Leseprobe CFO aktuell | Linde Verlag

Page 1

Topstory Stagflation statt Rezession

Controlling

ESG-Strategie und Steuerkontrollsystem

Cases

Stellhebel beim Aufbau von Corporate Start-ups

Blick über den Gartenzaun

Empathische Führung

Trends & Tools

Risikoidentifikation mit ChatGPT

Inside Research

Wie gut sind Unternehmen auf die CSRD vorbereitet?

Service

Nachlese zur Thought Bridge 2023

Porträt

Georg Schöppl, Österreichische Bundesforste AG

Interview

Harald Leitenmüller, Microsoft Österreich

Carsten Speckmann, Siemens Digital Manufacturing

17. Jahrgang / Juli 2023 / Nr. 4

Weiterbildungsangebot

in Kooperation mit der Bankwissenschaftlichen Gesellschaft

Mit zertifizierten Lehrgängen zum Erfolg!

Der VÖIG/ÖVFA-Lehrgang wird gemeinsam mit der BWG in Kooperation mit dem ÖPWZ-Finanzlehrgänge durchgeführt. Aufbauend auf einem gemeinsamen Grundkurs kann im Anschluss ein Vertiefungslehrgang besucht werden; sowohl Grundkurs als auch die Vertiefungen CRM und CPM schließen mit einer halbtägigen schriftlichen Prüfung ab, das Upgrade zum CEFA mit einer zusätzlichen ganztägigen Prüfung. Grundkurs- und Vertiefungsprüfung gemeinsam führen zum jeweiligen Diplom CRM (Certified Risk Manager), CPM (Certified Portfolio Manager) oder CEFA (Certified EFFAS Financial Analyst).

Alle Infos zu den ÖPWZ-Finanzlehrgänge finden Sie unter www.opwz.com/finanzlehrgaenge

Künstliche Intelligenz im Unternehmen

Wie und wofür Sie KI zu Ihrem Vorteil nutzen können

• ChatGPT ist erst der Anfang: Wie große Sprachmodelle unsere Arbeit verändern

• Top-5-Einsatzgebiete von KI & die erfolgreiche Implementierung

• ROI & KI: Rechnet sich KI für mein Unternehmen?

• Rechtliche Rahmenbedingungen inkl. AI Act und EU-Haftungsregime

• Spannende Use Cases:

◦ KI im E-Commerce: DSGVO-konforme Personalisierung bei Geizhals

◦ Finanzindustrie: So nutzt die Raiffeisen Bank International AI

◦ KI zur Erfüllung datenintensiver Compliancevorschriften

◦ E-Mail-Automation: Kundenkommunikation bei illwerke vkw

◦ KI zum Erkennen von Anomalien in der Personalverrechnung

◦ Prozessautomatisierung mit LLM in einem DAX-40-Unternehmen

◦ Harvey: Der KI-Rechtsanwaltsassistent in der Praxis

Online-Konferenz Vortragende Axel Anderl | Vjekoslav Bonic | Alexandra Ciarnau | Stefan Engl | Silke Graf | Marc Isop | Eva Krichmayr | Kirstin Krippner Christoph Lampert | Harald Leitenmüller | Christoph Mayer | Christoph Prieler | Patrick Ratheiser | Stefan Schmidhofer Hernan Villamizar | Sabine Walch | Clemens Wasner Online lindecampus.at 13:00–17:30 27.9. & 28.9.2023

Liebe Leserinnen und Leser,

ein Blick zurück auf das Jahr 2022 in Österreich zeigt, dass es von einem bemerkenswerten Wachstum geprägt war. Insbesondere in der ersten Hälfte des Jahres, nachdem die pandemiebedingten Beschränkungen gelockert wurden, war ein spürbarer Anstieg der wirtschaftlichen Aktivität zu verzeichnen, begleitet von einer Erholung im Tourismussektor.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) verzeichnete in Österreich im Jahr 2022 einen realen Anstieg um 4,9 % (nach +4,6 % im Jahr 2021) – die stärkste Wachstumsrate seit dem EU-Beitritt im Jahr 1995.

Ab Mitte des Jahres 2022 erreichte die Wirtschaftsleistung ein hohes Niveau, aber es kam zu einer Stagnation. Ein Grund dafür war die spürbare Teuerung, die insbesondere im zweiten Halbjahr 2022 massiv zu spüren war. Im Gegensatz zu früheren Inflationsanstiegen war diese Teuerung jedoch nicht hauptsächlich das Ergebnis einer starken Erhöhung der volkswirtschaftlichen Nachfrage. Vielmehr waren die Ursachen auf der Angebotsseite zu finden.

Die stark angestiegenen Energiepreise waren ein Faktor, der die Teuerung beeinflusste, aber auch die anhaltenden Unsicherheiten in den Lieferketten und die geopolitischen Risiken trugen zum Anstieg der Erzeugerpreise bei. Darüber hinaus wirkte sich die angespannte Situation am Arbeitsmarkt negativ auf die Wirtschaft aus.

Trotz dieser Herausforderungen bleibt festzuhalten, dass das Jahr 2022 für Österreich insgesamt ein Jahr des wirtschaftlichen Wachstums war, das jedoch durch einige preisbedingte Stagnationen gebremst wurde. Ein aktueller Ausblick für die österreichische Volkswirtschaft von Stefan Fink, Chef-Ökonom bei KPMG, finden Sie ab Seite 139.

Ein Quantensprung schien rund um den Jahreswechsel im Bereich Artificial Intelligence die Veröffentlichung von ChatGPT. Gleichzeitig erreichen immer weitere KIs Marktreife und werden wohl mittelfristig die Arbeitswelt verändern. Wir haben in dieser Ausgabe der CFOaktuell ein spannendes Gespräch mit Harald Leitenmüller (CTO, Microsoft Österreich) und Carsten Speckmann (Head of Finance, Siemens Digital Manufacturing) geführt. Wir haben darüber gesprochen, wie ChatGPT und Co die Finanzfunktion verändern und welche Schritte gesetzt werden müssen. Lesen Sie das spannende Gespräch ab Seite 120.

Ein weiterer Bereich, den KI verändert, ist das Risikomanagement. ChatGPT ist seit 2022 in der öffentlichen Diskussion und wird seit diesem Zeitpunkt für alle erdenklichen Anwendungen eingesetzt. Der Diskurs zur Eignung in den unterschiedlichsten Gebieten ist sehr kontrovers und die Meinungen reichen von Begeisterung bis hin zu kompletter Ablehnung. Andreas Stöckl und Günther Angerbauer erläutern ab Seite 149, wie die Technologie hinter ChatGPT als Werkzeug für Risikomanager geeignet ist.

Empathische Führungskräfte leisten einen enormen Beitrag zum Unternehmenserfolg. Was unter empathischer Führung zu verstehen ist, welche ökonomischen Vorteile mit diesem Führungsstil einhergehen und wie Führungskräfte empathisch Kündigungen aussprechen können, erfahren Sie im Beitrag von Executive-Coach, Didaktik-Expertin und Arbeitspsychologin, Christine Hoffmann ab Seite 135.

Genießen Sie diesen sonnenverwöhnten Sommer und nutzen Sie die warmen Tage, um nicht nur Ihre Zahlen, sondern auch Ihre Seele aufblühen zu lassen. Erfrischen Sie Ihren Geist und kehren Sie mit neuer Energie zurück, um die Finanzen Ihres Unternehmens erfolgreich zu lenken. Im Namen des gesamten CFOaktuell-Teams wünsche ich Ihnen einen inspirierenden Sommer!

Herausgeberin

Dr. Rita Niedermayr ist Mitglied der Geschäftsführung des Controller Instituts sowie Partnerin bei Contrast EY Management Consulting.

Herausgeber

Univ.-Prof. Dr. Werner H. Hoffmann ist Partner bei Contrast EY Management Consulting und Vorstand des Instituts für Strategisches Management der WU Wien.

MMag. Sarah Blaimschein arbeitet für das Controller Institut und ist fachliche Redakteurin von CFO aktuell.

117 Editorial Juli 2023
Herzlichst, Ihre Sarah Blaimschein

Stagflation

Wie gut sind die Unternehmen auf die CSRD vorbereitet?

118 Juli 2023 Inhaltsverzeichnis The Chat GPT Edge: Empowering AI in Business and Finance Harald Leitenmüller, CTO, Microsoft Österreich und Carsten Speckmann, Head of Finance, Siemens Digital Manufacturing, im Gespräch mit CFOaktuell Sarah Blaimschein 120 Wie die ESG-Strategie nachhaltiger Unternehmen und ein Steuerkontrollsystem zusammenpassen Raffaela Herges-Geier / Josef Wieser 124 Weil die Bäume nicht in den Himmel wachsen Georg Schöppl, CFO, Österreichische Bundesforste AG Josef Ruhaltinger 127 Nachlese zur Thought Bridge 2023 Sarah Blaimschein 129 Stellhebel beim Aufbau von Corporate Start-ups Dargestellt am Start-up-Projekt „HalloSonne” Harald Wechselberger / Thomas Wala / Katharina Felleitner-Goll 130 Empathische Führung Fühlen als Führungskompetenz Christine Hoffmann 135
Rezession Ein aktueller Ausblick für die österreichische Volkswirtschaft Stefan Fink 139
Eine aktuelle Bestandsaufnahme Katrin Hummel / Karina Bauernhofer / Lukas Seidl 145 Interview Controlling Porträt Service Cases Blick über den Gartenzaun Inside Research
statt
Fitnesscheck:

Risikoidentifikation mit ChatGPT

Die besten Krimis schreibt die Wirklichkeit

IMPRESSUM: Zeitschrift für Finance und Controlling

Herausgeber

Dr. Rita Niedermayr und Univ.-Prof. Dr. Werner H. Hoffmann, Controller Institut

E-Mail: CFOaktuell@lindeverlag.at

Herausgeberbeirat

Mag. Markus Fichtinger, Dr. Christian Kreuzer, Dr. Wolfgang Moser, Univ.-Prof. Dr. Helmut Pernsteiner, Mag. Arnulf Wolfram

Medieninhaber und Medienunternehmen

Linde Verlag Ges.m.b.H., A-1210 Wien, Scheydgasse 24, Telefon: 01/24 630 Serie, Telefax: 01/24 630-23 DW, E-Mail: office@lindeverlag.at; http://www.lindeverlag.at

DVR 0002356. Rechtsform der Gesellschaft: Ges.m.b.H., Sitz Wien

Firmenbuchnummer: 102235x

Firmenbuchgericht: Handelsgericht Wien

ARA-Lizenz-Nr. 3991, ATU 14910701

Gesellschafter: Anna Jentzsch (35 %) und Jentzsch Holding GmbH (65 %)

Geschäftsführer: Mag. Klaus Kornherr, Benjamin Jentzsch

Erscheinungsweise und Bezugspreise Erscheint sechsmal jährlich.

Jahresabonnement (Print) 2023 EUR 176,20 (Print inkl. Online) 2023 EUR 202,70 jeweils inkl. MwSt. zzgl. Versandspesen. Abbestellungen sind nur zum Ende eines Jahrganges möglich und müssen bis spätestens 30. November schriftlich erfolgen.

Unterbleibt die Abbestellung, so läuft das Abonnement automatisch ein Jahr und zu den jeweils gültigen Konditionen weiter. Preisänderungen und Irrtum vorbehalten.

Nachdruck – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher Bewilligung des Verlages gestattet. Es wird darauf verwiesen, dass alle Angaben in dieser Fachzeitschrift trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr erfolgen und eine Haftung des Verlages, der Redaktion oder der Autoren ausgeschlossen ist.

Ausgabe 4/2023

Für Publikationen in den Fachzeitschriften des Linde Verlags gelten die AGB für Autorinnen und Autoren (abrufbar unter https://www.lindeverlag.at/agb) sowie die Datenschutzerklärung (abrufbar unter https://www.lindeverlag.at/ datenschutz).

Anzeigenverkauf und -beratung

Gabriele Hladik, Tel.: 01/24 630-719

E-Mail: gabriele.hladik@ lindeverlag.at Sonja Grobauer, Tel.: 0664/78733376

E-Mail: sonja.grobauer@lindeverlag.at

ISSN 1993-2960

Hersteller Druckerei Hans Jentzsch & Co GmbH, 1210 Wien, Scheydgasse 31, Tel.: 01/278 42 16-0

E-Mail: office@jentzsch.at Mehrfach umweltzertifiziert (www.jentzsch.at)

119 Inhaltsverzeichnis Juli 2023
Andreas Stöckl / Günther Angerbauer 149
Steuerfahnder im Kampf gegen internationale Verbrecherbanden Bruno Lässer 153 Text Analysis in Finance Christian Kreuzer 154 General Electric Brigitte W. Mühlmann 156 Trends & Tools Für Sie gelesen Glossary What‘s up in Boston

The Chat GPT Edge: Empowering AI in Business and Finance

Harald Leitenmüller, CTO, Microsoft Österreich und Carsten Speckmann, Head of Finance, Siemens Digital Manufacturing, im Gespräch mit CFOaktuell

CFOaktuell: Sie beide waren heuer Keynote-Speaker bei der Thought Bridge, einer Veranstaltung, die ins Leben gerufen wurde, um Wissenschaft und Praxis zu verbinden. Künstliche Intelligenz wurde in den vergangenen Jahren oftmals nur theoretisch diskutiert, nun ist OpenAI mit ChatGPT die Revolution gelungen.

Zeitgleich kommen zahlreiche weitere spannende neue AI-Anwendungen auf den Markt. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein? Muss man von einer Revolution sprechen?

Carsten Speckmann: Ich bin überzeugt, dass Open AI und ChatGPT bzw KI im Allgemeinen die Arbeitswelt und die Gesellschaft prägen und verändern werden. Ich würde aber von einer kleinen Revolution sprechen, denn das Ganze hat ja bereits vor Jahren mit der Automatisierung und ersten KIAnwendungen begonnen. Gleichzeitig ist mit der plötzlichen Popularität von ChatGPT aber vielen erstmals klar geworden, welche Bedeutung KI in Zukunft in der Gesellschaft haben wird.

Aus meiner Sicht sollte man darum sehr verantwortungsvoll mit KIs umgehen. Denn der Einsatz muss zielgerichtet sein; das ist elementar. Das gilt nicht nur für Unternehmen, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir unsere demokratischen Prinzipien mit dieser Technologie in Einklang bringen können.

Viele Bereiche wie Schulen, Unternehmen, Bildung und Forschung werden sich verändern. Dabei spielt es keine Rolle, wofür genau ChatGPT oder OpenAI eingesetzt werden. Wir sollten immer daran denken, dass sie nur Assistenten sind, die uns helfen, Dinge besser, schneller und vielleicht auch effizienter zu machen.

Wir sollten diesen Technologien jedoch niemals die vollständige Kontrolle überlassen. Harald Leitenmüller: Ich möchte einige Aspekte hinzufügen: Erstens glaube ich, dass es eine große Revolution ist, und zwar in dem Sinne, dass durch diese Large Language Models der Zugang zur Digitalisierung für mehr Menschen möglich wird. Das sieht man auch an den Nutzerzahlen von ChatGPT

In kurzer Zeit waren es hunderte Millionen Nutzer, da muss etwas substanziell Aufregendes dahinterstecken.

Das zweite ist die Möglichkeit, dass natürliche Sprache mit digitalen Mitteln interagiert. Das ist eine Revolution. Bisher war das nur etwas für Expert:innen mit einer speziellen Syntax und speziellen Werkzeugen. Die Nutzerbasis dieser Technologie wird dramatisch wachsen, und das spüren wir schon jetzt. Das hat Auswirkungen auf die digi-

tale Industrie, weil natürlich immer mehr Hersteller von digitalen Werkzeugen diese Schnittstellen implementieren und nutzbar machen.

Microsoft erweitert mit seinen Co-Pilot-Ansätzen bereits seine Produkte. Gerade diese neuen Möglichkeiten – dass mehr Funktionen über natürliche Sprache genutzt werden können – ohne dass man Expert:in sein muss, das finde ich schon sehr bemerkenswert.

CFOaktuell: Künstliche generative AI ist drauf und dran, den Arbeitsmarkt massiv zu verändern. Besonders für Aufsehen sorgte die Studie von Goldman Sachs, die zeigte, dass 300 Millionen Arbeitsplätze durch AI ersetzt werden könnten. Ist diese Einschätzung Ihrer Meinung nach realistisch? Von welchem Zeitraum sprechen wir hier?

Carsten Speckmann: Ich glaube, dass wir in Zukunft Jobs sehen werden, die es heute noch gar nicht gibt. Die Art zu arbeiten wird sich generell ändern. Ein Beispiel: Unser Werk in Amberg, das wir auch als digitale Fabrik der Zukunft bezeichnen und das als weltweites Musterbeispiel einer digitalen Fabrik bei Siemens gilt. In diesem Werk haben wir bei Eröffnung vor über zwanzig Jahren 1.200 Menschen beschäftigt.

In Amberg werden seitdem immer die neuesten Technologien der Automatisierung und Digitalisierung angewendet, unter anderem KI. Damit konnten wir in Amberg die Produktivität massiv steigern. Wir reden hier von einem Faktor 20 bis 25 bezogen auf den Umsatz. Aber: Wir beschäftigen dort heute wie am ersten Tag weiterhin rund 1.200 Mitarbeitende.

Natürlich war die Art und Weise, wie die Menschen dort vor zwanzig Jahren gearbeitet haben, komplett anders als heute. Aber wir haben permanent in die Mitarbeiter:innen und deren Weiterentwicklung investiert, so dass sie gelernt haben, mit der Zeit zu gehen und damit auch mit Automatisierung und Digitalisierung einschließlich KI umzugehen. Das heißt: Wenn wir über neue Technologien sprechen, dann werden die Menschen nicht ersetzt, sondern sie werden Teil einer neuen Arbeitswelt. Menschen behalten ihre Jobs, sie müssen sich allerdings weiterentwickeln, sie müssen diese neuen Jobs verinnerlichen. Und machen wir uns nichts vor: Die Diskussion darüber, dass Menschen von Maschinen ersetzt werden, führen wir seit der Erfindung der Webstühle.

Harald Leitenmüller: Nicht Künstliche Intelligenz wird Menschen ersetzen, sondern Menschen, die Künstliche Intelligenz sinnvoll einsetzen, werden andere Menschen ersetzen. Ein Beispiel dafür ist der GitHub Copilot, der seit über einem Jahr auf

120 Juli 2023 Interview
CTO bei Microsoft Österreich. Carsten Speckmann ist Head of Finance bei Siemens Digital Manufacturing.

dem Markt ist und von über 100 Millionen Softwareentwicklern genutzt wird.

Unsere jüngsten Statistiken zeigen, dass diese Entwickler bis zu 40 Prozent produktiver sind. Das Tool generiert mittlerweile 46 Prozent der Source Codes, was bedeutet, dass Aufgaben von Softwareentwickler:innen wesentlich effizienter und schneller erledigt werden können. Ich bin davon überzeugt, dass dies in vielen Berufsfeldern der Fall sein wird.

Endlich können wir erleben, wie gewisse Tätigkeiten, die von Mitarbeiter:innen als unnötiger Aufwand empfunden werden, durch Technologien automatisiert werden und dadurch neue Freiräume entstehen. Ich finde es bedenklich, dass wir heutzutage oft die Diskussion führen, dass Arbeitsplätze verloren gehen, während wir gleichzeitig einen erheblichen Fachkräftemangel haben und Millionen von Stellen unbesetzt bleiben. Ich glaube fest daran, dass diese Transformation dazu beitragen kann, diese Lücken endlich zu füllen.

CFOaktuell: Wie wird Künstliche Intelligenz den Finanzbereich verändern? Welche Implikationen hat generative Künstliche Intelligenz für CFOs?

Harald Leitenmüller: Abgesehen von Produktivitätssteigerung und Automatisierung gibt es zahlreiche andere Anwendungsmöglichkeiten für Künstliche Intelligenz. Nehmen wir als Beispiel Risikomanagement: Künstliche Intelligenz kann auch bei der Erkennung von Betrugsmustern, der Erstellung von Prognosemodellen und der Kundenanalyse eingesetzt werden. Diese Aufgaben wären ohne diese Technologie äußerst aufwendig oder sogar unmöglich.

Ein bemerkenswertes Beispiel ist der Azure Open AI Business Case, den wir in Österreich gemeinsam mit der Firma Strabag veröffentlicht haben. Strabag verwendet Künstliche Intelligenz für Risikomanagement und Prognosen bei großen Projekten mit hohem Budget. Durch den Einsatz solcher Werkzeuge können sie äußerst effektiv arbeiten und ihre Erfahrungen prognostizieren. Dieses Beispiel zeigt, wie Werkzeuge zur Verfügung stehen, um große und komplexe Datenmengen zu analysieren, Muster zu erkennen und Konstellationen zu verstehen, die sonst unmöglich wären. Dies ist nur ein Beispiel, wie Künstliche Intelligenz in verschiedenen Bereichen nützlich sein kann.

Generell sollten wir uns darauf konzentrieren, dass hier Möglichkeiten bestehen, die ansonsten nicht vorhanden wären. Das Erkennen von Mustern und Zusammenhängen in großen Datenmengen, die auf andere Weise nicht möglich wären, ist ein äußerst wichtiger Aspekt.

Ein weiterer spannender Bereich betrifft die Aufbereitung und Kommunikation von Geschäftsberichten, Bilanzen und ähnlichen Informationen, insbesondere für das Controlling und den CFO. Nehmen wir als Beispiel das Berichtswesen: Mit Hilfe von Large Language Model kann ich die Erklärung einer komplexen Bilanz für den Vorstand fast vollständig automatisieren.

Es können ansprechende Sprachniveaus generiert werden, die natürlich noch nachbereitet und

aufbereitet werden können. Normalerweise ist dies eine mühsame Arbeit, die jedoch durch diese Werkzeuge elegant und mühelos bewältigt werden kann. So entstehen wertvolle Hilfsmittel für die Text- und Bildgenerierung sowie die Erstellung von Tabellen und Grafiken, die einen hohen Grad an Automatisierung aufweisen. Carsten Speckmann: Aus meiner Sicht wird Künstliche Intelligenz im Finanzbereich viele positive Veränderungen bewirken und völlig neue Dynamiken ermöglichen. Lassen Sie mich dies durch einen Vergleich mit der Vergangenheit verdeutlichen: Früher war der Finanzbereich eher statisch und faktenbasiert. Es wurden, mit gewissem zeitlichen Abstand, Monatsabschlüsse erstellt, Analysen durchgeführt und auf dieser Basis operative und strategische Entscheidungen getroffen. Die Zukunft wird dagegen viel stärker von den verfügbaren Daten geprägt sein, insbesondere von Echtzeitdaten. Mit Echtzeitdaten meine ich beispielsweise den aktuellen Stand der Buchungen und Kosten. Wo stehen wir geschäftlich an dem Tag, an dem ich ein Meeting habe und Entscheidungen treffen möchte? Wenn im Finanzbereich Echtzeitdaten genutzt werden können, um die Geschäftsentwicklung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verstehen und das entsprechende Controlling durchzuführen, wird der Finanzbereich interaktiver und viel dynamischer. Natürlich wird es weiterhin Quartalsabschlüsse geben, aber die Dynamik innerhalb des Unternehmens wird eine ganz andere sein.

In diesem Zusammenhang wird vor allem das entsprechende Know-how im Finanzbereich gefragt sein, um mit Künstlicher Intelligenz umgehen und sie effektiv einsetzen zu können.

Deshalb wird sich auch die Rolle des CFOs und des Controllers ändern. Zudem werden sich das erforderliche Wissen und die Fähigkeiten, die man sowohl an der Universität als auch im Berufsleben erwirbt, anpassen müssen. Damit einhergehend werden sich auch die genutzten Tools verändern. Heutzutage verwendet man vielleicht ein statisches SAP- oder ERP-System, doch in Zukunft wird die IT-Infrastruktur agiler sein und ganz neue Anforderungen an die IT-Landschaft stellen. Das Ganze wird viel integrierter sein, nicht mehr sequenziell und statisch, sondern es wird die Geschäftsentwicklung und das Controlling in Echtzeit begleiten und aus der Sicht des CFOs diese Geschäftsentwicklung auch viel aktiver mitgestalten als bisher.

CFOaktuell: Wie wird Controlling in Zukunft aussehen? Welche Prozesse werden durch die Künstliche Intelligenz übernommen?

Harald Leitenmüller: Ich glaube, wir müssen neue Kompetenzen aufbauen, da die Erwartungshaltungen steigen werden. Schon jetzt sehe ich, dass man früher nach zwei Wochen Ergebnisse erhielt, wenn man einen Auftrag vergeben hatte, während man heute schneller und mehr Szenarien präsentieren kann. Denn letztendlich ist der Zweck dieser Ausarbeitungen die Unterstützung von Geschäftsentscheidungen.

121 Interview Juli 2023

Dabei erwarte ich mir verschiedene Optionen. Die Aufbereitung jeder einzelnen Option ist jedoch mit Aufwand verbunden. Wenn dieser Aufwand geringer wird und die Produktivität steigt, habe ich mehr Wahlmöglichkeiten und kann hoffentlich bessere Entscheidungen treffen. Daher werden Controller:innen auch zu Business Partner:innen für interaktive Entscheidungsprozesse, da sie über leistungsstarke Werkzeuge verfügen.

Carsten Speckmann: Aus meiner Sicht wird das Controlling der Zukunft ganz neue Funktionen hervorbringen, wie zum Beispiel Data Engineers und Data Scientists, die sich mit der Datenverarbeitung befassen. Es wird auch Data Analysten geben, die Analysen und Prognosen mit Hilfe von KI erstellen. Trotzdem dürfen wir nie vergessen, dass wir auch dann noch eine gewisse Fehlergenauigkeit haben werden. Darum wäre es aus meiner Sicht ein großer Fehler, allein auf KI zu vertrauen. Der Mensch muss immer die letzte Kontrollinstanz bilden.

Darüber hinaus wird es auch andere Rollen geben, wie zum Beispiel Business Analysten, jedoch im Sinne von Operational Analysten oder Innovation Analysten, nicht nur Financial Analysten. Es wird auch Cluster-Spiele geben, bei denen unterschiedliche Fachrollen involviert sind. Und schließlich werden neue Rollen wie Subject Matter Experts entstehen, die sich beispielsweise mit Mergers & Acquisitions oder Transformationsmanagement beschäftigen. Schließlich ist dies alles Teil einer Transformation, die nicht von heute auf morgen stattfindet und die erfordert, dass sich alle Beteiligten anpassen.

CFOaktuell: Dank Plattformen wie Microsoft Azure OpenAI und cloudbasierten Lösungen wie M365  Copilot können Unternehmen das volle Potenzial der KI ausschöpfen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und Prozesse zu optimieren. Was sind die Vorteile, die Sie für den Finanzbereich sehen?

Harald Leitenmüller: Wir konzentrieren uns hier auf den professionellen Enterprise-Einsatz, und unsere Kundinnen und Kunden haben klare Erwartungen hinsichtlich Compliance und Sicherheitsanforderungen, die heutzutage von Unternehmen verlangt werden. Unsere Kundinnen und Kunden erwarten, dass vertrauliche Informationen in einem geschützten Unternehmenskontext verarbeitet werden.

Genau hier kommen Plattformen wie die Microsoft Azure Open AI ins Spiel. Wir nutzen exklusiv Open AI-Komponenten und KI-Modelle in einer sicheren Umgebung, um maßgeschneiderte Lösungen für unsere Kundinnen und Kunden anzubieten. Dabei erfüllen wir alle Compliance- und Sicherheitsanforderungen. Ein Hauptvorteil liegt daher in der Gewährleistung der Verarbeitung sensibler und kritischer Firmeninformationen auf sichere und zuverlässige Weise.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Integrationsmöglichkeit. Unsere Plattform ermöglicht die nahtlose Integration in Datenbanken und andere Anwendungen. Wir bieten verschiedene Schnittstellen und Verbindungsmöglichkeiten, sei es mit

Power BI, Backend Connectors zu SAP oder anderen Datenbanken. Auf diese Weise erfüllen wir die Erwartungen unserer Kundinnen und Kunden in Bezug auf Compliance, Sicherheit und Integrationsmöglichkeiten, und ermöglichen ihnen so, die Vorteile der Künstlichen Intelligenz in ihrem Unternehmenskontext zu nutzen.

CFOaktuell: Herr Speckmann, was planen Sie bei Siemens? Wie setzen Sie ChatGPT und andere AI schon jetzt ein?

Carsten Speckmann: Ein Beispiel ist die sogenannte Predictive Maintenance, also die vorausschauende Wartung von Maschinen. Mit ihr können wir basierend auf den Messdaten aus der Fertigung und den gesammelten Erfahrungswerten prognostizieren, wie lange bestimmte Maschinenteile noch halten und wann sie voraussichtlich ausfallen werden. Auf diese Weise können diese Maschinenteile rechtzeitig ausgetauscht werden, bevor sie den Betrieb beeinträchtigen. Dadurch können wir die Betriebszeit in der Produktion erhöhen, Unterbrechungen vermeiden und die Qualität verbessern.

Ein ähnliches Prinzip wird übrigens auch bei Zügen angewendet, bei denen Videos oder Fotos aufgenommen und mit Hilfe von KI ausgewertet werden, um den Zustand der Bremsen zu überwachen und rechtzeitig Austauschmaßnahmen zu ergreifen. Aber auch bei der Planung oder Optimierung von Produktionen kommt heute durchaus schon KI zum Einsatz.

Im Finance-Bereich nutzen wir Dashboards, wie zum Beispiel das BI-Dashboard, sowie andere Tools wie Tableau. Diese Dashboards bieten integrierte KI-Funktionen. Wir verwenden beispielsweise obere und untere Grenzwerte, die in diesen Dashboards implementiert sind. Tatsächlich ersetzen wir Excel mehr und mehr in unserem täglichen Arbeitsablauf oder laden lediglich Daten aus Excel herunter, um sie in unseren Dashboards zur Steuerung des Geschäfts und zur Darstellung der finanziellen Kennzahlen weiterzuverarbeiten.

Dieser tägliche Wandel ist spürbar. Sowohl in technischen als auch in finanziellen Funktionen nutzen wir Tools mit hoher Geschwindigkeit. Wir arbeiten in agilen Sprints und in sogenannten „Pizza-Teams“. Täglich werden neue Funktionen implementiert. Das Problem dabei ist, dass wir uns bereits in einem rasanten Tempo bewegen und sicherstellen müssen, dass alle Mitarbeiter:innen Schritt halten können. Der Wandel ist wirklich enorm. Um auf die Frage nach der Revolution am Anfang zurückzukommen: Wir erleben eine unglaubliche Geschwindigkeit des Fortschritts.

CFOaktuell: Sie sprechen vom Industrial Metaverse und dem Digital Twin. Können Sie die beiden Begriffe erklären und uns kurz vorstellen, wie sie bei Siemens zum Einsatz kommen?

Carsten Speckmann: Das Industrial Metaverse ist ein Konzept, das die reale Welt mit der digitalen verbindet. Es ermöglicht die Transformation in der Fertigungsindustrie, indem virtuelle Simulationen genutzt werden, um die Produktion schneller und effizienter zu gestalten.

122 Juli 2023 Interview

Durch digitale Zwillinge, die Teil dieses Industrial Metaverse sind, können Produkte, Maschinen, Prozesse und ganze Produktionsanlagen virtuell abgebildet werden. Die vorhandenen Daten fließen in solche Simulationsmodelle ein und verbinden die reale und digitale Welt in der Entwicklung und Planung, in der anschließenden Produktion bis hin zum späteren Einsatz der Produkte, wo sie Rückmeldungen geben können, die dann wieder in die Weiterentwicklung der Produkte einfließen. Ein kompletter Kreislauf also.

Was bedeutet das letztendlich? Wenn eine Fabrik umgebaut oder neu gebaut wird, kann dies beispielsweise um 50 Prozent schneller durchgeführt werden. Durch die Simulation der Produktion mit neuen Modellen, Batterien und Technologien kann eine 15-prozentige Steigerung der Effizienz in der Produktion erreicht werden.

Ein Beispiel dafür ist die Batterieproduktion eines Zulieferers, bei dem durch den digitalen Zwilling der CO2-Fußabdruck um fünf Prozent reduziert werden kann. Durch eine effizientere Gestaltung können auch der Rohstoffverbrauch und andere Ressourcen gesenkt werden.

Der digitale Zwilling ermöglicht es also letztendlich, die Produktion der Zukunft effizienter und schneller zu gestalten, die Flexibilität zu erhöhen und insgesamt effizienter zu arbeiten. Diese Vision wird bereits umgesetzt. Sie ist keine bloße Vision mehr, sondern Realität.

CFOaktuell: Letzte Frage: In fünf Punkten zusammengefasst: Was müssen CFOs jetzt tun, um diese anstehenden Transformationen erfolgreich zu bewältigen?

Carsten Speckmann: CFOs sollten offen sein für neue Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) und sich dem aktuellen Zeitgeist anpassen. Agilität und Flexibilität sind essenziell, um den Wandel erfolgreich zu gestalten. Zudem ist es wichtig, die Organisation weiterzuentwickeln und die neuen Rollen, über die wir zuvor gesprochen haben, zu implementieren. Die Mitarbeiter:innen sollten mo-

tiviert werden, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und ihre Fähigkeiten anzupassen. Eine verstärkte IT-Kompetenz in der Finanzorganisation ist ebenfalls entscheidend.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Standardisierung und Automatisierung von Finanzprozessen. Durch den Einsatz von Robotics und KI im Rechnungswesen können Effizienzgewinne erzielt werden. Es ist sinnvoll, alles zu automatisieren und zu standardisieren, was möglich ist. Dadurch können Ressourcen eingespart und die Prozesse effizienter gestaltet werden.

Nicht zuletzt sollte die Transformation aktiv von der Finance-Abteilung mitgestaltet werden. CFOs sollten sich bewusst sein, dass sie in Zukunft nicht nur eine Rolle im Finanzwesens spielen, sondern auch stärker die Zukunft des Unternehmens mitgestalten und dafür Verantwortung übernehmen sollten.

Harald Leitenmüller: Unternehmen sollten vermeiden, Technologien grundsätzlich zu verbieten. Stattdessen ist es ratsam, klare Richtlinien zu erlassen, die den Zweck und die Verwendung bestimmter Werkzeuge festlegen. Insbesondere im Hinblick auf ChatGPT ist es wichtig, zu definieren, dass es sich um ein Consumer-Tool handelt und keine personenbezogenen Firmengeheimnisse damit behandelt werden sollen. Unternehmen sollten das Lernen durch die Nutzung neuer Technologien fördern, da dies von großer Bedeutung ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass CFOs sich den bevorstehenden Transformationen offen gegenüberstellen sollten. Sie sollten die notwendigen Anpassungen vornehmen, ihre Organisation weiterentwickeln, ihre Mitarbeiter:innen motivieren und die Chancen der neuen Technologien nutzen. Eine aktive Mitgestaltung der Transformation und klare Richtlinien bezüglich des Einsatzes von Technologien sind ebenfalls von großer Bedeutung.

Das Gespräch führte MMag. Sarah Blaimschein

123 Interview Juli 2023

Wie die

ESG-Strategie

nachhaltiger Unternehmen und ein Steuerkontrollsystem zusammenpassen

Raffaela Herges-Geier ist Steuerberaterin und Senior Managerin bei EY und hat durch ihre langjährige Erfahrung im Bereich Indirekte Steuern viele Unternehmen bei ihren Steueragenden unterstützt. Seit einiger Zeit widmet sie sich dem Thema Sustainability & Tax und hilft Unternehmen dabei, die Nachhaltigkeitsmaßnahmen mit den Steuern in Einklang zu bringen.

Nachhaltigkeit ist der Imperativ für erfolgreiche Unternehmen im 21. Jahrhundert. Der gesellschaftliche Wandel, Klimaauswirkungen und ESG-Regulatorik stellen die Bedeutung und Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitstransformation in den Fokus aller Unternehmen. Denn letztendlich liegt es in unserer Verantwortung, eine nachhaltige Zukunft zu sichern und den Wirtschaftsstandort Österreich noch grüner zu gestalten. Nachhaltig bedeutet langfristiges, beständiges und ganzheitliches Handeln. Dabei bedarf es nicht unbedingt neuer Wege, sondern die Bereitschaft, bekannte Wege zukunftsorientiert und sinnhaft zu gehen.

Welche Rolle Steuern bei der Transformation zu einem nachhaltigen Unternehmen spielen, beleuchten wir in diesem Beitrag.

1. Wo Nachhaltigkeit auf Steuern trifft

Eine aktuelle Studie der one2zero1 hat gezeigt, dass bei jedem zweiten Unternehmen Klimaneutralität in der Unternehmensstrategie verankert ist. 76 % der Befragten erwarten sich durch die schrittweise Transformation positive Auswirkungen für ihre Branche bzw ihr Geschäftsmodell. Und viele der Befragten haben sich bereits konkrete Gedanken über sinnvolle Maßnahmen gemacht (ua erneuerbare Energiequellen, Wissen über den CO2-Fußabdruck, E-Mobilitätslösungen, Etablierung von kreislauforientierten Wertschöpfungsketten etc).

3. Steuerkontrollsystem als Bestandteil einer nachhaltigen Unternehmensführung (G) Mit Blick auf die Säule „G“, die eine verantwortungsvolle Unternehmensführung verlangt, ist es wichtig, eine Brücke zwischen der Unternehmensstrategie und deren konkreter Umsetzung im Unternehmen zu bauen. Essenzieller Bestandteil dabei ist ein Steuerkontrollsystem, welches innerhalb der Steuerfunktion des Unternehmens Prozesse festlegt, die gewährleisten, dass die Besteuerungsgrundlagen für die jeweilige Abgabenart in der richtigen Höhe ausgewiesen und die darauf entfallenden Steuern termingerecht und in der richtigen Höhe abgeführt werden.

Das Herzstück des Steuerkontrollsystems bildet die Risikokontrollmatrix, mit der die steuerlichen Risiken sowie deren Kontrollen, Maßnahmen und Grundsätze abgebildet werden. Ergänzt wird die Risikokontrollmatrix durch Prozessbeschreibungen und die Steuerrichtlinie, die als grundsätzliches Regelwerk zu verstehen ist. Sie dokumentiert die Steuerstrategie, Zuständigkeiten sowie Verantwortlichkeiten.

Josef Wieser ist Manager im Bereich Indirect Tax Technology und Ansprechpartner für Fragen rund um die effiziente Implementierung von Steuerkontrollsystemen und die technische Umsetzung von steuerlichen Compliance Anforderungen in ERPSystemen.

Was bei all diesen Unternehmensentscheidungen nicht außer Acht gelassen werden darf, sind die Auswirkungen auf Finanzierungsüberlegungen, Steuern und ERP-Systeme. Damit es zu keinen steuerlichen Risiken und unangenehmen Überraschungen kommt, sollten die Steuerverantwortlichen des Unternehmens daher von Beginn an eingebunden werden. Das Monitoring der korrekten steuerlichen Behandlung nach der Implementierung erfolgt am besten über ein funktionierendes Steuerkontrollsystem („SKS“).

2. Zusammenwirken der ESG-Regulatorik und der Steuern

Die erfolgreiche Umsetzung einer nachhaltigen Unternehmensstrategie basiert auf den drei Säulen der ESG-Regulatorik: Umwelt (Environmental), Soziales (Social) und verantwortungsvolle Unternehmensführung (Governance). Diese drei mächtigen Säulen zeigen schon, dass alle Beteiligten in einem nachhaltigen Unternehmen bei ihren Entscheidungen und Aufgaben breiter denken müssen.

Auch die steuerliche Compliance ist ein wesentlicher Bestandteil von ESG; die stetige Veränderung des steuerlichen Umfelds ist dabei eine besondere Herausforderung. Die Übersicht in Abbildung 1 zeigt mögliche steuerliche Themen, die in die ESG-Regulatorik hineinspielen:

Die Gründe für die Implementierung eines steuerlichen Kontrollsystems liegen auf der Hand. Wie eine aktuell von EY Österreich durchgeführte Marktumfrage zeigt, ist ein Steuerkontrollsystem einerseits ein bewährtes Instrument, um die TaxCompliance sicherzustellen und anderseits können bei entsprechender Implementierung auch Haftungsrisiken des Managements reduziert werden.2 Die Umfrage zeigt, dass viele Unternehmen bereits ein Steuerkontrollsystem haben oder planen, ein solches kurz- bis mittelfristig in ihrem Unternehmen zu implementieren.

Was die Umfrage aber auch zeigt, ist, dass 92 % jener Teilnehmer, die ein Steuerkontrollsystem einführen wollen, mangelnde personelle Kapazitäten als ihre größte Herausforderung dafür ansehen. Darum ist es wichtig, sich im Vorfeld zu überlegen, wie das Projekt unter Berücksichtigung limitierter Personalkapazitäten am besten angegangen wird. Beispielsweise könnte mit jener Steuerart begonnen werden, bei der am meisten der Schuh drückt. Wenig überraschend ist dies auch der Ansatz, den viele Unternehmen wählen, indem sie beispielsweise mit der Umsatzsteuer starten, da hier in der Praxis ein betragsmäßig hohes Steuerrisiko schlummert und viele Transaktionsdaten umfasst sind. Um ressourceneffizient mit einem Steuerkontrollsystem zu starten, wenn ein Antrag auf Aufnahme in die begleitende Kontrolle3 (zumindestens vorerst) nicht angedacht ist, könnten für einen nachhaltigen Unternehmensführungsansatz im ersten Schritt auch nur ausgewählte Steuerkontrollsystem-Bausteine berücksichtigt werden, indem beispielsweise nur eine Steuerrichtlinie ausgearbeitet und implementiert wird. Damit hätte man bereits viel gewonnen

124 Juli 2023 Controlling ESG-Strategie und Steuerkontrollsystem

und könnte weitere Elemente des Steuerkontroll systems in einem zweiten Schritt umsetzen.

Bei der Implementierung eines wirksamen Steuerkontrollsystems ergeben sich gut nutzbare Synergie-Effekte zur Nachhaltigkeitsberichterstat tung. Die Überschneidungen zwischen ESG und steuerlicher Compliance führen dazu, dass viele Unternehmen SKS-Projekte als wesentliches Ele ment für die Umsetzung ihrer ESG-Agenda nut zen. Immer mehr Unternehmen verankern ihre ESG-Strategie in der Steuerrichtlinie oder im Code of Conduct. Dazu kommt, dass Datenanalysen, die im Rahmen eines SKS durchgeführt werden, auch für die Festlegung der für das ESG-Reporting bzw die Nachhaltigkeitsberichterstattung notwendigen Datenfelder genutzt werden können.

Aufgrund der Überarbeitung der EU-Richtlinie für Nachhaltigkeitsberichterstattung (CRSD = Corporate Sustainability Reporting Directive) wird sich der Kreis der berichtspflichtigen Unternehmen schon ab 2024 erweitern. Der Umstand, dass ein Steuerkontrollsystem implementiert wurde, kann als ein Element in die Nachhaltigkeitsberichterstattung aufgenommen werden. Bald könnte die derzeit noch freiwillige Steuertransparenz als Teil der Nachhaltigkeitsberichterstattung auch in Österreich zur Pflicht werden, wie dies in einigen Ländern, wie beispielsweise in Großbritannien oder Australien, bereits der Fall ist.

Im international anerkannten GRI 207 TaxStandard wird ausgeführt, wie steuerliche Transparenzberichte zu erstellen sind. Das Ziel der Steuertransparenz ist die Vermittlung einer offeneren und transparenteren Kultur mit Blick auf die Steuerpraktiken eines Unternehmens. Wesentliche Berichtsbestandteile sind demnach Informationen zum strategischen Steuermanagementansatz wie zB:

❚ Steuerkonzept: Steuerstrategie inklusive Verknüpfung mit der Geschäfts- und Nachhaltigkeitsstrategie;

❚ Tax Governance: Steuerrisikoidentifizierung und Kontrolle;

❚ Interessen der Stakeholder iZm Steuern;

❚ Öffentliches Country-by-Country-Reporting bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung.

Diese Punkte lassen sich gut in der Steuerrichtlinie als Bestandteil des Steuerkontrollsystems verankern.

4. Digitalen Fokus auch auf die Steuern richten

Die Digitalisierung der Steuerbehörden schreitet weltweit voran. Es ist davon auszugehen, dass eine Vielzahl der zukünftigen Compliance-Verpflichtungen – auch in Bezug auf Nachhaltigkeit – ein Datenanforderungsprofil aufweisen werden. Dies zeigen auch die aktuellen Entwicklungen auf EUEbene: Die geplante EU-weite Regulatorik ViDA („VAT in the digital Age“) sieht stufenweise bis zum Jahr 2028 verpflichtende elektronische Rechnungen in strukturiertem Format und digitale Meldepflichten bis hin zu nahezu Echtzeitmeldungen vor.

Damit rückt das Datenmanagement noch mehr ins Zentrum des steuerlichen Compliance-Management-Prozesses, denn Daten und ihre Quellen müssen identifiziert, laufend gesammelt, aufbereitet und je nach Bedarf analysiert werden.

Lediglich 7 % der SKS-Umfrageteilnehmer haben angegeben, dass sie ihre Datenqualität als ausreichend einschätzen, um verlässliche IT-gestützte Kontrollen darauf aufsetzen zu können. Deshalb lohnt es sich, einen (externen) Sparringpartner samt effizierter IT-Lösung ins Boot zu holen.

Mit den sich ständig entwickelnden Vorschriften kann nur durch weitestgehende Automatisierung und effektives Datenmanagement Schritt gehalten werden. Um das übergeordnete Zieldie Steuer in der richtigen Höhe und zum richtigen Zeitpunkt abzuführen - erreichen zu können, reicht es nicht, die steuerlichen Regeln perfekt zu beherrschen. Es ist vielmehr auch erforderlich, die Datengrundlage zu analysieren und zu prüfen, ob diese tatsächlich den verstandenen Sachverhalt widerspiegeln.

Ein Beispiel dazu: Mit der Lösung „Digital Tax Intelligence“ für die Steuerart Umsatzsteuer können nicht nur Belege, sondern auch Bestell-, Material- und Stammdaten analysiert und zueinander in Verbindung gesetzt werden. Dabei wird sofort ersichtlich, ob die Daten die erwarteten Sachverhalte und am Ende des Tages auch die gebuchten Steuerkennzeichen für das jeweilige Reporting widerspiegeln. Dies kann sowohl für nachgelagerte Analysen von abgeschlossenen Perioden als auch – mittels

Abb 1: ESG relevante Steueragenden

Abb 2: Screenshot: Steuerfindung und -monitoring Dashboard zum Erkennen von umsatzsteuerlichen Prozessen und Potenzialen

125 Controlling ESG-Strategie und Steuerkontrollsystem Juli 2023
TAX, Digitalisierung Social Employer Branding Mitarbeiter Reten on, Vergüns gungen Fair share TAX , Pillar 1+2, erhöhte Transparenzanforderungen (CbCR) Nachhal ge Inves onen Governance Berichtersta ung (Muss und Soll) Trend Steuertransparenz (GRI207) Tax Governance Steuerkontrollsystem Digitalisierung der Finanz- und Steuerabteilung für Repor ng Anforderungen Knowledge In- und Ausland Sustainability, Förderungen Environmental E-Moblität/strl Fuhrparkmanagement Work from everywhere Ethical supply chain und produktspez Anpassungen (ESG Branding) ► CBAM Energiemaßnahmen Kreislaufwirtscha

real-time Verbindung mit dem ERP-System – für die präventive Kontrolle des Geschäftsfalls noch vor der tatsächlichen Verbuchung und Meldung verwendet werden.

So kann ressourcenschonend auf einen Blick erkannt werden, wo die tatsächlichen umsatzsteuerlichen Risiken im Unternehmen liegen und mit wenig Aufwand Sicherheit über korrekt gemeldete Daten erlangt werden. Dies liegt nicht nur im Interesse der Steuerverantwortlichen im Unternehmen, die damit ihr Risiko verringern, sondern leistet auch einen wesentlichen Beitrag zu einer nachhaltigen Unternehmensführung.

Auf den Punkt gebracht

Die Erfüllung von ESG-Kriterien ist bereits für viele Unternehmen hoch auf der Agenda und wird mittelfristig alle Wirtschaftsbeteiligten betreffen. Ein Steuerkontrollsystem ist ein wichtiger Baustein bei der Nachhaltigkeit.

Bilanzen lesen leicht gemacht

Das gilt auch für das Risiko- und Datenmanagement.

Eine ganzheitliche Betrachtung von Nachhaltigkeit und Risiko-/Datenmanagement ist der Schlüssel zu einer langfristigen und nachhaltigen Geschäftsentwicklung. Zudem werden immer mehr Regulatorien in Richtung digitaler Meldepflichten geschaffen. Die Grundlagen dafür sollten möglichst frühzeitig geschaffen werden.

Anmerkungen

1 120 Vertreter:innen und/oder Entscheidungsträger:innen österreichischer Unternehmen wurden ua zu ihren Maßnahmen zur Klimaneutralität befragt, siehe https://one2 zero.at/wp-content/uploads/2023/06/ONE2ZERO_E-Pub likation_Ausgabe3.pdf (Zugriff zuletzt am 18. 7. 2023).

2 95 Teilnehmer aus allen Branchen, siehe auch: https://www. ey.com/de_at/news/2023/06/ey-steuerkontrollsystemeat-2023 (Zugriff zuletzt am 18. 7. 2023).

3 Auf Antrag möglich; im Zuge und auf Basis eines Steuerkontrollsystems kann von ex post Betriebsprüfungen zu einer sogenannten begleitenden Kontrolle auf Augenhöhe mit dem Finanzamt gewechselt werden.

2023

188 Seiten, kart. 978-3-7143-0368-1

€ 38,–

126 Juli 2023
Controlling ESG-Strategie und Steuerkontrollsystem
Steuern. Wirtschaft. Recht. Am Punkt. Versandkostenfrei bestellen lindeverlag.at
vielen praktischen Beispielen E-Book erhältlich
Mit

Weil die Bäume nicht in den Himmel wachsen

Georg Schöppl, CFO, Österreichische Bundesforste AG

So mancher Landeshauptmann sollte neidisch werden: Die Österreichischen Bundesforste verwalten ein Zehntel der österreichischen Staatsfläche. Das sind mehr als dreimal die Landesfläche von Vorarlberg. Und obwohl die Wurzeln von Österreichs größtem Grundbesitzer auf die Ärare des Habsburgischen Kaiserhauses zurückgehen, hat das Unternehmenszentrum der ÖBf in Purkersdorf wenig Imperiales. Bei Besuchern vermittelt das viele Glas und Holz eher republikanische Moderne als gottgewollte Vergangenheit. So ist es mitten im Wienerwald fein zu arbeiten.

Dies lockte Georg Schöppl, als er 2007 die Position des Finanzvorstands der ÖBf übernahm. Dass er das Ambiente auch nach vielen Erfahrungen immer noch zu schätzen weiß, zeigte er, als er am 1. November 2022 die Agenden des Vorstandssprechers übernahm. Schöppl ist mitverantwortlich, nahezu 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Lohn und Brot zu halten und ein Unternehmen auf Kurs zu halten, dessen Hauptprodukt Generationen braucht, um genutzt zu werden. Die Forstwirtschaft ist nichts für Heißblütige.

„Das war immer ein Traumjob für mich“, schwärmt Schöppl. Der heute 57-jährige Jurist entstammt einer alteingesessenen Bauernfamilie aus Weng im Innkreis, einer Nachbargemeinde von Altheim und eine Traktorkehre unweit der deutschen Grenze. In Weng wird der Großteil der Höfe immer noch im Vollerwerb betrieben. Die „Bundesforste“ – so wird der Staatsbesitz an jedem noch so dialektgeprägten Stammtisch in ganz Österreich genannt – waren in einem agrarisch geformten Umfeld schon immer von Bedeutung, auch dort, wo das nächste Forstamt hundert Kilometer entfernt ist. Es war immer klar, dass der ältere Bruder das über 500 Jahre alte „Schachl-Gut“ übernehmen wird und der junge Georg studieren geht. Schöppl macht heute über seine Studienwahl wenig Trara:

„Ich habe nicht recht gewusst, was ich machen soll.“ Rechtswissenschaften seien ein Kompromiss gewesen, „der mir alle Möglichkeiten offenließ“, meint er heute. Salzburg war dafür die naheliegendste Universitätsstadt. Nach nicht einmal acht Semestern und einem fast fertigen Studium bewarb sich Schöppl an der Johns Hopkins University in Bologna. Der frisch inskribierte Student der Volkswirtschaft und internationalen Politik genoss das internationale Ambiente.

Die 120 Studenten seines Faches kamen aus 26 verschiedenen Ländern und sorgten für kunterbunten Lifestyle. „Die Studien- und Arbeitsatmosphäre war intensiv. Jeder hat für sein Fach gebrannt“, erinnert sich der Oberösterreicher. Die hohen Studiengebühren ließen wenig Raum für „Dolce Vita“. Dennoch: Die Internationalität elektrisierte den jungen Oberösterreicher. „Alles an der John Hopkins war spannend für mich. Das war die Zeit des Erwachsenwerdens.“

Die Entdeckung des Europa-Gens Ursprünglich sollte ein MBA-Jahr in Bologna genügen. Georg Schöppl hatte aber Feuer gefangen – und war unzufrieden. „Das Studium kam mir irgendwie unfertig vor.“ Er mobilisierte sämtliche Finanzen, um das für den Abschluss notwendige zweite Jahr an der Johns Hopkins in Washington zu verbringen – einem weiteren Ableger der in Baltimore beheimateten Elite-Universität. Das Jahr in den USA hätte einen bis heute anhaltenden Eindruck hinterlassen: „Ich habe das Europa-Gen entdeckt.“ Erst als er die Vielschichtigkeit des nordamerikanischen Kontinents und seiner Einwohner kennenlernte, wurden die Gemeinsamkeiten der europäischen Nationen für ihn fassbar. „Egal, ob ich mit Briten, Portugiesen oder Griechen zusammengesessen bin: Es gab so viele Geschichten und Besonderheiten, aber vor allem Gemeinsamkeiten, die nur uns Europäern

Berufliche Laufbahn

2022 bis heute: Vorstandssprecher der Österreichischen Bundesforste

2007 bis heute: Vorstandsmitglied der Österreichischen Bundesforste, verantwortlich für die Bereiche Finanzen, Immobilien und Erneuerbare Energie.

2000 bis 2007: Vorstandsvorsitzender der Agrarmarkt Austria

1999 bis 2000: Leiter des Büros des Herrn Bundesministers, Bundesministerium für Landund Forstwirtschaft.

1996 bis 1999: Assistent des Vorstands und Pressesprecher bei Berglandmilch

1995 bis 1996: Referent im Ministerbüro des Bundesministeriums für Umwelt.

1994 bis 1995: Assistent des Stellvertretenden Generalanwalts des Österreichischen ­Raiffeisenverbandes

1992 bis 1994: Parlamentarischer Mitarbeiter.

Ausbildung

1990 bis 1992: Master of Arts in International Relations; Johns Hopkins University. 1986 bis 1990: Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Salzburg.

127 Porträt Georg Schöppl Juli 2023

zu eigen waren.“ Dies habe er vor dem Kontrast des US-Alltages verstehen können: „Seither bin ich glühender Europäer“

Die europäische Überzeugung verfestigte sich bei der Rückkehr Schöppls nach Österreich: Denn der Oberösterreicher, der bis dahin Wien kaum kannte, heuerte als parlamentarischer Mitarbeiter beim damaligen Bauernbund-Obmann und Nationalratsabgeordneten Georg Schwarzenberger an. Der EU-Beitritt stand als Großprojekt vor der Tür und es galt, die zahlreichen Skeptiker unter der bäuerlichen Bevölkerung zu überzeugen. Ein Assistentenjob bei Raiffeisen und ein Referendariat im Umweltministerium von Martin Bartenstein runden bis 1996 die Lehrjahre Schöppls ab. Die unmittelbare Nähe zu den politischen Entscheidungsträgern nahm dem John Hopkins-Graduate die Scheu vor bekannten Namen. „Mit Politikern ist es wie mit Schauspielern: Wenn man sie kennenlernt, entpuppen sie sich meist als nette Menschen, die auch nur mit Wasser kochen“

Nach einem mehrjährigen Abstecher in die Wirtschaft – wir erzählen davon später – treibt es Schöppl noch einmal in die Entscheidungszentren der Republik: Er wird 1999/2000 Büroleiter von Landwirtschaftsminister Willi Molterer. Für die jüngeren unter den Lesern: Dies war die Zeit der Verhandlungen und Angelobung der schwarzblauen Koalition Schüssel-Haider. Georg Schöppl nimmt aus dieser Zeit die Einsicht mit, dass Politik so schwierig sei, „weil sie aus Kompromissen besteht.“ Und Kompromisse hätten bei den Bürgern nur eine begrenzte Reputation. Persönlich wünsche man sich oft „eine kantigere und mutigere Politik. Aber in einer Demokratie braucht es Mehrheiten.“ Und die seien ohne Kompromisse nicht zu beschaffen.

Wirtschaft braucht Nachhaltigkeit

Vor der Rückholung als Kabinettschef im Ministerium – „ich habe nie wieder so viel gearbeitet wie damals“ – war Georg Schöppl drei Jahre lang Vorstandsassistent und Pressesprecher der Molkereigenossenschaft Berglandmilch „Ich hatte das Glück, dass mich mein Chef selbständig werkeln ließ.“ Er hätte dabei auch „den einen oder anderen Bock geschossen“, erinnert sich Schöppl heute schmunzelnd. Dies sei „unter dem Aspekt der Lernerfahrung mit Milde hingenommen worden“. Etwas nachdenklich meint er aber auch: „Ich weiß nicht, ob ich heute als Vorgesetzter genauso gelassen reagieren würde.“ Die Erfahrungen bei Berglandmilch hätten ihn bestärkt, „dass Management für mich befriedigender ist als die Politik.“ Dies habe sich mit den Erfahrungen im Landwirtschaftsministerium nicht geändert.

Manchmal gereicht das Glück der anderen zum eigenen Vorteil. Als Mitte 2000 der damalige Vorstandschef der Agrarmarkt Austria AMA in die niederösterreichische Landesregierung berufen wurde, bewarb sich Schöppl um dessen

Nachfolge – und erhielt den Job. Mit der Berufung war Schöppl endgültig in den Vorstandsetagen der Republik angekommen: Er verwaltete ein Milliardenbudget, mit dem die Abwicklung der EUAusgleichszahlungen für alle agrarischen Bereiche bestritten wurde. Es sei nicht immer einfach gewesen, den Bauern zu verdeutlichen, warum selbst bei Detailfragen auf Punkt und Komma der Förderungsbestimmungen geachtet werden musste. Der Druck kam von allen Seiten. „Ich bin mir oft vorgekommen wie das Sandwich zwischen zwei heißen Platten.“

2007 bot sich die Chance auf ein handfesteres Umfeld: Schöppl wechselte auf die frei gewordene Position des Finanzvorstandes bei den Bundesforsten: „Ich wusste: Das ist ein Unternehmen, bei dem ich gerne arbeiten würde.“ Für einen CFO ist die Aufgabe in einem in seiner DNA als Forstbetrieb definierten Unternehmen undankbar. Wenn Sturm und Borkenkäferflug zu den substanziellen Gefahren der Produktion gezählt werden müssen, dann wird Risk-Management zur Kaffeesudleserei „Es sei nicht ganz so schlimm“, beschwichtigt Schöppl. Es gebe im Unternehmen „eine große Expertise“, die er sich bei seinen Einschätzungen zu eigen mache. Letztendlich gehe es um Risikoverteilung: „Wir probieren vieles aus, wie wir den Folgen des Klimawandels begegnen können. Aber wir setzen nie alles auf eine Karte.“ Nicht immer gehe alles auf. Aber nie sei der Einsatz so hoch, dass das Unternehmen in Schieflage komme. Corona, Wirtschaftskrise, Windbrüche, Holzpreisschwankungen bis zu 50 Prozent – die Krisen hätten die Bundesforste in den vergangenen Jahrzehnten ordentlich gefordert. „Aber wir hatten kein Jahr, in dem wir keinen Gewinn erwirtschaftet haben.“

Finanzverantwortliche kämpfen nicht selten mit dem Vorwurf der Kursichtigkeit: Viele machen die Bilanzmaximierung zum Gebot des Quartalsberichts. Georg Schöppl muss bei diesem Vorwurf lachen. „In unserem Geschäft gelten ,Umtriebszeiten‘ (die Zeit vom Setzling bis zum erntereifen Baum) von rund 120 Jahren.“ Nachhaltigkeit bestimme das Wesen seiner Branche. Als vor vielen Jahren begonnen wurde, die Dominanz der Fichte in den Wäldern zu verringern und die Aufforstungsstrategien mit regional- und lagenspezifischen Mischbeständen widerstandsfähiger zu machen, reagierten die Regionaldirektoren und Förster mit der Frage, warum dies nicht schon früher geschehen sei. Sie wussten: Der Setzling von heute muss mit dem Klima des Jahres 2100 zurechtkommen. „Ich würde keinen CFO einstellen wollen, der kurzfristig denkt“, ist sich Schöppl sicher. Für angehende Finanzmanager hat er einen zentralen Rat: „Führung funktioniert nur im Team.“ Wer einen Kollegen als Konkurrenten und nicht als Mitspieler betrachte, werde scheitern. Und als letzter Tipp: „Wir leben mit der Natur. Da braucht es Demut.“ Denn eines könne er mit Bestimmtheit sagen: „Bäume wachsen nicht in den Himmel.“

128 Juli 2023
Porträt Georg Schöppl Josef Ruhaltinger ist Journalist und Publizist in Wien (businessnews.at).

Nachlese: Thought Bridge 2023

Nachlese zur Thought Bridge 2023

Seit 2015 veranstaltet das Controller Institut gemeinsam mit dem Institut für Unternehmensführung der Wirtschaftsuniversität Wien die Thought Bridge. Diese hochklassige Veranstaltung hat zum Ziel, eine Brücke von der Wissenschaft zur Praxis zu schlagen. Heuer ist es gelungen, mit einem Top-Thema zu punkten: The ChatGPT Edge: Empowering AI in Business and Finance. Mehr als 100 Teilnehmende nahmen die Einladung von der Wirtschaftsuniversität Wien und dem Controller Institut an. Traditionell begrüßte Gerhard Speckbacher (Institut für Unternehmensführung, WU) gemeinsam mit Rita Niedermayr (Österreichisches Controller Institut) die Gäste der diesjährigen Thought Bridge. Das Motto der Thought Bridge „The ChatGPT Edge: Empowering AI in Business and Finance”.

Als Keynote-Speaker wurden Harald Leitenmüller (CTO, Microsoft Österreich) und Carsten Speckmann (CFO, Siemens Digital Manufacturing) gewonnen.

The AI-Powered-Future: What CFOs and Finance Leaders need to know

Harald Leitenmüller gab Einblicke in Microsofts KIStrategie, wie KI Geschäftsprozesse beeinflussen wird. Er diskutierte, wie ChatGPT als Enabler für den KI-Einsatz in Unternehmen fungieren wird.

In der sich schnell entwickelnden digitalen Landschaft von heute setzen Unternehmen aller Art auf KI, um Innovation und Effizienz zu steigern. ChatGPT spielt bei diesem Wandel eine wichtige Rolle, da es Unternehmen ermöglicht, KI auf neue und spannende Weise zu nutzen. Dank leistungsstarker Plattformen wie Microsoft Azure OpenAI und cloudbasierter Lösungen wie M365 Copilot können Unternehmen das volle Potenzial von KI nutzen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und Prozesse zu optimieren.

AI in Industry – Smart Production and Smart Business Management

Carsten Speckmann sprach über seine Erfahrungen bei Siemens, die von Anwendungen des industriellen Metaverse, das die digitale und die reale Welt zusammenbringt, bis hin zu Anwendungsfällen von Künstlicher Intelligenz bei Siemens Digital Manufacturing reichen.

Industrial Metaverse: Das industrielle Metaverse bringt die digitale und die reale Welt zusammen. Es ermöglicht einen ständigen Austausch von

Informationen, Daten und Entscheidungen und versetzt die Industrie in die Lage, außerordentlich komplexe Probleme der realen Welt digital zu lösen, die Arbeitsweise von Unternehmen zu verändern und erhebliche gesellschaftliche Vorteile zu erschließen.

Digital Twin: Der digitale Zwilling ist ein zentraler Baustein des Metaversums. Diese virtuellen Modelle simulieren Objekte der realen Welt im Detail. Die nächste Generation digitaler Zwillinge wird fotorealistisch, physikbasiert, KI-fähig und in Metaverse-Ökosysteme eingebunden sein.

Artificial Intelligence: Wenn KI zu erfinden beginnt – Anwendungsfälle und Überlegungen zum geistigen Eigentum.

Im Anschluss an die Vorträge gab es noch genügend Zeit für die zahlreichen Fragen und für den Austausch innerhalb der Community.

Unser Tipp

Sie möchten keines unserer Angebote für Finance Leader verpassen? Informieren Sie sich über unsere Mitgliedsleistungen. Unser Angebot: Werden Sie jetzt zum halben Preis Mitglied für 2023 und profitieren Sie von unserem vollen Leistungsspektrum. Informationen unter: https://www.con troller-institut.at/de/mitgliedschaft/.

129 Service
Juli 2023

Stellhebel

beim Aufbau von Corporate Start-ups

Dargestellt am Start-up-Projekt „HalloSonne”

Viele Konzerne haben erkannt, dass die Entwicklung neuer Geschäftsfelder sowie das Vorantreiben von Geschäftsmodellinnovationen andere Rahmenbedingungen benötigen, als sie in den vom Tagesgeschäft geprägten Strukturen der bestehenden Unternehmensbereiche häufig vorzufinden sind. Durch die Ausgliederung von Innovationsvorhaben sollen deshalb weitestgehend eigenständig agierende Gesellschaften geschaffen werden, welche einerseits mit wertvollen Ressourcen und Know-how des Stammhauses ausgestattet werden und die insofern einen „Unfair Advantage“ gegenüber anderen Start-ups aufweisen. Andererseits sollen diese Ventures aber gleichzeitig auch über jenes agile Mindset und Instrumentarium verfügen, welche in volatilen Zeiten für ein flexibles und rasches Skalieren des Neugeschäfts vonnöten sind.

Der vorliegende Beitrag zeigt anhand des Beispiels HalloSonne auf, welche Überlegungen beim Aufbau eines Corporate Start-ups in Bezug auf dessen organisatorische Anbindung, Team, Ziele und Kultur notwendig sind und wie diese umgesetzt werden können.

1. Erfolgsfalle

Etablierte Unternehmen tun sich nach wie vor schwer damit, neue Geschäftsfelder zu entwickeln und radikale (Geschäftsmodell-)Innovationen umzusetzen. Insbesondere in Zeiten, in denen sie in ihrem Stammgeschäft (noch) gut verdienen, begnügen sie sich häufig mit inkrementellen Verbesserungen ihrer Marktleistungen, um Kannibalisierungseffekte zu vermeiden und keine unnötigen Risiken einzugehen. Solche Unternehmen befinden sich in der sog Exploitation Trap, da sie davon ausgehen, bisherige Erfolgsrezepte in optimierter Form in die Zukunft fortschreiben zu können1.

Dies gelingt in einem zunehmend volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Marktumfeld – einer sog VUCA-Welt – jedoch immer weniger, weshalb Unternehmen heute kontinuierlich nach disruptiven Chancen und Gefahren Ausschau halten müssen, um keinen geschäftsrelevanten Trend und die daraus resultierenden Innovationserfordernisse zu verpassen.2

2. Corporate Start-ups

Open Innovation ist ein Konzept, welches vor dem skizzierten Hintergrund darauf abzielt, die Grenzen des Innovationssystems zu öffnen, um auch auf die Ideen und das Know-how unternehmensexterner Akteure zugreifen zu können. Open Innovation kann auf verschiedene Weise praktiziert werden, ua auch durch eine Zusammenarbeit mit Start-ups, deren Innovationen genutzt oder gemeinsam weiterentwickelt und skaliert werden sollen3.

Ein Corporate Start-up ist ein Start-up, das von einem etablierten Unternehmen gegründet wird, um neue Erfolgspotenziale zu erschließen. Corporate Start-ups können entweder intern oder extern entwickelt werden:4

❚ Interne Corporate Start-ups werden in Projektarbeit innerhalb bereits bestehender Geschäftseinheiten aufgebaut, wobei allerdings häufig eine personelle und räumliche Trennung vom Tagesgeschäft erfolgt. Erst bei Erreichung der Marktreife wird das Neugeschäft mittels Spin-off dann auch rechtlich verselbständigt.

❚ Ein externes Corporate Start-up entsteht entweder durch eine frühzeitige Ausgliederung des – im Alleingang oder gemeinsam mit Partnern – noch zu entwickelnden Neugeschäfts in eine eigene Projektgesellschaft oder aber durch die Akquisition eines bereits bestehenden Start-ups.

Corporate Start-ups unterscheiden sich von herkömmlichen Start-ups insofern, als sie auf die Ressourcen, Netzwerke und die Expertise des Mutterkonzerns zugreifen können (sog Unfair Advantage), um schneller zu wachsen und Marktanteile zu gewinnen.5 Andererseits müssen sie sich jedoch auch den besonderen Herausforderungen stellen, die mit einer Anbindung an Konzernstrukturen einhergehen können, wie zum Beispiel bürokratische Prozesse, langsamere Entscheidungsfindung und kulturelle Unterschiede.6

Die Ausgliederung von Innovationsprojekten in Corporate Start-ups ist ein Beispiel für strukturelle Ambidextrie. Diese teilt das Unternehmen in Exploitations- und Explorationsbereiche auf. Das in den Exploitationsbereichen zu erledigende Tagesgeschäft ist auf Effektivität und Effizienz hin zu optimieren.7 Dazu sind Organisationsstrukturen und Prozesse zu formalisieren, um in Verbindung mit einem aufgabenorientierten Führungsstil möglichst stabil und fehlerfrei zu arbeiten und bestehende Routinen in kleinen Schritten inkrementell weiterzuentwickeln. Die in den Explorationsbereichen stattfindende Suche nach innovativen Geschäftsmodellen und neuen Produkten erfordert hingegen flexible Strukturen, einen visionären Führungsstil sowie eine durch Risiko-, Experimentier- und Veränderungsfreudigkeit gekennzeichnete Teamkultur (siehe Abb 1). Trotz dieser strukturellen Abgrenzung sollten Exporations- und Exploitationsbereiche nicht völlig voneinander abgeschottet sein, um eine synergetische Zusammenarbeit an den Schnittstellen zu ermöglichen.8

Der Verbund ist Österreichs größter Stromerzeuger. An die 100 Prozent der erzeugten Energie

130 Juli 2023 Cases Stellhebel beim Aufbau von Corporate Start-ups
Mag. Harald Wechselberger, MBA ist Manager bei der Verbund AG und war als interimistischer Geschäftsführer maßgeblich am Aufbau der HalloSonne GmbH beteiligt. FH-Prof. Dr. Thomas Wala, MBA lehrt und forscht an der FH Technikum in Wien. Katharina Felleitner-Goll, BA MSc lehrt und forscht an der FH Technikum Wien.

stammt aus Wasserkraft, ergänzt durch Wind- und Wärmekraft. Als Leitunternehmen für nachhaltige Energielösungen entschied sich der Verbund dazu, die bestehende Produktpalette um neue Photovoltaik-Angebote sowohl für Geschäfts- als auch für Privatkunden zu ergänzen. Das neue B2C-Angebot war aus Verbund-Sicht auch insofern als Innovation zu werten, als es intensiv auf Digitaltechnologien (zB Online-Planner, Energiemonitoring-App etc) setzte und in puncto Ertragsmodell neben einer Kaufvariante auch verschiedene Mietoptionen vorsah. Um optimale Rahmenbedingungen für eine rasche Skalierung zu schaffen, sollte das B2C-Angebot daher in einer separaten Organisationeinheit entwickelt und unter einer eigenständigen Marke vertrieben werden.

4. Stellhebel

Im Zuge des Aufbaus von HalloSonne waren ua Entscheidungen in Bezug auf die organisatorische Anbindung, das Team, die Ziele sowie die Kultur des Start-ups zu treffen. Da nicht nur die einschlägige Literatur, sondern auch das Konzernmanagement diesen vier Stellhebeln eine besonders hohe Erfolgsrelevanz beimaß,9 werden sie in der Folge gemeinsam mit den dazu bei HalloSonne jeweils angestellten Umsetzungsüberlegungen vorgestellt.

4.1. Organisatorische Anbindung

Nachdem eine initiale Machbarkeits- und Wirtschaftlichkeitsanalyse positive Erfolgsaussichten anzeigte, war zu entscheiden, ob das Neugeschäft in einer bestehenden Konzerngesellschaft entwickelt werden sollte oder ob gleich zu Beginn eine Ausgründung erfolgt. Im Fall von HalloSonne entschied man sich für Letzteres.

Zwar haben interne Ventures den Vorteil, dass sich der Aufbau des Neugeschäfts durch den Transfer von Ressourcen und Know-how aus dem Stammhaus zunächst noch einfacher gestalten lässt. Auf der anderen Seite vergrößern sich durch die bei einer externen Entwicklung stärkere Abnabelung vom Stammhaus regelmäßig auch die Entscheidungs- und Handlungsspielräume der Manager, was sich positiv auf deren Wirksamkeitsempfinden und damit auch auf deren Motivation auswirken sollte. Damit sich dieser Effekt auch tatsächlich einstellt, bedarf es freilich von Anfang an transparenter und keinesfalls zu eng geschnürter Spielregeln in Bezug auf Governance-relevante Themen wie etwa Personalrekrutierung, Softwareeinsatz, Beschaffung, Buchhaltung etc.10

Letztlich wollte man durch die frühzeitige Ausgliederung von HalloSonne ein „Speedboot“ schaffen, welches nicht durch konzerninterne Bürokratien in seiner nach agilen Prinzipien erfolgenden Selbststeuerung und der damit angestrebten Erreichung einer möglichst kurzen Time-to-Market und anschließenden Skalierung behindert werden sollte.

Das über die Verbund Ventures GmbH (= CVCEinheit) bestehende hundertprozentige Beteiligungsausmaß sollte im Zuge künftiger Finanzierungsrunden auf bis zu 50 Prozent verwässert werden. Die spätere Hereinnahme strategischer

Investoren erschien insofern angezeigt, als empirischen Untersuchungen zufolge die durchschnittliche Wertsteigerung von Carve-out-Unternehmen, über die das ehemalige Mutterunternehmen keinen beherrschenden Einfluss mehr ausübt, im Schnitt signifikant höher ausfällt als von Carve-out-Unternehmen, die weiterhin durch das Mutterunternehmen beherrscht werden.11

Ambidextrie bzw. ambidextres Verhalten verfolgt gleichzei g Exploita on und Explora on, um kurz- und langfris g erfolgreich zu sein

Exploita on (Effizienz)

Explora on (Innova on)

Zielsetzung

Ve rhalten

Rahmen - bedingunge n

Aufgabe

kurzfris gen Kundenwunsch erfüllen

langfris gen Kundenwunsch erfüllen

Effi ziente & effek ve Abwicklung bestehender Produkte und Geschä e; inkrementelle Innova on

Effi zienz, geringes Risiko, Stabilität, hohe Qualität

KPIs & Maßstäbe Margen, Profi t, Produk vität, Kosten, Profit und Qualität

Strukturen & Prozesse

klare und formale Prozesse und Verantwortlichkeiten, Rou ne, mechanisch

Risikofreude, Geschwindigkeit, Flexibilität, Experimen eren

Suche, Verknüpfung, Meinungsbildung, krea ve Entwicklung neuer Produkte und Geschä e; radikale Innova on Kultur

Meilensteine, Wachstum, Erkenntnisse, Neuheitsgrad

ganzheitlich, anpassungsfähig, itera v, nicht-Rou ne, organisch

Mitarbeiter „Umsetzer“, Spezialisten Unternehmer, Generalisten Führungss l autoritär, top down visionär, involvierend

Abb 1: Ambidextrie12

HalloSonne ist ein vom Verbund nach einer knapp einjährigen Explorationsphase Anfang 2022 gegründetes Corporate Start-up, das Photovoltaik-Anlagen an Hausbesitzer vertreibt. HalloSonne bietet umfassende Beratungsleistungen und besorgt die Beschaffung der gesamten Hard- und Software. Im Sinne eines OneStop-Shops übernimmt das Unternehmen außerdem die Dach-Montage und kümmert sich schließlich auch noch um sämtliche Behördenwege (siehe Abb 2). Die Vision des Unternehmens lautet, es möglichst vielen Menschen zu ermöglichen, ihr Zuhause einfach und günstig mit Sonnenenergie zu versorgen und so einen Beitrag zu einer emissionsfreien Energiezukunft zu leisten.

Abb 2: HalloSonne13

131 Cases Stellhebel beim Aufbau von Corporate Start-ups Juli 2023

Abb

4.2. Team

Was die personelle Zusammensetzung des Startup-Teams betraf, entschied man sich im Fall von HalloSonne für eine ausgewogene Mischung aus erfahrenen Stammhausmanagern und extern rekrutierten Fach- und Führungskräften:14

❚ Die aus dem Konzern entsandten Manager sollten aufgrund ihrer guten konzerninternen Vernetzung eine reibungslose Zusammenarbeit mit anderen Konzerngesellschaften sicherstellen. Gleichzeitig sollten sie als Kulturbotschafter die im Konzern als zentral erachteten Werthaltungen und Verhaltensregeln in das neu gegründete Unternehmen einbringen, ohne dabei jedoch dessen Start-up-Mentalität zu untergraben. Nach erfolgreicher Markterprobung sollten sich die Stammhausmanager allerdings wieder aus dem Start-up zurückziehen und ihre Leitungsfunktionen an ein Follow-up-Team übergeben, um in der Folge auf Basis des beim Aufbau von HalloSonne gesammelten Know-hows weitere Company-Building-Projekte des Konzerns in beratender Funktion begleiten zu können.15

❚ In Bezug auf die von außen rekrutierten Manager achtete man vor allem auf EntrepreneurshipSkills (zB Kreativität, Umsetzungsorientierung, Risikobereitschaft etc), deren Vorhandensein bereits in vergleichbaren Start-up-Projekten unter Beweis gestellt werden konnte.16

Im Falle eines Verzichts auf eine Rekrutierung gründungserfahrener Manager hätten die dem Start-up-Team dann fehlenden EntrepreneurshipKompetenzen gegebenenfalls auch über eine Zusammenarbeit mit einem externen Company Builder eingebracht werden können17. Im Fall von HalloSonne war dies jedoch nicht notwendig.

Im Übrigen war man sich bei HalloSonne von Anfang an darüber einig, dass ein reibungsloser Transfer von Ressourcen und Know-how aus dem Stammhaus neben klaren Kommunikations-, Reporting- und Eskalationspfaden nicht zuletzt auch einer sichtbaren Unterstützung des Vorhabens durch das Topmanagement des Stammhauses bedurfte.18

Nach Klärung der gesellschaftsrechtlichen, personellen und sonstigen Rahmenbedingungen galt es in der Folge, mit der Führungsmannschaft des Start-ups einen ambitionierten – jedoch gleichzeitig auch realistischen – Zielkatalog zu vereinbaren und diesen in einen entsprechenden Business Plan überzuleiten.20

In strategischer Hinsicht stand zunächst die Erreichung von Wachstumszielen (zB Zugriffe auf die Homepage, durchgeführte Installationen, Mitarbeitereinstellungen etc) im Vordergrund, während Erfolgs- und Cashflowziele eher den Charakter von am Wachstumspfad einzuhaltenden Nebenbedingungen annahmen.21 Auf diese Weise sollte die für einen nachhaltigen Markterfolg als wesentlich erachtete kritische Größe möglichst rasch erreicht werden. Gleichzeitig wurde seitens der Konzernleitung von Anfang an klargestellt, dass die für das Wachstum notwendigen Investitionsmittel nur tranchenweise bei Inaussichtstellung einer positiven Geschäftsentwicklung zur Verfügung gestellt werden; hätte sich an den vereinbarten Meilensteinterminen abgezeichnet, dass der Erfolg nachhaltig ausbleiben wird, wäre das Start-up zügig abgewickelt worden, um keine weiteren Ressourcen zu verschwenden.22

Methodisch ging man bei HalloSonne in Bezug auf Zielformulierung und -umsetzung nach der OKR-Methode vor. OKR (Objectives Key Results) ist ein agiles Framework, welches die Unternehmensziele konsequent mit den Zielen und Aufgaben von Teams und einzelnen Mitarbeitern verbindet. Die Ziele werden im OKR-Prozess für einen Zeitraum von drei Monaten in Form von maximal drei handlungsanleitenden und inspirierenden Meilensteinen (Objectives) und den zur späteren Messung des Zielerreichungsgrads benötigten Schlüsselergebnissen (Key Results) definiert. Dabei kommen die Zielinhalte zu rd 40 Prozent top-down aus der Strategie und zu rd 60 Prozent bottom-up aus den operativen Bereichen selbst.

Am Ende eines OKR-Zyklus werden die Erkenntnisse und Erfahrungen aus den drei Monaten gezogen (Lessons Learned) und direkt in die Zielplanung des nächsten Zyklus eingebracht. Auf diese Weise entsteht eine kontinuierliche Lernschleife für die organische Weiterentwicklung des Unternehmens (siehe Abb 3).23

OKRs

Verbesserungen

Auf eine Incentivierung des Follow-up-Teams mittels gewinnabhängiger Vergütung wurde angesichts der in der Wachstumsphase nur zweitrangigen Erfolgsziele vorerst verzichtet.24 Allerdings erhielten die HalloSonne-Manager virtuelle KaufOptionen für Anteile an der Gesellschaft, welche sie nach Ablauf einer mehrjährigen Sperrfrist ausüben können.

132 Juli 2023 Cases Stellhebel beim Aufbau von Corporate Start-ups
Lernen
Wenngleich an dieser Stelle keine konkreten Performance-Kennzahlen veröffentlicht werden können, sei dennoch darauf hingewiesen, dass HalloSonne seine ambitionierten Ziele bis dato stets deutlich übertreffen konnte.25 Erfolg & Scheitern
3 Monate
3: OKR-Methode19
neue OKRs

Wenngleich sich eine gewünschte Unternehmenskultur nicht verordnen lässt, ist es dennoch wichtig, auch diesbezügliche Vorstellungen zu entwickeln, um deren Umsetzung in der Folge durch adäquate Führungsstile, Anreizsysteme und Arbeitsmethoden unterstützen zu können.26

Im Fall von HalloSonne verständigte man sich auf einige zentrale Kulturmerkmale, welche das Start-up auszeichnen sollten und deren Eckpunkte dementsprechend in einem Mission Statement schriftlich festgehalten wurden.

❚ Sinnstiftung: Jedes Unternehmen kann langfristig nur dann erfolgreich sein, wenn sich die Mitarbeiter mit dem Unternehmen identifizieren. Sie wollen wissen, wofür ihr Unternehmen steht und welchen tieferen Sinn ihre Arbeit hat. Sie wollen zu positiven Zielen beitragen, eigene Entscheidungen treffen und selbständig handeln. Daraus resultiert eine emotionale Bindung zum Unternehmen, aus der sich wiederum ein hohes Engagement der Mitarbeiter ableitet. Bei HalloSonne sehen sich die Mitarbeiter als Pioniere im Umstellungsprozess auf eine emissionsfreie und gleichzeitig leistbare Energie-Zukunft.27

Transparenz: Selbstorganisiertes und wertebasiertes Arbeiten setzen Vertrauen in die Motive und Kompetenzen der Mitarbeiter voraus. Ein solches Vertrauen wird sich aber nur dann einstellen, wenn die Mitarbeiter auf alle für ihre Arbeit relevanten Daten und Informationen zugreifen können. Bei HalloSonne wird eine hohe Transparenz ua durch gegenseitig einsehbare Terminkalender, weitreichende Zugriffsrechte im Dokumentenmanagementsystem, die interne Offenlegung aller Geschäftszahlen sowie regelmäßige Q&A-Sessions mit der Unternehmensleitung hergestellt.

❚ Feedback: Eine positive Feedbackkultur ermutigt dazu, hierarchie- und abteilungsübergreifend zu kommunizieren, Lob und Kritik frei zu äußern und Kollegen sowie Vorgesetzten fortlaufend zu spiegeln, wie ihr Verhalten auf andere wirkt. Nur häufige und stets die Sachebene betreffende Rückmeldungen, in deren Rahmen hervorragende Leistungen gewürdigt werden und die einen produktiven Umgang mit Fehlern gewährleisten, ermöglichen ein kollektives Lernen und die damit einhergehenden kontinuierlichen Verbesserungen.

❚ Kundenorientierung: Eine hohe Kundenorientierung beinhaltet die regelmäßige Erfassung und Analyse der Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen der Kunden sowie deren systematische Umsetzung. Bei HalloSonne wird Kundenorientierung ua durch erstklassige Produktqualität, exzellente Beratung, umfassende Serviceleistungen, ein professionelles Beschwerdemanagement sowie regelmäßige Kundenzufriedenheitsmessungen sichergestellt.

❚ Experimentierfreude und Veränderungsbereitschaft: Neue Technologien sowie veränderte Kundenanforderungen verlangen

von Unternehmen und damit auch von deren Mitarbeitern ein höheres Maß an Kreativität, Experimentierfreude und Veränderungsbereitschaft. Dies soll bei HalloSonne ua durch eine gezielte Rekrutierung von Querdenkern, einschlägige Trainingsangebote (zB Design Thinking, Lean Startup etc), die Anwendung des Konsentprinzips in Meetings, eine fehlertolerante Personalführung sowie die Einrichtung eines betrieblichen Vorschlagswesens erreicht werden.

❚ Servant Leadership: Eine erfolgreiche Personalführung zielt darauf ab, die Mitarbeiter auf die Unternehmensziele hin auszurichten und optimale Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, damit diese ihr volles Leistungspotenzial entfalten und so ihre Aufgaben weitestgehend selbstorganisiert erledigen können. Zu diesem Zweck wurden bei HalloSonne in Anlehnung an das Konzept des Servant Leadership zentrale Führungsgrundsätze entwickelt, denen zufolge die Führungskräfte verstärkt als Coaches und Sparringpartner ihrer Mitarbeiter agieren sollen. In dieser Rolle vereinbaren sie smarte Ziele mit ihren Mitarbeitern, beseitigen Hindernisse am Weg zur Zielerreichung, geben Feedback zu erbrachten Leistungen und leben notwendige Veränderungen selbst vor.28

Auf den Punkt gebracht

Corporate Start-ups eröffnen Traditionsunternehmen eine zusätzliche Chance, in einem zunehmend volatilen Umfeld zu innovieren. Im Fall von HalloSonne hat sich gezeigt, dass die durch eine Ausgliederung erreichbare personelle, räumliche und organisatorische Trennung vom Mutterkonzern hilfreich sein kann, um neue Geschäftsmodelle mit der erforderlichen Geschwindigkeit und Agilität vorantreiben und umsetzen zu können. Gleichzeitig bietet die Mischung aus Konzernumfeld und Start-up-Kultur beiden Unternehmen die Möglichkeit, voneinander zu lernen und von den gegenseitigen Vorteilen zu profitieren.29

Dabei können Aufbau und Skalierung eines Corporate Start-ups – auch in Anbetracht jeweils individueller Rahmenbedingungen (zB in Bezug auf Branche, Synergiepotenziale, Innovationsgrad etc) – zweifellos auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen.30 Denn auch hier gilt der Grundsatz: „Viele Wege führen nach Rom.“ Wenngleich somit kein Patentrezept existiert, so können auf der Grundlage von Erfahrungswissen sowie mit Blick in die Literatur dennoch einige zentrale Stellschrauben identifiziert werden, die den Erfolg eines Corporate Start-ups mit einiger Wahrscheinlichkeit begünstigen. Diese am praktischen Beispiel von HalloSonne in möglichst kompakter Form darzustellen, war das Ziel des vorliegenden Beitrags.

133 Cases Stellhebel beim Aufbau von Corporate Start-ups Juli 2023
4.4. Kultur

Anmerkungen

1 Hajizadeh-Alamdary/Kuckertz, Corporate Entrepreneurship als neues Unternehmertum? Warum große Unternehmen externe Innovationsimpulse suchen und sich mit kleinen Start-ups vernetzen, in Keuper/Schomann (Hrsg), Entrepreneurship heute -- unternehmerisches Denken angesichts der Herausforderungen einer vernetzten Wirtschaft (2015) 4 (6 f); Kötting/Kuckertz, Innovationsförderung durch Corporate Venturing, Ideen- und Innovationsmanagement 2018, 4 (4).

2 Gutmann/Maisch, Corporate-Venturing-Praktiken im Intrapreneurship und das Potenzial von Corporate Venture Buildern, in Kraus/Kreitenweis/Jeraj (Hrsg), Intrapreneurship (2022) 109 (110).

3 Gutmann/Maisch in Kraus/Kreitenweis/Jeraj 109 (122); Baurek-Karlic, Technologie, Wirtschaft, Innovation. Von der Digitalstrategie zu Corporate Venturing, CFO aktuell 2016, 132 (132); Eichen/Mack Thomas/Matzler, Die Power von Start-ups nutzen, Harvard Business Manager 2018, 34 (34).

4 Gruber/Henkel, Corporate Venturing, in Albers/Gassmann (Hrsg), Handbuch Technologie- und Innovationsmanagement (2005) 137 (140 f); Emran, Corporate Startups: Modeerscheinung oder Zukunftsmodell? https:// www.einstein1.net/corporate-startups/#:~:text=Der%20 gro%C3%9Fe%20Vorteil%20f%C3%BCr%20Corporate, f%C3%BCr%20ein%20Corporate%20Startup%20verbun den. (Zugriff zuletzt am 21. 5. 2023).

5 Ziegler, Corporate Startups: Unternehmensinterner Nährboden für digitale Geschäftsmodelle – dargestellt am Beispiel der Last Mile Lösung pakadoo, in Proff/Fojcik (Hrsg), Mobilität und digitale Transformation (2018) 393 (398); Staeritz, Evolution durch Corporate Venture Building, in Weber/Elz (Hrsg), Corporate-Startup-Partnerschaften1 (2022) 159 (167); Emran, Corporate Startups: Modeerscheinung oder Zukunftsmodell? https:// www.einstein1.net/corporate-startups/#:~:text=Der%20 gro%C3%9Fe%20Vorteil%20f%C3%BCr%20Corporate, f%C3%BCr%20ein%20Corporate%20Startup%20verbun den. (Zugriff zuletzt am 21. 5. 2023).

6 Hühne, Studie: Corporate-Startup-Partnerschaften verschenken viel Potenzial, https://www.mckinsey.de/news/ presse/studie-zu-corporate-startup-partnerschaften-indeutschland-2020zial (Zugriff zuletzt am 21. 5. 2023).

7 Gutmann/Maisch in Kraus/Kreitenweis/Jeraj 109 (111).

8 Olivan/Schimpf, Ambidextre Organisation als Stellhebel zur erfolgreichen Entwicklung radikaler Innovationen, Ideen- und Innovationsmanagement 2018, 112 (112 ff).

9 Stellvertretend für eine Vielzahl an Studien, welche sich mit Erfolgsfaktoren für Start-Ups auseinandersetzen, sei hier auf Santisteban/Mauricio, Systematic literature review of critical success factors of Information Technology startups, Academy of Entrepreneurship Journal 2017, 1 (1 ff) verwiesen.

10 Ziegler in Proff/Fojcik 393 (397); Emran, Corporate Startups: Modeerscheinung oder Zukunftsmodell? https:// www.einstein1.net/corporate-startups/#:~:text=Der%20 gro%C3%9Fe%20Vorteil%20f%C3%BCr%20Corporate, f%C3%BCr%20ein%20Corporate%20Startup%20verbun den. (Zugriff zuletzt am 21. 5. 2023).

11 Pfennig/Busch, Erfolgsfaktoren für Carve-outs, Controlling & Management Review 2021, 44 (46).

12 Olivan/Schimpf, Ideen- und Innovationsmanagement 2018, 112 (113).

13 Siehe https://www.hallosonne.com/ (Zugriff zuletzt am 30. 4. 2023).

14 Borchers, Zehn Jahre Corporate-Startup-Kollaboration, in Weber/Elz (Hrsg), Corporate-Startup-Partnerschaften1 (2022) 119 (122); Gruber/Henkel in Albers/Gassmann 137 (145).

15 Peter, Corporate Company Builder, Wirtschaftsinformatik & Management 2018, 68 (68 ff).

16 Schneider, Chemovator: Von der Idee zum Unternehmen in nur zwei Jahren., Ideen- und Innovationsmanagement 2021, 99 (101).

17 Gutmann/Maisch in Kraus/Kreitenweis/Jeraj 109 (120); Dieckmann/Janner/Hinze/Haß/Grube, Inkubatoren und Acceleratoren – Mehr als nur Wachstumskapital, in Hoppe (Hrsg), Praxishandbuch Finanzierung von Innovationen (2021) 53 (60).

18 Gutmann/Maisch in Kraus/Kreitenweis/Jeraj 109 (126); Staeritz in Weber/Elz1 159 (170); Borchers in Weber/Elz1 119 (131); Gruber/Henkel in Albers/Gassmann 137 (145 f); Kötting/Kuckertz, Ideen- und Innovationsmanagement 2018, 4 (7); Haberstock, Corporate Venturing als Antwort auf disruptive Innovationen im Mittelstand, Ideen- und Innovationsmanagement 2016, 72 (78); Haas, Corporate Startups: Darauf müssen Gründerunternehmen achten, https://www.trendingtopics.eu/corporate-startups-darauf -muessen-gruenderunternehmen-achten/ (Zugriff zuletzt am 21. 5. 2023).

19 Siehe https://murakamy.com/okr (Zugriff zuletzt am 31. 5. 2023).

20 Borchers in Weber/Elz1 119 (122).

21 Hajizadeh-Alamdary/Kuckertz in Keuper/Schomann 4 (12); Gruber/Henkel in Albers/Gassmann 137 (147); Haberstock, Ideen- und Innovationsmanagement 2016, 72 (78).

22 Ziegler in Proff/Fojcik 393 (398); Kötting/Kuckertz, Ideen- und Innovationsmanagement 2018, 4 (8); Sedlacek, Wie Mittelständer zukunftssicher werden, https://www. computerwoche.de/a/wie-mittelstaendler-zukunftssicherwerden,3548417 (Zugriff zuletzt am 21. 5. 2023).

23 Artz/Döring, OKRs im deutschen Mittelstand, Controlling & Management Review 223, 18 (18 ff); Alberti, Wie die Einführung von OKRs gelingt, Controlling & Management Review 2023, 28 (28 ff).

24 Haas, Corporate Startups: Darauf müssen Gründerunternehmen achten, https://www.trendingtopics.eu/corporatestartups-darauf-muessen-gruenderunternehmen-achten/ (Zugriff zuletzt am 21. 5. 2023).

25 Daraus darf freilich nicht der Schluss gezogen werden, dass der Aufbau und die Skalierung von HalloSonne stets friktionsfrei und ohne jegliche Probleme erfolgte.

26 Haberstock, Ideen- und Innovationsmanagement 2016, 72 (78).

27 Gutmann/Maisch in Kraus/Kreitenweis/Jeraj 109 (126).

28 Rawitzer, Servant Leadership: der dienende Führungsansatz als Erfolgsfaktor, Zeitschrift Führung + Organisation 2022, 387 (387 ff.).

29 Ziegler in Proff/Fojcik 393 (402 f).

30 Hühne, Studie: Corporate-Startup-Partnerschaften verschenken viel Potenzial, https://www.mckinsey.de/news/ presse/studie-zu-corporate-startup-partnerschaften-indeutschland-2020zial (Zugriff zuletzt am 21. 5. 2023).

134 Juli 2023 Cases Stellhebel beim Aufbau von Corporate Start-ups

Empathische Führung

Fühlen als Führungskompetenz

Christine Hoffmann

Empathische Führungskräfte leisten einen enormen Beitrag zum Unternehmenserfolg. Was unter empathischer Führung zu verstehen ist, welche ökonomischen Vorteile mit diesem Führungsstil einhergehen und wie Führungskräfte empathisch Kündigungen aussprechen können, wird im folgenden Beitrag erläutert.

1. Empathie

Empathie kann vereinfacht als Einfühlungsvermögen beschrieben werden. Es beinhaltet die Fähigkeit, die Emotionen anderer Menschen nachzufühlen und sich in ihre Situation und Gedankenwelt hineinversetzen zu können. Menschen, die als empathisch beschrieben werden, zeichnen sich allerdings nicht nur durch Mitgefühl und Perspektivenübernahmefähigkeit aus. Sie reagieren zudem auf die Gefühle ihrer Gegenüber auf eine Weise, die als angemessen bewertet wird, beispielsweise indem sie ein unterstützendes Gespräch beginnen. Empathie geht demnach über Mitleid und Mitgefühl hinaus, da empathische Menschen nicht nur Verständnis und Bedauern für die Umstände ihrer Mitmenschen empfinden, sondern auch danach streben, das Wohlbefinden anderer zu verbessern

1.1. Emotionale und kognitive Empathie

Empathie vereint emotionale und kognitive Kompetenzen 1

Die emotionale Komponente kann wie eine Ansteckung der Emotionen verstanden werden. Wenn ein Kollege aufgrund einer Kündigung traurig ist, verspüren emotional empathische Menschen Traurigkeit in sich. Wenn eine Kollegin nach einer erfolgreichen Präsentation Erleichterung empfindet, freuen sich emotional empathische Personen mit. Durch dieses Mitfühlen sind empathische Menschen in der Lage, emotionale Verbindungen mit anderen Personen herzustellen.

Die kognitive Komponente konzentriert sich auf die Fähigkeit der Perspektivenübernahme Kognitiv empathische Menschen wissen, dass sich Menschen nach einer Kündigung meist traurig fühlen bzw ein erfolgreicher Vortrag Erleichterung und Stolz hervorruft. Sie können sich vorstellen, welche Gefühlsregungen ihre Mitmenschen spüren, ohne mitzufühlen.

1.2. Gegenspieler von Empathie

Nicht alle Menschen, die sich in andere Personen einfühlen können, nutzen diese Fähigkeit, um das Wohlbefinden anderer positiv zu beeinflussen.

Der spanische Psychiater Luis de Rivera prägte den Begriff der Ekpathie als Gegenspieler der Empathie. Ekpathie steht dafür, die Gefühle, Einstellungen und Gedanken anderer aktiv auszublenden.

Ekpathie gilt als eine Form des Selbstschutzes, um eine „emotionale Überflutung“ zu verhindern. Menschen mit ausgeprägter kognitiver Empathie und wenig Mitgefühl nutzen ihr Wissen manchmal auch, um andere zu manipulieren. Kevin Dutton, britischer Psychologe und Professor an der Oxford-University, sorgte 2012 mit der Aussage für Aufregung, dass Führungskräfte und Serienkiller über ein ähnliches Mindset verfügen. Der Forscher beschäftigt sich intensiv mit Psychopathie, einer Persönlichkeitsstörung, bei der Betroffene sich äußerst manipulativ und skrupellos verhalten. Auf den ersten Blick sind psychopathische Menschen charmant. Sie verstehen es, oberflächliche Beziehungen einzugehen. Doch es mangelt ihnen an emotionaler Empathie und „moralischen Bremsen“. Sie scheuen nicht davor, andere Menschen zu verletzen, um ihre Ziele zu erreichen. In der Great British Psychopath Survey2 untersuchte Kevin Dutton verschiedene Berufsgruppen hinsichtlich psychopathischer Eigenschaften. Die höchste Rate an Psychopathen fand er unter CEOs. Der Wissenschaftlicher beschreibt Psychopathie als Karrierebeschleuniger. Selbstbewusstsein, Skrupellosigkeit, Freude an der Macht, das Fehlen von Ängstlichkeit, Stärke unter Stress und die Fähigkeit, Widersacher zu manipulieren, zeichne Mafia- und Firmenbosse aus.

2. Empathie als Führungskompetenz

Empathische Führung ist ein Führungsstil, bei dem der Fokus auf einer unterstützenden Beziehungsgestaltung liegt. Durch Verständnis für die Mitarbeitenden und ihre individuellen Herausforderungen wird eine positive Arbeitsumgebung geschaffen. Empathische Führungskräfte reagieren einfühlsam auf die Gefühle, Bedürfnisse und Perspektiven der Teammitglieder. Sie hören aktiv zu, ermutigen offenen Dialog und schaffen Vertrauen Empathische Führungskräfte unterstützen Mitarbeitende in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung. Sie erkennen, dass erfolgreiche Mitarbeitende ihre individuellen Ziele im Einklang mit den Unternehmenszielen erreichen können. Empathische Führungskräfte fördern selbstbestimmte Motivation, indem sie die Grundbedürfnisse nach Kompetenzerleben, Autonomie und sozialer Eingebundenheit berücksichtigen.3

❚ Dem Bedürfnis nach Kompetenzerleben liegt zu Grunde, dass Menschen Herausforderungen wirksam und mit eigener Kraft erfolgreich bewältigen wollen. Empathische Führungskräfte fördern Kompetenzerleben, indem sie Verantwortung übertragen, stärkenfokussiertes Feedback geben und Erfolge beleuchten.

❚ Das Bedürfnis nach Autonomie besagt, dass Menschen in ihrer Individualität wahrgenommen werden und selbstbestimmt handeln wollen. Empathische Führungskräfte nehmen die

135 Blick über den Gartenzaun Empathische Führung Juli 2023
Mag. Christine Hoffmann ist Executive Coach, Didaktik Expertin und Arbeitspsychologin in Wien: www.christinehoffmann.at.

Ziele ihrer Mitarbeitenden wichtig und ermöglichen Mitgestaltung.

❚ Das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit spiegelt das Bestreben nach erfüllenden Sozialkontakten wider. Für das Wohlbefinden ist es, auch in der Arbeit, von besonderer Bedeutung, sich angenommen und akzeptiert zu fühlen. Empathische Führungskräfte kennen die Wichtigkeit dieses Faktors und sehen es als ihre Aufgabe, authentische Beziehungen zu ihren Mitarbeitenden aufzubauen und die Beziehungsqualität im Team zu fördern.

2.1. Aktualität und Relevanz

Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten Jahren komplett gewandelt.

Bis vor kurzem galt in den meisten Unternehmen: Wer zahlt, schafft an und wer eingestellt wurde, kann auch ausgestellt werden. Führungskräfte zeichneten sich häufig durch Autorität aus. Mitarbeitende mussten sich ihren Vorgesetzten anpassen, sonst konnten sie gehen. Die Reihe der neuen Bewerberinnen und Bewerber war lang. Mittlerweile ist von einem Arbeitnehmermarkt die Rede. Dies bedeutet, dass es nicht ausreichend qualifizierte Menschen für die offenen Stellen gibt. Personen auf Jobsuche haben eine große Auswahl an geeigneten Positionen zur Verfügung und haben somit eine stärkere Verhandlungsposition. Vereinfacht betrachtet, bedeutet dies, dass sich Unternehmen derzeit mehr bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bewerben als umgekehrt. Das Ringen um Talente am Markt hat dazu geführt, dass die Anforderungen an Führungskräfte enorm gestiegen sind.

Idealerweise schaffen sie es bereits während des Bewerbungsprozesses, Kandidatinnen und Kandidaten an sich und das Unternehmen zu binden. Führungskräfte werden in der heutigen Zeit zudem daran gemessen, wie gut es ihnen gelingt, wertvolle Mitarbeitende zu halten. Unternehmen setzen daher mehr denn je auf empathische Führungsqualitäten.

2.2. Ökonomische Vorteile

Empathie ist entscheidend für psychologische Sicherheit. Führungskräfte, die verständnisvoll mit den Herausforderungen und Fehlern ihrer Teammitglieder umgehen, ermutigen diese dazu, sich mehr einzubringen und innovative Ideen auszutauschen. Studien belegen, dass psychologische Sicherheit zu mehr Innovation und Produktivität führt.4 Zudem erhöht empathische Führung die Mitarbeiterbindung. Mitarbeitende sind eher geneigt, langfristig im Unternehmen zu bleiben, wenn sie sich unterstützt fühlen, was wiederum die Kosten für Rekrutierung und Einarbeitung von neuen Mitarbeitenden reduziert. Empathische Führung trägt zur Konfliktprävention bei, so dass die Produktivität seltener durch zeitraubende Konflikte beeinträchtigt wird.5 Unternehmen, die Empathie als zentralen Wert pflegen, ziehen talentierte Mitarbeitende an, fördern effektive Zusammenarbeit und schaffen eine Umgebung, in der Mitarbeitende ihr volles Potenzial entfalten können.

Unternehmen, wie Microsoft, haben bereits vor zehn Jahren den Wert von Empathie erkannt. Claudia Hartwich, die deutsche Personalchefin von Microsoft, berichtet von hochqualifizierten Talenten, die sich aufgrund des empathischen Rufes des Unternehmens für Microsoft entscheiden. Empathie hat die Anziehungskraft des Unternehmens erhöht und in Zeiten von Fachkräftemangel einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gebracht. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Mitarbeitende, die empathisch geführt werden, sich häufiger wertgeschätzt und verstanden fühlen und so motivierter sind, ihr Bestes zu geben. Empathische Führung ist ein wichtiger Faktor für Unternehmenserfolg

3. Mögliche Nachteile von empathischer Führung

Obwohl empathische Führung weitreichende positive Auswirkungen hat, kann es auch zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen.

3.1. Emotionale Erschöpfung

Empathische Führung erfordert Zeit und ein hohes Ausmaß an emotionaler Investition, um Beziehungen aufzubauen, Feedback zu geben und individuelle Bedürfnisse zu berücksichtigen. Die meisten Führungskräfte haben nicht ausreichend Ressourcen, um diese zusätzlichen Anforderungen zu bewältigen. Überlastung ist häufig die Folge.

3.2. Qualitätsminderung von Entscheidungen

Empathische Führungskräfte legen Wert auf die Berücksichtigung der Meinungen aller Mitarbeitenden. Dies kann zur Verlangsamung von Entscheidungsprozessen führen. Empathie kann zudem die Objektivität von Führungskräften beeinträchtigen und zur Vermeidung von unangenehmen Entscheidungen führen.

Empathischen Führungskräften fällt es teilweise schwer, klare Grenzen zu setzen und notwendige Maßnahmen zu ergreifen, wenn es um Leistungsprobleme, Disziplinarmaßnahmen oder Konflikte am Arbeitsplatz geht.

3.3. Diskriminierung

Menschen fällt es leichter, sich in Personen einzufühlen, die ihnen ähnlich sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Führungskräfte denjenigen Mitarbeitenden, die ihnen weniger ähnlich sind, weniger einfühlsam begegnen. Unbewusst selektiv verteilte Empathie kann Ungleichbehandlung fördern.6 Empathie kann auch anfällig für Manipulation machen. Manipulative Mitarbeitende appellieren an das Einfühlungsvermögen ihrer Führungskraft, um sich gezielt Vorteile zu verschaffen.

4. Erfolgreiche empathische Führung

Empathische Führung ist ein fordernder Balance-Akt. Um erfolgreich zu führen, müssen Führungskräfte laufend zwischen Nähe und Distanz hin- und herpendeln. Sie brauchen Nähe zu ihren Mitarbeitenden, um gute Arbeitsbeziehungen mit jedem einzelnen zu leben und das Wir-Gefühl im Team zu fördern. Diese Nähe ist entscheidend für

136 Juli 2023 Blick über den Gartenzaun Empathische Führung

Motivation, Arbeitszufriedenheit und Bindung der Mitarbeitenden.

Hierfür ist Empathie von enormer Bedeutung. Gleichzeitig brauchen Führungskräfte Distanz. Sie sind nicht nur für die Führung ihrer Mitarbeitenden verantwortlich, sondern auch für ihre Selbstführung und die Führung des Unternehmens. Um sich selbst führen zu können, brauchen Führungskräfte ausreichend Raum für Selbstreflexion. Ebenso benötigen sie Distanz, um komplexitätsreduzierende Entscheidungen im Sinne der Unternehmensziele zu treffen. Führen als Balance-Akt bezieht sich nicht auf das Finden einer mittleren Ideallinie. Wenn Nähe und Distanz als Gegenpole betrachtet werden würden, wäre das gleichbedeutend damit, dass Führungskräfte weder nah noch auf Distanz agieren würden.

Vielmehr geht es darum, beides im Wechsel zu leben. In Gesprächen nah bei den Mitarbeitenden zu sein und sich dann Orte und Räume zu schaffen, wo der Blick von außen möglich wird.

4.1. Empathische Gesprächsführung

Der größte Irrglaube, der über emphatischer Führung kursiert, besteht darin, dass empathische Führungskräfte ihren Mitarbeitenden jeden Wunsch von den Augen ablesen und all ihren Anliegen Verständnis entgegenbringen müssen. Doch: Empathische Führung ist kein „Kuschelkurs“

Emphatische Führung kann anspruchsvoll und fordernd sein, da das Ziel darin besteht, die bestmögliche Leistung der Mitarbeitenden zu fördern. Erfolgreiche Führungskräfte sind nicht nur empathisch, sondern agieren auch mit einem ausgeprägten Lösungsfokus. Sie schaffen es, sich nicht in den „Problemsumpf“ ihrer Mitarbeitenden hineinziehen zu lassen, sondern tragen dazu bei, dass sich ihre Mitarbeitenden auf Ziele ausrichten und konkrete Schritte in die erwünschte Richtung setzen. Im Folgenden finden Sie einigen Tipps für die Führung von Gesprächen mit problembelasteten

Mitarbeitenden:

❚ Schenken Sie Ihren Mitarbeitenden Ihre volle Aufmerksamkeit, wenn diese sich mit einem Problem an Sie wenden.

❚ Zeigen Sie Verständnis und erkennen Sie die Problemschwere an. Floskeln wie „Das ist doch nicht so schlimm.“ oder „Stell dich nicht so an.“ führen dazu, dass Mitarbeitende das Bedürfnis haben, nochmals erklären zu müssen, warum ihre Situation sehr wohl ein ernstes Problem darstellt. In der Suche nach guten Erklärungen, werden Menschen zumeist weitere Gründe für die Problemschwere bewusst. Gut gemeinte Beschwichtigungen führen daher zumeist zu einem größeren Problembewusstsein. Hingegen können Sätze hilfreich sein wie „Das klingt, als wäre es schwierig für dich.“ oder „Ich nehme wahr, wie unzufrieden du damit bist.“

❚ Unterstützen Sie Mitarbeitende dabei, Probleme in Ziele zu verwandeln. Wenn sich ein Mitarbeiter bei Ihnen beschwert, dass er zu viele Überstunden machen muss (Problem), können Sie ihn auffordern, bis zur nächsten Besprechung mehrere Ideen zu sammeln, wie er

künftig häufiger pünktlich Feierabend machen kann (Ziel). Wenn Ihnen eine Mitarbeiterin erzählt, dass sie sich nicht wohl im Team fühlt (Problem), können Sie sie fragen, ob sie die Beziehungen zu ihren Teammitgliedern verbessern möchte (Ziel). Schon allein die Umformulierung hilft, aus der negativen Haltung heraus in ein Bewusstsein von Gestaltungsmöglichkeiten zu kommen. Wichtig ist in diesem Schritt zudem, dass Sie nicht als alleiniger Problemlöser fungieren, sondern Ihren Mitarbeitenden zumindest eine Teil-Verantwortung für die erwünschten Veränderungen übergeben.

4.2. Empathisch kündigen Natürlich müssen empathische Führungskräfte auch enttäuschende und negative Nachrichten überbringen. Ihre Aufgabe ist es nicht nur, die Menschen zu führen, sondern auch die Unternehmensziele im Fokus zu haben. Wenn die Möglichkeiten der Unterstützung ausgeschöpft sind und die erbrachten Leistungen trotz klarer Kommunikation, Trainings oder neuer Aufgabenverteilung hinter den Anforderungen zurückfallen, ist es wichtig, dies anzuerkennen und die Trennung einzuleiten. Empathische Führung zeigt sich im Wie der Kommunikation. Führungskräfte sollen klar artikulieren, dass die Entscheidung, sich zu trennen, die richtige für das Unternehmen ist, und gleichzeitig Verständnis für die Situation und emotionale Reaktion ihres Gegenübers zeigen.

5. Implikationen für Unternehmen Ein empathischer Führungsstil hat weitreichend positive Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg. Was müssen Unternehmen beachten, wenn sie künftig vermehrt auf empathisches Führen setzen wollen?

Empathische Führung muss trainiert werden. Niemand wird mit empathischen Führungskompetenzen geboren. Obwohl einige Menschen von Natur aus empathischer sind als andere, kann jeder Mensch empathische Führung erlernen und seine entsprechenden Fähigkeiten ausbauen. Unternehmen sollten Weiterbildungen anbieten, in denen Führungskräfte einerseits ihr psychologisches Wissen erweitern und andererseits empathische Gesprächsführung üben.

Empathische Führung braucht Zeit.

Empathisches Führen geht nicht nebenher. Es verlangt volle Aufmerksamkeit und freie Zeitfenster. Work Load und Teamgröße müssen entsprechend reduziert werden.

Empathische Führung braucht regelmäßige Reflexion.

Führungskräfte führen sich selbst, ihre Mitarbeitenden und das Unternehmen. Hierfür müssen sie laufend zwischen Nähe und Distanz sowie zwischen Verständnis und Lösungsfokussierung hinund herpendeln. Regelmäßiges Executive Coaching hilft, diesen Balance-Akt zu bewerkstelligen.

Zusammengefasst lässt sich sagen: Empathische Führung erfordert Übung, Zeit und kontinuierliche Selbstreflexion. Unternehmen, die

137 Blick über den Gartenzaun Empathische Führung Juli 2023

langfristig wettbewerbsfähig bleiben wollen, sollten all diese Erfolgsfaktoren verwirklichen.

Anmerkungen

1 Shamay-Tsoory et al, Two systems for empathy: a double dissociation between emotional and cognitive empathy in inferior frontal gyrus versus ventromedial prefrontal lesions. Brain 2009/3, 617 ff.

2 Dutton, The wisdom of psychopaths: What saints, spies, and serial killers can teach us about success (2012).

Praxisforum

3 Deci/Ryan, Handbook of self-determination research (2002).

4 Edmundson, Die angstfreie Organisation: Wie Sie psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz für mehr Entwicklung, Lernen und Innovation schaffen (2020).

5 Holt/Marques, Empathy in Leadership: Appropriate or Misplaced? An Empirical Study on a Topic that is Asking for Attention. Journal of Business Ethics 2011/105 (1) 95 ff.

6 Bloom, Against Empathy: The Case for Rational Compassion (2018).

Steuerkontroll­

system (SKS)

Qualitätssteigerung durch die erfolgreiche Implementierung eines Tax Compliance Management-Systems

• Compliance-Systeme: Modelle in der Zusammenarbeit Unternehmen –Finanzverwaltung

• Motive und Beweggründe für die Implementierung

• Finanzstrafrechtliches Schutzschild

• SKS und Nachhaltigkeitsberichterstattung (ESG-Reporting)

• „Minimumstandard“ eines SKS laut SKS-Prüfverordnung

• Anforderungen der Finanzverwaltung, alternativer Prüfungsansatz

• Best Practice: Implementierung eines SKS in der Praxis

• Digitale Umsetzung eines SKS

• Die projektbegleitende Begutachtung – Sinn & Nutzen

Moderation & fachliche Leitung

Andreas Helnwein | Norbert Schrottmeyer

Vortragende

Rainer Brandl | Claudia Czap | Mario Felice | Andreas Helnwein | Simon Hofstätter |

Kirstin Krippner | Mario Liebentritt | Roland Macho | Norbert Schrottmeyer |

Gerhard Wandl | Peter Wohlgemuth | Michael Zeppelzauer

138 Juli 2023 Blick über den Gartenzaun Empathische Führung
Wien lindecampus.at 9:00–16:45 20.9.2023

Stagflation statt Rezession

Ein aktueller Ausblick für die österreichische Volkswirtschaft

Die österreichische Wirtschaft befindet sich in Stagflation. Stagnierende Wachstumsraten, massive Teuerung und stark gestiegenes Zinsniveau stellen insbesondere für Industrie und Bauwirtschaft eine Herausforderung dar. Nichtsdestotrotz sind die Rezessionsrisiken begrenzt und die Chancen voll intakt.

1. Jähes Ende eines starken Aufschwungs Rückblickend war das Jahr 2022 in Österreich von einem starken Wachstumsimpuls gekennzeichnet. Besonders in der ersten Jahreshälfte, nach Lockerung der pandemiebedingten Einschränkungen, konnte ein spürbarer Anstieg der wirtschaftlichen Aktivität, begleitet von einer Erholung des Tourismussektors, beobachtet werden. Das BIP stieg in Österreich 2022 real um 4,9 % (nach +4,6 % in 2021) und damit mit der stärksten Wachstumsrate seit dem EU-Beitritt 1995.1 Seit Jahresmitte 2022 stagniert die Wirtschaftsleistung auf hohem Niveau. Mit ein Grund für die Stagnation ist die insbesondere im zweiten Halbjahr 2022 massiv spürbare Teuerung, die – anders als bei früheren Inflationsanstiegen – nicht vorwiegend das Ergebnis einer starken Erhöung der volkswirtschaftlichen Nachfrage war. Zentrale Auslöser waren angebotsseitig zu identifizieren. Dabei waren die stark angestiegenen Energiepreise nur ein Verursacher. Die persistenten Unsicherheiten in den Lieferketten und die geopolitischen Risiken trugen genauso zum Anstieg der Erzeugerpreise bei wie die angespannte Situation am Arbeitsmarkt.

Die teils massiven Anstiege in den Verbraucherpreisen kamen 2022 beim Konsumenten an: Mit einer Inflationsrate von 8,6 % für das Gesamtjahr

2022 wurde ein Höchststand erreicht. Die damit einhergehenden Kostenanstiege und Kaufkrafteinbußen sorgten im letzten Quartal 2022 für einen leichten Rückgang der realen Wirtschaftsleistung (–0,1 % Quartalswachstum in Q4/2022). Entgegen den Befürchtungen setzte sich – im Gegensatz zu Deutschland – diese Abwärtsbewegung im ersten Quartal 2023 nicht fort (+0,1 % Quartalswachstum in Q1/2023),2 es zeigt sich jedoch ein sehr gedämpftes konjunkturelles Bild. Gerade auch die international schwache Wirtschaftsdynamik führte in Österreich zu einem starken Rückgang der Warenexporte, und damit insbesondere zu einer Abschwächung im verarbeitenden Gewerbe.

2. Energiepreise und Stagflation

Der theoretische Begriff „Stagflation“ – einer Kombination aus hohen Inflationsraten und stagnierenden Wirtschaftswachstum – wurde Ende 2022 zur Realität und wird in 2023 auch noch fortbestehen. Denn der Rückgang der Energiepreise, der an den Märkten bereits deutlich bemerkbar stattgefunden hat, kommt nur sehr verzögert bei den Haushalten an, wie der folgende Vergleich der Strompreisentwicklung an den Energiebörsen mit dem für den Endverbraucher relevanten Index, den österreichischen Strompreisindex (ÖSPI), zeigt: Es dauert also, bis die günstigeren Energiepreise bei den Kunden ihre Wirkung entfalten. Deshalb war das erste Halbjahr 2023 noch geprägt von hohen Energiekosten und einem vergleichsweise geringen Lohnwachstum, was die Wachstumsdynamik in H1/2023 negativ beeinflusste. Die Daten deuten jedoch ganz klar darauf hin, dass die

139 Blick über den Gartenzaun Stagflation statt Rezession Juli 2023
Prof. (FH) Dr. Stefan Fink ist Chief Economist bei KPMG in Österreich und Professor für Finanz- und Risikomanagement an der FH OÖ, Campus Steyr.
0 500 1000 1500 2000 2500 31.12.2019 18.07.2020 03.02.2021 22.08.2021 10.03.202226.09.202214.04.2023
Abb 1: Vergleich Strompreis Österreich: Börsenpreis vs. ÖSPI (12/2019 = 100)3
EXAA Austria Day Ahead Baseload Electricity Spot Price ÖSPI
Strompreis: Börsenpreis vs ÖSPI (12/2019 = 100)

Abb 2: Vergleich Einkaufsmanagerindizes AT, DE und Eurozone5

Hinweis: Werte unter 50 deuten auf einen Rückgang der Produktionstätigkeit, Werte über 50 auf eine expansive Produktion hin.

Preisrückgänge auf den Energiemärkten bei den Verbrauchern ankommen werden.

Diese Erleichterungen werden die generelle Teuerung reduzieren, auch wenn die Kerninflation (Verbraucherpreisinflation ohne Nahrungsmittel und Energie) über Zweitrundeneffekte hoch bleiben wird. Gemeinsam mit einer Beschleunigung des Reallohnwachstums, das zum Teil auf staatliche Maßnahmen zur Abmilderung der Energiepreisanstiege zurückzuführen ist, kann dies zu einem Wiederanstieg des privaten Verbrauchs führen, welcher mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung ausmacht.

Nichtsdestotrotz deuten die aktuellen Frühindikatoren nicht auf eine rasche Belebung hin, insbesondere die Industrie hat stimmungstechnisch zu kämpfen. Die Einkaufsmanagerindizes im verarbeitenden Gewerbe deuten in den letztverfügbaren Daten (Juni 2023) auf einen spürbaren Rückgang der Produktionstätigkeit hin – hier zeigt sich in Österreich und Deutschland, wie auch in der gesamten Eurozone, ein einheitliches Bild, wie Abbildung 2 illustriert:

Der Rückgang der Dynamik findet statt, obwohl neben der Entspannung bei den Energiepreisen auch die Lieferkettenrisiken deutlich abgenommen haben. Spürbar sind diese jedoch immer noch. In einer regelmäßig von der Europäischen Kommission durchgeführten Umfrage an Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe, durch welche Risikofaktoren sie sich behindert fühlen, gaben Mitte/ Ende 2022 in Deutschland teilweise über 80 % der Befragten akute Probleme mit Lieferengpässen an. Diese Zahl hat sich mittlerweile auf rund 35 % reduziert, liegt aber immer noch deutlich über dem Wert von ca 5 % vor Beginn der Corona-Pandemie.

[Quelle: Commerzbank]. Ein Faktor, der in dieser Umfrage immer kritischer gesehen wird, ist die Verfügbarkeit von Arbeitskräften. Aktuell geben rund 20 % der österreichischen Unternehmen an,

in ihrer Produktion durch den Mangel an Arbeitskräften eingeschränkt zu sein. In Deutschland sind es sogar 35 %.4

Längerfristig problematisch ist dabei, dass die beobachtbaren Zuwächse an Produktivität diesen Mangel an Arbeitskräften nicht kompensieren können, das – über die trotzdem sehr starken Anstiege in den Löhnen – eine Herausforderung für die Wettbewerbsfähigkeit darstellt.

Vor dem Hintergrund dieser strukturellen (und damit mittel-bis langfristig wirksamen) Probleme ist vor allem die exportorientierte Industrie von der globalen konjunkturellen Abschwächung betroffen, auch wenn sich die Abschwächung zu Jahresbeginn 2023 etwas verlangsamt hat.

Eine Stagnation für 2023 ist damit ein mögliches Szenario, jedoch haben sich die Bedenken einer befürchteten deutlichen Rezession für das Gesamtjahr 2023 nicht erhärtet.

Es wird erwartet, dass ein nachlassender Preisdruck und ein Anziehen der internationalen Konjunktur die österreichische Wirtschaft im vierten Quartal wieder expandieren lassen und damit der Weg zu einer Rückkehr auf einen moderaten Wachstumskurs geebnet wird. International sind es vor allem die Abkehr von der NullCOVID-Politik in China und die Normalisierung der Lieferketten, die zu einer spürbaren Entspannung führten.

3. Robuster Konsum als Wachstumsimpuls

Nachlassender Preisdruck und zu erwartende robuste Lohnrunden im Herbst werden voraussichtlich zu einer kräftigen Reallohnsteigerung führen. Nach einem teilweise deutlichen Rückgang dieser inflationsbereinigten Löhne ab 2021 sollte dies jedenfalls positiv für den privaten Konsum sein. Vor allem auch deswegen, weil sich die Arbeitslosenquoten – nicht nur in Österreich – weiter auf Tiefstständen befinden (siehe Abbildung 3).

Vergleich PMI Verarbeitendes Gewerbe: AT, DE, Eurozone

140 Juli 2023 Blick über den Gartenzaun Stagflation statt Rezession
30 35 40 45 50 55 60 65 70 30.06.2020 16.01.2021 04.08.2021 20.02.2022 08.09.2022 27.03.2023
PMI Eurozone Manufacturing PMI Deutschland Manufacturing PMI Österreich Manufacturing 50

Doch dieser Ausblick ist nicht ohne Risiken: Die massiven Zinserhöhungen kommen mittlerweile bei den Kreditnehmern an und führen zu deutlichen Anstiegen in den Finanzierungskosten. Gleichzeitig laufen einige fiskale Stützungsmaßnahmen aus – seien es Stimuli aus der Bekämpfung der Corona-Pandemie, oder Maßnahmen zur Dämpfung der Einkommenseffekte der hohen Inflationsraten.

Bemerkenswert ist in Österreich jedoch die Stimmung unter den Verbrauchern. Das Verbrauchervertrauen, welches Mitte 2022 am Hochpunkt des Teuerungsanstiegs seinen Tiefpunkt erreichte, befindet sich seit dem dritten Quartal 2022 in einer langsamen, jedoch stetigen Erholungsbewegung.

Dabei fällt eine Besonderheit auf: Während die österreichischen Haushalte aktuell die wirtschaftliche Situation in den kommenden zwölf Monaten durchaus skeptisch einschätzen, sind die Erwartungen für die persönliche finanzielle Situation der nächsten zwölf Monate deutlich optimistischer. Hier dürfte nach wie vor das Vertrauen persistent sein, dass – egal was konjunkturell kommen möge – die finanziellen Auswirkungen dieser adversen wirtschaftlichen Entwicklung nur deutlich abgemildert ankommen werden.

Ein Vergleich der österreichischen Indizes mit Zahlen aus Deutschland und der Eurozone illustrieren diese Entwicklung (siehe Abbildung 4): Unterstützt vom Konsum dürfte die Konjunktur ab dem dritten Quartal 2023 langsam etwas anziehen.

4. Überblick über die aktuellen Prognosen

4.1. Wachstumsprognosen

Die aktuellen BIP-Wachstumserwartungen für Österreich, welche vom Bloomberg im Rahmen des sogenannten „Bloomberg Consensus“ erhoben werden, zeigen per Ende Juni 2023 die Erwartung eines realen Wachstums von +0,50 % als durch-

schnittliche Wachstumsrate für das Gesamtjahr. Die optimistischste Prognose liegt bei +0,70 %, die vorsichtigste Schätzung bei +0,00 % (vgl dazu die Detaildaten in Tab 1).

Für 2024 sehen die Prognosen ein Wachstum von +0,95 % vorher, wobei die Streuung der Erwartungen weit auseinandergeht (optimistischste Schätzung: +1,80 %, pessimistischste Prognose: 0,00 %). Erst für 2025 wird einhellig ein wieder stärkeres Wachstum erwartet (Median +1,80 %, Minimum: 1,30 %, Maximum: 2,20 %).

Damit liegen die österreichischen Prognosen relativ nahe an den Erwartungen für den Durchschnitt der Eurozone.

141 Blick über den Gartenzaun Stagflation statt Rezession Juli 2023
2023Y 2024Y 2025Y MEDIAN 0,50 0,95 1,80 MEAN 0,49 0,95 1,75 HIGH 0,70 1,80 2,20 LOW 0,00 0,00 1,30
Tab 1: BIP-Wachstumserwartungen Bloomberg Consensus (Österreich)7
0 2 4 6 8 10 12 14 06.07.2009 01.04.2012 27.12.2014 22.09.2017 18.06.2020 15.03.2023 09.12.2025 Arbeitslosenrate Österreich Arbeitslosenrate Deutschland Arbeitslosenrate
Eurozone
-60 -50 -40 -30 -20 -10 0 10 20 27.10.2018 15.05.2019 01.12.2019 18.06.2020 04.01.2021 23.07.2021 08.02.2022 27.08.2022 15.03.2023 01.10.2023 Verbrauchervertrauen:
+12m Verbrauchervertrauen:
Entwicklun
+12m
Abb 3: Arbeitslosenraten im Vergleich6
Finanzielle Situa on
Wirtscha iche
g
Abb 4: Vergleich der österreichischen Indizes mit Zahlen aus Deutschland und der Eurozone8

Tab 2: BIP-Wachstumserwartungen Bloomberg

Consensus (Eurozone)

Deutschland erweist sich in dieser Betrachtung als Sorgenkind in der Eurozone. Für das Gesamtjahr 2023 wird mit einer Rezession gerechnet, ein Abschwung bis zu –0,70 % scheint möglich.

Für 2023 und 2024 liegt Österreich somit weiterhin deutlich über den Erwartungen der Teuerungsrate in der Eurozone:

Österreich

Tab 3: BIP-Wachstumserwartungen Bloomberg Consensus (Deutschland)9

4.2. Inflationsprognosen

Es wird erwartet, dass die Inflation deutlich über dem deklarierten EZB-Ziel der 2 %-Teuerung liegen wird, wobei der Preisdruck in Österreich aufgrund spezifischer Faktoren signifikant über dem Schnitt der Eurozone liegt und bis 2024 auch weiterhin liegen wird.

4.2.1. Gründe für den Inflationsunterschied Österreich vs Eurozone

Die Ursachen für die in Österreich deutlich höheren Teuerungsraten lassen sich im wesentlichen in drei Gruppen zusammenfassen:

Persistenz bei Gas- und Heizkosten

❚ Die Weitergabe niedriger Energiepreise an die Haushalte erfolgt verzögert (vgl ÖSPI-Index).

Stärkere Teuerung im Dienstleistungsbereich

❚ Insbesondere im Dienstleistungssektor sind die Lohnstückkosten deutlich angestiegen.

❚ In Österreich wird der Bereich der Gastronomie, welcher besonders starke Preisanstiege zu verzeichnen hatte, stärker gewichtet als in anderen Eurozonenländern.

Fiskalpolitische Strategie in Österreich

❚ Im Gegensatz zu anderen Ländern der Eurozone gab es in Österreich weniger direkte Preiseingriffe, dafür aber umso höhere Transferzahlungen zur Erhaltung der Kaufkraft.

4.2.2. Überblick über die ConsensusInflationsprognosen

Vor diesem Hintergrund gehen die Institute des Bloomberg-Consensus per Ende Juni von einer Inflationsrate von 7,35 % für das Gesamtjahr 2023 aus (Maximum: 7,90 %, Minimum, 5,60 %). Für 2024 wird eine deutliche Entspannung der Teuerungslage erwartet (Median 3,00 %, Maximum 3,50 %, Minimum 1,00 %). Erst für 2025 erwarten die Prognoseinstitute den EZB-Zielwert von 2,00 % (Maximum 2,50 %, Minimum 0,00 %).

Tab 5: Inflationsprognose Eurozone

Bemerkenswert ist dabei, dass die Kerninflationsrate (Inflationsrate ohne Energie und Nahrungsmittel) 2023 weiter steigen wird (von 5,1 % in 2022 auf 7,1 % in 2023), was vor allem auf die ansteigenden Lohnstückkosten und die Erzeugerpreisentwicklung zurückzuführen ist.10

5. Geldpolitik und Zinsen

Die Persistenz der Kerninflation ist ein Hauptproblem für die Gestaltung der Geldpolitik in der Eurozone. Nachdem sie „zu lange zu hoch“ bleiben wird, hat der EZB-Rat die Leitzinsen in bereits acht Schritten um insgesamt 4,00 % angehoben.

Die Höhe und vor allem Geschwindigkeit der Zinserhöhungen wirken sich mittlerweile stark auf die Finanzierungsbedingungen in der Eurozone und auch in Österreich aus und schlagen sich allmählich in der gesamten Realwirtschaft nieder.

Die wirtschaftliche Stagnation, rückläufige Inflationserwartungen bis 2025 und nicht zuletzt die Risiken der Finanzierung überschuldeter Eurozonen-Staatshaushalte lassen eine weitere Phase starken Zinsanstiegs zumindest wenig wahrscheinlich erscheinen.

So legen die Zinsprognosen des BloombergConsensus per Ende Juni 2023 einen Rückgang des Drei-Monats-Euribors von rund 4 % auf in etwa 3 % voraus. Auch die längerfristigen Zinsen werden von den Niveaus Mitte 2023 bestenfalls stabil bis leicht rückläufig erwartet.

Negative Überraschungen wie beispielsweise neuerliche angebotsseitige Schocks, welche den rückläufigen Pfad von Verbraucherpreis- und Kerninflation 2024 stören, bergen jedoch das Risiko, dass diese rückläufige Zinsbewegung zumindest nach hinten verschoben werden könnte.

6. Finanzierungskosten, Investitionen und Bauwirtschaft

Nicht weiter steigende oder sogar rückläufige Zinsen haben jedenfalls positive Effekte auf das Wachstum, da die stark gestiegenen Finanzierungskosten die Wachstumsdynamik hemmen und vor allem im Baugewerbe in Kombination mit hohen Baupreisen die Bauinvestitionen bremsen. Besonders betroffen

142 Juli 2023 Blick über den Gartenzaun Stagflation statt Rezession 2023Y 2024Y 2025Y MEDIAN 0,60 1,00 1,60 MEAN 0,59 0,99 1,55 HIGH 1,20 1,80 2,00 LOW –0,10 0,00 1,00
2023Y 2024Y 2025Y MEDIAN –0,20 1,05 1,50 MEAN –0,18 1,04 1,51 HIGH 0,40 1,90 2,30 LOW –0,70 0,00 0,80
2023Y 2024Y 2025Y MEDIAN 7,35 3,00 2,00 MEAN 7,08 2,65 1,79 HIGH 7,90 3,50 2,50 LOW 5,60 1,00 0,00 Tab
2023Y 2024Y 2025Y MEDIAN 5,45 2,50 2,00 MEAN 5,25 2,57 1,98 HIGH 6,80 4,60 2,50 LOW 4,90 1,40 1,00
4: Inflationsprognose

ist der Wohnbau, wo rückläufige Baubewilligungen beobachtet werden können. Für 2023 erwartet das IHS ein Rückgang von 2,0 %, bzw 1,0 % für 2024.12

Obwohl die Dynamik im Wohnbausektor insbesondere für das zweite Halbjahr sehr gedämpft erwartet wird, sind in Österreich die Risiken einer breiten (Wohn-) Immobilienkrise vergleichsweise gering. Dies hat – einer Studie des Internationalen Währungsfonds zufolge – auch mit der Verschuldungsquote im Vergleich zum Einkommen zu tun (Debt-to-Income-Ratio).

Diese beträgt in Österreich 34 %, wohingegen sie im Eurozonen-Schnitt bei 71 % liegt13 (Quelle: IWF).

Beachtenswert ist auch der Anteil der „vulnerablen Haushalte“ in Österreich (also jene, die anfällig für eine Überschuldung sind). Diese beträgt in Österreich 20 % bei Haushalten mit niedrigem Einkommen und 0 % für jene in mittleren und gehobenen Einkommensschichten.

Obwohl offenbar weniger Haushalte vulnerabel sind, sind die Änderungen in der Wohnbaufinanzierungslandschaft massiv: So ist das Volumen der vergebenen neuen Kredite von 1,8 Mrd Euro im Jänner 2022 auf 0,8 Mrd im Jänner 2023 zurückgegangen (–58 %). Der Zinsaufwand für bestehende Kredite ist im selben Zeitraum von 148 Mio Euro auf 284 Mio Euro angestiegen (+92 %).14

Die Finanzierungskosten wirken jedoch auch dämpfend auf die Anlageinvestitionen, die das IHS mit einem Rückgang von 1,0 % in 2023 und 0,5 % in 2024 prognostiziert.

7. Budgetkonsolidierung dringend erforderlich Das Stagflationsumfeld und das hohe Ausmaß an Stützungen in Österreich schlägt sich, trotz des nach wie vor vergleichsweise niedrigen Finanzierungskostenniveaus für österreichische Staatsschulden, in der Budgetgebarung nieder. Die Auswirkungen der konjunkturellen Eintrübung auf das Budgetdefizit sind wegen des starken Wachstums des nominellen BIP noch begrenzt. Allerdings führt die hohe Teuerung mit Zeitverzögerung zu

steigenden staatlichen Ausgaben, etwa für Lohnund Gehaltszahlungen oder für die Valorisierung der Sozialausgaben.

An dieser Stelle muss auf die Wichtigkeit der Konsolidierung des Staatshaushaltes und vor allem einer kritischen Analyse der Ausgabenstruktur, hingewiesen werden. Denn die strukturellen Herausforderungen für den Standort sind immens, nicht zuletzt aufgrund der in den nächsten Jahren immer drängenderen demographischen Entwicklung und des sich dadurch weiter verstärkenden Arbeitskräftemangels. Hier sind finanzielle Mittel für Maßnahmen zur Stärkung des Arbeitskräftepotenzials (Integrationsmaßnahmen, Anreize für längeres Arbeiten, gesundheitliche Prävention, Kinderbetreuung etc) vorzusehen.

Eine mindestens genauso große Herausforderung ist die Bewältigung der Energiewende. Auch dafür müssen einerseits verbindliche Rahmenbedingungen und damit Rechtssicherheit für Unternehmen geschaffen und hinreichende Finanzmittel zur Bewältigung dieser Mammutaufgabe vorgehalten werden.

8. Conclusio: Stagnation mit positivem Ausblick

Die österreichische Wirtschaft stagniert seit Mitte 2022 bei hohen, nur langsam zurückgehenden Inflationsraten. Die sektoralen Entwicklungen sind dabei sehr unterschiedlich. Der Industriebereich muss Wertschöpfungseinbußen hinnehmen, während sich der Dienstleistungsbereich positiv entwickeln sollte. Insbesondere der Tourismussektor wird stark zum Exportwachstum beitragen. Herausfordernd wird das zweite Halbjahr für die Bauwirtschaft vor dem Hintergrund stark gestiegener Finanzierungs- und Baukosten. 2024 soll die Gesamtwirtschaft dann durch den nachlassenden Preisdruck und die sich erholende internationale Wirtschaftsdynamik wieder etwas an Schwung zunehmen.

143 Blick über den Gartenzaun Stagflation statt Rezession Juli 2023
-1 0 1 2 3 4 5 6 10.10.2006 06.07.2009 01.04.2012 27.12.2014 22.09.2017 18.06.2020 15.03.2023 09.12.2025 3m Euribor EZB Leitzins
Abb 5: EZB-Leitzins und Drei-Monats-Euribor11

Anmerkungen

1 Vgl Glocker/Scheiblecker, Schwaches Wachstum bei hoher Unsicherheit. Prognose für 2023 und 2024, WIFO-Konjunkturprognose, Juni 2023.

2 Siehe Statistik Austria (Zugriff am 10. 7. 2023).

3 Bloomberg (Zugriff am 13. 7. 2023).

4 Siehe HSBC Economic Research

5 Siehe Bloomberg (Zugriff am 13. 7. 2023).

6 Siehe Bloomberg, Statistik Austria (Zugriff am 13. 7. 2023).

7 Siehe Bloomberg (Zugriff am 13. 7. 2023).

Forum

Sustainable Finance

8 Siehe Bloomberg (Zugriff am 13. 7. 2023).

9 Siehe Bloomberg (Zugriff am 13. 7. 2023).

10 Siehe Statistik Austria (Zugriff am 13. 7. 2023).

11 Siehe Bloomberg (Zugriff am 13. 7. 2023).

12 Vgl Ertl et al, Sommer-Prognose der österreichischen Wirtschaft 2023-2024. Rückkehr auf einen moderaten Wachstumspfad, IHS Konjunkturprognose 06/2023.

13 Vgl Valderrama et al, European Housing Markets at a Turning Point – Risks, Household and Bank Vulnerabilities, and Policy Options, IMF Working Paper (03/2023).

14 Siehe OeNB

Nachhaltigkeit in der unternehmerischen Praxis und Offenlegung: Aktuelle Trends, Good Practices und konkrete Strategien für die betriebliche Umsetzung

• Aktuelle Rechtsentwicklungen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene

• EU-Taxonomie und Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD): Status-quo, erste Erfahrungen und Praxistipps

• Verlässliche Nachhaltigkeitsinformationen vs. Greenwashing

• Zwei Intensiv-Workshops für Unternehmen der Finanz- und Realwirtschaft mit praktischem Know-how zur Umsetzung

Fachliche Leitung

Georg Lehecka, FMA

Vortragende

Raphael Fink, VKI | Thomas Gaber, KPMG | Armin Kammel, KPMG | Karin Lenhard, ERSTE Group

Jakob Mayr, WWF | Ulrike Middelhoff, AGRANA | Georg Rogl, EY | Sabine Schellander, Greiner

Katharina Schönauer, KPMG | Stefan Sengelin, BMK | Bernd Vasari, Wiener Zeitung

144 Juli 2023 Blick über den Gartenzaun Stagflation statt Rezession
lindecampus.at 9:00–17:30 21.9.2023 Wien

Fitnesscheck: Wie gut sind die Unternehmen auf die CSRD vorbereitet?

Eine aktuelle Bestandsaufnahme

Katrin Hummel / Karina Bauernhofer / Lukas Seidl

Im November 2022 wurde die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD, 2022/2464) vom Europäischen Parlament verabschiedet. Darin werden die bislang im Zuge der Non Financial Reporting Directive (NFRD, 2014/95) vorgegebenen Berichtspflichten im Nachhaltigkeitsbereich konkretisiert und erheblich ausgeweitet. Zudem wird der Kreis der berichtspflichtigen Unternehmen massiv erweitert, wobei die neuen Berichtspflichten schrittweise eingeführt werden. Erstmalig berichtspflichtig sind für das Geschäftsjahr 2024 Unternehmen, die in den Anwendungskreis der NFRD fallen.

Der vorliegende Beitrag untersucht, wie gut diese Unternehmen bereits auf die neuen Berichtspflichten der CSRD vorbereitet sind. Hierfür wird die Nachhaltigkeitsberichterstattung von 39 österreichischen Nicht-Finanzunternehmen im Anwendungskreis des Nachhaltigkeits- und Diversitätsverbesserungsgesetzes (NaDiVeG, Umsetzung der NFRD in Österreich) mittels Inhaltsanalyse systematisch analysiert.

1. Vorbemerkungen

Mit der Verabschiedung der CSRD im November 2022 sowie der geplanten Verabschiedung der European Sustainability Reporting Standards (ESRS) für das Jahr 2023 erlässt die Europäische Union ein umfangreiches Reformpaket, mit dem Ziel, die bestehenden Berichtspflichten nach der NFRD weiter zu konkretisieren und standardisieren.1 Am 9. 6. 2023 hat die Europäische Kommission den Entwurf einer delegierten Verordnung zur Übernahme der ESRS veröffentlicht und zur Konsultation freigegeben.2 Für das Geschäftsjahr 2024 müssen die neuen Anforderungen der CSRD erstmals von großen kapitalmarktorientierten Unternehmen mit durchschnittlich mehr als 500 Mitarbeitenden angewendet werden.

Sowohl die CSRD als auch die ESRS orientieren sich an den „ESG-Kategorien“: Environment, Social und Governance. Im Rahmen dieser drei Bereiche müssen ausführliche qualitative als auch quantitative Informationen offengelegt werden. Bezüglich der Standards kann zwischen Informationen, die verpflichtend von jedem Unternehmen offenzulegen sind („Übergreifende Standards“) und Informationen, die dem Vorbehalt einer Wesentlichkeitsanalyse unterliegen („Sektorunabhängige Themenstandards“), differenziert werden.3 Insbesondere der übergreifende Standard ESRS 2 „General disclosures“ konkretisiert die allgemeinen Offenlegungspflichten. So muss jedes Unternehmen unter anderem angeben, inwieweit Nachhaltigkeitskriterien in der Vergütungspolitik integriert sind, sowie negative Auswirkungen für die gesamte Wertschöpfungskette des Unternehmens aufzeigen (Due-Diligence-Prozess). Identifiziert ein Unter-

nehmen „Klimawandel“ als wesentlich, müssen auch die Anforderungen aus ESRS E1 erfüllt werden.4 Dies inkludiert jedenfalls eine Beschreibung des Geschäftsmodells inklusive Prüfung der Kompatibilität mit dem 1.5°C-Ziel gemäß dem Pariser Klimaabkommen, die Erstellung einer vollständigen Treibhausgasbilanz (Scope 1, 2 und 3), die Offenlegung der Treibhausgas-Reduktionsziele für 2030 und 2050 und die Durchführung einer Klimaszenarioanalyse.

Während die NFRD den Mitgliedstaaten in verschiedenen Bereichen Spielraum einräumte, sind die Vorgaben der CSRD einheitlicher und detaillierter. So müssen die Nachhaltigkeitsinformationen zwingend als eigenständiges Kapitel im Lagebericht inkludiert werden. Außerdem unterliegen die Inhalte zukünftig einer verpflichtenden externen Prüfung mit zumindest begrenzter Sicherheit. Um die Nachhaltigkeitsprüfung mit der Finanzprüfung auf eine Ebene zu stellen, wird darüber hinaus die Voraussetzung einer hinreichenden Prüfsicherheit bis 2028 diskutiert.

Österreich hat die neuen Pflichten der CSRD bis 6. 7. 2024 in nationales Recht umzusetzen.5 Aufgrund der Neuartigkeit der Richtlinie besteht noch wenig Evidenz zur Berichterstattung der betroffenen Unternehmen. Vor diesem Hintergrund dient die vorliegende Studie als ein erster Fitnesscheck und soll aufzeigen, wie gut österreichische Unternehmen auf die CSRD vorbereitet sind. Der Fokus dieser Studie liegt dabei auf der Qualität der Offenlegung sowie auf potenziellen Unterschieden in der Offenlegungsqualität im Hinblick auf Branche und Unternehmensgröße.

2. Untersuchungsdesign

Das Untersuchungssample umfasst 39 österreichische Nicht-Finanzunternehmen, welche in den Anwendungskreis der NFRD fallen. Abbildung 1 gibt einen Überblick über die Branchenverteilung dieser Unternehmen. Den größten Anteil weisen Unternehmen der verarbeitenden Industrie (41 %) auf, gefolgt von der Immobilienbranche (15 %), der Informations- und Kommunikationsbranche (13 %) sowie der Transport- und Energiebranche (je 10 %) und der Bauindustrie (8 %). Ein Unternehmen ist in der Restaurant- und Hotelleriebranche tätig.

Für die Datenerhebung werden die Geschäftsberichte (Lageberichte) und separaten Nachhaltigkeitsberichte dieser Unternehmen für das Berichtsjahr 2021 herangezogen und mittels Inhaltsanalyse ausgewertet. Das der Inhaltsanalyse zugrundeliegende Bewertungsschema orientiert sich an den neuen Berichtsanforderungen, die sich aus der CSRD in Kombination mit den ESRS ergeben. Da-

145 Inside Research Studie: Fitnesscheck gemäß CSRD Juli 2023
Univ.-Prof. Dr. Katrin Hummel ist Professorin für Accounting & Reporting am Department für Finance, Accounting and Statistics der WU Wien. Karina Bauernhofer, MSc LL.M. (WU) ist Universitätsassistentin prae doc am Department für Finance, Accounting and Statistics der WU Wien. Lukas Seidl, BSc (WU) ist Young Professional im Bereich Finanzen bei der ZHS Office- & Facilitymanagement GmbH.

Bauindustrie

8% 15%

10%

Abb 1: Überblick über das Untersuchungssample

Energie/-versorger

Restaurant und Hotellerie

Informa on und Kommunika on Verarbeitende Industrie

Immobilien Transport

bei wird zwischen verpflichtenden Informationen für jedes Unternehmen und Informationen zur Klimaberichterstattung unterschieden. Der Fokus liegt hier auf dem Themenstandard „Klimawandel“, da diese Thematik branchenübergreifend für nahezu alle Unternehmen wesentlich sein wird. Dennoch sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, dass die Berichterstattung zum Klimawandel grundsätzlich dem Wesentlichkeitsvorbehalt unterliegt.

Die Messindikatoren werden auf einer dreistufigen Skala bewertet (0: keine Offenlegung; 0,5: teilweise Offenlegung; 1: vollständige Offenlegung). Zudem berechnet sich der gesamte Offenlegungsgrad durch die Summe der einzelnen

Messindikatoren relativ zum maximal erreichbaren Gesamtscore (=8). Tabelle 1 gibt einen Überblick über das Bewertungsschema. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass das Bewertungsschema lediglich zentrale Inhalte der Berichtsanforderungen, die sich aus der CSRD ergeben, beinhaltet, aber keinesfalls eine vollständige Erfassung der neuen Offenlegungspflichten darstellt.

3. Untersuchungsergebnisse

In Abbildung 2 ist der durchschnittliche Offenlegungsgrad gesamthaft nach Branche dargelegt. Dabei zeigt sich, dass die Unternehmen des Untersuchungssamples im Mittel einen Offenlegungsgrad von 46 % erreichen. Da das Bewertungsschema lediglich einen Teil der neuen Berichtsanforderungen der CSRD abdeckt, haben die Unternehmen hier noch großen Aufholbedarf. Die Branchenanalyse zeigt zudem branchenspezifische Unterschiede im Offenlegungsgrad. Am geringsten fällt dieser für die Immobilienbranche (36 %), die Restaurant- und Hotelleriebranche (44 %) und die verarbeitende Industrie (45 %) aus, wohingegen die Energiebranche (53 %) und die Transportindustrie (61 %) den höchsten Offenlegungsgrad aufweisen. Ein ähnliches Bild der branchenspezifischen Offenlegung findet sich bei Hummel/Bauernhofer bezüglich des Grads der Offenlegung der Berichtsanforderungen, welche sich aus der EU Taxonomie-Verordnung (2020/852) ergeben.6 Abbildung 3 gibt einen Überblick über die Bewertung der einzelnen Messindikatoren. Bei den allgemeinen Informationen zeigt sich bezüglich

1.4 Prüfung

2.1 Kompatibilität des Geschäftsmodells mit 1.5°C-Ziel

2.2 Treibhausgasemissionen Scope 1, 2 und 3

2.3 Reduktionsziele für 2030 und 2050

0 = keine Prüfung

1 = freiwillige Prüfung (limitierte Sicherheit)

0 = keine Beschreibung

0,5 = knappe Beschreibung

1 = ausführliche Beschreibung über die Vereinbarkeit mit dem 1.5°C-Ziel

0 = keine Offenlegung

0,5 = Scope 1 und 2 werden offengelegt

1 = Scope 1, 2 und 3 werden offengelegt

0 = keine Offenlegung

0,5 = Offenlegung kurzfristiger (2030) oder langfristiger Ziele (2040 oder 2050)

1 = Offenlegung kurzfristiger (2030) und langfristiger Ziele (2040 oder 2050)

2.4 Klimaszenarioanalyse 0 = keine Offenlegung

0,5 = knappe Erwähnung

1 = ausführliche Beschreibung

(2) CSRD

29a (2) CSRD

26a CSRD

ESRS E1, E1-1

ESRS E1, E1-6

ESRS E1, E1-4

ESRS 2, IRO-1

146 Juli 2023 Inside Research Studie: Fitnesscheck gemäß CSRD
Bewertungsindikator Bewertung Referenz 1.1 Ort der Offenlegung 0 = Eigenständiger Nachhaltigkeitsbericht 0,5 = Eigenständiger Nachhaltigkeitsbericht, aber nichtfinanzielle Erklärung im Lagebericht integriert 1 = Vollständig integrierte Berichterstattung Art 19a (1) CSRD Art 29a (1) CSRD ESRS 1 1.2 Negative Auswirkungen in der Wertschöpfungskette 0 = keine Offenlegung 1 = Offenlegung Art 19a (2) CSRD Art 29a (2) CSRD ESRS 2, GOV-4 1.3 Nachhaltigkeitskriterien im Anreizsystem 0 = keine Offenlegung 0,5 = knappe Erwähnung 1 = ausführliche Beschreibung Art 19a
Art
ESRS
2, GOV-3
Art
Tab 1: Schema zur Bewertung des Offenlegungsgrads 10% 3% 13% 41%

des Orts der Offenlegung, dass 19 Unternehmen die Nachhaltigkeitsinformationen in einem separaten Bericht offenlegen und 20 Unternehmen bereits eine integrierte Berichterstattung aufweisen. Die Integration der Nachhaltigkeitsberichterstattung in die Geschäftsberichterstattung ist insbesondere vor dem Hintergrund der Angleichung der Berichtszyklen für Unternehmen eine Herausforderung. Hierfür ist eine grundlegende Anpassung der Berichtsprozesse und -strukturen im Unternehmen erforderlich, was angesichts der Größe der betroffenen Unternehmen mit erheblichem Aufwand verbunden ist. Die durchschnittlich höchste Offenlegung (72 %) betrifft tatsächliche oder potenzielle negative Auswirkungen in der Wertschöpfungskette. Dieses Ergebnis mag auf den ersten Blick überraschen, ist jedoch auch auf die relativ grobe Erhebungsmethodik zurückzuführen. Hier wird sich zeigen, inwiefern die Unternehmen in den nächsten Jahren diese Berichterstattung weiter ausweiten, um den detaillierten Anforderungen der CSRD gerecht zu werden.

Demgegenüber geben nur wenige Unternehmen an, dass Nachhaltigkeitsaspekte im Anreizsystem von Vorstand und Aufsichtsrat Berücksichtigung finden (27 %). Hierzu finden sich bei 25 der analysierten Unternehmen überhaupt keine Informationen. Eine freiwillige Prüfung der offen-

gelegten Nachhaltigkeitsinformationen wird von 56 % der Unternehmen in Anspruch genommen. Dieser Anteil ist nur leicht geringer als eine Analyse der im ATX gelisteten Unternehmen für das Geschäftsjahr 2020 ergab.7 Zudem erfolgen alle durchgeführten Prüfungen mit begrenzter Prüfungssicherheit (limited assurance), was ebenfalls im Einklang mit den Ergebnissen von Hummel/ Kremsner ist. Offensichtlich scheuen die Unternehmen nach wie vor die freiwillige Prüfung mit hinreichender Sicherheit.

Die Offenlegung der Klimainformationen fällt analog aus. Im Durchschnitt legen lediglich 41 % der Unternehmen offen, inwiefern ihr Geschäftsmodell mit einer Begrenzung der Erderwärmung auf durchschnittlich 1.5° C gemäß des Pariser Klimaabkommens bzw mit der Erreichung von Klimaneutralität bis 2050 kompatibel ist. Diese Informationen werden von 17 Unternehmen überhaupt nicht offengelegt, von 12 sehr knapp und lediglich von 10 Unternehmen ausführlich. Demgegenüber weist die Berichterstattung zu den Treibhausgasemissionen durchschnittlich einen hohen Offenlegungsgrad auf. Immerhin fast die Hälfte der analysierten Unternehmen (19) weisen tatsächlich ihre Treibhausgasemissionen nach Scope 1, 2 und 3 aus.8 Deutlich geringer fällt hingegen die Offenlegung von konkreten Reduktionszielen für die

Abb 3: Anzahl der Unternehmen und durchschnittlicher Offenlegungsgrad aufgeschlüsselt nach Bewertungsindikatoren

147 Inside Research Studie: Fitnesscheck gemäß CSRD Juli 2023
48% 53% 44% 51% 45% 36% 61% 46% Abb 2: Durchschnittlicher Offenlegungsgrad nach Branche 19 11 25 17 17 6 16 31 3 7 12 14 9 2 17 28 7 22 10 19 14 6 Ort der Offenlegung (1.1) Nega ve Auswirkungen in der Wertschöpfungske e (1.2) Nachhal gkeitskriterien im Anreizsystem (1.3) Prüfung (1.4) Kompa bilität des Geschä smodells mit 1.5°C-Ziel (2.1 ) Treibhausgasemissionen Scope 1, 2 und 3 (2.2) Reduk onsziele für 2030 und 2050 (2.3) Klimaszenarioanalyse (2.4) keine Offenlegung Teilweise Offenlegung Vollständige Offenlegung Overall-Score 48% 72% 27% 56% 41% 67% 47% 18%

Treibhausgasemissionen für 2030 und 2050 aus (durchschnittlicher Offenlegungsgrad von 47 %). Allerdings berichten immerhin 23 Unternehmen ein Reduktionsziel entweder für 2030 oder für 2050 bzw für beide Jahre, während 16 Unternehmen überhaupt keine quantitativen Angaben zu Reduktionszielen machen. Am geringsten fällt die Offenlegung einer Klimarisikoszenarioanalyse (18 %) aus. Insgesamt sind die Ergebnisse der Klimaberichterstattung mit den Ergebnissen einer Studie von Hummel/Jobst/Eyrich zur Klimaberichterstattung deutscher, Schweizer und österreichischer Unternehmen im Einklang.9

Schließlich haben wir in einem letzten Schritt noch untersucht, inwiefern die Unternehmensgröße mit der Offenlegungsqualität korreliert. Tendenziell zeigt sich hierbei ein positiver Zusammenhang zwischen der Unternehmensgröße (gemessen an der Anzahl der Mitarbeitenden) und der durchschnittlichen Offenlegungsqualität. Dieses Ergebnis deckt sich mit bisherigen Untersuchungen zur freiwilligen Offenlegung10 und lässt sich über das Mehr an finanziellen und personellen Ressourcen größerer Unternehmen erklären, das zum Aufbau der neuartigen Berichtsinfrastruktur eingesetzt werden kann.

Auf den Punkt gebracht

Mit Inkrafttreten der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) im Jänner 2023 kommt es in Zukunft zu einer massiven Ausweitung der Berichtspflichten im Nachhaltigkeitsbereich. Der vorliegende Beitrag untersucht für 39 österreichische Unternehmen, welche in den Anwendungskreis des NaDiVeGs fallen, den Offenlegungsgrad zentraler Berichtsanforderungen, welche sich zukünftig aus der CSRD ergeben werden. Die Ergebnisse liefern erste Anhaltspunkte dahingehend, wie gut österreichische Unternehmen auf die zukünftigen Berichtsanforderungen vorbereitet sind.

Insgesamt zeigt sich dabei – selbst für die relativ rudimentäre Erfassung dieser zukünftigen Berichtsanforderungen – aktuell ein relativ niedriger Offenlegungsgrad von unter 50 %. Dabei bestehen deutliche Unterschiede im durchschnittlichen Offenlegungsgrad sowohl zwischen den einzelnen Branchen als auch zwischen den untersuchten Berichtsanforderungen. Angesichts der für Juli 2023 erwarteten Verabschiedung der Europäischen Nachhaltigkeitsberichterstattungsstandards ESRS sollten österreichische Unternehmen hier unbedingt das Tempo erhöhen und ihre Nachhaltigkeitsberichterstattung weiter verbessern.

Anmerkungen

1 Vgl Schüller/Kirchmair, Nachhaltigkeitsberichterstattung im Fokus: Aktuelle Praxis und zukünftige Entwicklungen, CFOaktuell 2023, 108 ff

2 Stellungnahmen konnten bis zum 7. 7. 2023 eingereicht werden.

3 Vgl Gehmayr, European Sustainability Reporting Standards (ESRS), CFOaktuell 2023, 86 f.

4 Während die vom EFRAG Sustainability Reporting Board (SRB) im November 2022 verabschiedeten ESRS Entwürfe eine generelle Pflicht für die Klimaberichterstattung (ESRS E1) vorsahen, sind die ESRS E1 in dem im Juni 2023 von der Europäischen Kommission veröffentlichten Entwurf des delegierten Rechtsakts dem Wesentlichkeitsprinzip unterstellt.

5 Vgl Hummel/Jobst, The Current State of Corporate Sustainability Reporting Regulation in the European Union, SSRN Working Paper 2023.

6 Vgl. Hummel/Bauernhofer, Consequences of Sustainability Reporting Mandates: Early Evidence on the EU Taxonomy Regulation, SSRN Working Paper 2023.

7 Vgl. Hummel/Kremsner, Externe Prüfung der Nachhaltigkeitsberichterstattung in Österreich, CFOaktuell 2022, 25.

8 Es ist darauf hinzuweisen, dass in der Praxis bezüglich der Definition der Scope 3-Emissionen große Unterschiede bestehen.

9 Vgl Hummel/Jobst/Eyrich, Klimaberichterstattung gemäß den TCFD-Empfehlungen: Eine Analyse der DACH-Region, CFOaktuell 2023, 105 ff.

10 Vgl beispielsweise Christensen/Hail/Leuz, Mandatory CSR and sustainability reporting: economic analysis and literature review, Review of Accounting Studies 2021/26, 1176 ff.

148 Juli 2023 Inside Research Studie: Fitnesscheck gemäß CSRD

Risikoidentifikation mit ChatGPT

ChatGPT ist seit 2022 in der öffentlichen Diskussion und wird seit diesem Zeitpunkt für alle erdenklichen Anwendungen eingesetzt. Der Diskurs zur Eignung in den unterschiedlichsten Gebieten ist sehr kontrovers und die Meinungen reichen von Begeisterung bis hin zu kompletter Ablehnung. Wir möchten in diesem Artikel untersuchen, wie sich die Technologie hinter ChatGPT, große Sprachmodelle, als Werkzeug für Risikomanager eignet.

1. ChatGPT als Assistent

Versuchen wir zuerst ganz naiv, ChatGPT direkt als Assistenten zu verwenden, indem wir das System anweisen, ein entsprechender Assistent zu sein und wir die gewünschten Ziele formulieren. Abbildung 1 zeigt das Ergebnis eines solchen Dialogs. Für das erste Ziel gibt ChatGPT folgende Informationsquellen an:

❚ Offizielle Unternehmenswebsite,

❚ Jahresberichte und Quartalsberichte, ❚ Finanznachrichten und Analystenberichte,

Pressemitteilungen,

Branchenpublikationen,

regulatorische Informationen sowie

soziale Medien und Online-Diskussionsforen.

Für das zweite Ziel liefert es folgende Ergebnisse:

„Potenzielle Risiken für die Lenzing AG könnten sein:

Rohstoffpreisvolatilität: Schwankungen bei den Preisen von Rohstoffen wie Holz, Baumwolle oder Chemikalien können sich auf die Produktionskosten und die Profitabilität von Lenzing auswirken.

Nachfrage- und Marktrisiken: Veränderungen in der globalen Nachfrage nach Textilien und Fasern, Verschiebungen im Verbraucherverhalten, Konkurrenzdruck oder negative Auswirkungen von Handelskonflikten könnten die Verkaufszahlen und das Marktwachstum von Lenzing beeinflussen.

Umwelt- und Nachhaltigkeitsrisiken: Umweltfaktoren wie Klimawandel, Wasserknappheit, Umweltauflagen und die öffentliche Wahrnehmung von Nachhaltigkeit könnten Auswirkungen auf die Geschäftsaktivitäten und das Image von Lenzing haben.

Technologische Veränderungen: Neue Technologien und Innovationen könnten die Wettbewerbslandschaft verändern und die Nachfrage nach traditionellen Produkten von Lenzing beeinflussen. Darüber hinaus könnten Cybersecurity-Risiken die IT-Infrastruktur und den Schutz sensibler Daten bedrohen.

Regulatorische Risiken: Veränderungen in den rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen, wie beispielsweise Handelsabkommen, Zollbestimmungen, Arbeitsgesetze oder Umweltauflagen, könnten Auswirkungen auf die Geschäftsaktivitäten von Lenzing haben.

Lieferkettenrisiken: Unterbrechungen in den globalen Lieferketten, politische Instabilität, Naturkatastrophen oder Pandemien könnten die Verfügbarkeit von Roh-

stoffen, den Transport von Produkten und die Produktion von Lenzing beeinträchtigen.

Es ist wichtig zu beachten, dass dies nur Beispiele für potenzielle Risiken sind und eine umfassende Risikobewertung durch eine spezialisierte Fachkraft durchgeführt werden sollte, um die spezifischen Risiken für die Lenzing AG zu ermitteln.”

Für eine allgemeine Auflistung ist dieses Ergebnis nicht schlecht, aber wir können hier nicht erwarten, Hinweise auf konkrete Risiken basierend auf aktuellen Daten zu erhalten. Das ergibt sich schon allein aus der Tatsache, dass ChatGPT nur auf Trainingsdaten bis September 2021 beruht und keinen Zugriff auf aktuelle Informationen hat, und somit die von ChatGPT in Ziel 1 angegebenen Informationsquellen nicht oder nur unzureichend auswerten kann.

2. Identifikation von konkreten Risiken Setzen wir das Experiment aus Kapitel 1 fort und versuchen wir, konkrete Risiken zu identifizieren.

Frage:

„Gibt es Hinweise auf Lieferkettenprobleme, die sich aus der derzeitigen Nachrichtenlage ableiten lassen?“

Antwort:

„Als KI-Assistent habe ich keinen direkten Zugriff auf aktuelle Nachrichten oder Echtzeitinformationen.

Mein Wissen reicht bis September 2021. Daher kann ich Ihnen keine spezifischen Informationen zu aktuellen Lieferkettenproblemen geben, die sich aus der aktuellen Nachrichtenlage ableiten lassen.

Es empfiehlt sich, aktuelle Nachrichtenquellen, Fachzeitschriften, Finanzberichte und andere relevante Informationsquellen zu überprüfen, um auf dem Laufenden zu bleiben …”

Hier weist ChatGPT selbst sofort auf die Limitationen hin. Es gibt inzwischen aber neue Varianten von ChatGPT, die mit der Möglichkeit ausgestattet wurden, Websuchen auszuführen. Testen wir unser Beispiel mit dieser Variante:

149 Trends & Tools Risikoidentifikation mit ChatGPT Juli 2023
FH Prof. Dipl.-Ing. Andreas Stöckl lehrt an der FH Oberösterreich Fakultät für Informatik, Kommunikation und Medien. Ing. Mag. Günther Angerbauer ist Geschäftsführer der CALPANA business consulting GmbH.
Abb 1: Dialog zur Risikoidentifikation mit ChatGPT

Das System greift schon bei der Formulierung der allgemeinen Ziele auf das Web zu und liefert konkretere Angaben samt Quellenangaben. Siehe Abbildung 2.

Am Ende der Analyse weist ChatGPT selbst darauf hin, mehr Zeit und Daten für die Analyse zu benötigen:

„Es wäre hilfreich, weitere Recherchen durchzuführen, um ein vollständigeres Bild der potenziellen Risiken für die Lenzing AG zu erhalten, insbesondere in Bezug auf den globalen Markt für Textilfasern, mögliche regulatorische Änderungen, Umweltfaktoren und andere externe Faktoren, die das Unternehmen beeinflussen könnten. Leider war die Zeit für eine umfassendere Recherche begrenzt.”

Testen wir auch die konkrete Frage zu den Lieferkettenproblemen mit diesem System.

Frage:

„Gibt es Hinweise auf Lieferkettenprobleme, die sich aus der derzeitigen Nachrichtenlage ableiten lassen?”

Antwort:

„Lenzing AG ist ein internationales Unternehmen mit Hauptsitz in Lenzing, Österreich. Es produziert holzbasierte Viskosefasern, Modal- und Lyocellfasern sowie Filamentgarn, die in der Textilindustrie sowie in der Nichtgewebeindustrie verwendet werden. Darüber hinaus ist das Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau tätig. Die Produkte von Lenzing AG werden unter den Markennamen TENCEL, VEOCEL, LENZING ECOVERO und LENZING vermarktet (Quelle: https:// en.wikipedia.org/wiki/Lenzing_AG).

Nach meinem letzten Stand vom 24. Juni 2023 gibt es keine expliziten Hinweise auf Lieferkettenprobleme bei Lenzing AG. Allerdings hat das Unternehmen seine Dividendenpolitik für das Geschäftsjahr 2023 ausgesetzt, was darauf hindeuten könnte, dass es finanzielle Schwierigkeiten hat (Quelle: https://www.lenzing. com/newsroom/press-releases/press-release/ad-hoclenzing-ag-suspends-dividend-policy-for-financial-year-2023). Zudem hat das Unternehmen kürzlich eine Kapitalerhöhung von etwa 400 Millionen Euro durchgeführt (Quelle: https://www.lenzing.com/newsroom/ press-releases/). …”

Als Quellen für die Antworten tauchen neben Wikipedia, die über eine Websuche gefunden wurde, Pressemitteilungen von der Unternehmenswebseite der Lenzing AG auf. Der Informationsgehalt und damit der Nutzen der Analyse ist zwar gefällig formuliert, aber von beschränktem Nutzen.

In letzter Zeit ist eine weitere Erweiterung von ChatGPT entstanden, die es nun ermöglicht, die Funktionalität des Systems mit sogenannten „Plugins“ zu erweitern. Das sind Zusatzprogramme, die ChatGPT ermöglichen, weitere Daten zu sammeln oder Analysen durchzuführen, wenn das Sprachmodell der Ansicht ist, dass es zur Erreichung des Ziels sinnvoll ist.

Diese Idee haben wir für unser aktuelles Forschungsprojekt CRISAM® Loop (https://pure. fh-ooe.at/en/projects/crisam-loop-crisam-loopclosing-the-loop-in-ai-based-risk-managem) als Ausgangspunkt genommen, um einen Prototyp eines KI-Risikoanalyseassistenten zu entwerfen und zu implementieren, der – aufbauend auf einem großen Sprachmodell – weitere Softwaremodule sowie aktuelle und umfassende Unternehmensdaten enthält.

3. Erweiterung dieses Ansatzes zu einem umfassenden Assistenten zur Risikoidentifikation

Im Einleitungsabschnitt haben wir schon gesehen, dass neben den KI-Analysemöglichkeiten das Vorhandensein und der Zugriff auf die relevanten Daten zum Unternehmen entscheidend ist. Daher wurde CRISAM® AI (https://www.crisam.ai/) als Ausgangsbasis für den Assistenten gewählt. Dieses bilden vielfältige Informationsquellen zum Unternehmen samt Analysen ab.

Mit CRISAM® AI werden im Unternehmensumfeld Risikosensoren installiert, die externe und interne Datenquellen nach, für das jeweilige Unternehmen relevanten, Informationen permanent scannen und diese laufend in das Risikomodell des Unternehmens einspeisen.

Die Risikosensoren sind generisch und können Texte, Bilder, Zahlen und Zeitreihen aus Datenquellen und Webseiten normieren und verarbeiten.

Mit Hilfe einer multivariaten Anomalieerkennung werden Normalzustände gelernt, Abweichungen unmittelbar angezeigt und potenziellen Risiken aus einem hinterlegten Risikokatalog zugeordnet.

Beispiele für Risikosensoren sind:

❚ Analyse und Clustering von Nachrichten zum Unternehmen, dessen Produkten, Mitbewerbern, strategischen Kunden und Lieferanten oder sonstigen interessierenden Eigenschaften.

❚ Analyse von Social-Media-Daten wie Twitter, um unmittelbar reagieren zu können.

❚ Monitoring von internen Unternehmensdaten wie zB Ergebnis- und Produktionskennzahlen, Ausfallsraten, Krankenstände, Beschwerden, Sicherheitsvorfälle.

❚ Auswertung von Kununu-Bewertungen inkl Vergleichsmöglichkeit mit Unternehmen aus der Umgebung oder aus derselben Branche.

❚ Früherkennung von Cyberrisiken durch Konsolidierung von Schwachstellenscannern.

150 Juli 2023 Trends & Tools Risikoidentifikation mit ChatGPT
Abb 2: Risikoanalyse mit ChatGPT und Websuche

Auch die Risikobewertung wird damit umfassend verbessert, in dem den Risikoverantwortlichen relevante Informationen so aufbereitet werden, dass die Aufgabe der Risikobewertung stark vereinfacht und mit wesentlich höherer Genauigkeit durchgeführt werden kann.

Die nachfolgenden Abbildungen zeigen Ergebnisse aus CRISAM® AI.

Im Prototypen können die Aufgaben und Ziele für den Assistenten analog zu unseren Versuchen mit ChatGPT formuliert werden. Unser Prototyp (Abbildung 6) bietet aber im Gegensatz zu ChatGPT mehr Einblicke in die einzelnen Schritte der Analyse. Das System zeigt an:

❚ Welche „Gedanken“ es hat.

❚ Welche Schlussfolgerungen es daraus zieht.

❚ Welchen weiteren Plan es hat.

❚ Welche Kritikpunkte es hat.

❚ Wie die nächsten Schritte sind.

Damit entsteht auch mehr Transparenz und es wird klarer, wie die Ergebnisse der Analyse entstanden sind.

Neben der Analysemöglichkeit mit einem großen Sprachmodell und dem Zugriff auf eine Websuche, wie wir es in unserem Einleitungsbeispiel mit ChatGPT gezeigt haben, hat der Softwareprototyp noch weitere Funktionen/„Fähigkeiten“:

Ausführen einer Google-Suche:

Der Prototyp kann eine Google-Suche durchführen, um relevante Informationen aus dem Internet abzurufen und eine Liste von Suchergebnissen zurückzugeben.

Schlussfolgerungen mit GPT-4:

GPT-4 ist ein fortschrittliches Sprachmodell, das in der Lage ist, komplexe Schlussfolgerungen auf der Grundlage von gegebenen Informationen zu ziehen. Es kann verwendet werden, um Fragen zu beantworten, Rätsel zu lösen oder logische Zusammenhänge zu erkennen.

Abrufen von Websiteinhalten:

Mit dem Prototyp können Websiteinhalte abgerufen werden. Er kann den Inhalt einer bestimmten Webseite erfassen und diesen entweder als Text oder in einem anderen gewünschten Format zurückgeben.

Suche nach Dokumenten im Dateisystem:

Das System kann das Dateisystem durchsuchen und nach spezifischen Dokumenten suchen. Es kann den Dateinamen, den Inhalt oder andere relevante Kriterien verwenden, um die Suche zu optimieren und die gewünschten Dokumente zu finden.

Schreiben eines Dokuments:

Das System kann verwendet werden, um Texte oder Dokumente zu verfassen. Basierend auf den gegebenen Anweisungen oder Informationen kann es Texte in natürlicher Sprache generieren und ein neues Dokument erstellen.

151 Trends & Tools Risikoidentifikation mit ChatGPT Juli 2023
Abb 3: Multivariate Anomalieerkennung Abb 4: Sentimentanalyse von Nachrichten und Darstellung als positiv, neutral, negativ Abb 5: Textanalyse von zu Clustern zusammengefassten Nachrichten Abb 6: Prototyp eines KI-Risiko Assistenten

Klonen von weiteren Systemen:

Der Prototyp kann einen Klon von sich erstellen und als weiteres System laufen lassen. Damit können Aufgaben auf mehrere Systeme verteilt werden.

Nachrichten zwischen den Systemen austauschen:

Zwischen mehreren Systemen, die zum Beispiel durch Klonen erzeugt wurden, können Nachrichten ausgetauscht werden, um eine Zusammenarbeit der Teilsysteme zu ermöglichen.

Beendigung des Vorgangs:

Das System entscheidet selbst, ob es die Aufgabe als erledigt betrachtet und damit die Analyse beendet.

Programmcode ausführen für Berechnungen: Das System kann Programmcodes ausführen, um Berechnungen durchzuführen. Es unterstützt verschiedene Programmiersprachen und ist in der Lage, komplexe Algorithmen oder mathematische Operationen zu verarbeiten.

Bilder erzeugen:

Bildgenerierungssysteme wie zum Beispiel „DALLE“ können verwendet werden, um Bilder zu generieren.

Sprachausgabe:

Das System kann Sprachausgabe erzeugen, indem es Text in gesprochene Sprache umwandelt. Es kann Texte in verschiedenen Sprachen vorlesen oder als Audio-Datei ausgeben, um eine natürliche Sprachausgabe zu erzeugen.

4. Ergebnis des Assistenten

Wenn wir dem Assistenten die gleiche Aufgabe wie vorhin in Chat-GPT stellen, können wir die Grenzen von Chat-GPT überwinden, weil wir die KI auch dazu nutzen, um über den jeweils nächsten Schritt zu entscheiden und diesen anhand verfügbarer Echtzeitdaten aktiv ausführen lassen.

Am Beispiel der Demoabfrage zur Lenzing AG wurden vom Assistenten folgende Schritte autonom ausgeführt:

1. Eine Google-Suche wird ausgeführt, um Informationen zu finden.

2. Die Ergebnisse der Google-Suche werden ausgewertet.

3. Lenzing AG-Website wird besucht und befragt; die Ergebnisse werden ausgewertet.

4. Suche im Dateisystem des eigenen Computers nach Dokumenten (ohne Erfolg; wir haben keine internen Informationen).

5. Ein Ergebnis-Dokument wird geschrieben.

6. Es erfolgt eine Google-Suche nach TENCELBrand; Auswertung der Suche.

7. Ein weiteres Dokument wird erzeugt.

8. Ein zusätzlicher Assistent für TENCEL-Risikoidentifikation wird gestartet.

9. Der erste Assistent wird über die Ergebnisse des zweiten Assistenten informiert.

10. Ein Dokument zu TENCEL-Risiken wird geschrieben.

11. Analyse wird beendet.

Die Kosten für die Rechenzeit der Analyse (GPT-4) betrugen 0,23 USD.

Im ersten Ergebnisdokument finden wir folgenden Inhalt:

Potential Risks for Lenzing AG

❚ Increased regulations on textile production could lead to increased costs and potential lawsuits.

❚ Supply chain disruption or interruption of the wood or pulp supply could affect production.

❚ Competition from companies with lower production costs could affect market share.

❚ Changes in consumer preferences towards synthetic materials could negatively affect sales.

❚ Reduced demand for textiles and clothing due to a global economic downturn could negatively affect sales.

❚ Environmental accidents or incidents could damage the company‘s reputation and lead to potential lawsuits.

❚ Cyber attacks on the company‘s IT systems could disrupt operations and lead to data breaches or theft of intellectual property.

This document should be shared with relevant team members.

Laut Rücksprache mit dem Risikomanager der Lenzing AG sind das genau die Themen, mit denen sich das Unternehmen beschäftigt. Man kann sich vorstellen, dass der Assistent mit einem Zugang zu internen Informationsquellen noch wesentlich spezifischere Ergebnisse liefern wird.

Fazit und Ausblick

Mit dem Prototyp sind wir nun in der Lage, einen Softwareassistenten dazu einzusetzen, um autonom Risikoanalysen durchzuführen. Mit verschiedenen Unternehmen werden in nächster Zeit Tests und Evaluierungen durchgeführt.

Insbesondere die Qualität der Schlussfolgerungen des neuen GPT-4-Modells hat überzeugt. Ein wesentliches Akzeptanzmerkmal derartiger KI-basierter Assistenzsysteme wird sein, dass zu jedem Ergebnis die Nachvollziehbarkeit der einzelnen Schritte, involvierten Quellen und Schlussfolgerungen möglich ist und einfach zugänglich und verständlich gemacht wird.

Der Assistent kann einem Risikomanager zeitaufwändige Routineaufgaben abnehmen und ermöglicht eine Neupositionierung der Risikomanager-Funktion im Unternehmen. Von einer überwiegend reaktiven Position, die auf den Risikoverantwortlichen als Hauptinformationsquelle angewiesen ist, hin zu einer proaktiven Position, die einen großen Beitrag zur Früherkennung von Risiken leisten kann.

152 Juli 2023 Trends & Tools Risikoidentifikation mit ChatGPT

Die besten Krimis schreibt die Wirklichkeit

Steuerfahnder im Kampf gegen internationale Verbrecherbanden

„Meine Güte, die Betriebsprüfung.“ Kaum jemand in den meisten Unternehmen rollt nicht mit den Augen, wenn sich das Finanzamt wieder angesagt und bereits im Vorhinein ellenlange Anforderungslisten erstellt hat. Wer grundsätzlich ein steuerlich reines Gewissen hat, ärgert sich über den zusätzlichen Zeitaufwand, alle anderen Steuerschafe, in den Schattierungen von hellgrau bis schwarz, setzen wohl erst einmal das Pokerface auf und warten mit Spannung auf das Kommende.

Doch abgesehen von kleineren Steuer-Tricksereien ist, bis auf wenige Ausnahmen, bei Firma Otto Normalverbraucher meistens wenig zu holen. Die wahre Musik spielt ganz woanders. In ihrem Buch

„Als Steuerfahnderin auf der Spur des Geldes“ gewährt Birgit E. Orths einen ebenso spannenden wie ernüchternden Einblick in die Arbeit der Betrugsbekämpfung und zeigt auf, dass Steuerbetrug in großen Umfang mittlerweile vor allem ein „Geschäft“ internationaler Verbrecherbanden ist.

Anders als in der „normalen“ Unternehmenswelt, bei der sich die Konfliktpunkte im Rahmen der Steuerprüfung normalerweise rund um Fragen zur Körperschaft- bzw Einkommensteuer drehen, geht es bei den wirklich großen Fällen fast immer um Umsatzsteuerbetrug. Der berühmte Kommissar Zufall ist es denn auch, durch den die Autorin auf ein kompliziertes Firmennetz stößt, das sich in großem Stil mit dem Import und Export von Handys beschäftigt. Rasch wird klar, dass ein Großteil der von einem arabischstämmigen Clan kontrollierten Firmen ausschließlich Scheingeschäfte abwickelt mit dem Ziel, Vorsteuerrückerstattungen in Millionenhöhe zu ergaunern.

Detailreich und spannungsgeladen schildert die Autorin, wie sich die kriminalistischen Puzzleteile im Lauf der monatelangen Ermittlungsarbei-

ten zu einem in seinen Dimensionen fast unglaublichen Betrugsfall verdichten. Aus Bürger- und Steuerzahlersicht bedrückend ist dabei, mit welch ungleichen Mitteln der Kampf zwischen Gaunern und Steuerfahndern ausgefochten wird. Behördlicher Formalismus, chronischer Personalmangel und administratives Chaos machen es demnach den international bestens vernetzten Verbrechern leicht, dem Staat Unsummen an Steuergeldern zu hinterziehen. Zwar konnten im hier beschriebenen Fall die in Deutschland lebenden Rädelsführer für einige Jahre dingfest gemacht werden, die in Übersee agierenden Hintermänner hingegen blieben ungeschoren und es ist mehr als ungewiss, dass die Bestrafung einiger Handlanger die kriminelle Energie der wirklich „großen Fische“ auch nur im Ansatz einbremsen wird.

„Als Steuerfahnderin auf der Spur des Geldes“ ist ein packend geschriebenes Buch, eine Mischung aus True Crime und erzählendem Sachbuch, informativ und packend und vielleicht auch zu mehr Duldsamkeit motivierend, wenn die nächste Betriebsprüfung wieder öde Märsche durch die Mühen der Ebene anzukündigen verspricht.

Als Steuerfahnderin auf der Spur des Geldes. Wie Kriminelle und Fehler im System uns Milliarden kosten.

Birgit E. Orths Econ Verlag, Berlin 2023; € 21,50.

153 Für Sie gelesen Die besten Krimis schreibt die Wirklichkeit Juli 2023
Dr. Bruno Lässer ist CFO der Alcar Holding GmbH in Hirtenberg/ Niederösterreich.

Text Analysis in Finance

Stellen Sie sich vor, Sie haben es gerade geschafft, den neuen Jahresbericht Ihres Unternehmens in wesentlichen Teilen von Chat GPT schreiben zu lassen – eine große Erleichterung! Natürlich musste vieles mit der Hand nachgearbeitet werden und kritische Passagen von Grund auf formuliert werden, aber die Erstellungszeit konnte drastisch reduziert werden. Erfreut gehen Sie in ihr Büro zurück, nur um zu erkennen, dass sich auf Ihrem Tisch Berge von Dokumenten türmen, die darauf warten, gelesen zu werden – viele davon wohl auch mit Chat GPT geschrieben. Wie schön, wenn es so etwas wie Chat GPT auch für das Lesen von Dokumenten gäbe …

Das automatisierte Lesen von Text hat sich von bescheidenen Anfängen des „Worte Zählens“ zu einem hochtechnologischen Forschungsfeld entwickelt, das unter intensivem Einsatz von Machine Learning nicht nur Texte analysiert, sondern auch deren Inhalt versteht. In Zeiten der Informationsflut kann eine derartige Aggregation wertvolle Einsichten generieren, die für zahlreiche Handlungsfelder der Unternehmensführung relevant sind, von der Unternehmensstrategie, über die Kundenbeziehungen bis zur Unternehmensplanung und dem Forecasting.

Von „Text Analytics“ … Text Analytics nimmt eine quantitative Untersuchung des Texts vor und durchsucht einen oder zahlreiche Texte nach gemeinsamen Mustern, wie zB Anzahl von Worten oder Wortgruppen. Ziel ist, Erkenntnisse rein durch die Abfolge von Textblöcken, das Vorkommen oder Fehlen von Worten oder der Länge von Sätzen zu erhalten. Das Extrahieren von Zahlen und die Darstellung dieser in Tabellen oder Grafiken ist ein typisches Anwendungsfeld, das gerade bei klar strukturierten oder standardisierten Dokumenten – wie sie im Finanzbereich vorkommen – zB in Form von Web Crawlern bereits vielfältig umgesetzt ist.

Zu den wesentlichen Methoden der Text Analytics zählen beispielsweise die Key Word Extraction (zB Erstellen einer Tag Cloud), Worthäufigkeit (Aufzeigen der am häufigsten vorkommenden Worte in einem bestimmten Kontext, zB innerhalb aller Reviews mit weniger als drei Sternen), Collocation (Erkennen, welche Worte am häufigsten gemeinsam auftreten) oder Concordance (Erkennen, welche Textbausteine vor oder nach einem bestimmten Wort aufscheinen).

… zu „Text Analysis“

Text Analysis oder Natural Language Processing geht einen Schritt weiter und versucht, den Sinn hinter den Wörtern durch eine qualitative Analyse zu verstehen. Die Analyse bezieht dabei grammatikalische Strukturen und die Bedeutung von Worten mit ein und hat das Ziel, Dokumente und Textbausteine nach ihrer inhaltlichen Ausprägung zu begreifen. Typische – zum Teil schon realisier-

te – Anwendungen sind die automatisierte Einordnung von E-Mails oder die Kategorisierung von Produktbewertungen.

Zu den Methoden der Text Analysis zählen zunächst die Entity Recognition, die versucht, bestimmte Begriffsgruppen zu unterscheiden, zB aus einem Text alle Personennamen (Firmennamen, Orte etc) zu extrahieren. Die Word Sense Disambiguation zielt darauf ab, mehrdeutige Worte (wie zB ‚leicht‘ – Gewicht vs Schwierigkeit) in ihrem richtigen Kontext zu verstehen.

Zu den anspruchsvolleren Aufgaben zählt die Automatic Text Summarization, mit dem naheliegenden Ziel, Texte auf beliebige Länge automatisch zusammenzufassen und damit zu verkürzen. Der nächste Schritt ist das Clustering, das in der Lage ist, Texte in Bedeutungspakete zu ordnen und diese dann in einer neuen Struktur darzustellen. Chat GPT extrahiert solche Bedeutungspakete aus Millionen von Dokumenten und ordnet sie ihrer Anfrage gemäß in die neue Struktur ihrer Antwort. Eine andere Anwendung des Clustering ist die Topic Analysis, durch die zB unstrukturierte Kundenreviews unter bestimmten Überschriften (Topics) gruppiert werden können.

Von Worten zu Gefühlen

Die Killerapplikation der automatischen Textanalyse ist das Verständnis der den Texten zugrunde liegenden Emotion. Dabei geht es um mehr als nur zu verstehen, ob die Inhalte eher positiv oder negativ konnotiert sind, sondern um das Erfassen einer ganzen Skala von Emotionen, dem Sentiment. Dieses könnte zB auf einer Skala von 0 bis 100 einordnen, wie die Einstellung der Summe aller Kunden zu einem bestimmten Tatbestand ist, inklusive Standardabweichung. Natürlich sind auch mehrere, multivariate Skalen denkbar, die nicht nur Zustimmung oder Ablehnung, sondern auch zB die Stärke einer Kaufs- oder Verkaufsentscheidung messen.

Derartige Analysen messen dann weniger das Sentiment, sondern den Intent, also was mit der Kommunikation bezweckt werden soll. So könnte ein derartiges System automatisch erkennen, welche Mails eine Bestellung aufgeben wollen, welche ein Angebot einfordern oder welche eine dringende Antwort erwarten. In Kombination können Sentiment und Intent Analysen aus großen Datenmengen (zB Social Media Posts) zeitnah relevante Erkenntnisse für Produkt- und Kommunikationsentscheidungen erlangen.

Von Gefühlen zu Entscheidungen

Die Bedeutung dieser Technologien im wirtschaftlichen Umfeld kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Schließlich nehmen wir unser Umfeld im professionellen Kontext noch immer vor allem textlich wahr. Ein besseres Verständnis der grundlegenden Muster dieser Informations-

154 Juli 2023 Glossary Text Analysis in Finance
Dr. Christian Kreuzer ist Mitglied der Geschäftsführung des Controller Instituts sowie Managing Director bei Contrast EY Management Consulting.

flut kann die notwendigen Vorsteuergrößen für Finanzzahlen liefern, die die immer knappere Entscheidungszeit bedeutend ausweiten könnte.

Zu den bereits realisierten Anwendungsfällen zählt zunächst die genaue Analyse der Kommunikationsbeziehungen zu Kunden und weiteren relevanten Stakeholdern. Ein täglich aktuelles Profil über die aggregierte Meinung aller Kunden zum Unternehmen, zu bestimmten PR-Maßnahmen oder zu Produkten kann die Effizienz und Reaktionsfähigkeit des Marketings, der PR und des Produktmanagements entscheidend verbessern.

Von da ist es nur ein kleiner Schritt, die Daten zur Steigerung des Genauigkeit des Forecastings zu verwenden, vor allem wenn die Analyse auf die gesamte Supply Chain ausgedehnt wird und Engpässe am Beschaffungsmarkt mit einer genaueren Wahrscheinlichkeit bewertet werden können.

Derzeit wird vor allem daran geforscht, inwieweit ein umfassendes Verständnis aller über ein Unternehmen verfügbaren Kommunikationsinhal-

te (Quartalsbericht, Social Media Posts, Produktreviews, …) tauglich ist, buy-or-sell-Entscheidungen von Wertpapieren zu beeinflussen. Sollte dies gelingen, würde eine neue Betrachtungsdimension in die Unternehmensbewertung Einzug halten. Neben zahlreichen technischen Grenzen ist das eigentliche Problem der Glaube, dass die Summe der verfügbaren Meinungen relevante Informationen enthält. Für viele Anwendungsfälle mag dadurch die Effizienz und der Kenntnisstand gesteigert werden. Wie jedoch schon Steven Jobs so treffend gesagt haben soll: „Der letzte, den ich über ein neues Produkt fragen werde, ist der Kunde …“ Es mag verführerisch klingen, wenn wir alle unsere Mails erst per Textanalyse filtern und zusammenfassen lassen, um sie dann per Chat GPT zu beantworten. Sarkasmus und Ironie sind jedoch immer noch die am schwierigsten zu erfassenden Bedeutungen für derartige Systeme und gelten als heiliger Gral des Textverständnisses – nicht nur für Maschinen.

Expertenwissen von A bis Z

Von erfahrenen Startup-Investor*innen und Expert*innen

€ 44,–

Steuern. Wirtschaft. Recht. Am Punkt. Versandkostenfrei bestellen lindeverlag.at

155 Glossary Text Analysis in Finance Juli 2023
2. Auflage 2023 396 Seiten, kart. 978-3-7143-0376-6
Als E-Book erhältlich

General Electric

Liebe Leserinnen und Leser, das Boston Business Journal hat die größten Gewinner und Verlierer unter den börsennotierten Unternehmen in Massachusetts seit der Pandemie ermittelt. Die drei großen Gewinner sind das durch den COVID-Impfstoff weltbekannt gewordene Unternehmen Moderna, das für sein SchatzsucheModell bekannte Einzelhandelsunternehmen  TJX und Thermo Fisher Scientific, der Hersteller von Laborinstrumenten, Diagnostika und Impfstoffkühlschränken. Zu den Verlierern zählen das Biotechnologieunternehmen Biogen, weil ein Alzheimermedikament von wichtigen Krankenversicherungen nicht gezahlt wird, der Online-Händler von Möbeln und Haushaltswaren Wayfair – und ganz besonders das auf den Glühbirnenerfinder Thomas Edison zurückgehende General Electric, das als GE bekannte Konglomerat mit dem einst weltweit höchsten Marktwert, das im Jahr 2016 nach Boston übersiedelt ist.

Geplant war ein architektonisch interessanter Neubau der Headquarters, der seither allerdings von einem Biotechnologieunternehmen übernommen wurde. GE hat stattdessen ein Stockwerk in einem Bürogebäude im Finanzviertel bezogen. Eigentlich sind es die Überreste des einstigen Konglomerates, von dem nur die Luftfahrtsparte nach der Abspaltung und Übersiedlung der Energie- und Gesundheitsgeschäfte ab 2024 übrig bleibt. Das ist bestimmt eine Herausforderung für den Chief Strategy & Chief Risk Officer Christoph Pereira, der die CRO-Rolle seit 2019 innehat. Pereira ist Absolvent des Juridicums der Universität Wien. Seither hat er ua einen LL.M. an der University of Chicago gemacht und wurde Chartered Financial Analyst. Seit 2007 ist Pereira bei GE tätig.

Der Berufstitel Chief Risk Officer wurde bei GE erfunden, wie neulich ein Artikel im Wall Street Journal berichtete. Demzufolge hatte James Lam damals keine Ahnung, welchen Titel er für seine Visitenkarten nutzen sollte, als er 1993 von GE Capital, dem Finanzdienstleistungsarm von GE, eingestellt worden war, um die Tochtergesellschaft GE Capital Market Services, Inc. auf die Beine zu stellen. Er erhielt von seinem Chef die Erlaubnis, seinen Berufstitel zu erfinden und wählte Chief Risk Officer (CRO). Zwei Jahre später transferierte er mitsamt seinem Titel zum Finanzdienstleiser Fideltiy Investments. Dort führte er ein Risikomanagement-Programm für das Unternehmen ein, das vielfach als Musterbeispiel bezeichnet wurde. Die Global Association of Risk Professionals ernannte ihn als ersten Risikomanager des Jahres. Drei Jahre nach seinem Eintritt bei Fidelity beendete Lam seine Karriere als CRO. Er wurde Risikomanagementberater, Aufsichtsrat, Universitätslehrer und Buchautor.

Zehn Jahre nach seiner Erfindung des CROTitels veröffentlichte Lam im Jahr 2003 die erste Ausgabe seines Buches „Enterprise Risk Management: Von Incentives to Controls“. Er bemühte sich, Wissenschaft und Kunst des Unternehmensrisiko-

managements mit praktischen Ratschlägen und Fallstudien aus der Praxis zu vermitteln. Er begann mit Risikomanagement im Kontext bevor er in sein Enterprise Risk Management Framework einführte, Anwendungen erörterte und mit seinem Blick in die Zukunft endete. Damals war Lam auch außerordentlicher Professor am Babson College. Ein weiteres Jahrzehnt später verfasste Lam eine zweite Auflage. Darin bemüht er sich, auf die zunehmend dynamischen Marktbedingungen einzugehen, womit eine Relativierung des Unternehmensrisikomanagements einhergeht. Lam erörtert ua, wie ein Unternehmen ein Equilibrium zwischen Risiko und Rendite anstreben sollte, um ihm nicht zu schaden.

Seither hat Lam 2017 sein zweites Buch mit dem Titel „Implementing Enterprise Risk Management: From Methods to Applications“ publiziert, in dem er den Schwerpunkt auf das „Wie“ des Unternehmensrisikomanagements legt. Das Ziel dieses Werkes ist ein praktischer Leitfaden für adäquates Risikomanagement. Lam liegt daran, es Risikoexperten zu ermöglichen, die Lage, Risiken und Chancen sowie Menschen und Prozesse in Einklang zu bringen und diese in die Kultur und den Geschäftsbetrieb zu integrieren.

Lams kurze Verweildauer als CRO verwundert wenig, trägt doch der Artikel im Wall Street Journal die Überschrift der danklosesten Rolle im Bankwesen. Das Ziel eines CRO ist es, die Einnahmequellen des Unternehmens zu steigern, die Vertriebseffektivität zu verbessern und ein nachhaltiges Geschäftswachstum voranzutreiben. Erfolgreich ist, wer sein Unternehmen vor dem Scheitern bewahrt. Die Arbeit ist größtenteils anonym.

Die Biographie von Christoph Pereira macht eine Ausnahme und erlaubt einen Einblick in seine CRORolle. Er ist in seiner CRO-Funktion für das unternehmensweite Risikomanagement und operative Initiativen betreffend das Risiko verantwortlich. Zu seinen CRO-Aufgaben zählt die Prüfung von Handelsgeschäften bei GE Corporate. Das von Pereira unterzeichnete Vertragsvolumen übersteigt mittlerweile 500 Milliarden US-Dollar. Sein Bild ist samt Rollenbeschreibung als Mitglied des 23-köpfigen Führungsteams auf der Homepage von GE zu sehen.

In der CRO-Rolle wird meist nur berühmt, wem ein fataler Fehler passiert, wie wir beim Untergang von Banken in jüngster Vergangenheit beobachten konnten. Larry Culp, GE‘s CEO, hat vielleicht aus diesem Grund die CRO-Rolle mit jener des Chief Strategy Officers gepaart und in der Person von Christoph Pereira vereint. Er ist daher nicht nur für die Risiken, sondern auch für die Chancen zuständig. Wenngleich dadurch die Rolle noch größer ist, so fallen auch zukünftige Erfolge auf dem Markt in seinen offiziellen Verantwortungsbereich, deren öffentliche Anerkennung zu erwarten ist. Wünschen wir Christoph Pereira und GE viel Erfolg und positive Presse.

Ihre Brigitte Mühlmann, bmuehlmann@babson.edu

156 Juli 2023 What’s up in Boston General Electric
Dr. Brigitte W. Mühlmann ist Professorin am Babson College in Babson Park, Massachusetts, USA.
LEARN | CHANGE | PERFORM Besuchen Sie uns auf: www.controller-institut.at 19. SEPTEMBER 2023 *** HOTEL HILTON
VIENNA PARK
FÜR CFOs & FÜHRUNGSKRÄFTE WWW.CFO-JAHRESTAGUNG.AT CFOaktuell JAHRESTAGUNG TRANSFORMATION IM SPANNUNGSFELD VON PERFORMANCE UND NACHHALTIGKEIT Österreichische Post AG, PZ 07Z037208 P, Linde Verlag Ges.m.b.H., Scheydgasse 24, 1210 Wien
FUTURE NOW FORUM

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.