbindet den Auftragnehmer nicht von seiner Verpflichtung, die zeitlichen Auswirkungen des Planlieferverzugs auf den Bauablauf konkret zu behaupten und zu beweisen. Für diesen Nachweis muss der geplante Bauablauf festgestellt werden: Der Auftragnehmer muss sowohl den Soll­Bauablauf als auch den Ist­Bauablauf behaupten und beweisen. Erst durch die Gegenüberstellung von Soll­Bauablauf und Ist­Bauablauf ist die Basis für die Beurteilung der Kausalität des Planlieferverzugs für den Zeitverlust geschaffen.

Kalkulations­ und Organisationsfehler des Auftragnehmers sind bereits auf der Ebene der Sphäre und nicht erst bei der Kausalität zu prüfen. Auf welcher Ebene Kalkulations­ und Organisationsfehler zu prüfen sind, ist aber ohnehin nicht von großer praktischer Bedeutung, weil sie im Zuge einer notwendigen konkreten bauablaufbezogenen Darstellung festgestellt und gegebenenfalls der Sphäre des Auftragnehmers zugeordnet werden können.

5.3. Beweismaß

Beide Tatbestandsmerkmale (Sphäre und Zeitverlust) gehören zum Grund des Anspruchs. Daher hat der Auftragnehmer den Vollbeweis als Regelbeweismaß der ZPO zu erbringen. Eine Beweiserleichterung besteht nicht. Eine Schätzung nach § 273 ZPO kommt nicht in Betracht.22 Ebenso scheidet ein Anscheinsbeweis aus, weil kein Beweisnotstand vorliegt.23 Die Beweisführung des Auftragnehmers muss in der Regel, insbesondere bei komplexeren Störungen, durch eine bauablaufbezogene Darstellung der Bauzeit erfolgen. Im Zuge der Prüfung dieser Darstellung durch den Auftraggeber oder gegebenenfalls in einer streitigen Auseinandersetzung durch das Gericht, kann festgestellt werden, aus welcher Sphäre die Störung stammt und welche Auswirkungen sie auf den Bauablauf hatte. Ein bestimmter formelhafter Geschehensablauf bei der kausalen Verknüpfung zwischen dem auslösenden Ereignis (zB dem Planverzug) und der Auswirkung auf den Bauablauf (zB dem Bauverzug) liegt nicht vor. Es gibt keinen Erfahrungssatz, der etwa lautet: „Ein Planverzug führt immer zu einem Bauverzug“, weil auch ande­

20 Kletečka, bau aktuell 2018, 53; derselbe, bau aktuell 2017, 47; Berlakovits/Karasek, bau aktuell 2017, 89; Kodek, bau aktuell 2017, 141.

21 Berlakovits/Karasek, bau aktuell 2017, 89.

22 So auch Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 82.

23 Berlakovits/Karasek, bau aktuell 2017, 89; anderer Ansicht Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 82.

Entschädigungsanspruch

Juli 2023 167 Die Voraussetzungen des werkvertraglichen Entschädigungsanspruchs Fachartikel
Werkvertraglicher

re Ursachen für den Bauverzug denkbar sind: Ein Bauverzug kann etwa

● auf eine Fehlkalkulation des Auftragnehmers (insbesondere der Aufwands­ und Leistungswerte),

● auf Fehldispositionen bei der Leistungserbringung oder

● auf die Verletzung der Schadensminderungspflicht zurückzuführen sein.24

Bei Störungen des Bauablaufs liegt daher kein typischer, formelhafter Geschehensablauf vor, der den Schluss von einem bestimmten Ereignis (Planlieferverzug) auf einen bestimmten Erfolg (einen Bauverzug oder eine Forcierung) zulässt. Für den Beweis der kausalen Verknüpfung zwischen dem auslösenden Ereignis und der Auswirkung auf den Bauablauf besteht deshalb keine Beweiserleichterung durch den Anscheinsbeweis. Es ist der Vollbeweis zu erbringen.

6. Verkürzung des Auftragnehmers (Nachteil)

6.1. Eine Verkürzung ist ein wirtschaftlicher Nachteil

Eine Verkürzung ist eine weitere Tatbestandsvoraussetzung.25 Sie ist ein Nachteil, der dem Auftragnehmer durch den gestörten Bauablauf entstanden ist.26 Das Wort „verkürzt“ indiziert einen wirtschaftlichen Nachteil des Auftragnehmers. Der Entschädigungsanspruch nach § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB setzt demnach voraus, dass der Auftragnehmer durch den Zeitverlust einen wirtschaftlichen Nachteil erlitten hat.27 In der Lehre wird vereinzelt die Ansicht vertreten, dass der Auftragnehmer nur den Zeitverlust nachweisen müsse, weil dieser automatisch zu einer Entschädigung führe, handle es sich doch nicht um einen Schadenersatzanspruch, sondern um eine Entgeltforderung.28 Dies ist unzutreffend. Der OGH hat kürzlich bestätigt, dass § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB nicht schlechthin Ersatz für jeden „Zeitverlust“ gewährt, sondern nur, wenn der Auftragnehmer dadurch verkürzt wurde.29 Er hat damit der Ansicht, der Auftragnehmer müsse keinen durch den

24 Berlakovits/Karasek, bau aktuell 2017, 92.

25 Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 135; Kodek/Plettenbacher, bau aktuell 2023, 100 ff; anderer Ansicht Kletečka, bau aktuell 2018, 57.

26 Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 38 f; Kletečka in Kletečka/Schauer, ABGB­ON1.04, § 1168 Rz 39; gegenteilig jedoch Kletečka, bau aktuell 2018, 54 f: Nach der dort vertretenen Meinung soll es bei der „Verkürzung“ nicht um einen Vermögensnachteil gehen, sondern um die Verkürzung der Bauzeit; vgl dazu die Replik von Kodek, Mehrkosten, 224; vgl dazu auch die ablehnende Stellungnahme von Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 135.

27 Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 38; derselbe, bau aktuell 2017, 136; Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 135; Hussian, bau aktuell 2018, 15, der die „Verkürzung (Nachteil)“ als Tatbestandselement bezeichnet; anderer Ansicht Kletečka, bau aktuell 2018, 53 f; vgl auch Koller, Der Anscheinsbeweis im Bauprozess, in FS 40 Jahre ÖGEBAU (2019) 241 (253).

28 Kletečka, bau aktuell 2018, 53; K. Müller/Ilg, Die Mehrkostenforderung infolge von gestörten Bauabläufen, in FS Karasek (2018) 617 (637); dieselben, bau aktuell 2023, 109 f; vgl auch Hussian, bau aktuell 2018, 16.

29 OGH 21. 12. 2022, 6 Ob 136/22a; dazu Kodek/Plettenbacher, bau aktuell 2023, 101.

Zeitverlust bewirkten Nachteil nachweisen,30 eine Absage erteilt. Die Argumentation, der Auftragnehmer müsse keinen Nachteil nachweisen, übersieht, dass die Entschädigung nach § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB die gestörte subjektive Äquivalenz ausgleichen soll.31 Der durch die Störung verursachte Mehraufwand wird durch den vereinbarten Werklohn nicht abgegolten. Deshalb wird die Entschädigung auch nicht nach schadenersatzrechtliche Regeln berechnet, sondern durch Anpassung des vereinbarten Werklohns. Die Anspruchsvoraussetzungen des Entgeltanspruchs gemäß § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB sind nicht vergleichbar mit jenen eines Schadenersatzanspruchs.32 Während Letzterer darauf abzielt, einen erlittenen Nachteil im Vermögen des Geschädigten auszugleichen, gewährt § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB einen Anspruch auf zusätzlichen Werklohn, hätte der Auftragnehmer von Beginn an (bei der Erstellung seines Angebots) die geänderten Umstände gekannt. In diesem Fall hätte er von vornherein einen anderen Werklohn angeboten. Dem Auftragnehmer steht demnach die Differenz aus dem vereinbarten Werklohn zu jenem Werklohn zu, den er bei Kenntnis der geänderten Umstände ex ante angeboten hätte. Der Entgeltanspruch gemäß § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB ist eine Preisanpassung und damit vom Schadenersatz strikt zu unterscheiden.

Wenn wir für einen Augenblick unterstellen, dass Kletečkas These richtig sei, mit dem Wort „verkürzt“ habe der Gesetzgeber keinen materiellen Nachteil gemeint, weil die Verkürzung „unverkrampft auf die Leistungszeit bezogen werden“ könne,33 bestünde der Nachteil im Zeitverlust. Gehen wir weiters davon aus, dass eine vom Auftraggeber zu vertretende behördliche Baueinstellung einen Stillstand von 10 Tagen kausal verursacht hat. Folgt man Kletečka, ist dieser Stillstand die Verkürzung. Wie soll dieser Stillstand monetär bewertet werden? Es steht ja nicht einmal fest, ob und – bejahendenfalls – welche wirtschaftlichen Folgen dieser Stillstand hatte (zB Anzahl der Bauarbeiter, die vom Stillstand betroffen waren). Nur die wirtschaftlichen Folgen eines Stillstands, nicht der Stillstand für sich allein, können monetär bewertet werden.

Auch sonst ist die Argumentation Kletečkas nicht schlüssig. Im Kommentar zu § 1168 ABGB schreibt Kletečka zutreffend: „Der Anspruch besteht nur dann, wenn der Unternehmer durch die Verzögerung oder deren Verhinderung (Forcierungsmaßnahmen) einen Nachteil (zB Stehzeiten) erlitten hat.“34 Diese klare Aussage („durch“) interpretiert er in einem späteren Aufsatz so: „Dass an dieser Stelle keineswegs ein Vermögensschaden gemeint ist, ergibt sich aus dem dortigen Klam-

30 Kletečka in Kletečka/Schauer, ABGB­ON1.04, § 1168 Rz 45/1; derselbe, bau aktuell 2018, 53; K. Müller/Ilg, Mehrkostenforderung, 637; vgl auch Hussian, bau aktuell 2018, 16.

31 Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 135 f; Kodek/Plettenbacher, bau aktuell 2023, 101.

32 Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 90.

33 Kletečka, bau aktuell 2018, 54 f.

34 Kletečka in Kletečka/Schauer, ABGB­ON1.04, § 1168 Rz 40.

168 Juli 2023 Die Voraussetzungen des werkvertraglichen Entschädigungsanspruchs Fachartikel

merausdruck ‚zB Stehzeiten‘.“35 Dass ein „Vermögensschaden“ Anspruchsvoraussetzung sein soll, hat niemand behauptet. Behauptet wird vielmehr, dass ein Zeitverlust einen Nachteil (zB Stehzeiten) verursachen muss. Seine Aussage im Kommentar ist daher zutreffend.

Der wirtschaftliche Nachteil ist nicht mit der monetären Bewertung des Nachteils zu verwechseln. Ob eine Verkürzung (ein wirtschaftlicher Nachteil) entstanden ist, ist im Rahmen der Prüfung des Anspruchs dem Grunde nach zu prüfen, während die monetäre Bewertung des Nachteils bei der Ermittlung des Anspruchs der Höhe nach zu erfolgen hat.

6.2. Überblick über mögliche Nachteile des Auftragnehmers

Ein wirtschaftlicher Nachteil kann bei einer Störung der Leistungserbringung durch höhere Kosten der Produktionsfaktoren (Arbeit und Material) entstehen, weil sich die Marktpreise seit dem Vertragsabschluss geändert haben. Der Auftragnehmer kann selbst bei einer Fixpreiszusage Mehrkosten verlangen, die ihm durch Lohn­ und Materialpreissteigerungen im Zeitraum der Störung entstanden sind.36 Die ÖNORM B 211037 sieht dies in Punkt 6.3.1.2. ausdrücklich vor. Dies gilt aber auch im Anwendungsbereich des ABGB, wenn die höheren Kosten der Produktionsfaktoren durch die aus der Sphäre des Auftraggebers stammende Störung adäquat verursacht wurden.

Bei Störungen der Leistungserbringung sind in der Regel zwei Phasen zu unterscheiden:

● die Verzögerungsphase und

● die Phase nach Wegfall der Störung.

Zunächst verursacht die Störung in der Verzögerungsphase einen Stillstand oder einen verzögerten Bauablauf. In der Phase nach Wegfall der Störung kann der Auftragnehmer

● den Bauablauf in der vertraglich vereinbarten Intensität fortsetzen, sodass es zu einer Verlängerung der Leistungsfrist kommt, oder ● Maßnahmen zur Geringhaltung des Nachteils, insbesondere Forcierungsmaßnahmen, ergreifen.

Sowohl in der Verzögerungsphase als auch in der Phase nach Wegfall der Störung können wirtschaftliche Nachteile entstehen. Diese sind vom Auftragnehmer konkret und detailliert für jede einzelne Störung zu behaupten und zu beweisen. Je nachdem, ob ein Stillstand oder eine Bauzeitverlängerung eingetreten ist oder eine Forcierung notwendig wurde oder eine Erschwernis vorliegt, ergeben sich unterschiedliche Nachteile für den Auftragnehmer.

6.3. Behauptungs­ und Beweislast für den Nachteil

Nach herrschender Meinung muss der Auftragnehmer den Nachteil behaupten und beweisen.38 Die

35 Kletečka, bau aktuell 2018, 55.

36 OGH 19. 3. 1985, 5 Ob 519/85.

37 ÖNORM B 2110: Allgemeine Vertragsbestimmungen für Bauleistungen – Werkvertragsnorm (Ausgabe: 1. 5. 2023).

38 Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 82 und 84; Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 153; OGH

bloße Behauptung einer nicht auf die konkrete Baustelle bezogenen abstrakten Kalkulation in einem baubetrieblichen Gutachten ist unzureichend.39 Für den Beweis des Nachteils ist eine aussagekräftige Dokumentation erforderlich.

6.4. Beweismaß

Nach herrschender Meinung ist für den Nachteil der Vollbeweis zu erbringen.40

7. Kausalität des Zeitverlustes für die Verkürzung

7.1. Der Zeitverlust hat den Nachteil kausal verursacht

Neben dem Nachteil muss der Auftragnehmer auch die Kausalität des Zeitverlustes für den Nachteil behaupten und beweisen, weil § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB nicht schlechthin Ersatz für jeden Zeitverlust gewährt, sondern nur dann, wenn der Auftragnehmer „durch“ den Zeitverlust verkürzt wurde. Der Nachteil muss durch die Verzögerung oder die Erschwernis entstanden sein.41

Der Auftragnehmer hat schon deshalb keinen automatischen Anspruch auf eine Entschädigung wegen eines Zeitverlustes,42 weil manche Störungen Nachteile zur Folge haben können, andere nicht. Dass der Zeitverlust (zB der Bauverzug) zu einer Verkürzung des Auftragnehmers (zu einem wirtschaftlichen Nachteil) geführt hat,43 kann sein, muss aber nicht sein. Ebenso kann es sein, dass ein Bauverzug nicht nur in der Sphäre des Auftraggebers, sondern auch durch einen Kalkulationsfehler des Auftragnehmers entstanden ist, etwa weil er den Zeitaufwand falsch eingeschätzt hat. Auch Organisations­ oder Dispositionsfehler des Auftragnehmers können den Bauverzug (mit)verursacht haben. Dies ist unseres Erachtens bereits bei der Frage auf Ebene der Sphäre und nicht erst auf Ebene der Kausalität zu prüfen.

Die Feststellung der Kausalität ist auch für die Frage entscheidend, in welchem Umfang der vom Auftraggeber verursachte Zeitverlust einen Nachteil des Auftragnehmers herbeigeführt hat. Erst wenn feststeht, dass der aus der Sphäre des Auftraggebers stammende Zeitverlust (zB Bauverzug) zu einer Verkürzung (zu einem wirtschaftlichen Nachteil) geführt hat, und auch die die dadurch verursachte Dauer der Behinderung feststeht, ist die Kausalität bewiesen.

21. 12. 2022, 6 Ob 136/22a.

39 OGH 21. 12. 2022, 6 Ob 136/22a.

40 Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 90 f, der betont, dass für den Beweis, dass dem Auftragnehmer überhaupt ein Nachteil entstanden ist, keine Beweiserleichterung besteht; Berlakovits/Karasek, bau aktuell 2017, 93; referierend Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 153.

41 Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 86; derselbe, Mehrkosten, 235; Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 133 und 135; Berlakovits/Karasek, bau aktuell 2017, 92; OGH 25. 6. 2021, 8 Ob 14/21y; 21. 12. 2022, 6 Ob 136/22a; anderer Ansicht Kletečka, bau aktuell 2017, 47; derselbe, bau aktuell 2018, 53.

42 Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 38.

43 Vgl Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 133 und 135.

Juli 2023 169 Die Voraussetzungen des werkvertraglichen Entschädigungsanspruchs Fachartikel
Werkvertraglicher
Entschädigungsanspruch

7.2. Behauptungs­ und Beweislast der Kausalität des Zeitverlustes für die Verkürzung

Der Auftragnehmer trägt die Behauptungs­ und Beweislast der Kausalität des Zeitverlustes für die Verkürzung.44

7.3. Beweismaß

Der Ansicht, dass hinsichtlich der Kausalität eine Beweiserleichterung durch einen Anscheinsbeweis bestehen soll,45 ist aus mehreren Gründen nicht zuzustimmen. Nicht nur der Beweis des Nachteils, sondern auch die Kausalität des Zeitverlustes gehört zum Grund des Anspruchs. Deshalb muss der beweispflichtige Auftragnehmer den Vollbeweis erbringen. Eine Beweiserleichterung für das Vorliegen der Kausalität besteht nicht, weil kein Beweisnotstand vorliegt. Liegt eine ordnungsgemäße Dokumentation vor, ist der Auftragnehmer auch bei komplexen Bauvorhaben in der Lage, die kausale Verursachung des Nachteils durch die eingetretene Behinderung zu beweisen.

Ein Anscheinsbeweis setzt voraus, dass zwischen den tatsächlich bewiesenen Tatsachen und dem gesetzlich geforderten Tatbestandselement eine „typische formelhafte Verknüpfung“ besteht und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein solcher „Geschehensablauf“ gegeben ist. Ein bestimmter formelhafter Geschehensablauf bei der kausalen Verknüpfung zwischen dem Zeitverlust (zB einem Bauverzug) und der Auswirkung auf den Bauablauf (zB Stehzeiten) liegt nicht vor.46 Die Befürworter des Anscheinsbeweises müssen wohl von einem für den Anscheinsbeweis notwendigen Erfahrungssatz ausgehen, der lautet: „Ein Bauverzug führt immer zu Stehzeiten.“ Bloß gibt es einen solchen Erfahrungssatz nicht! Selbst wenn es ihn gäbe: Von wie vielen Arbeitern oder Geräten sollen denn die Stehzeiten monetär bewertet werden?

Auch aus einem weiteren Grund ist ein Anscheinsbeweis unzulässig. Beabsichtigt der Auftragnehmer, Ansprüche auf Anpassung der Leistungsfrist und/oder des Entgelts geltend zu machen, muss er sie unverzüglich nach Bekanntwerden der Behinderung dem Grunde nach anmelden. In der Behinderungsmeldung ist anzugeben, ob und wann seine Arbeiten nicht oder nicht wie vorgesehen ausgeführt werden können. Solche Behinderungsanzeigen wären sinnentleert, wenn letztlich

44 Schopper in Klang, ABGB3, § 1168 Rz 155; Kodek in Kodek/ Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 90 f, der allerdings betont, dass für den Beweis, dass dem Auftragnehmer überhaupt ein Nachteil entstanden ist, ein Anscheinsbeweis nicht zur Verfügung steht; Berlakovits/Karasek, bau aktuell 2017, 93; anderer Ansicht Kletečka, bau aktuell 2018, 53, 55 und 57, der aber vom Ansatz ausgeht, dass ein „Vermögensschaden“ kein Tatbestandsmerkmal des § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB sei, weshalb der Auftragnehmer dessen Verursachung nicht beweisen müsse.

45 Kletečka, bau aktuell 2017, 49; derselbe, bau aktuell 2018, 57; Kodek, Mehrkosten, 224; derselbe in Kodek/Plettenbacher/ Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 91 ff.

46 Kodek/Plettenbacher (bau aktuell 2023, 103) stellen zutreffend klar, dass es entscheidend sei, ob ein ausreichend gesicherter Erfahrungssatz bestehe, und dass bestimmte Behinderungen auch zu Nachteilen für den Auftragnehmer führen; dies könne nicht pauschal, sondern nur fallbezogen beantwortet werden.

in einem Prozess geringere Anforderungen an die Darlegung der einzelnen Behinderungen gestellt würden. Es wäre widersinnig, dem Auftragnehmer im Prozess eine Beweiserleichterung durch den Anscheinsbeweis dahin gehend zu gewähren, dass er den Kausalitätsbeweis schon dann erbracht hat, wenn er lediglich beweist, dass der Planverzug ernstlich mögliche Ursache für den Bauverzug war und andere Möglichkeiten für den Bauverzug so weit in den Hintergrund treten, dass sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als Ursache auszuschließen sind. Eine Beweiserleichterung durch einen Anscheinsbeweis wird der Auftragnehmer wohl nur dann in Anspruch nehmen müssen, wenn er keine genaueren Angaben in der Behinderungsmeldung gemacht hat. Dann aber hätte er dem Auftraggeber die Möglichkeit genommen, mögliche Dispositionen zur Abwendung oder Geringhaltung der Behinderung zu treffen.47

8. Leistungsbereitschaft des Auftragnehmers

Steht schließlich die Leistungsbereitschaft fest, ist die Prüfung des Entschädigungsanspruchs dem Grunde nach abgeschlossen. Erst dann kann der Anspruch der Höhe nach geprüft werden.

9. Die Berechnung des Entschädigungsanspruchs der Höhe nach

9.1. Die Berechnung der Entschädigung hat nach Entgeltmaßstäben zu erfolgen Erst wenn der Zeitverlust und der dadurch entstandene Nachteil sowie die Kausalitäten feststehen, lassen sich Kosten ermitteln.48

Die Berechnung der Entschädigung hat nach Entgeltsmaßstäben zu erfolgen49 und ist kalkulatorisch auf Basis der Auftragskalkulation zu ermitteln. Das bedeutet nicht, dass die Entschädigung nach „abstrakten Maßstäben“ zu berechnen ist.50 Mit dem hier verwendeten Begriff „kalkulatorisch“ ist gemeint, dass nicht Mehrkosten wie bei der schadenersatzrechtlichen Berechnung des Schadens zu ermitteln sind, sondern dass sie aus den Preisen der Auftragskalkulation abzuleiten sind. Diese Ableitung ist ein kalkulatorischer Vorgang, der bei offengelegter Kalkulation von den Preisansätzen des Vertrages auszugehen hat: Der Entgeltanspruch des Auftragnehmers hat nichts mit der Entstehung von konkreten zusätzlichen

47 Berlakovits/Karasek, bau aktuell 2017, 93.

48 Vgl Kropik, Störung des Bauablaufes – Auswirkungen auf Bauzeit und Kosten, SV 2012, 79.

49 Kletečka in Kletečka/Schauer, ABGB­ON1.04, § 1168 Rz 39; Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 58; Karasek, Rechtliche Anmerkungen zum Beitrag „Leistungsentfall und Leistungsvereitelung“ von Wolfgang Oberndorfer, bau aktuell 2013, 13; Duve, Preisfortschreibung und angemessener Preis, bau aktuell 2012, 124 (131); Kropik/P. Krammer, Mehrkostenforderungen beim Bauvertrag (1999) 99; Kropik, Nachtragsmanagement: Die Bestimmung von Preisgrundlagen, in FS Jodl (2007) 183 (188 f); Gölles/Link, ÖNORM­Bauvertrag – Praxiskommentar (2011) 83; anderer Ansicht Wenusch, Nochmals: Das Baugrundrisiko, bbl 2011, 109 (113); derselbe, Nochmals: Sowiesokosten, ecolex 2011, 991. Ring (Mitverschulden bei Gewährleistung [2018] 115) schlägt eine vermittelnde Lösung vor und stellt auf den hypothetischen Parteiwillen ab.

50 Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 43.

170 Juli 2023 Die Voraussetzungen des werkvertraglichen Entschädigungsanspruchs Fachartikel

Ausgaben oder mit den tatsächlichen Mehrkosten des Auftragnehmers zu tun. Folglich kann der auf § 1168 ABGB gestützte Entgeltsanspruch nicht –wie beim Schadenersatz – an die tatsächlichen Mehrkosten des Auftragnehmers anknüpfen. Es gilt der Grundsatz: „Ein guter Preis bleibt ein guter Preis, ein schlechter Preis bleibt ein schlechter Preis.“ Die subjektive Äquivalenz soll erhalten bleiben.51 Diese nach ABGB geltenden Grundsätze werden in Punkt 7.4.2. der ÖNORM B 2110 ergänzt und näher determiniert. Die Berechnung muss prüffähig sein. Es gelten die gleichen Grundsätze wie bei der Prüffähigkeit von Rechnungen.

9.2. Beweislast und Beweismaß bei der Berechnung der Anspruchshöhe

Die Beweislast für die Höhe des Anspruchs trifft den Auftragnehmer. Bei der monetären Bewertung des vom Auftragnehmer (durch Vollbeweis) bewiesenen Nachteils besteht für den Auftragnehmer eine Beweiserleichterung. Das Gericht darf – in der Regel mit Unterstützung eines Gerichtssachverständigen – die geltend gemachten Mehrkosten nach § 273 ZPO schätzen,52 wenn der Beweis gar

51 OGH 29. 4. 2009, 2 Ob 203/08d.

52 Kodek in Kodek/Plettenbacher/Draskovits/Kolm, Mehrkosten2, 82; OGH 9. 8. 2011, 4 Ob 116/11d.

nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten erbracht werden kann.

Zusammenfassung

Anspruchsvoraussetzungen für einen Mehrkostenanspruch nach § 1168 Abs 1 Satz 2 ABGB dem Grunde nach sind:

● Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers,

● ein Zeitverlust,

● die Kausalität der Umstände aus der Sphäre des Auftraggebers für den Zeitverlust,

● eine Verkürzung des Auftragnehmers,

● die Kausalität des Zeitverlustes für die Verkürzung (den Nachteil) und

● die Leistungsbereitschaft des Auftragnehmers.

Für alle Umstände, die zum Grund des Anspruchs gehören, hat der Auftragnehmer die Behauptungs­ und Beweislast. Als Beweismaß gilt der Vollbeweis. Die Beweislast für die Höhe des Anspruchs trifft den Auftragnehmer. Das Gericht darf die geltend gemachten Mehrkosten nach § 273 ZPO schätzen, wenn der Beweis gar nicht oder nur mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten erbracht werden kann.

News – Aktuelles aus der Branche (II)

Infina Kredit Index (IKI): Variabel verzinste

Wohnbaukredite in der Gefahrenzone

Vor allem die variablen Zinsen für Wohnbaukredite haben sich über das zweite Quartal 2023 im Einklang mit zwei weiteren Leitzinsanhebungen der EZB um rund 0,5 Prozentpunkte verteuert. Im Jahresvergleich lag die nominale Verteuerung bei fast 3,8 Prozentpunkten und die effektive Monatsrate für einen Immobilienkredit in Höhe von 100.000 € verteuerte sich bei einer Laufzeit von 25 Jahren um 201,50 € auf 589,82 €, also jährlich um 2.418 €. Und wegen Lohninflationsrisiken sowie hartnäckiger Kerninflation besteht in der Eurozone die Gefahr weiter steigender Zinsen.

Umso verwunderlicher ist es, dass in einem Umfeld stark steigender Zinsen innerhalb des neu abgeschlossenen Wohnbaukreditvolumens der Haushalte der Anteil an variabel verzinsten Krediten zunimmt, und zwar von 38,1 % im Negativzinsjahr 2021 auf 57,5 % im ersten Quartal 2023. Die Wohnbauexperten von Infina schätzen, dass ein Immobilienkreditvolumen privater Haushalte in Höhe von 70 bis 90 Mrd € bzw bis zu über 20 % des BIP variabel verzinst ist. Vor allem zahlreiche Jungfamilien sind mittlerweile an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt. Weitere Zinsanstiege hätten vermehrt Kreditausfälle und Zwangsversteigerungen zur Folge. Dieses hohe ungesicherte Kreditvolumen birgt somit ein großes Gefahrenpotenzial, welches mittels Umschuldung (insbesondere auf längere Laufzeiten) noch rasch entgegengewirkt werden kann.

Wesentlich weniger stark stiegen die Zinsen am langen Ende, da die Märkte ab dem Verlauf des kommenden Jahres bereits sinkende Zinsen einpreisen. Ein wirtschaftlicher Abschwung und rückläufige Inflationsraten nähren diese Erwartungen.

Die Folge: Laut den Durchschnittswerten des IKI stehen am 3. 7. 2023 Nominalzinsen von 4,762 % bei variabel verzinsten Kre­

diten (auf 3­Monats­Euribor­Basis) 4,125 % bei 10­jährigen und 4,025 % bei 20­jährigen Fixzinsbindungen gegenüber. Das ist eine Marktanomalie. Normalerweise müssen Kreditnehmer für Fixzinsbindungen auf 10 bis 30 Jahre höhere Zinsen als bei variabel verzinsten Krediten in Kauf nehmen. Derzeit ist es aber umgekehrt und es existieren am Markt erhebliche Umschuldungschancen mit der Möglichkeit, gleichzeitig die Ratenbelastung zu senken.

Spatenstich für 17 Wohnungen im Herzen von Mödling Mit diesem Bauprojekt im Herzen der Stadt Mödling entstehen drei moderne Wohnhäuser mit insgesamt 17 frei finanzierten Wohnungen. Die durchdachten Grundrisse von 47 bis 107 m2 bieten auf zwei bis vier Zimmern, umgeben von einer großzügigen Grünanlage, höchstes Wohngefühl. Alle Apartments verfügen über eine Freifläche (Garten, Balkon, Loggia oder Terrasse) und haben damit entweder direkten Zugang oder Blick ins Grüne. Das Projekt wird nach den Kriterien von GREENPASS®, zur Errichtung klimafitter Immobilien & Freiräume im Gold­Standard, errichtet und zertifiziert. „Als Klimaschutzkonzern schaffen wir nachhaltigen Wohnraum mit höchster Lebensqualität im Herzen Mödlings“, so der stellvertretende Generaldirektor der Wiener Stadtwerke Peter Weinelt.

WSTW IMMO ist ein gemeinsames Projekt der immOH! Energie und Gebäudemanagement GmbH zusammen mit der GWSG (Gemeinnützige Wohnungs­ und Siedlungsgesellschaft der Wiener Stadtwerke GmbH). Dabei werden das Wissen der immOH! als Full­Service­Dienstleisterin im Bereich Immobilienbetreuung mit dem Know­how der GWSG als Immobilienentwicklerin und Hausverwalterin vereint. Thomas Angerer, Geschäftsführer von immOH!: „Ziel des Projekts ist die wertschöpfende Nutzung von Grundstücken und die nachhaltige Errichtung von Wohnflächen.“

Juli 2023 171 Service

Aus der aktuellen Rechtsprechung

Haftung des Subunternehmers und merkantiler Minderwert

§§ 1295 ff ABGB

OGH 25. 4. 2023, 10 Ob 59/22g

1. Die Ersatzpflicht des Sachverständigen nach §§ 1299 und 1300 ABGB beschränkt sich grundsätzlich auf den aus dem Schuldverhältnis Berechtigten, also regelmäßig den Auftraggeber.

2. Eine Haftung gegenüber einem Dritten kommt allerdings dann in Betracht, wenn die objektiv-rechtlichen Schutzwirkungen auf ihn zu erstrecken sind.

3. Nach ständiger Rechtsprechung kommt eine Haftung des Erfüllungsgehilfen gegenüber dem Gläubiger des Geschäftsherrn bloß wegen Verletzung der Pflichten aus dem Schuldverhältnis nicht in Betracht.

4. Eine auf der gefühlsmäßigen Abneigung des Käuferpublikums gegen reparierte Sachen beruhende merkantile Wertminderung ist auch bei Liegenschaften ersatzfähig und ohne Rücksicht auf einen nachträglichen Verkauf festzusetzen. Sie steht zudem unabhängig davon zu, ob die beschädigte Sache tatsächlich repariert wird.

5. Merkantile Wertminderung ist positiver Schaden, der neben den Kosten der Behebung der technischen Wertminderung (der Reparatur) zu ersetzen ist.

6. Bei der Ermittlung des merkantilen Minderwerts ist vom Differenzbetrag zwischen dem Zeitwert im Schadenszeitpunkt und dem in repariertem Zustand auszugehen.

Der Kläger schloss mit der Erstbeklagten am 30. 8. 2012 einen Anwartschaftsvertrag und am 14. 3. 2013 einen Kauf- und Wohnungseigentumsvertrag über die Errichtung eines Einfamilienwohnhauses. Mit den statischen Berechnungen und der Erstellung der Bewehrungspläne beauftragte die Erstbeklagte den Zweitbeklagten als Subunternehmer, der die ursprünglich vorgesehene Stärke der Decken von 22 cm auf 20 cm änderte.

Nach Übergabe des Objekts im September 2013 kam es zu nicht mehr normgemäßen Rissen an den Wänden, deren Ursache die zu dünn ausgeführten Decken vor allem über dem Erdgeschoß sind. Die Ursache der Risse (zu weiche Deckenkonstruktion) kann nur durch Aufkleben von CFK-Lamellen auf den Decken endgültig behoben werden, was inklusive der Sanierung der bestehenden Risse Kosten von 20.000 € verursacht.

Der Verkehrswert der Liegenschaft beträgt 660.000 €. Es ist davon auszugehen, dass potenzielle Käufer wegen der Mängel ein „psychologisches Unbehagen“ haben, das sich trotz Sanierung mit CFK-Lamellen in einem merkantilen Minderwert von 26.000 € niederschlägt.

Das Erstgericht verurteilte die Beklagten, soweit für das Revisionsverfahren noch relevant, dem Kläger zur ungeteilten Hand 26.000 € an merkantiler Wertminderung zu zahlen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Erstbeklagten nicht, jener des Zweitbeklagten hingegen Folge und wies ihm gegenüber das (allein bekämpfte) Begehren auf Ersatz der merkantilen Wertminderung ab.

Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil die Frage, ob der Subunternehmer für fehlerhafte Planungen auch dann deliktisch hafte, wenn der Bauherr im Zeitpunkt der Leistung noch gar

2023/8

nicht in seinem Recht auf Eigentum habe verletzt werden können, über den Einzelfall hinaus Bedeutung habe.

Aus der Begründung:

Die Revisionen des Klägers und der Erstbeklagten sind entgegen dem – den OGH nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts mangels darin aufgezeigter Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung nicht zulässig.

I. Zur Revision des Klägers

1. Die Ersatzpflicht des Sachverständigen nach §§ 1299 und 1300 ABGB beschränkt sich grundsätzlich auf den aus dem Schuldverhältnis Berechtigten, also regelmäßig den Auftraggeber (RIS­Justiz RS0026234; RS0026645 ua). Eine Haftung gegenüber einem Dritten kommt allerdings dann in Betracht, wenn die objektivrechtlichen Schutzwirkungen auf ihn zu erstrecken sind (RIS­Justiz RS0026234 [T13]). Das ist der Fall, wenn der Sachverständige damit rechnen musste, dass sein Gutachten (seine Tätigkeit) die Grundlage für die Disposition eines Dritten bilden wird (RIS­Justiz RS0106433; RS0026645 [T5]; RS0026234 [T4]). Derartige Ansprüche sind jedoch gegenüber eigenen Ansprüchen subsidiär, bestehen also nur, wenn der Dritte keinen deckungsgleichen Anspruch auf Schadenersatz gegenüber seinem Vertragspartner hat (RIS­Justiz RS0026645 [T14]). Demgemäß hat der OGH einen „Durchgriff“ auf den vom Generalunternehmer im Wege eines Subauftrags verpflichteten Statiker schon wiederholt abgelehnt (unter anderem 1 Ob 232/05g; 3 Ob 71/97f). Die Ansicht des Berufungsgerichts, der Zweitbeklagte hafte dem Kläger nicht nach §§ 1299 und 1300 ABGB, entspricht dieser Rechtsprechung.

2. Nach ständiger Rechtsprechung kommt eine Haftung des Erfüllungsgehilfen gegenüber dem Gläubiger des Geschäftsherrn bloß wegen Verletzung der Pflichten aus dem Schuldverhältnis nicht in Betracht. Der Erfüllungsgehilfe haftet vielmehr nur dann, wenn sein Verhalten unabhängig von der Existenz des Schuldverhältnisses rechtswidrig ist, er also deliktisch handelt (RIS­Justiz RS0022481; RS0022801). Wenn das Berufungsgericht davon ausgeht, eine deliktische Haftung des Zweitbeklagten ergebe sich hier weder aus einer Verletzung von Schutzgesetzen (vgl RIS­Justiz RS0022656) noch einem Eingriff in absolut geschützte Rechte (vgl RIS­Justiz RS0022946), bedarf das keiner Korrektur.

Warum § 13 ZTG 1993 (nunmehr: § 11 ZTG 2019) ein Schutzgesetz sein soll, erklärt der Kläger nicht näher. Er hat sich im erstinstanzlichen Verfahren überdies auf die in der Revision behauptete Schutzgesetzverletzung nicht berufen.

2.1. Dem Eigentumsrecht kommt zwar absoluter Schutz zu (RIS­Justiz RS0010350). Warum der Kläger schon im Stadium der Planung des Hauses in seinem Eigentum verletzt worden sein soll, ist jedoch nicht nachvollziehbar. Er beruft sich dazu auf die kurz vor Erstellung der unrichtigen Bewehrungspläne erfolgte Anmerkung (der Zusage) der Einräumung von Wohnungseigentum im Grundbuch (§ 40 Abs 2 WEG 2002), was aber schon deshalb nicht überzeugt, weil dadurch keine dinglichen Rechte erworben werden (vgl RIS­Justiz RS0118477). Zwar berechtigte ihn die Anmerkung, den späteren Erwerb des Eigentums am Mindestanteil und des Wohnungseigentums in deren Rang zu be­

172 Juli 2023 Rechtsprechung
Mag. Wolfgang Hussian

gehren (vgl RIS­Justiz RS0113522). Auch das ändert aber nichts daran, dass das Haus (unstrittig) erst nach Erstellung der Statik bzw der Bewehrungspläne errichtet wurde, sodass zu diesem Zeitpunkt kein Eigentum daran bestanden haben kann. Verletzt wurde der Kläger daher „nur“ in seinem Anspruch, dass das Werk mangelfrei hergestellt wird. Dabei handelt es sich aber nicht um ein absolut geschütztes Recht (vgl RIS­Justiz RS0023106). Mangels Relevanz bedarf es daher weder der vom Kläger vermissten Feststellungen zum Zeitpunkt der Grundbucheintragungen, der Leistungen des Zweitbeklagten oder des Verbaus der zu geringen Bewehrung noch liegt in der Annahme des Berufungsgerichts, im Zeitpunkt der Planung sei der Kläger noch nicht Träger absolut geschützter Rechte gewesen, ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz oder das Verbot der Überraschungsentscheidung (§ 510 Abs 3 ZPO).

3. Die Behauptung, der Zweitbeklagte habe nicht bestritten, seine Haftung außergerichtlich anerkannt zu haben, findet im Akteninhalt keine Deckung. Tatsächlich hat der Kläger nämlich vorgebracht, der Zweitbeklagte habe einen Planungsfehler anerkannt. Selbst wenn der Zweitbeklagte dies zugestanden haben sollte, führt das nach dem Gesagten aber noch nicht zu seiner Haftung.

II. Zur Revision der Erstbeklagten

1. Merkantile Wertminderung ist positiver Schaden, der neben den Kosten der Behebung der technischen Wertminderung (der Reparatur) zu ersetzen ist (RIS­Justiz RS0031205). Bei der Ermittlung des merkantilen Minderwerts ist vom Differenzbetrag zwischen dem Zeitwert im Schadenszeitpunkt und dem in repariertem Zustand auszugehen (RIS­Justiz RS0030366). Eine auf der gefühlsmäßigen Abneigung des Käuferpublikums gegen reparierte Sachen beruhende merkantile Wertminderung ist auch bei Liegenschaften ersatzfähig (RIS­Justiz RS0109556; RS0031205 [T3]) und ohne Rücksicht auf einen nachträglichen Verkauf festzusetzen (RIS­Justiz RS0030378). Sie steht zudem unabhängig davon zu, ob die beschädigte Sache tatsächlich repariert wird (RIS­Justiz RS0030400). Ob im Einzelfall eine merkantile Wertminderung auch tatsächlich eingetreten ist, ist eine der Prüfung durch den OGH entzogene Tatfrage (unter anderem 3 Ob 30/22s; 10 Ob 113/98k; 5 Ob 47/98t). Liegen allerdings nur ganz geringfügige harmlose Schäden vor, ist eine trotz einwandfreier Reparatur verbleibende merkantile Wertminderung in der Regel nicht anzunehmen (unter anderem RIS­Justiz RS0031166; Danzl in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB6, § 1323 Rz 14).

2. Diese Grundsätze zieht die Erstbeklagte nicht in Zweifel. Sie meint aber, dass aufgrund der Besonderheiten von Liegenschaften im Vergleich zu Fahrzeugen (etwa lange Lebensdauer, Sinken der Wertminderung mit zunehmendem Abstand zur Schädigung,

keine vergleichbaren Alternativen für potenzielle Käufer und dergleichen), erst dann von einer tatsächlichen Wertminderung ausgegangen werden könne, wenn die Kosten der Reparatur 10 % des Marktwerts vor dem Schadenseintritt erreichen. Diese Ansicht überzeugt nicht.

2.1. Die Erstbeklagte bestreitet nicht, dass es auch bei Liegenschaften einer erheblichen Beschädigung bedarf, um eine Wertminderung annehmen zu können, bloße Bagatellschäden daher ausscheiden (jüngst etwa Kerschner in Kerschner/Kleiber/Ertl, Merkantiler Minderwert von Liegenschaft [2021] 25 mwN). Sie zieht die Grenze allerdings wesentlich weiter als die Vorinstanzen und stellt dabei auf den vor allem in Deutschland vertretenen Ansatz ab, einen Bagatellschaden zu bejahen, wenn die Reparaturkosten bis zu 10 % des Wiederbeschaffungswerts ausmachen (Oetker in Münchener Kommentar zum BGB9, § 249 Rz 55; Geigl, Haftpflichtprozess28, §§ 249, 250 BGB Rz 107 und 116; vgl auch Rassi, Der merkantile Minderwert bei Liegenschaften, RZ 2009, 162 [164]). Die Erstbeklagte übersieht dabei jedoch, dass die Bagatellgrenze auch in Deutschland oft unter dieser Grenze gezogen wird (vgl etwa die Aufstellung bei Kleiber in Kerschner/Kleiber/Ertl, Merkantiler Minderwert, 137 f). Dies ist auch verständlich. Zwar ist das Abstellen auf die Reparaturkosten vermeintlich einfach und leicht zu handhaben. Dabei werden aber die Umstände des Einzelfalles unberücksichtigt gelassen und damit zum Teil fragwürdige Ergebnisse erzielt: Derselbe einen erheblichen Reparaturaufwand verursachende Schaden würde etwa bei hoch­ und neuwertigen Liegenschaften zu keiner, bei geringwertigen bzw alten Liegenschaften hingegen zu einer Wertminderung führen. Richtigerweise dient dieser Ansatz daher nur der Orientierung (Kerschner, Der merkantile Minderwert bei der Liegenschaftsbewertung, SV 2007, 174 [178]).

2.2. Wenn die Vorinstanzen vor dem Hintergrund dieser Grundsätze hier einen harmlosen, ganz geringfügigen (Bagatell­) Schaden verneinen, bedarf das keiner Korrektur. Bei Mängeln, die tragende Teile bzw die Statik betreffen, stellt es keine Fehlbeurteilung dar, trotz ordnungsgemäßer Reparatur sowie ungeachtet der auch zuvor nicht beeinträchtigten Tragfähigkeit davon auszugehen, dass potenzielle Käufer im Vergleich zur schon ursprünglich fachgemäßen Ausführung geringeres Vertrauen in die Qualität des Gebäudes haben und daher dessen Verwertbarkeit eingeschränkt ist. Noch dazu, wenn – wie die Erstbeklagte selbst vorgebracht hat – weitere Risse nach der Sanierung nicht gänzlich auszuschließen sind.

3. und 4.

III. ...

Haftung des gerichtlich bestellten Sachverständigen

§§ 1295 ff ABGB

OGH 21. 3. 2023, 2 Ob 7/23b

1. Ein gerichtlich bestellter Sachverständiger, der in einem Zivilprozess schuldhaft ein unrichtiges Gutachten abgibt, haftet den Prozessparteien gegenüber für die Folgen dieses Versehens.

2. Der Bemessung des vom Beklagten zu ersetzenden Schadens ist der hypothetische Prozessausgang des Vorprozesses bei Vorliegen eines richtigen Gutachtens zugrunde zu legen.

Gegenstand des Verfahrens ist ein Schadenersatzanspruch gegen den Beklagten als gerichtlich bestellten Sachverständigen im Verfahren .,. des Erstgerichts (in der Folge: Vorprozess).

2023/9

Im Vorprozess wies das Berufungsgericht das auf Wandlung gestützte Zahlungsbegehren von 20.957,60 € sA mit der Begründung ab, dass die vom (nunmehr beklagten) Sachverständigen vorgenommene Messung keine Überschreitung des Grenzwerts für den Geräuschpegel der Luft-Wasser-Wärmepumpe zeige, sodass die Anlage nicht mangelhaft sei. Der Kläger zahlte dem Gegner im Vorprozess insgesamt 11.807,40 € an Kosten und hatte darüber hinaus die Kosten des eigenen Rechtsanwalts von 14.290,36 € zu tragen.

Die im Schlafzimmer des Klägers montierte Anlage entspricht tatsächlich nicht dem Stand der Technik, weil sie bei normgerechter Messung die Schallgrenzwerte von 25 dB mit 33 bis 34 dB deutlich überschreitet. Die vom Beklagten im Vorprozess vorge-

Juli 2023 173 Rechtsprechung

nommene Messung erfolgte nicht bei Normbedingungen. Hätte der Beklagte im Vorprozess ein richtiges Gutachten erstattet, wäre der Klage im Vorprozess stattgegeben worden.

Das Erstgericht gab dem auf Zahlung von 47.055,36 € sA an Schadenersatz gerichteten Klagebegehren statt. Das fehlerhafte Gutachten des Beklagten sei kausal für den Ausgang des Vorprozesses gewesen. Ein Benützungsentgelt müsse sich der Kläger nicht anrechnen lassen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision zu. Die Verrechnung von Benützungsentgelt für eine nicht ordnungsgemäß funktionierende Anlage erscheine nicht sachgerecht. Die durch zahlreiche gescheiterte Verbesserungsversuche längere Benützungsdauer der Sache könne dem Gewährleistungsberechtigten nicht zum Nachteil gereichen.

Die ordentliche Revision sei zur Frage zulässig, ob die durch erfolglose Verbesserungsversuche herbeigeführte längere Benützungsdauer der Sache im Falle einer Wandlung einen Anspruch auf Zahlung von Benützungsentgelt auslöse.

Aus der Begründung:

Die Revision ist – entgegen dem den OGH nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) Ausspruch des Berufungsgerichts – nicht zulässig, weil keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zu beantworten ist.

1. Ein gerichtlich bestellter Sachverständiger, der in einem Zivilprozess schuldhaft ein unrichtiges Gutachten abgibt, haftet den Prozessparteien gegenüber für die Folgen dieses Versehens. Ob einer Prozesspartei durch ein solches schuldhaftes Fehlverhalten des Sachverständigen ein Schaden entstanden ist, ist danach zu beurteilen, ob die Entscheidung im Vorprozess für sie günstiger ausgefallen wäre, wenn der Sachverständige dort ein in allen von ihm begutachteten Fragen richtiges Gutachten abgegeben hätte. Ob das Gericht eine andere oder die gleiche Sachentscheidung getroffen hätte, betrifft die Beurteilung der natürlichen Kausalität des Fehlverhaltens des Sachverständigen für den der Prozesspartei entstandenen Schaden und somit eine Tatsachenfrage (RIS­Justiz RS0026360 [insbesondere auch T2 und T15]). Zur Beurteilung der Frage, ob die Unrichtigkeit des Gutachtens ausschlaggebend für die die Prozesspartei beschwerende Entscheidung war, ist nicht zu prüfen, wie die infrage stehende unter Mitwirkung des Sachverständigen zustande gekommene gerichtliche Entscheidung richtig zu lauten gehabt hätte. Entscheidend ist allein, welchen Einfluss ein sachlich richtiges Gutachten des Sachverständigen auf die Entscheidung gehabt hätte (3 Ob 258/15k, Punkt 1. mwN).

Die Vorinstanzen sind davon ausgegangen, dass der Kläger bei richtiger Gutachtenserstattung durch den Beklagten im Vorprozess obsiegt hätte. An diese als Tatsachenfeststellung zu wertende Beurteilung der natürlichen Kausalität ist der OGH gebunden, sodass auf die Revisionsausführungen zu den dieser Tatfrage vorgelagerten Rechtsfragen (wie etwa das behauptete Vorliegen eines geringfügigen Mangels im Sinne des § 932 Abs 4 ABGB) nicht einzugehen ist.

Da das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang überhaupt keinen Bezug auf das bloß reduzierte Beweismaß der über­

wiegenden Wahrscheinlichkeit nahm, stellt sich die in der Revision aufgeworfene Frage nach der Zulässigkeit der Heranziehung eines reduzierten Beweismaßes nicht.

2. Den für die Prüfung der Frage, ob dem Beklagten als Sachverständigen ein schuldhaftes und rechtswidriges Fehlverhalten angelastet werden kann, maßgeblichen Inhalt des Gutachtensauftrags im Vorprozess (vgl RIS­Justiz RS0026524 [T6]) hat das Berufungsgericht dem im Beweisverfahren verwerteten Beiakt entnommen (RIS­Justiz RS0121557 [T5 und T9]), sodass der gerügte sekundäre Feststellungsmangel nicht vorliegt.

3. Der Bemessung des vom Beklagten zu ersetzenden Schadens ist der hypothetische Prozessausgang des Vorprozesses bei Vorliegen eines richtigen Gutachtens zugrunde zu legen (7 Ob 69/10p mwN). Der Schaden ist durch eine Differenzrechnung zu ermitteln; es ist zunächst der hypothetische heutige Vermögensstand ohne das schädigende Ereignis zu ermitteln und von diesem Betrag der heutige tatsächliche Vermögenswert abzuziehen (RISJustiz RS0030153). Der Geschädigte soll nicht mehr und nicht weniger als die erlittenen Nachteile ersetzt erhalten (vgl RISJustiz RS0023600 [T10]).

3.1. Der Beklagte strebt in erster Linie die Berücksichtigung eines Benützungsentgelts an, weil der Kläger die (wenn auch mangelhafte) Anlage seit Jahren verwende.

Der in diesem Vorbringen liegende Einwand der Bereicherung muss so hinreichend konkretisiert und beziffert werden, dass ihn das Gericht – im Wege der prozessualen Aufrechnung –berücksichtigen kann (10 Ob 2/23a, Rn 85 mwN). Diesen Anforderungen genügen die Ausführungen des Beklagten zum Benützungsentgelt nicht, womit bereits das Berufungsgericht (unter anderem) die Ablehnung der Zuerkennung eines Benützungsentgelts begründet hat, ohne dass der Beklagte diese selbständig tragfähige Hilfsbegründung in der Revision als unrichtig oder als unzulässige Überraschungsentscheidung beanstandet hätte.

3.2. Schon aus diesem Grund haben die Vorinstanzen die Berücksichtigung eines Benützungsentgelts im vorliegenden Fall vertretbar unterlassen, sodass es auf die vom Berufungsgericht als erheblich bezeichnete Rechtsfrage nicht entscheidend ankommt.

3.3. Soweit der Beklagte in der Revision argumentiert, dass –offenkundig zusätzlich zum Benützungsentgelt, das allerdings die durch den Gebrauch eingetretene Wertminderung ausgleichen soll (8 Ob 300/98w) – auch der durch den zwischenzeitlichen Gebrauch eingetretene Wertverlust zu berücksichtigen ist, handelt es sich um eine unzulässige Neuerung, hat der Beklagte doch im erstinstanzlichen Verfahren lediglich kursorisch darauf verwiesen, dass der Schaden nur in einem im Vorprozess allenfalls zu Recht bestehenden Wandlungsbegehren bestehen könne. Zur damit im Ansatz angesprochenen Frage der Rückabwicklung Zug um Zug hat der Beklagte in der Revision klargestellt, eine solche nicht anzustreben, sodass sich nähere Ausführungen dazu erübrigen.

4. und 5. ...

174 Juli 2023 Rechtsprechung

Prokuristen in der Bauwirtschaft

Unter besonderer Berücksichtigung der einschlägigen Regelungen im Kollektivvertrag

Die Prokura ist keine Besonderheit der Bauwirtschaft; sie kann auch in allen anderen Branchen erteilt werden. Branchenspezifisch sind allenfalls die Bestimmungen im Kollektivvertrag, die im Folgenden auch besonders berücksichtigt werden sollen.

1. Unternehmensrecht

Der Zweck der Prokura liegt darin, im Unternehmensverkehr die Transaktionskosten niedrig zu halten, weil die Prokura eine inhaltlich standardisierte Vollmacht ist, die Nachforschungen über den Umfang der Vertretungsmacht vermeiden soll.1 Aus diesem Grund knüpft die Möglichkeit der Erteilung der Prokura auch an die Eintragung im Firmenbuch an, wobei die tatsächliche Eintragung entscheidend ist (anders als in der Vorgängerregelung des HGB).2 Da das Gesetz aber auch die Gesamtvertretung zulässt, kann die Vertretungsmacht des Prokuristen allerdings faktisch erheblich reduziert werden.3

Eine wesentliche Ausnahme von der Unbeschränkbarkeit der Prokura (§ 50 Abs 1 UGB) ist jedoch in § 49 Abs 2 UGB zu finden, wobei hier die Beschränkung schon durch das Gesetz selbst erfolgt: „Zur Veräußerung und Belastung von Grundstücken ist der Prokurist nur ermächtigt, wenn ihm diese Befugnis besonders erteilt ist.“ Für den Abschluss von Bauwerkverträgen ist diese Bestimmung ohne Bedeutung, weil bei diesen weder eine Veräußerung noch eine Belastung des Grundstücks Vertragsinhalt ist. Spezielle Fragen können sich daher beim Bauträgervertrag stellen; dieser wird in § 2 Abs 1 BTVG als „ein Vertrag über den Erwerb des Eigentums, des Wohnungseigentums, des Baurechts, des Bestandrechts oder eines sonstigen Nutzungsrechts einschließlich Leasings an zu errichtenden oder durchgreifend zu erneuernden Gebäuden, Wohnungen oder Geschäftsräumen“ definiert. Das heißt, dass für ihn zwei Elemente typisch sind: die Eigentumsübertragung am Grundstück (kaufvertragliches Element) und die Errichtung eines Gebäudes (werkvertragliches Element). Lässt jemand auf eigenem Grund ein Bauwerk errichten, ist dieser Vertrag nicht als Bauträgervertrag zu qualifizieren.4 Der Eigentumsübergang ist also ein wesentliches Element der Bauträgervertrages, womit der OGH zu Recht im Hinblick auf die Verjährung die Verjährungsvorschriften für den Kauf einer unbeweglichen Sache anwenden will, das heißt 30 Jahre.5 Daraus folgt, dass ein Prokurist zum Abschluss eines Bauträgervertrages nur dann berechtigt ist, wenn er dazu auch bevollmächtigt

1 Warto in Straube/Ratka/Rauter, UGB I4, § 48 Rz 1.

2 Strasser/Jabornegg in Artmann, UGB I3 (2019) § 48 Rz 1.

3 Warto in Straube/Ratka/Rauter, UGB I4, § 48 Rz 8.

4 OGH 29. 4. 2004, 6 Ob 89/04p.

5 OGH 20. 12. 2022, 4 Ob 186/22i, immo aktuell 2023/8 (Höllwerth).

wurde; die bloße Erteilung der Prokura ist daher nicht ausreichend.

Für Ziviltechnikergesellschaften bestimmt allerdings § 29 Abs 6 ZTG 2019 ausdrücklich, dass die Prokura nicht wirksam erteilt werden kann. Die Materialien schweigen über die Gründe dafür.6 Hintergrund dafür dürfte sein, dass schon zuvor die Ansicht vertreten wurde, dass Personen, die keine Ziviltechniker sind, ohnehin nicht zu Prokuristen bestellt werden dürfen.7

2. Arbeitsrecht

2.1. Keine Auswirkung der Prokura auf die rechtsdogmatische Beurteilung eines Vertragsverhältnisses

Die Erteilung der Prokura hat in einem formalen Sinn keinen Einfluss auf die arbeitsrechtliche Beurteilung des Rechtsverhältnisses zwischen dem Prokuristen und demjenigen, der ihm die Prokura erteilt hat. Das gilt nicht nur hinsichtlich der Beurteilung des Rechtsverhältnisses als Arbeitsverhältnis (im Sinne des § 1151 ABGB),8 sondern auch hinsichtlich anderer Abgrenzungsfragen, etwa der des leitenden Angestellten im Sinne des § 36 Abs 2 Z 3 ArbVG.9

Ganz auswirkungslos ist die Erteilung der Prokura in arbeitsrechtlicher Hinsicht allerdings auch nicht. Plakativ formuliert kommt es bei der Lösung der Abgrenzungsfragen weniger auf die Erteilung der Prokura als solche an, sondern vielmehr auf die Einschränkungen im Innenverhältnis, wobei für die arbeitsrechtliche Beurteilung auch hier nicht die formalen Beschränkungen entscheidend sind, sondern der tatsächliche Handlungsspielraum des Prokuristen im Einzelfall zu beachten ist.10 Allerdings ist auch der Umkehrschluss, ein leitender Angestellter müsse zwingend Prokurist sein, nicht zutreffend.11

2.2. Kollektivvertrag für Angestellte der Baugewerbe und der Bauindustrie

Ist ein Rechtsverhältnis als Arbeitsvertrag zu qualifizieren, sieht das ArbVG keine Ausnahmen bezüglich der Anwendbarkeit eines Kollektivvertrages

6 ErlRV 478 BlgNR 26. GP, 6. Die Ausführungen verweisen auf die Vorgängerbestimmung in § 28 ZTG 1993, wobei die Bestimmungen zur Prokura mit dem ZTG 2019 neu eingefügt wurden.

7 OGH 30. 3. 2016, 6 Ob 41/16x.

8 W. Ettmayer, Die Rechtsstellung von „Unternehmensleitern“, ÖJZ 2011, 581 (590).

9 OGH 5. 9. 2001, 9 ObA 193/01z.

10 EA Salzburg 18. 11. 1982, Re 16/82, Arb 10.130.

11 OGH 28. 6. 2018, 9 ObA 66/18y, JAS 2019, 172 (Tutschek).

Juli 2023 175 Prokuristen in der Bauwirtschaft Baukaufmann
MMag. Christoph Wiesinger, LL.M. ist Mitarbeiter der Geschäftsstelle Bau der Wirtschaftskammer Österreich in Wien.

auf einen Prokuristen vor. Auch leitende Angestellte im Sinne des § 36 Abs 2 Z 3 ArbVG unterliegen einem Kollektivvertrag. Anders gilt nur, wenn der Kollektivvertrag selbst in seinen Bestimmungen zum Geltungsbereich eine explizite Regelung zu Prokuristen enthält.

Der Kollektivvertrag für Angestellte der Baugewerbe und der Bauindustrie12 gilt nicht für Prokuristen, soweit sie nicht arbeiterkammerumlagepflichtig sind (§ 2 Z 2 lit b des Kollektivvertrages für Angestellte der Baugewerbe und der Bauindustrie). Nach § 10 Abs 1 AKG sind alle Arbeitnehmer kraft Gesetzes Mitglied der Arbeiterkammer. Leitende Angestellte, denen dauernd maßgebender Einfluss auf die Führung des Unternehmens zusteht, sind allerdings nicht Mitglied der Arbeiterkammer, was aber nur dann gilt, wenn das Unternehmen nicht in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft betrieben wird (§ 10 Abs 2 Z 2 AKG). Das heißt im Ergebnis, dass Prokuristen, die bei einer Kapitalgesellschaft als Arbeitnehmer beschäftigt sind, Mitglied der Arbeiterkammer sind.13 Aus der gesetzlichen Mitgliedschaft in der Arbeiterkammer resultiert die Verpflichtung zur Leistung der Arbeiterkammerumlage (§ 17 AKG). Bei dieser Ausnahme handelt es sich daher im Wesentlichen um totes Recht, weil sie nur für Prokuristen, die bei keiner Kapitalgesellschaft beschäftigt sind, von Bedeutung ist.

Die Prokura wird noch an einer weiteren Stelle im Kollektivvertrag für Angestellte der Baugewerbe und der Bauindustrie genannt, namentlich in § 9 leg cit in der Beschäftigungsgruppe A5. Hier verweist der Text des Kollektivvertrages darauf, dass nur Angestellte, denen nicht die Prokura verliehen wurde, in die Beschäftigungsgruppe A5 einzureihen sind; die Arbeiterkammerumlagepflicht wird in dieser Bestimmung nicht angesprochen. Sieht man diesen Halbsatz lediglich als Hinweis auf die Gesamtausnahme der Prokuristen vom Geltungsbereich des Kollektivvertrages, verbliebe dieser Bestimmung gar kein Anwendungsbereich mehr. Der Kollektivvertrag ist daher nach Ansicht des OGH (und der Vorinstanzen) so auszulegen, dass

● für Prokuristen, die nicht arbeiterkammerumlagepflichtig sind, der gesamte Kollektivvertrag für Angestellte der Baugewerbe und der Bauindustrie nicht zur Anwendung kommt und

● für Prokuristen, die arbeiterkammerumlagepflichtig sind, der gesamte restliche Kollektivvertrag zur Anwendung kommt, die Bestimmungen über die Einreihung in die Beschäftigungsgruppe A5 jedoch nicht.14

2.3. Funktionszulage für Prokuristen

Für die Erteilung der Prokura gebührt dem Arbeitnehmer kein besonderer Entgeltanspruch; jedenfalls lässt sich ein solcher weder aus einer gesetzlichen noch einer kollektivvertraglichen Bestimmung ableiten. Allerdings steht es dem Arbeitgeber frei, eine derartige Zulage zu gewähren; zur

12 Online abrufbar unter https://www.wko.at/service/kollektiv vertrag/kollektivvertrag­baugewerbe­bauindustrie­angestellte2023.pdf 13

Unterscheidung von den Schmutz­, Erschwernisund Gefahrenzulagen werden derartige Zulagen als „Funktionszulagen“ bezeichnet. Der Arbeitgeber kann eine solche Zulage auch für die Dauer der Erteilung der Prokura gewähren und sie damit faktisch mit dem Widerruf der Prokura auch entziehen.15

3. Gewerberecht

Im Hinblick auf das Gewerberecht ist seit zirka 30 Jahren die Bedeutung der Prokura höchstgerichtlich geklärt. Konkret ging es um die Frage, ob ein Prokurist zum gewerberechtlichen Geschäftsführer bestellt werden kann. Die Frage ist weder generell zu bejahen noch zu verneinen. Dies hängt mit der Systematik der Regelung in § 39 GewO 1994 zusammen. Voraussetzung für die Bestellung zum gewerberechtlichen Geschäftsführer einer Gesellschaft ist wahlweise die Zugehörigkeit zum zur gesetzlichen Vertretung berufenen Organ der juristischen Person (§ 39 Abs 2 Z 1 GewO 1994) oder die Arbeitnehmereigenschaft (§ 39 Abs 2 Z 2 GewO 1994).

Sofern der Prokurist Arbeitnehmer ist und die weiteren vom Gesetz geforderten Voraussetzungen erfüllt (Erbringung des Befähigungsnachweises, Beschäftigung für mindestens 19,5 Stunden pro Woche), kann er zum gewerberechtlichen Geschäftsführer bestellt werden.16 Andernfalls ist eine Bestellung nicht möglich, weil sich die Vertretungsmacht eines Prokuristen nicht aus dem Gesetz ableitet, sondern rechtsgeschäftlicher Natur ist.17

4. Verwaltungsstrafrecht

Nach § 9 Abs 1 VStG sind für Verwaltungsübertretungen, die juristischen Personen zuzurechnen sind, die zur Vertretung nach außen berufenen Personen verantwortlich. Da die Vertretungsmacht von Prokuristen rechtsgeschäftlicher (und nicht organschaftlicher) Natur ist, sind sie für Verwaltungsübertretungen nicht haftbar. Eine Bestellung zum verantwortlichen Beauftragten ist aber möglich.18

Fazit

Prokuristen spielen in der Bauindustrie und im Baugewerbe eine Rolle, nicht aber bei Ziviltechnikern, weil das ZTG 2019 die Bestellung von Prokuristen für Ziviltechnikergesellschaften nicht zulässt. Abgesehen davon gibt es keine Besonderheiten für Prokuristen in der Bauwirtschaft im Vergleich zu anderen Branchen. Die Prokura hat auch für das Arbeitsrecht kaum Auswirkungen, sieht man von der Besonderheit ab, dass für Prokuristen die Bestimmungen zur Einstufung in die höchste Beschäftigungsgruppe, das heißt die Beschäftigungsgruppe A5, nicht gelten.

15 OGH 13. 10. 1999, 9 ObA 266/99d.

16 Stolzlechner/Th. Müller/Seider/Vogelsang/Höllbacher, GewO4 (2020) § 39 Rz 29.

17 VwGH 28. 6. 1994, 93/04/0246; 20. 12. 1994, 94/04/0220.

176 Juli 2023 Prokuristen in der Bauwirtschaft Baukaufmann
VfGH 6. 3. 2009, B 616/08, VfSlg 18.731/2009. 14 OGH 27. 9. 2018, 9 ObA 79/18k.
18 Lewisch in Lewisch/Fister/Weilguni, VStG2 (2017) § 9 Rz 13.

Schadenersatz aus Verkehrssicherungspflichtverletzung

Haftung nach aktuellen Normen – Erkundigungspflicht für Betreiber

Eigentümer und Verwalter von Gebäuden stehen mitunter auch abseits gesetzlicher Nachrüstverpflichtungen vor Abwägungen, ob sicherheitstechnische Auf­ bzw Nachrüstungen vorzunehmen sind. Dies steht im Lichte fortschreitender technischer Entwicklungen und Anforderungen und des Bestrebens, etwaigen Gefahren für Personen bzw Haftungsrisiken zu begegnen. Dies erfolgt auch vor dem Hintergrund der Straf­ und Zivilrechtsjudikatur, wonach Gebäude stets den aktuellen Normen entsprechen müssen. Im nachfolgenden Beitrag soll nun aus Anlass einer aktuellen OGH­Entscheidung zur Haftung im Zusammenhang mit automatischen Türen ein Aufriss zur Kritik an dieser Judikatur gegeben werden.

1. Einleitung: Divergierende

Anforderungen an Gebäude –Bau­ bzw Anlagenrecht vs Straf­ und Zivilrecht1

Nach dem baurechtlichen Grundsatz des Konsensschutzes kann ein Bauwerk grundsätzlich so bleiben, wie es bewilligt wurde. Eine Ausnahme dazu ergibt sich nur dann, wenn dies durch eine ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung normiert wird.2 Werden Bescheide (zB Baubewilligungen) rechtskräftig, bedeutet dies insbesondere, dass sie nach verfassungs­ und verwaltungsrechtlichen Grundsätzen nicht mehr ohne Weiteres aufgehoben oder abgeändert werden dürfen. Dies dient der Rechtssicherheit und dem Vertrauensschutz.3

Nach der Judikatur des OGH sind demgegenüber für straf- bzw schadenersatzrechtlich relevante Sachverhalte aktuelle Normen (die jeweilige Bauordnung, OIB­Richtlinien etc) als Sorgfaltsmaßstab heranzuziehen.4 Öffentlichrechtliche Vorschriften stellen (nur) Mindestanforderungen an Sicherheitsvorkehrungen dar und ein Verkehrssicherungspflichtiger muss darüber hinaus Vorkehrungen zur Vermeidung bzw Verringerung von Gefahrenquellen treffen.5 Dabei stellt sich diese Judikatur auch ausdrücklich gegen bzw über bestehendes Baurecht. Diese Rechtsprechung gibt aus inhaltlicher und juristischer Sicht mehrfach Ansatzpunkte zur Diskussion und Kritik.

Eine aktuelle Entscheidung des OGH führt diese Linie bezüglich des Schadenersatzes aus Verkehrssicherungspflichtverletzungen und der Haftung nach aktuellen Normen in weiterer Ausprägung bezüglich der Erkundigungspflichten für Betreiber weiter fort.

1 Vgl bereits Fuchs, Gebäude im Spannungsfeld sich ändernder und divergierender rechtlicher Anforderungen, in FS Karasek (2018) 175.

2 Vgl Art III Abs 6 Wr BauO; § 22 Wr AufzG.

3 VwGH 27. 5. 2014, 2011/10/0197.

4 OGH 21. 4. 1998, 11 Os 35/98 ua.

5 OGH 21. 6. 2007, 6 Ob 106/07t.

2. OGH 15. 3. 2023, 3 Ob 10/23a

2.1. Allgemeines

Das gegenständliche Gerichtsverfahren betraf eine Klage auf Leistung von Schadenersatz (von 9.718 € sA) und Feststellung der Haftung der Beklagten für alle künftigen Schäden aus diesem Vorfall. Der OGH entschied über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des LG Korneuburg als Berufungsgericht vom 20. 10. 2022, 21 R 62/22y, womit das Urteil des BG Hollabrunn vom 21. 2. 2022, 2 C 494/20g, bestätigt wurde. Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil sich auf Basis der bisherigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung mangels eines vergleichbaren Anlassfalles nicht mit Sicherheit abgrenzen lasse, wie weit die Erkundigungspflichten der Betreiberin einer für ihre (potenziellen) Kunden zugänglichen technischen Einrichtung reichten, von der ihr aufgrund wiederkehrender Überprüfungen zwar bekannt sei, dass sie nicht mehr den geltenden technischen Normen entspreche, nicht aber, welche konkreten für die Gefahrenabwehr erforderlichen Maßnahmen zu setzen wären, vor allem wenn sie bei entsprechender Nachforschung erfahren hätte können, dass die Abweichung von der Norm insbesondere im Fehlen eines dem Stand der Technik entsprechenden Sicherheitsmechanismus bestehe.

Die Revision wurde vom OGH mit Beschluss zurückgewiesen, wobei er im Rahmen der Zurückweisungsgründe6 einige grundlegende Aussagen darlegte.

2.2. Sachverhalt

Die Klägerin kam beim Betreten des Geschäftslokals der Beklagten zu Sturz und verletzte sich, weil sich die automatische Tür aufgrund einer Fehlfunktion schloss, während sie gerade eintrat, weshalb sie, ohne dass sie ausweichen hätte können, von den Hauptschließkanten der sich schließenden Türflügel getroffen wurde.

Die automatische Türanlage im Lokal der Beklagten entsprach zwar zur Zeit ihrer Errichtung

6 Vgl § 510 Abs 3 ZPO.

Mag. Gerald Fuchs ist Dezernatsleiter bei der Magistratsabteilung 37 (Baupolizei), Kompetenzstelle Recht, des Magistrats der Stadt Wien und Lektor an der FH Campus Wien und an der Universität für angewandte Kunst Wien.

Juli 2023 177 Schadenersatz aus Verkehrssicherungspflichtverletzung Öffentliches Baurecht

(im Jahr 2000) dem Stand der Technik. Mit Dezember 2012, rund fünfeinhalb Jahre vor Eröffnung des Geschäfts durch die Beklagte, trat jedoch eine neue ÖNORM in Kraft, nach der ein solches Türsystem über einen Anwesenheitsmelder verfügen muss. Dabei handelt es sich um eine Sicherheitseinrichtung, die das Schließen der Tür verhindert, wenn sich in einem Bereich von 20 cm vor bzw hinter der Tür ein zumindest 30 cm breiter und 70 cm hoher Gegenstand befindet. Ein Anwesenheitsmelder erhöht die Sicherheit gegenüber einem – bei der Anlage der Beklagten entsprechend dem seinerzeitigen Stand der Technik vorhandenen –Lichtschranken, weil er einen größeren Bereich abdeckt. Es ist mit höchster Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich der Unfall der Klägerin nicht ereignet hätte, wenn die Tür den Sicherheitsstandards dieser ÖNORM entsprochen hätte, weil der Anwesenheitsmelder einen Zusammenstoß mit einem Türflügel verhindert hätte.

Die neue ÖNORM gilt nicht für Altbestand und damit auch nicht für die Anlage der Beklagten. Die Beklagte wurde im Zuge der jährlichen Überprüfungen der Türanlage mehrfach darauf hingewiesen, dass die Anlage nicht dem aktuellen Stand der Technik entspricht. Die Überprüfungsberichte bezüglich der Türanlage enthielten zwar keinen expliziten Hinweis darauf, inwiefern das Türsystem nicht mehr dem Stand der Technik bzw der ÖNORM entsprach. Allerdings fand sich im Überprüfungsbefund vom 30. 10. 2018 insbesondere der Hinweis, dass für einen erhöhten Personenschutz „Lichtvorhänge“7 empfohlen würden. Festgestellt wurden Kosten des nachträglichen Einbaus eines Anwesenheitsmelders von 200 € bis 250 €.

2.3. Rechtliche

Beurteilung des OGH

Den Inhaber eines Geschäfts trifft gegenüber einer Person, die das Geschäft als Kunde betritt, die (vor)vertragliche Pflicht, für die Sicherheit des Geschäftslokals zu sorgen.8 Er hat die seiner Verfügung unterliegenden Anlagen, die er seinen Kunden überlässt, in einem verkehrssicheren und gefahrlosen Zustand zu halten und muss alle Gefahrenquellen, die sich aus dem Geschäftsbetrieb ergeben, ausschalten.9 Diese Verpflichtung findet ihre Grenze einerseits in der Erkennbarkeit der Gefahr10 und andererseits in der Zumutbarkeit ihrer Abwehr.11 Auch vertragliche Verkehrssicherungspflichten sollen aber nicht überspannt werden.12 Welche Sicherungsmaßnahmen zumutbar und erforderlich sind, hängt immer von den Umständen des Einzelfalles ab.13 Die dabei zu treffende Einzelfallbeurteilung ist für den OGH nur dann überprüfbar, wenn im Interesse der Rechtssicherheit ein grober Beurteilungsfehler korrigiert werden müsste.14 Das ist hier nicht der Fall.

7 Dabei handelt es sich um zahlreiche kleine nebeneinander angeordnete Lichtschranken.

8 RIS­Justiz RS0016407 (T1).

9 OGH 27. 2. 2019, 9 Ob 58/18x.

10 RIS­Justiz RS0023801.

11 RIS­Justiz RS0023397.

12 RIS­Justiz RS0023487 (T17).

13 RIS­Justiz RS0078150.

14 RIS­Justiz RS0078150 (T1).

Bei der Abgrenzung der aus einer (vor)vertraglichen Sonderverbindung entspringenden Schutz­ und Sorgfaltspflichten werden durch die einschlägigen öffentlich­rechtlichen Vorschriften und die von den Verwaltungsbehörden erteilten Bewilligungen allerdings im Einzelfall die Grenzen der verkehrsüblichen und vom Erwartungshorizont der beteiligten Kreise als zumutbar umfassten Anforderungen nicht schlechthin abgesteckt, sondern es wird lediglich der Mindeststandard der dem Verantwortlichen obliegenden Sicherheitsvorkehrungen umrissen. Trotz einer einmal erteilten Benützungsbewilligung ist daher die bauliche Sicherheit laufend zu überprüfen, die Baulichkeiten sind dem Ergebnis der Kontrolle entsprechend einwandfrei instand zu setzen und es ist ganz allgemein der für die körperliche Sicherheit der Benutzer maßgebliche nach einschlägigen Gesetzen und anderen Vorschriften, aber auch nach dem jeweiligen Stand der Technik geltende Mindeststandard durch zumutbare Verbesserungsarbeiten einzuhalten. Dieser Mindeststandard ist herzustellen, sofern die Vorschriften die Sicherheitsanforderungen verschärfen.15

Die Beklagte wäre aus dem Hinweis zu „Lichtvorhängen“ im Überprüfungsbefund von 2018 gehalten gewesen, nähere Erkundigungen über den aktuellen Stand der Technik einzuholen (und im Anschluss die zur Erhöhung des Personenschutzes gebotenen Maßnahmen durchführen zu lassen). Angesichts der festgestellten Kosten des nachträglichen Einbaus eines Anwesenheitsmelders von bloß 200 € bis 250 € kann von einer Unzumutbarkeit für die Beklagte keine Rede sein.

3. Diskussion der Entscheidung

3.1. Allgemeines

Wenngleich jeder einzelne Unfall bedauerlich ist, müssen doch auch gesamtheitliche rechtliche und faktische Betrachtungen angestellt werden. Grundsätzlich kann angenommen werden, dass unsere Gesetze die Haltungen und Ansichten unserer Gesellschaft widerspiegeln, dies vor allem dann, wenn Gesetze in ihren Grundsätzen über längere Zeiträume bestehen. So erachtet die Gesellschaft die Rechtssicherheit als ein sehr hohes Gut. Selbst in Fällen eines inhaltlich rechts­ bzw normwidrigen Zustands, der durch die Rechtskraft eines Bescheids geheilt wurde, wird das allgemeine Gut der Rechtssicherheit über eine etwaige abstrakte Gefahr für Personen im Einzelfall gestellt. Lediglich eine konkrete Gefahr für Leib und Leben bietet hinreichenden Anlass und Rechtfertigung, um Maßnahmen zu setzen und die Rechtskraft und Rechtssicherheit zu durchbrechen. Dies ist eine bedeutende Wertung unserer Gesellschaft.

Aufgrund von § 68 Abs 3 AVG kommt so etwa der Behörde eine Befugnis zur Abänderung eines Bescheids in Wahrung des öffentlichen Wohls nur insoweit zu, als dies zur Beseitigung von das Leben oder die Gesundheit von Menschen gefährdenden Missständen oder zur Abwehr schwerer volkswirtschaftlicher Schädigungen notwendig und unvermeidlich ist. Es muss sich um tatsäch15 OGH 27. 4. 2011, 5 Ob 27/11y.

178 Juli 2023 Schadenersatz aus Verkehrssicherungspflichtverletzung Öffentliches Baurecht

liche Auswirkungen handeln, die einen unerträglichen Nachteil für die Allgemeinheit bedeuten; ausschlaggebend sind allein die tatsächlichen Auswirkungen, nicht eventuelle Rechtswidrigkeiten des Bescheids.16

Ein das Leben und die Gesundheit von Menschen gefährdender Missstand setzt nicht bloß die allgemein­abstrakte und an generellen Erfahrungswerten orientierte Möglichkeit einer Gefahr voraus, sondern es muss eine konkrete Gefährdung von Personen festgestellt werden.17 Es genügt, wenn ein Missstand einen einzigen Menschen gefährdet. § 68 Abs 3 AVG stellt dabei auf einen objektiven Maßstab und nicht auf die individuelle Verträglichkeit von Menschen ab.18

Würde nun etwa vergleichsweise in Anlehnung an den diskutierten Fall die Behörde im Jahr 2019 eine automatische Türanlage ohne Anwesenheitsmelder rechtskräftig bewilligen, so könnte diese (inhaltlich normwidrige) Bewilligung dennoch nicht nachträglich gemäß § 68 Abs 3 AVG behoben werden. Nach dem Willen der Gesellschaft, folglich des Verkehrs, ist die Wahrung der Rechtssicherheit gegenüber der die Beseitigung einer abstrakten Gefährdungslage als höherrangiges Gut zu werten.

3.2. Stand der Technik vs Baurecht

Mit dem Normenwesen zum Stand der Technik sollen vom Grundsatz her technische Möglichkeiten zum Bau von Anlagen abgebildet und erfasst werden, so etwa welche technischen Möglichkeiten und Entwicklungen zur Errichtung von Aufzügen bestehen. Dies betrifft auch die technischen Möglichkeiten, mit denen bestehende Aufzüge verbessert und aufgerüstet werden können. Eine Regelung, nach der bestehende Anlagen zwingend nachzurüsten sind, hat aber allgemein verbindlichen normativen Charakter und geht als strategische Norm darüber hinaus und ist dem verfassungsmäßig demokratisch legitimierten Gesetzgeber für das Bauwesen vorbehalten. Durch technische Normen bzw Regelwerke kann bzw darf unter dem Titel „Stand der Technik“ kein paralleles (Bau­)Recht geschaffen werden. Gleiches gilt etwa auch für Regelungen für gewerbliche Betriebsanlagen im Sinne der GewO 1994.

In den aktuellen OIB­Richtlinien wird nunmehr etwa auch ausdrücklich auf Bauführungen im Bestand Bezug genommen. So findet sich beispielsweise in Punkt 9. („Bauführungen im Bestand“) der OIB­Richtlinie 419 der sogenannten Bestandssatz: „Bei Änderungen an bestehenden Bauwerken mit Auswirkungen auf bestehende Bauwerksteile sind für die bestehenden Bauwerksteile Abweichungen von den aktuellen Anforderungen dieser OIB-Richtlinie zulässig, wenn das ursprüngliche Anforderungsniveau des rechtmäßigen Bestandes nicht verschlechtert wird.“

16 VwGH 27. 5. 2014, 2011/10/0197, mit Hinweis auf die von Hengstschläger/Leeb, AVG IV (2009) § 68 Rz 93, zitierte Judikatur.

17 VwGH 18. 11. 2003, 2001/05/0918 (zur Errichtung einer Flüssiggastankanlage); 6. 7. 2006, 2004/07/0085 ua.

18 VwGH 17. 2. 1994, 90/06/0221.

19 OIB­Richtlinie 4: Nutzungssicherheit und Barrierefreiheit (Ausgabe: April 2019), online abrufbar unter https://www.oib.or.at/ sites/default/files/richtlinie_4_12.04.19_0.pdf

Hinsichtlich der demokratischen Legitimation von Normen und Richtlinien ist nun im Übrigen zu bemerken, dass schon nach K. Korinek die allgemeine gesellschaftliche Wirkung von Normen entsprechende Verfahrensvorschriften erfordert, die einen umfassenden Konsens gewährleisten und der Allgemeinheit eine Partizipationsmöglichkeit einräumen. Demgemäß liegen entscheidende Erfordernisse für die demokratische Legitimation des Normen­Schaffens zum einen in der demokratischen Legitimation der Organe, die die Normen für verbindlich erklären. Zum anderen liegen diese in einer umfassenden Beteiligung der interessierten und betroffenen Kreise sowie im offenen Verfahren der Normerstellung. In diesem Sinn sieht es K. Korinek auch als wesentlich, dass der Staat bzw das Bundesland seine Verantwortung im Rahmen der Normung durch aktive Mitarbeit seiner Vertreter in den Normungsgremien wahrnimmt, insbesondere immer dann, wenn öffentliche Interessen betroffen sind.20

3.3. Begriffsverständnis „Instandhaltung“

Bei der Betrachtung baulicher Anforderungen an den Zustand eines Gebäudes bzw von Anlagen ist grundsätzlich zwischen dem bautechnischen bzw Sicherheitsniveau gemäß dem Konsens und auftretenden Baumängeln in Abweichung vom konsensgemäßen Zustand bei mangelnder Instandhaltung des Gebäudes einerseits sowie der allgemeinen technischen Fortentwicklung des Standes der Technik andererseits zu unterscheiden.

Ein Baumangel liegt aber nur dann vor, wenn eine Verschlechterung des Zustands des Gebäudes gegenüber dem Konsensniveau eintritt. Die Fortentwicklung des Standes der Technik und damit die Anhebung des technisch möglichen Niveaus gegenüber dem Konsensniveau stellen daher keinen Baumangel daher. Nach den baurechtlichen Grundsätzen ist folglich auch nur eine Bebung einer gegenüber dem Konsensniveau eingetretenen Verschlechterung (zurück) auf das Niveau gemäß dem baurechtlichen Niveau vorzunehmen. Die Behebung eines Baumangels bedeutet die Wiederherstellung des konsensgemäßen Zustands und die Wiedererreichung der konsensgemäßen bautechnischen Anforderungen.

Soweit der OGH von „Instandhaltung“ im Sinne einer Nach­ bzw Aufrüstung spricht, führt dies daher an diesem Verständnis von Gebrechen vorbei.

3.4. Setzung allgemeiner Regeln –paralleles Baurecht

Nach den Grundsätzen des Verfassungsrechts und der bestehenden Rechtsordnung (Art 15 Abs 1 B­VG) obliegt die Festlegung bzw Setzung allgemein verbindlicher Regelungen von bau- bzw sicherheitstechnischen Anforderungen an Bauwerke dem demokratisch legitimierten Baurechtsgesetzgeber 21 Die Straf­ und Zivilrechts­

20 Vgl K. Korinek, Staatsrechtliche Ansätze für eine Deregulierung im Wirtschaftsrecht, JBl 1991, 409; derselbe, Zum Erfordernis einer demokratischen Legitimation des Normenschaffens, ÖZW 2009, 40.

21 VfGH 25. 6. 1954, B 32/54, VfSlg 2685/1954; VwGH 11. 3. 1970, 885/69; 7. 3. 2000, 96/05/0021; 10. 9. 2008, 2007/05/0116.

Juli 2023 179 Schadenersatz aus Verkehrssicherungspflichtverletzung Öffentliches Baurecht
Verkehrssicherungspflichtverletzung

judikatur legt nun de facto die allgemein verbindliche Anforderung fest, dass Gebäude stets den aktuell geltenden Normen zu entsprechen haben, und schafft de facto ein paralleles Baurecht. Damit nimmt sie eine Regelungskompetenz in Anspruch, die dem verfassungsrechtlich für Bauwesen zuständigen (Landes­)Gesetzgeber zugeordnet ist.

Der Gesetzgeber ist darüber hinaus auch in der legistischen Normierung von Verpflichtungen strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen zur Vorhersehbarkeit, Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in wohlerworbene Rechte verpflichtet. Angesichts des aktuell wieder verstärkt geführten Diskurses vermag die Strafund Zivilrechtsjudikatur in diesem Lichte für Normunterworfene einige Fragen aufzuwerfen: Wann muss von wem welche Maßnahme binnen welcher Frist gesetzt werden, um den Anforderungen zu entsprechen?

In diesem Lichte bleibt es letztlich auch offen, welche Bedeutung öffentlich­rechtlichen Vorschriften als bloße Mindestanforderungen überhaupt zukommen kann, wenn sich alle Akteure faktisch nach dem OGH­Standard richten müssen, um sich nicht dem Risiko von Haftung und Verurteilung ausgesetzt zu sehen. So erlangen OGHVerpflichtete letztlich auch nur dann (nachträglich) Gewissheit, ob sie alles Erforderliche gesetzt und unternommen haben oder nicht, wenn sie einer Verurteilung ausgesetzt sind.

3.5. Schutz der Teilnehmer des Verkehrs

Die Straf­ und Zivilrechtsjudikatur begründet die stets aktuellen Anforderungen an Gebäude im Wesentlichen mit Verkehrssicherungspflichten. Demnach sind etwa Bewohner, Benützer, Besucher usw eines Gebäudes zu schützen und die würden als Teilnehmer des Verkehrs vom geltenden Baurecht abweichende Anforderungen an Gebäude erwarten. Diese Personen haben jedoch auch als Volkssouverän durch ihre gewählten Volksvertreter und Interessensvertretungen über Jahrzehnte hinweg etwa das Baurecht in demokratischen Prozessen geformt. Damit ist derselbe Adressatenkreis nach Ansicht der Judikatur des OGH zu schützen, da er etwa in Gebäuden einen zweiten Handlauf an Stiegen erwarten würde, während dieser im Baurecht selbst keine Nachrüstverpflichtung festlegt. Diesen offenbaren Widerspruch in Wahrnehmung und Gesinnung dieser Personen vermag die Judikatur nicht aufzulösen.

Von allen österreichischen Höchstgerichten (VfGH, VwGH und OGH) wurde auch immer wieder die Einheit der Rechtsordnung ins Treffen geführt.22 Aus der Argumentation des OGH lässt sich

22 VfGH 13. 12. 1968, W I­7/68, VfSlg 5879/1968; 16. 6. 1990, B 1225/89 ua, VfSlg 12.384/1990; 13. 12. 1991, G 280/91 ua, VfSlg 12.947/1991; 3. 10. 1997, G 370/96, VfSlg 14.944/1997; VwGH 20. 9. 1965, 1325/64, VwSlg 6764 A/1965; 26. 1. 1976, 1299/75, VwSlg 8975 A/1976; 27. 1. 1987, 85/04/0124, ZfVB 1987/2007; 10. 6. 1987, 85/01/0171, VwSlg 12.486 A/1987; 31. 5. 1990, 89/09/0159;

nun nicht erschließen, warum der Sicherheit aus Verkehrssicherungspflichten in Gebäuden im Strafbzw Zivilrecht ein anderer Bedeutungsgehalt beizumessen ist als der Sicherheit aus baurechtlichen Anforderungen an neue und bestehende Gebäude. Da die Thematik der Nachrüstung bestehender Gebäude von den Baurechtsgesetzgebern sehr wohl eine Regelung erfährt, kann auch nicht das Erfordernis einer Lückenfüllung angenommen werden. Auch im Bereich des gewerblichen Anlagenrechts sieht etwa § 79 Abs 1 GewO 1994 die Anpassung eines rechtskräftigen Genehmigungsbescheids vor.23 Voraussetzung für ein solches Nachjustieren nach dieser Bestimmung ist der Umstand, dass sich nach Genehmigung der Anlage ergibt, dass die gemäß § 74 Abs 2 GewO 1994 wahrzunehmenden Interessen trotz Einhaltung der im Genehmigungsbescheid vorgeschriebenen Auflagen nicht hinreichend geschützt sind.24

Da sohin der Verkehr und die gesetzgebende Gesellschaft (systematisch) denselben Personenkreis darstellen, geben die durch die Gesetzgebung normierten Regelungen und Anforderungen den Willen und die Erwartung des Verkehrs wieder.

3.6. Pflicht zu Nachforschungen

Laut Ausspruch des OGH sind Betreiber bzw Gebäudeeigentümer verpflichtet, Erkundigungen über den aktuellen Stand der Technik einzuholen und im Anschluss die zur Erhöhung des Personenschutzes gebotenen Maßnahmen durchführen zu lassen.

Dazu soll aus der Judikatur des VfGH zitiert werden, wonach „der Gesetzgeber der breiten Öffentlichkeit den Inhalt seines Gesetzesbeschlusses in klarer und erschöpfender Weise zur Kenntnis bringen muß, anderenfalls der Normunterworfene nicht die Möglichkeit hat, sich der Norm gemäß zu verhalten. Diesem Erfordernis entspricht weder eine Vorschrift, zu deren Sinnermittlung subtile verfassungsrechtliche Kenntnisse, qualifizierte juristische Befähigung und Erfahrung sowie geradezu archivarischer Fleiß vonnöten sind, noch eine solche, zu deren Verständnis außerordentliche methodische Fähigkeiten und eine gewisse Lust zum Lösen von Denksport-Aufgaben erforderlich sind“. 25

Im Lichte der Judikatur der Höchstgerichte zu Denksportaufgaben bei der Auslegung und Anwendung von Normen26 können Notwendigkeiten zu gegebenenfalls aufwendigen und kostspieligen Nachforschungen, um die eigenen Obliegenheiten zu eruieren, durchaus als sportlich betrachtet werden.

4. Nachrüstung vs Nachhaltigkeit

Diese Thematik lässt sich beispielsweise im Falle der im Herbst 2019 diskutierten Überprüfung der Notwendigkeit einer Nachrüstung der Lifte mo­

23 VwGH 18. 8. 2021, Ra 2018/04/0193; 11. 7. 2022, Ra 2021/04/0192; Stolzlechner/Th. Müller/Seider/Vogelsang/ Höllbacher, GewO4 (2020) § 79 Rz 1.

24 Stolzlechner in Stolzlechner/Wendl/Bergthaler, Die gewerbliche Betriebsanlage4 (2016) Rz 362.

25 VfGH 16. 3. 1994, G 135/93 ua, V 69/93 ua, VfSlg 13.740/1994 (unter Verweis auf VfGH 14. 12. 1956, G 30/56, VfSlg 3130/1956; 29. 6. 1990, G 81/90 ua, V 179/90 ua, VfSlg 12.420/1990).

26 VfGH 29. 6. 1990, G 81/90 ua, V 179/90 ua; 27. 2. 1992, G 126/91, VfSlg 13.000/1992; 16. 3. 1994, G 135/93 ua, V 69/93 ua; OGH 27. 4. 1999, 1 Ob 41/99g.

180 Juli 2023 Schadenersatz aus Verkehrssicherungspflichtverletzung Öffentliches Baurecht
18. 11. 1991, 90/12/0094; 25. 2. 1993, 92/04/0231; 16. 5. 1995, 93/08/0141; 4. 11. 2009, 2005/17/0007; 20. 1. 2015, 2014/09/0004; 29. 9. 2015, 2012/05/0073; 26. 4. 2016, Ro 2015/09/0014 ua; 27. 4. 2016, Ra 2016/05/0031; OGH 15. 10. 1985, 4 Ob 513/84; 18. 9. 1991, 1 Ob 22/91; 3. 7. 1995, Ds 2/89; 17. 2. 2014, 4 Ob 124/13h; 23. 4. 2014, 4 Ob 52/14x; 28. 6. 2016, 20 Os 7/16d.

netär bewerten. Setzt man etwa die Kosten für die Überprüfung eines bestehenden Aufzugs mit 300 € an, dann ergibt das bei zirka 46.000 Aufzügen in Wien – nur durch die Einführung einer zusätzlichen Überprüfungspflicht – eine Gesamtsumme von gerundet 14 Mio €. Die Steuerzahlenden würden für die zirka 9.000 zu überprüfenden Aufzüge der Stadt Wien direkt mit 2,7 Mio € zur Kasse gebeten. Falls – mangels anderer Richtlinien – die damals neuen Liftnormen eine Nachrüstung auf den neuesten Normenstand erzwingen würden, ist mit einem Vielfachen dieser Werte zu rechnen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es angebracht, die Notwendigkeit solcher Maßnahmen zu hinterfragen. Der behutsame Umgang mit unseren beschränkten Ressourcen ist nämlich nicht nur unter dem Aspekt des Umweltschutzes ein Gebot der Stunde, sondern auch im Hinblick auf den Umgang mit Steuergeld.27

Fazit

Auch wenn jeder einzelne Unfall, bei dem Personen zu Schaden kommen, bedauerlich ist, sind bei diesbezüglichen rechtlichen Bewertungen und bei der Etablierung von allgemeinen Regelungen doch gesamtheitliche Betrachtungen anzustellen.

Es ist auch zu erwarten, dass aus Angst vor Haftungen aufgrund von zivilrechtlichen Be­

27 Kern/P. Bauer, Über die Zuverlässigkeit der Dinge, derPlan 48 (November 2019), 14, online abrufbar unter https://wien.arch ing.at/fileadmin/user_upload/redakteure_wnb/A_Aktuelles/der Plan_Jahresberichte/derPlan48_November_2019.pdf

stimmungen (zB Sorgfaltspflicht der Gebäudeeigentümer) und der einschlägigen Strafund Zivilrechtsjudikatur der Druck auf die Betreiber von Anlagen und die Eigentümer von Gebäuden weiter steigen wird, ihre Anlagen und Objekte wieder auf den Stand der Technik nachzurüsten.

Die Sicherheit von und der Umgang mit bestehenden Gebäuden sind wichtige Themen und eine diesbezügliche Diskussion muss geführt werden. Diesen Diskurs gilt es aber auf fachlicher bzw seriöser Ebene zu führen und auf der rechtlich und demokratisch dafür vorgesehenen Ebene, nämlich im Rahmen demokratisch und fachlich legitimierter Gestaltung des Bau­ bzw Anlagenrechts. Es kann jedenfalls angenommen werden, dass die aus dieser Judikatur erfließende Rechtsunsicherheit mit Sicherheit den Boden für das Geschäft mit der Angst bereitet. Die daraus resultierenden Kosten müssen letztlich auch wir als Gemeinschaft tragen. Mit Regelungsbestrebungen aus anderen Motiven oder aus missverstandenem Sendungsbewusstsein dürfen verfassungsrechtliche und demokratische Grundsätze wie auch Anforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung nicht konterkariert werden. Angesichts der dargestellten Entwicklungen wäre eine Klarstellung durch den Gesetzgeber (etwa in Anlehnung an § 364a ABGB eine Erweiterung des § 1319 ABGB) weiterhin zweckmäßig und dringend geboten.

News – Aktuelles aus der Branche (III)

Analyse der Baukosten und Baupreise der letzten

10 Jahre zeigt seit Mai 2022 Entkoppelung

Die Statistik Austria veröffentlicht regelmäßig amtliche Zahlen zur Entwicklung der Baukosten und der Baupreise in Österreich. Verkürzt dargestellt, zeigt der Baukostenindex die Kosten für den Bauausführenden für Material und Lohn auf, während der Baupreisindex die Kosten für den Bauherrn wiedergibt. Die Differenz zwischen diesen beiden Indizes ist sohin die Gewinnspanne für den Bauausführenden (Delta zwischen dem, was es dem Bauausführenden kostet und dem, wie er sein Produkt, seine Leistung weiter verkaufen kann).

Nunmehr ist die diesbezügliche Entwicklung über die Zeit spannend. Eine Zusammenführung der Datensätze über den Verlauf der letzten 10 Jahre zeigt, dass die beiden Indizes lange parallel gelaufen sind. Zwischen 2013 bis 2019 sind diese beiden Indizes mit jeweils rund 2 bis 3 % pro Jahr angewachsen, wobei der Baukostenindex sogar über dem Baupreisindex lag, was einer Gewinnschmälerung gleichkommt. Zwischen 2020 und 2021 gab es ein Zeitfenster (erstes Corona­Jahr), in dem die Baupreise stärker angewachsen sind als die Baukosten. Erstmalig in diesem Beobachtungszeitraum der letzten 10 Jahre sind die Baupreise zum einen stärker angewachsen als die Baukosten und zum anderen waren sie auch anteilig höher. Ein erster Zeitabschnitt in dem für die Bauwirtschaft überdurchschnittliche Ertragspotentiale gegeben waren.

Ab dem Jahr 2021 kam eine weitere Verschärfung hinzu: Es ist zu einem exorbitanten Anwachsen der Baukosten und im Gleichklang zu einer ebensolchen Steigerung bei den Baupreisen gekommen. Die Steigerungsraten lagen dabei in den 16 Monaten von Jänner 2021 bis Mai 2022 bei über 20 % (Baukosten: +22,4 %; Baupreise: +20,3 %)! In den 96 Monaten zuvor (von Jänner 2013 bis Dezember 2020) kam es zu einem vergleichsweise geringen Anwachsen von 13,9 % bei den Baukosten und 21,8 % bei den Baupreisen! In Zusammenführung und Interpretation dieser beiden Kennzahlen ist nunmehr interessant, dass die Baukosten ab Mai bis Dezember 2022 leicht gesunken und in der Folge wieder geringfügig gestiegen sind und nunmehr (wohl) eine klassische Seitwärtsbewegung gegeben ist. Im Gegensatz dazu sind die Baupreise aber unaufhaltsam (weiter)gestiegen. „Die Baupreise haben sich erstmalig von den Baukosten entkoppelt; der weitgehend parallele Lauf der letzten 10 Jahre ist seit Mai 2022 aufgebrochen. Aus diesen amtlichen Zahlen lässt sich ableiten, dass die Baufirmen insbesondere im Jahr 2022 markante Gewinnspannen im Preis realisieren konnten“, analysiert Direktor Dipl.­Ing. Herwig Pernsteiner, Präsidiumsmitglied der ARGE Eigenheim.

Die ARGE Eigenheim ist ein Zusammenschluss von rund 100 Wohnbauunternehmen in Österreich mit einem Verwaltungsbestand von über 400.000 Einheiten, etwa 5.000 Mitarbeitern und einem jährlichen Bauvolumen von mehr als 1 Mrd €. Die genannten Indizes beziehen sich auf den Wohnhaus­ und Siedlungsbau der Statistik Austria.

Juli 2023 181 Service

Dipl.­Ing. Dr. techn. Leopold Winkler ist Projektleiter für nachhaltige digitale Baustellenund Geschäftsprozesse in einem österreichischen Bauunternehmen.

Organisation von Digitalisierungs­ und Nachhaltigkeitsprojekten

Die Produktivitätssteigerung und der effiziente Ressourceneinsatz werden von Unternehmen im Bau kontinuierlich angestrebt. In der mehrdeutigen, schnelllebigen und volatilen Geschäftswelt strauchelt jedoch die Industrie immer wieder an der Erreichung dieser Ziele. Der vorliegende Beitrag legt nach Auflistung der strategischen Ziele nahe, dass tradierte Organisationsformen hemmend auf die Umsetzung der Digitalisierungs­ und Nachhaltigkeitsprojekte wirken. Mit der ergänzenden Einführung holokratischer Formen zur liniengeführten hierarchischen Struktur in Unternehmen können agile Projekte zur Unternehmensentwicklung in der Bauindustrie unterstützt werden.

1. Ziele der Digitalisierung und Nachhaltigkeit in Bauunternehmen

Bauunternehmen haben in den letzten Jahren die Notwendigkeit erkannt, Digitalisierungs­ und Nachhaltigkeitsthemen selbst mitzugestalten. Demnach wurde in allen großen europäischen Baukonzernen Organisationsstrukturen geschaffen, um zentral Expertise zu bündeln und innovative Entwicklungen voranzutreiben. Davon versprechen sich Unternehmen, dass sie die selbst gesteckten Digitalisierungs­ und Nachhaltigkeitsziele schneller erreichen können.

Diese Ziele sind wie folgt zusammengefasst:

● Produktivitätssteigerung: Das Hauptziel der Digitalisierung ist es, die stagnierende Produktivität in der Bauwirtschaft1 zu heben, besonders unter dem Gesichtspunkt, dass der Mangel an Fachkräften bereits heute für 83 % der Bauunternehmen im Infrastrukturausbau die größte Herausforderung ist.2

● Effizienter Ressourceneinsatz: Digitale Technologien tragen dazu bei, große Unternehmen bei der Logistikplanung (wie dem optimalen Baugeräteeinsatz) zu unterstützen und Materialien ressourcenschonend über mehrere Bauprojekte hinweg einzusetzen. Der optimierte Baubetrieb zahlt damit auch in die strategischen Ziele der Nachhaltigkeit und Kosteneinsparung ein.

● Erhöhung der Arbeitssicherheit: Laut europäischer Unfallstatistik liegt Österreich trotz rückläufiger Zahlen mit 2,36 tödlichen Arbeitsumfällen je 100.000 Erwerbstätigen über dem EU­27­Schnitt mit 1,77.3 Drohnen und Roboter haben das Potenzial, Fachpersonal bei gefährlichen und exponierten Arbeiten zu unterstützen und zu ersetzen und somit die Arbeitssicherheit weiter zu erhöhen.

● Steigerung der Innovationskraft und Robustheit: Auf der einen Seite hat sich in den letzten 20 Jahren die Unsicherheit als wirt­

1 Maksic, Entwicklung der Produktivität der österreichischen Bauwirtschaft von 1960 bis heute (Diplomarbeit, Technische Universität Wien 2019), online abrufbar unter https://repositum. tuwien.at/handle/20.500.12708/7627

2 PwC, Digitalisierung der Bauindustrie 2020 (2020), online abrufbar unter https://www.pwc.de/de/digitale­transformation/ pwc­studie­digitalisierung­der­bauindustrie­2020.pdf

3 Siehe https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/HSW_N2 _02/default/table?lang=de

schaftlicher Risikofaktor global um ein 3,3­Faches vervielfacht,4 auf den anderen Seiten hat sich die Lebensdauer von Unternehmen in den letzten 55 Jahren um 36 % reduziert. Daher müssen Unternehmen eine intrinsische Innovationskultur etablieren, die durch digitale Lösungen unterstütz wird.

● Datenanalyse und Nutzung: ChatGPT zeigte eine praktische Nutzung großer Datenmengen mithilfe von künstlicher Intelligenz. In gleicher Weise können Unternehmen durch die Analysen ihrer eigenen Geschäfts­ und Projektdaten präskriptiv in Entscheidungsprozesse eingreifen und das Ziel eines selbstlernenden Unternehmens unterstützen.

Unterschiedliche Unternehmen priorisieren in den Entwicklungsstrategien die angeführten Punkte jedoch unterschiedlich. Entsprechende der Priorisierung werden konkrete Projekte ausgeführt, um eine kontinuierliche Verbesserung in den Schwerpunkten zu erreichen oder sich schrittweise diesen Zielen anzunähern. Hemmend bei der Umsetzung dieser Projekte sind tradierte Organisationsstrukturen und Arbeitsweisen.

2. Tradierte Organisationsstrukturen Traditionell sind große Unternehmen in der Bauwirtschaft hinsichtlich ihrer Struktur als hierarchische Aufbauorganisationen bekannt. Dabei wird eine Struktur mit einem Organigramm und einer einhergehenden klaren Aufgabenteilung festgelegt. Beispiele dafür sind funktionale Aufbauorganisationen, bei denen die Abteilungen nach Tätigkeiten und Funktionen aufgeteilt sind, oder Matrixorganisationen, bei denen ein Fachbereich für mehrere Spaten arbeitet.

Projekte zur Erreichung der Digitalisierungsund Nachhaltigkeitsziele zeichnen sich durch folgende Eigenschaften aus:

● Die vorherrschende Komplexität bedingt ein interdisziplinäres Arbeitsumfeld mit Expertise zum Baubetrieb, zur Bauwirtschaft, zur Informationstechnologie, zum Projektmanagement und zur Ausführungspraxis.

● Die Aufgabendefinitionen und deren Überprüfung sind kleinteilig und werden durch agile Projektmanagementmethoden, bekannt aus der IT­Entwicklung, unterstützt.

4 Siehe https://www.policyuncertainty.com

182 Juli 2023 Organisation von Digitalisierungs­ und Nachhaltigkeitsprojekten Digitalisierung

● Die Projektumsetzung ist von hoher Volatilität5 und Mehrdeutigkeit der Rahmenbedingungen geprägt.

● Durch die Einbeziehung der unterschiedlichen Expertisen besteht die Notwendigkeit der standortunabhängigen Arbeit.

● Die Voraussetzung für transparente Arbeitsweisen ist unabdingbar, damit neueste Entwicklungen schnell umgesetzt und kommuniziert werden können.

Die nicht taxativ aufgelisteten Eigenschaften zeigen, dass vorherrschende Organisationsformen nicht geeignet sind, die Rahmenbedingungen für Innovationsprojekte zu schaffen. Die Errichtung einer Stabstelle für Unternehmensentwicklung und Innovation setzt zwar einen Fokus auf Entwicklungsthemen der Zukunft, kann jedoch unter starren Organisationsformen kein volles Potenzial entwickeln. Aus kleinen Unternehmen (wie Start­ups) ist der Begriff „flache Hierarchien“, der sich durch schnelle Entscheidungswege und agile Projektmanagementmethoden auszeichnet, bekannt. Operative wertschöpfende Einheiten der Baubranche sind durch die projektbezogene Organisation von Bauprojekten mit dem Konzept der eigenorganisierten Teams vertraut und leben dies bereits auf Baustellen.

Für innovative Unternehmensbereiche ist die holokratische6 Organisation in Teilbereiche von großen Organisationen eine günstige Form, um die Eigenschaften der multidisziplinären Unternehmensentwicklungsprojekte mit den strategischen Zielen im Bereich der Digitalisierung und Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen. Hierbei gilt, dass die Holokratie als ergänzende Form zur liniengeführten

5 Vgl Taskan/Junça-Silva/Caetano, Clarifying the conceptual map of VUCA: a systematic review, International Journal of Organizational Analysis 2021, 196, online abrufbar unter https:// www.emerald.com/insight/content/doi/10.1108/IJOA­02­20223136/full/pdf

6 Vgl zur Holokratie R. Eckert, Intelligente Echtzeitunternehmen im digitalen Hyperwettbewerb (2018) 170.

hierarchischen Struktur aufgebaut wird. Das Kernelement in dieser neuartigen Organisationform, die durch Brian J. Robertson erstmals 2007 manifestiert wurde, sind selbst organisierte Teams, die innerhalb ihres Kreises Rollen einnehmen. Dabei können Mitarbeiter statt Positionen eine oder mehrere eindeutig definierte Rollen einnehmen. Die einzelnen Teams agieren jedoch nicht völlig unabhängig voneinander, da sie wechselseitig andere Teams beeinflussen. Über Meetings werden durch die Rolle des rep link und des lead link die Interessen des Teams vertreten und die Ergebnisse der Kreise abgestimmt. Die Rollen innerhalb der Teams werden dabei nach einem definierten Prozess gewählt und können sich nach festgeschriebener Zeit oder nach Beendigung eines Projekts bzw Erfüllung eines Ziels verändern. Rollenbenennung setzt eine transparente Kenntnis über die Fähigkeiten (sogenannte skills) im gesamten Unternehmen voraus.

Durch dieses System werden die Führungspersonen der statischen Hierarchie entlastet und den Rollen innerhalb der Organisation wird mehr Selbstorganisation eingeräumt. Einzelne Mitarbeiter habe in dieser Organisationsform agiler die Möglichkeit, Ideen und Vorschläge einzubringen und damit zur multidisziplinären Problemlösung beizutragen.

Veranstaltungstipps der Redaktion

Agile Digitalisierung im Baubetrieb

Datum/Ort: 29. 9. 2023, Online­Seminar der Technischen Universität Graz.

Abbildung 1: Hierarchie und Holokratie als Organisationsform

e

Thema: Das Bauwesen wird wie beinahe alle gesellschaftlichen Bereiche seit Jahrzehnten von einem fortschreitenden Digitalisierungsprozess begleitet. Neue Entwicklungen in Hard­ und Software (wie etwa polysensorale Systeme zur Zustandsdetektion von Prozessen und Bauteilen oder maschinelles Lernen), gekoppelt mit der Fortentwicklung der Produktions­ und Managementmethoden im Bereich des Bauwesens, lassen weitere Rationalisierungspotenziale zur Verbesserung der Effektivität und Effizienz von Planungs­, Produktions­ und Nutzungsprozessen von Bauwerken erschließen. Mit dem Aufbau digitaler Wissensspeicher entwickeln sich darüber hinaus neue Möglichkeiten der Daten­ und Informationsverarbeitung. Bauprozesse und Bauwerke werden dadurch „intelligenter“. Trotz dieser neuen Technologien bleibt die zentrale Bedeutung agierender Menschen jedoch grundlegend.

Informationen: https://www.tugraz.at/institute/bbw/veranstaltungen/agile­digitalisierung­im­baubetrieb/29­september­2023­online­symposium Grazer­Darmstädter 2­Tages­Intensivseminar Sichtbeton

Datum/Ort: 25. und 26. 1. 2024, Hybridveranstaltung als Präsenzveranstaltung der Technischen Universität Graz sowie als Online­Übertragung im Internet.

Themen: Sichtbeton – von der Idee zur Planung; Anforderungen und Kostenschätzung; Regelwerke; Sichtbetonprozessmodell (Lean Design/ Lean Construction); Ausschreibung; Bauvertrag; Kalkulation; vertiefte Angebotsprüfung; Betontechnologie; Wechselwirkungen zwischen Schalungshaut, Betontrennmittel und Beton; Ausführung; Digitalisierung und Sichtbeton; Fehler: Ursache­Wirkungs­Beziehungen; Abnahme/ Übernahme; Sachverständigensicht und ­gutachten; Entwicklungspotenzial.

Die Beschäftigung mit diesen Themenbereichen soll die Sichtbetontechnologie als Gesamtprozess definieren und dadurch einen umfassenden Einblick sowie eine Vertiefung in die Materie erlauben.

Informationen: https://www.tugraz.at/events/sichtbeton/home

Juli 2023 183 Organisation von Digitalisierungs­ und Nachhaltigkeitsprojekten Digitalisierung
Unterkreise
Hierarchie Posi on Rolle Holokra

Anbietermarkt: Vergaberecht am Ende?

Für kurze Zeit schien es, dass der Bau zum Anbietermarkt geworden wäre, was manchem Auftraggeber schmerzlich vor Augen führte, dass er kein Recht darauf hat, überhaupt ein Angebot zu erhalten, geschweige denn zuhauf Billigstpreise!

Jahrelang scherzte ich in den Seminaren, das Bauwesen sei zu einer vernünftigen Preisgestaltung, die den Bietern längerfristiges unternehmerisches Auskommen sichert, prinzipiell nicht in der Lage, weil es immer mindestens einen, leider oft mehrere Bieter gab, die sich die Aufträge um nicht kostendeckende Preise einfach kaufen wollten, und dieses System werde sein natürliches Ende erst finden, wenn es keinen Nachwuchs, keine Fernreisenden als Arbeitskräfte mehr gibt, sodass die „natürlichen“ Grenzen des Wettbewerbes dadurch erreicht werden, dass es kein Personal zur Ausführung der zu vielen Billigstpreisofferten mehr geben wird.

Der Lehrlings­ und Fachkräftemangel führte tatsächlich zu einer Angebotsverknappung, zu einem Anbietermarkt, was etlichen Auftraggebern Überraschungen bei den Angebotsöffnungen bescherte. Damit hatten die Väter des Vergaberechts nicht gerechnet: „Stell dir vor, es ist Wettbewerb, und keiner geht hin“, gewissermaßen. (Wie) kann Vergaberecht in einem Anbietermarkt funktionieren? Da das streng genommen keine Rechtsfrage war, hat offenbar keiner an solche Marktverhältnisse gedacht.

Mittlerweile hat uns die Marktwirtschaft eine ordentliche Lektion erteilt, indem die Materialund Subunternehmerpreise sowie die Löhne kräftig gestiegen sind, sodass ein um 20 bis 30 % höherer Preis existenziell wurde, ohne dass gleich Gewinne in diesen Höhen anfielen. Kaum überraschend brach auf diese abrupte Preissteigerung die Baunachfrage erheblich (wenngleich nicht um 30 %) ein, sodass die alte Abwärtsspirale „Weniger Aufträge als Angebote, niedrigere Preise, etwas mehr Aufträge, aber zu Verlustpreisen usw“ hurtig wieder zu rotieren begann.

Glücklicherweise ist das nur ein Zwischenzustand, bis die Kapazitäten mehr oder weniger freiwillig angepasst werden. Daher lohnt es sich, einen Blick auf einen immanenten Konstruktionsfehler des marktwirtschaftlichen Systems zu werfen: die eingebaute Selbstzerstörung. Man kann es keinem Unternehmer verübeln, wenn er sich rational ver­

hält und den Wirkungen des Wettbewerbs zu entrinnen sucht, frei nach dem Motto: „Die Marktwirtschaft ist die beste aller Wirtschaftsformen. Das Einzige, was stört, ist der Wettbewerb.“

Es ist daher legitim, wenn Unternehmen (mit legalen Mitteln, versteht sich) versuchen, den Wettbewerbsdruck zu minimieren, zB durch das Prinzip „The winner takes it all“, indem das effizienteste Unternehmen jeder Branche am schnellsten wächst und alle Mitbewerber letztlich absorbiert. Das ist kein Verbrechen, sondern ein eingebautes Wesensmerkmal des Marktmechanismus: Er belohnt den Effizientesten so lange, bis es keinen Mitbewerber mehr gibt.

Nicht wertneutral könnte man auch sagen, der Markt hätte einen Konstruktionsfehler, indem er zur Selbstausschaltung führt. Daher braucht es ständig Korrektureingriffe des Staates, der Markt liegt sozusagen permanent auf der rechtspolitischen Intensivstation zur (Wieder­)Herstellung des Wettbewerbs. Und: „It is not a bug, it is a feature“, möchte man angesichts der Grundsätzlichkeit des Problems sagen.

Wie nun soll Vergaberecht Abhilfe schaffen? Zunächst einmal muss man ehrlich zugeben, dass ein effizientes Ausschreibungswesen die Konzentration der Unternehmen fördert. Je effizienter, desto schneller schmilzt die Bieterschar. Aber kann man ein Zuschlagskriterium „Antikonzentration“ formulieren?

Formulieren schon, zB: „Jeder Bieter, der schon zwei Aufträge über 5 Mio € hat, scheidet ein Jahr lang aus“, oder so ähnlich. Aber: Das verstößt gegen zahlreiche Prinzipien, zumal ja eine unmittelbare Wirkung des Marktmechanismus ausgeschaltet werden soll. Längerfristig fördert Vergaberecht die Unternehmenskonzentration, schmälert damit den Wettbewerbsdruck und verbietet in der gegenwärtigen Form jede Abhilfe, hätte sie doch unmittelbar zur Folge, dass das Bestanbot ausgeschieden werden müsste, weil sein Bieter schon stark genug ist.

Erfreulicher Befund (für die Bieter): Das Vergaberecht fördert längerfristig die systemimmanente Ausschaltung des Wettbewerbs und entzieht sich so seine Existenzgrundlage. Mir ist auch noch keine Lösung eingefallen, weil es ja just die Prinzipien des Vergaberechts sind, die zu seiner Selbstausschaltung führen!

Die Automobil­ und Halbleiterindustrien, die vor demselben Problem stehen, haben mit dem Second-source­Prinzip eine praktikable Lösung gefunden, nur um den Preis, dass die zweite Quelle ihre Reservefunktion im höheren Preis abgegolten bekommt, also eine gezielte „Nicht­Billigstbietervergabe“. Aber: Was nicht sein darf, kann nicht sein.

184 Juli 2023
Ende? Das letzte Wort
Anbietermarkt: Vergaberecht am
Dr. Rainer Kurbos ist emeritierter Rechtsanwalt in Graz. © Patricia Kurbos

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